Kulturelle Bildung und Sozialraumorientierung: Kontexte, Entwicklungen und Herausforderungen

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von Kerstin Hübner, Viola Kelb

Erscheinungsjahr: 2015

1. Kulturelle Bildung und ihre sozialräumliche Dimensionen: Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn

Sich mit sozialräumlichen Dimensionen in der Kulturellen Bildung auseinanderzusetzen, bedeutet Rückbesinnung und Modernisierung dieses Handlungsfeldes zugleich. So richtete spätestens die Neue Kulturpädagogik unter dem Slogan „Kultur für alle“ in den 1970er Jahren die Perspektive auf die Beteiligung von allen Kindern und Jugendlichen – unter Aufgriff ihrer Lebenswelten und Jugendkulturen und unter Erweiterung von (sozio-)kulturellen/kulturpädagogischen Konzepten und Orten. Es tauchten zu dieser Zeit Begriffe auf, die unmittelbar sozialräumlich interpretiert werden können, z. B. „Spiellandschaft“ oder „Lebenswelt als Lernfeld/Lernumwelt“: „Die Welt, die Wirklichkeit, in die die Kinder und Jugendlichen hineingestellt sind, ist die Substanz dessen, was ihre Erfahrungen bestimmt, der Stoff von Spielen und Lernen.“ (PA 1983:8).

Wolfgang Zacharias gründet dies 2001 (158ff.) rückblickend auf folgende Entwicklungen:

  • Der öffentliche Raum und die Umwelt als Lernraum wurden im Zuge der „Alltagswende der Pädagogik“ in den 1970er Jahren (raus aus der Schule, rein in die Lebenswelten!) entdeckt.
  • Die Kulturpädagogik wendet sich in dieser Zeit gegen die Dominanz fester Gruppen und die formalisierte, zeit-räumlich hart geregelte schulische wie außerschulische Lern- und Erfahrungsorganisation.
  • Der „homo ludens“ und das „Spiel“ als produktives Eigenvermögen der Kinder werden wiederentdeckt.
  • Die „lebensweltliche Sozialpädagogik“ (Alltagswende) wurde in der Kulturellen Bildung Anfang der 1990er Jahre aufgegriffen. Die „Pädagogik des Jugendraums“ erwies sich als anschlussfähig zur kinder- und jugendkulturellen Umweltorientierung der Kulturellen Bildung.
  • Die urbanen Dimensionen wurden dann auch theoretisch, z.B. von Max Fuchs (2001 zitiert nach Zacharias 2001:160) in seiner Beschäftigung mit Subjektivität aufgegriffen: „Leben in der Stadt ist also Leben in einem spezifischen Raum, besser: ist Leben in spezifischen, sich überlagernden Räumen. Das Ökonomische, Soziale, Ästhetische, Politische überlagern sich in verdichteter Weise in der Stadt.“

Ergänzt werden können an dieser Stelle die produktiven Einflüsse, welche die mittlerweile etablierte Pädagogik der Kindheit auf die kulturpädagogischen Konzepte und auf die Praxis hatten.

Während es also eine lange sozialräumliche Tradition der Kulturellen Bildung gibt, spielte der Diskurs der Sozialraumorientierung, der die Soziale Arbeit seit den 90er Jahren prägte und der spätestens seit der Jahrtausendwende in Teilen die Grundlagen der Jugendarbeit beeinflusst hat, keine dezidierte Rolle in der neueren theoretischen und konzeptionellen Fundierung Kultureller Bildung. Dabei sind Sozialraumperspektiven, wie sie im folgenden Beitrag vorgestellt werden, in der Kulturellen Bildung – unter anderen Namen bezeichnet – konzeptionell niedergelegt:

  • Dort, wo in den sozialräumlichen Ansätzen „Interesse der Menschen als Ausgangspunkt“ und „Orientierung am Willen der Menschen“ benannt werden, wird in der Kulturellen Bildung Interessenorientierung betont.
  • Da, wo Sozialraumorientierung Eigeninitiative und Selbsthilfe unterstützt, gründet Kulturelle Bildung auf „Selbstwirksamkeit“ und „Partizipation“.
  • Dort, wo Sozialraumorientierung die Ressourcen (der Menschen und des Sozialraumes) in den Blick nimmt, verweist Kulturelle Bildung auf Stärkenorientierung.
  • Da, wo im Sozialraumkonzept zielgruppenübergreifende Sichtweisen und das Zusammenwirken aller Menschen eingefordert werden, wird in der Kulturellen Bildung von Diversität gesprochen.

Natürlich sind diese Facetten von „Sozialraum“ und „Kultureller Bildung“ nicht deckungsgleich, sie sind aber in ihren soziologischen und pädagogischen Facetten stark miteinander verbunden.

„Sozialraumorientierung“ wird in der Kulturellen Bildung und Jugendkulturarbeit somit zur wichtigen Gelingensbedingung. Vermehrt gilt sie in den vergangenen Jahren als Königsweg für eine „teilhabegerechte“ Kulturelle Bildung, die speziell Zielgruppen in bildungsbenachteiligenden Lebenssituationen erreicht. Kulturelle Bildung soll sich, ebenso wie Schulen, „in den Sozialraum öffnen“, mit „sozialraumorientierten Partnern“ kooperieren und Angebote möglichst „vor Ort“ unterbreiten. Doch ist die Anforderung „Sozialraumorientierung“ dergestalt tatsächlich zu erfüllen? Und was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff „Sozialraum“? Ein Territorium? Eine Theorie? Eine sozialpädagogische Methode? Dieser Beitrag versucht, die für Kulturelle Bildung relevanten Diskurse zur Sozialraumorientierung zu erläutern und für die Kulturelle Bildung zu übersetzen.

2. Annäherung an den diffusen Begriff „Sozialraum“: Weder Territorium noch Theorie

2.1 Begriffsdefinition und -dimensionen

Laut Wikipedia ist Sozialraumorientierung „die Bezeichnung für eine konzeptionelle Ausrichtung Sozialer Arbeit, bei der es nicht (wie traditionell) darum geht, Einzelpersonen mit pädagogischen Maßnahmen zu verändern, sondern Lebenswelten so zu gestalten und Verhältnisse zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, besser in schwierigen Lebenslagen zurechtzukommen.“ Diese Definition weist schon darauf hin, dass es bei dem Begriff der „Sozialraumorientierung“ um mehr als um die Einbeziehung nahegelegener Orte und Institutionen geht. Doch bleibt die Wikipedia-Definition im Allgemeinen stecken und ist insofern wenig dienlich, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Zudem ist Sozialraumorientierung weder eine konkrete Methode noch eine klar zu umreißende Theorie.

Ulrich Deinet (2009a:7) fasst Sozialraum(-orientierung) folgendermaßen zusammen: „Grundlage sozialräumlicher Konzeptentwicklung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind die Sozialräume und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. In unserem Verständnis sozialräumlicher Jugendarbeit geht es darum, die Lebensbedingungen und das Lebensgefühl von Kindern und Jugendlichen in ihren Sozialräumen, Stadtteilen, Lebenswelten zu analysieren, zu verstehen und daraus Konsequenzen für die Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit bis auf die Ebene ganz konkreter Angebote und Projekte zu entwickeln. Das breite Verständnis von Sozialräumen als subjektive Lebenswelten lenkt den Fokus auf das subjektive Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Die Aneignung ihrer Lebenswelt wird dabei als wichtige Entwicklungsaufgabe von Kindern und Jugendlichen gesehen.“

Das Modell des Sozialraums allgemein richtet seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Jugendliche in einem sozialen Raum aufwachsen, der sich

  • „geografisch [...] beschreiben lässt [...]
  • durch die in ihm herrschenden Beziehungen kennzeichnen lässt (soziale Kontakte, wichtige Ansprechpartner und Vertrauenspersonen, personale Machtzentren, Netzwerke usw.)
  • in dem gemeinsam geteilte Deutungsmuster, Traditionen und akzeptierte Regeln gelten.“ (Klawe o.J.:4f.).

Der bzw. ein Sozialraum umfasst daher unterschiedlichste Dimensionen, die im Beitrag näher erläutert werden. Die zentralen sozialräumlichen Perspektiven, die sich aus den unterschiedlichen Disziplinen, z.B. (Raum-)Soziologie, Soziale Arbeit, Anthropologie, Pädagogik, ergeben, sind dabei:

  • Der reale (örtliche) Raum: Er bezieht sich auf Strukturdaten (Stadt, Land, Quartier ...), auf die Infrastruktur und Institutionen, auf Lebensbedingungen, Gebäude und Erscheinungsbilder, genutzte und ungenutzte (erschlossene und unerschlossene) Orte ... Diese politische Dimension entspricht einer administrativen Einteilung.
  • Der Beziehungsraum: Er umfasst Vertrauensbeziehungen (Peer, Familie), funktionelle Beziehungen (VerkäuferInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen), das soziale Umfeld ...
  • Der innere Raum: Er steht für Lebenswelten und -perspektiven, Bildungs- und Aneignungsprozesse, Reflexionen und Perspektiven, Selbstkonzept- und -wahrnehmung ...
  • Der Handlungsraum: Er bezieht sich auf die Aktionsradien und -räume, auf Engagement und Hobbys, auf Aneignungs- und Erschließungsräume ...
  • Der zeitliche Raum: Er steht für die Strukturierung und für Freiräume im Alltag, für die Biografie des Einzelnen und die Geschichte ...

2.2 Sozialraumorientierung als Begriff und Paradigma in der Jugendarbeit

Wie bereits erwähnt, hat Sozialraumorientierung für die soziale Arbeit und für die Jugendarbeit eine wichtige Bedeutung. Da kulturelle Kinder- und Jugendbildung als Teil der Jugendarbeit verankert ist, lohnt sich ein Blick darauf, mit welchem Verständnis und welchen Ansätzen Sozialraum und Jugendarbeit aufeinander bezogen sind.

Christoph Stoik (o. J.) verweist auf vier Zugänge und Traditionen zur Begriffsdeutung: Sozialraumorientierung sei zunächst ein Modell der neuen Steuerung, unter der Politik und Verwaltung die Stadt- und Regionalentwicklung angehen und dabei, aufgrund begrenzter sozialstaatlicher Ressourcen, Aufgaben an den sozialen Raum delegieren. Sie stehe zum Zweiten in der Tradition der offenen und aufsuchenden Jugendarbeit. Drittens fußt sie – wie bereits erwähnt – auf der Gemeinwesenarbeit, die sich auch mit dem Verhältnis von strukturellen Bedingungen, räumlichen Gegebenheiten und den Handlungsmöglichkeiten beschäftigt. Last but not least ist Sozialraumorientierung auch ein theoretisch grundlegendes Konzept, das sich auf soziologische und/oder pädagogische Theorien bezieht (z.B. Raum- oder Kapitaltheorien), die im Folgenden noch Erwähnung finden.

Hinze (2008) umschreibt „Sozialraumorientierung“ als eine Grundhaltung, die das pädagogische Handeln in zahlreichen Handlungsfeldern sozialer Arbeit beeinflusst. Auch Deinet (2009) macht deutlich, dass sozialräumliche Jugendarbeit keine inhaltliche Methode, sondern vielmehr eine Sichtweise ist, die zu neuen Konzepten führen kann. Konzepte wie Mädchenarbeit, mobile Jugendarbeit oder erlebnisorientierte Ansätze beispielsweise seien zwar nicht unter sozialräumlicher Kinder- und Jugendarbeit zu subsumieren, verfolgten aber durchaus deren Orientierung (vgl. Deinet 2009a:14). Überdies weist er darauf hin, dass die aktuelle Sozialraumdebatte weit über die Jugendarbeit hinaus auch in Zusammenhang mit Problemen der Städte und Stadtteile geführt wird. So haben sich unter der Überschrift „Sozialraumorientierung“ gravierende Umstrukturierungen in der Jugendhilfe vollzogen. Grundsätzlich zeichnet sich ein Paradigmenwechsel von der Einzelfallhilfe über die Zielgruppe hin zur Sozialraumorientierung ab, der die gesamte Jugendhilfeplanung maßgeblich beeinflusst (vgl. ebd.:16).

Die seit den 1970er Jahren konzeptionell bedeutsame Gemeinwesenarbeit, die darauf abzielt, die Ursachen sozialer Missstände mit den Betroffenen gemeinsam anzugehen, hat sich in diesem Zusammenhang von einer „versäulten“ Jugendhilfe hin zu einer stadtteilbezogenen Gemeinwesenarbeit entwickelt. Dazu schreiben Kessl und Reutlinger (2010:44): „Sozialraumorientierung beschreibt eine kleinräumige Neujustierung sozialpädagogischer Handlungsvollzüge, mit der bisherige institutionelle Differenzierungen überwunden, Angebote Sozialer Arbeit passgenauer und bürgernäher gestaltet, die Betroffenen und ihre nahräumliche Umgebung stärker beteiligt und die Realisierung sozialpädagogischer Maßnahmen durch diesen konkreten Ortsbezug effektiver und effizienter realisiert werden sollen. Über eine solche konzeptionelle Bestimmung einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit sind sich die meisten Fachvertreterinnen und -vertreter relativ einig.“ Ergänzt wird dies durch den subjekt- und lebensweltorientierten Blick auf die Zielgruppen. Hier werden bereits die unmittelbaren Bezüge und Anschlüsse zur sich parallel entwickelten Neuen Kulturpädagogik in den 1970er Jahren sichtbar.

Auch Christian Spatscheck (2009:1) erklärt die Behauptung, Sozialraumorientierung sei als eine sozialpädagogische Methode nur bedingt haltbar. Sozialraumorientierung beschreibe neben Verfahren auch die Rahmenbedingungen, Orientierungen und Haltungen beim methodischen Handeln und sei dementsprechend eher als „Paradigma“ zu verstehen. Die genannten ExpertInnen halten demnach dazu an, die Sozialraumorientierung eher als eine grundsätzliche Haltung und Handlungsorientierung denn als eine konkrete pädagogische Methode aufzufassen. Mit Blick auf die Fachdebatte und Praxis jedoch fällt auf, dass unter selbigem Stichwort vielfach sehr konkrete Maßnahmen und vor allem Orte aufgefasst werden. Nicht nur im behördlichen Sinne meint Sozialraumorientierung auch eine von Verwaltung und Politik definierte Raumeinteilung in Stadtteile oder Regionen (siehe unten). Subjektive, und damit von individueller Wahrnehmung und Lebenswelten, Sozialkontakten und konkreten Handlungen geprägte Räume, werden daher oft nicht ausreichend berücksichtigt (siehe unten).

Nach rund 20 Jahren Etablierung der Dimension Sozialraum hat der Begriff erneut an Bedeutung gewonnen. Dies hängt laut Klawe (o. J.:3) mit drei Aspekten zusammen, die prägend für die aktuellen konzeptionellen Anforderungen für Jugend- und Bildungsarbeit sind: mit den im allgemeinen Wandel verbundenen Veränderungen im Jugendalter, mit dem Funktionsverlust traditioneller Sozialisationsinstanzen wie Familie und mit der Erschließung neuer Ressourcen.


Zusammenfassung und Ableitung für die Kulturelle Bildung

Sozialraum und Sozialraumorientierung sind keine pädagogischen Methoden oder klar umrissene Theorien, sondern Perspektiven und Paradigmen, auf welche die Soziale Arbeit und die Jugendarbeit im Allgemeinen – ebenso wie die Kulturelle Bildung im Spezifischen – ihre Strategien, Konzepte und Angebote ausrichten.

Sozialraumorientierung und Kulturelle Bildung haben gemein, dass sie

  • einen konsequent subjekt- und lebensweltorientierten Blick auf die Zielgruppen realisieren und sich konsequent an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren („Sozialraumorientierung schaut von unten“, Kessl/Reutlinger 2010:44),
  • Lebenslagen so verändern und Menschen dahingehend empowern möchten, dass sich Lebensperspektiven verbessern,
  • Bürgernähe, -beteiligung und -mitgestaltung stärken möchten, ohne dabei auf die öffentliche Verantwortung verzichten zu können,
  • die örtliche Dimension, die Lebensbedingungen und -lagen sowie die subjektiven Perspektiven miteinander verbinden,
  • institutionelle Differenzierungen und Versäulungen überwinden und ressortübergreifende Vernetzung verwirklichen (ebd.).

Dass die Dimension Sozialraum immer auch Bildungs- und Kulturraum/-räume beinhaltet, sollte auch in der Kulturellen Bildung stets mitbedacht werden: Kulturelle Bildung ist – als Infrastruktur, Angebotsform, Bildungsoption und Ressource – ein Bestandteil des Sozialraums ihrer NutzerInnen (Mack 2012:735). Diese Aufzählung verweist einerseits auf die realörtliche Dimension, wenn z.B. informelle, non-formale und formale (kulturelle) Bildungseinrichtungen in ihrer Anzahl und Erreichbarkeit oder ihrem Erscheinungsbild in den Blick genommen werden. Im Hinblick auf die damit verbundenen Angebote kommt zweitens die dialogische und beziehungsorientierte (also soziale) Dimension zum Tragen. Diese Dimension umfasst Hochkultur bis Jugendkultur, mit ihren je eigenen sozialräumlichen Implikationen, je nachdem, wo und mit wem sie stattfinden und wie fern oder nah sie den Lebenswelten sind, ob sie aktiv oder passiv wahrgenommen werden, welche sinnlichen Erfahrungen und ästhetischen Ausdrucksformen sie ermöglichen. Zum Dritten sind Bildung und Kultur zutiefst subjektive Prozesse (z.B. Habitus, Symbole), die im Wahrnehmen, Empfinden und Bewerten die Sicht auf die Welt und die gefühlten Handlungsoptionen in dieser Welt bestimmen.

Für die Kinder und Jugendlichen, die kulturelle Bildungsangebote nicht nutzen (können), kommt diese sozialräumliche Qualität Kultureller Bildung nicht zur Geltung. Nach Mack muss Kulturelle Bildung hier als Option begriffen und zugänglich werden, damit Kindern und Jugendlichen „neue Sozialräume eröffnet werden können, die ihre herkunfts- und milieubedingten Handlungs- und Aktionsräume erweitern und ihnen die Möglichkeit bieten, sich zu sich selbst und zu ihrem sozialen Umfeld zu verhalten …“ (Ebd.)

3.Orte und Institutionen prägen Sozialraum/-räume

3.1 Die politisch-administrative Dimensionen Sozialraumorientierung in der Jugendarbeit

Das gängige Verständnis von Sozialraum nimmt häufig wie bereits erwähnt vor allem die territorial-materielle Ebene eines konkreten Ortes in den Blick. Unbenommen spielt die geografische Ebene, trotz der berechtigten Kritik einer begrifflichen Verengung (siehe oben), eine entscheidende Rolle ein. Denn die Lebensbedingungen der städtischen oder ländlichen Räume stehen in engem Zusammenhang mit den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Auch die vorhandenen Angebotsstrukturen und Bildungsmöglichkeiten, mit ihren Zugangsoptionen bzw. -barrieren nehmen biografischen Einfluss und entscheiden mit über Lebensläufe und Perspektiven.

Als Raum, der in diesem Sinne politisch-administrativ kategorisiert ist, ist der Sozialraum ein System aus unterschiedlichsten Institutionen im Wechselspiel mit der dort lebenden Bevölkerung. Von Seiten der öffentlichen Verwaltung wird er als ein „Siedlungsraum auf kommunaler Ebene“ (Landkreise, Städte, Gemeinden, Stadtteile) definiert und ist durch vielfach abgegrenzte Verwaltungseinheiten mit eigenen Institutionen und Ämtern gekennzeichnet (Sozial-, Jugend-, Wohnungs-, Schulämter ...). Hierüber lässt sich ein Sozialraum z.B. mit Blick auf Problembelastungen eines Stadtteils und bildungsbenachteiligte Zielgruppen „erfassen“. Nach Eckert (2014:10) „z.B. durch amtliche Statistiken und Berichte mit umfassenden Informationen – etwa über die Zusammensetzung und Struktur der Bevölkerung und deren potenzielle Hilfebedarfe (wie Bevölkerungsentwicklung, Arbeitslosensituation, Armutslage, Kriminalitätsrate, Sozial-/Jugendhilfeplanung nach SGB VIII), Jugendförderpläne (Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit), Pläne zu den Hilfen zur Erziehung (Hilfen in Belastungs- und Krisensituationen).“

Vor allem durch die politisch-administrative Ebene wird der Sozialraum also in spezifische Territorien wie Stadtteile und Regionen unterteilt und in diesem Zusammenhang häufig auch problematisiert. So ist die Rede von „sozialen Brennpunkten“, „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf“ oder „benachteiligten Stadtgebieten“.

Über stigmatisierende Wirkungen und Nebenwirkungen von „Ghettoisierung“ ist vielfach debattiert worden. Reutlinger (2009:1) warnt: „Durch die Verdinglichung der Sozialen Räume als Behälterräume [... ] drohen biografischen Bewältigungsaufgaben von Kindern, Jugendlichen und deren Familien, die ihren Wohnsitz in solchen ‚Sozialraumcontainern‘ haben, in der Unsichtbarkeit zu versinken.“ Die individuellen Lebensläufe sind von Ausgrenzungsprozessen und damit von Zugangsbarrieren und erschwerten Bildungsmöglichkeiten geprägt. Die soziale Struktur der Gesellschaft spiegelt sich in der Beschaffenheit und Struktur von räumlichen Einheiten wider. Dabei werden Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar, Ausgrenzungs- und Exklusionsprozesse erhalten ein physisch-materielles Substrat.“ Reutlinger knüpft an Bourdieu (1987) an, nach dessen Theorie sich die soziale Struktur einer Gesellschaft auch in der Beschaffenheit von Räumen und Territorien spiegelt, durch die diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar würden.


3.2 Bildungsorte und -institutionen als Sozialräume

Auf der realräumlichen Ebene werden ebenso wie die territorialen Lebensräume der Kinder und Jugendlichen auch die Bildungsorte und -institutionen unter sozialräumlichen Aspekten in den Blick genommen: Auch Konzepte der Jugendarbeit und der Kulturellen Bildung bezeichnen so mit Sozialraum häufig zunächst das territoriale (auf Orte und Institutionen bezogene) Lern- und Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen. Entsprechend war beispielsweise im Zuge des Auf- und Ausbaus ganztägiger Bildung der vergangenen Jahre vielfach die Forderung nach „mehr Öffnung der Schulen in den Sozialraum“ zu vernehmen. Auch die bessere Verbindung von formalen, non-formalen und informellen Lern- und Erfahrungsräumen spielt hier hinein. In Verbindung damit standen die Appelle zu „mehr Kooperationen mit Bildungspartnern im Stadtteil oder in der Region“ und zu „stärkerer Nutzung so genannter dritter Lernorte“ (Prüß 2008:621). „Die ganztägige Bildung ist durch zwei grundlegende Formen umsetzbar, einerseits durch die Zusammenarbeit von Institutionen im Sozialraum und andererseits durch die Zusammenarbeit dieser mit der Schule am Ort Schule.“ (Ebd.).

Mit sozialräumlichen Akteuren sind in diesem Zusammenhang vornehmlich außerschulische Träger und Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. -arbeit, der Kulturellen Bildung und des Sports gemeint. Sozialraumorientierung findet hier also tatsächlich vor allem auf der institutionellen Ebene Umsetzung. Das Ziel dabei lautet, den Kindern und Jugendlichen eine umfassendere Bildung im Sinne von vielfältigen und ganzheitlichen Lerngelegenheiten zu ermöglichen und Bildungs- und Teilhabechancen von benachteiligten Zielgruppen zu verbessern. Der möglichst umfassenden Vernetzung schulischer und außerschulischer Akteure innerhalb von Sozialräumen wird in diesem Zusammenhang eine große Wirkung zugeschrieben: Engmaschige Bildungsnetzwerke lassen kein Kind zurück, so die These (vgl. z.B. das Modellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“). Auch die von Ganztagsschulausbau und Kooperationsboom gekennzeichneten kulturpädagogischen Konzepte der vergangenen zehn Jahre orientieren sich mit dem Ziel der Verbesserung von kultureller Teilhabe häufig an der oben beschriebenen, institutionell ausgerichteten Perspektive sozialräumlichen Denkens (Fuchs 2005:121ff.).


3.3 Der öffentliche Raum als Sozialraum

Im Zuge der vermehrten Aufmerksamkeit, die non-formalen und informellen Bildungsräumen im Rahmen des Ganztagsschulausbaus zuteilwurde, geriet auch der öffentliche Raum und seine Bedeutung als Bildungs- und Gestaltungsort kindlicher und jugendlicher Lebenswelten stärker in den Blick. Öffentliche Plätze wie Grünanlagen, Spielplätze oder Skaterparks stellen seit jeher wichtige Bezugspunkte für die offene und die aufsuchende Jugendarbeit dar und gewinnen nun auch im Zusammenhang mit ganztägiger Bildung und dem Ausbau von Bildungslandschaften an Bedeutung (siehe unten). So kommt dem informellen Lernen in der Alltagsbildung nach Rauschenbach (2009) eine tragende Rolle zu. Deinet (2010b:4) betont gar die Gleichwertigkeit der informellen Bildungsorte innerhalb einer anregungsreichen und variablen Bildungslandschaft, „von der Eisdiele als Treffpunkt einer Clique über den Saxophonkurs in der Volkshochschule bis hin zur Spielaktion.“

Öffentliche „Raumtypen“ als informelle Lernorte

Deinet (2010b:8ff.) bezieht sich hinsichtlich informeller Lernorte auf eine Typologisierung öffentlicher Räume, die im Rahmen einer Studie von Herlyn, von Seggern, Heinzelmann und Karow (2003) vorgenommen wurde. Diese unterscheiden zwischen sechs verschiedenen „Raumtypen“, die sich Kinder und Jugendliche erschließen und die damit Erfahrungsmöglichkeiten und Bildungssettings darstellen (können).

1. Räume im Wohnumfeld: unter anderem hausnahe Spielplätze oder Straßenräume. Diese Räume sind den NutzerInnen vertraut und gehen mit relativ starker sozialer Kontrolle einher.

2. Grünbestimmte Freiräume: z.B. größere Parkanalagen und weiträumige Grünräume, die Gelegenheit für raumgreifende Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen bieten.

3. Infrastruktureinrichtungen für Jugendliche: Speziell für jugendliche Zielgruppen vorgesehene institutionelle Einrichtungen wie Jugendzentren, die zumeist Angebote und Betreuungen im Rahmen sozialpädagogischer Konzepte unterbreiten.

4. (Fußgänger-)Straßen: Straßenräume sind in der Regel hochgradig frequentiert und verregelt.

5. Zentrale Stadtplätze: Hier kann es zu besonders starken Durchdringungen der Lebenssphären von Erwachsenen und Jugendlichen kommen. Häufig sind zentrale Plätze zudem von konsumorientierten Angeboten wie Geschäften und Restaurants geprägt.

6. Brachen: Dies sind vorübergehend offiziell ungenutzte Orte, die oft prinzipiell die kontrollärmsten öffentlichen Stadträume darstellen.


3.4 Medien als virtuelle Sozialräume

Über diese realräumlichen Bildungsorte hinaus ist es unerlässlich, auch virtuelle Räume als informelle Lernorte für Kinder und Jugendliche in den Blick zu nehmen. Medien stehen im Sinne eines erweiterten Handlungsbereichs in unmittelbarer Wechselwirkung zu den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Dabei ist die Mediennutzung online und offline bzw. sind Virtualität und Realität nicht länger als getrennte, sondern vielmehr als sich ergänzende Lebenswelten zu betrachten (Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011:4). Insbesondere Angebote im Rahmen des so genannten Web 2.0 bieten vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation (über soziale Netzwerke, Positionierung, z.B. über Statements) und Mit- und Selbstbestimmung, z.B. über selbstinitiierte Foren und Blogs). Insofern bieten auch die medialen Räume wertvolle Anknüpfungspunkte für eine sozialraumorientierte Jugendarbeit.


Zusammenfassung und Ableitung für Kulturelle Bildung:

Sozialraum, begriffen als politisch-administrativer Raum, strukturiert sozialstaatliches Handeln und versucht dabei, den komplexen räumlichen, infrastrukturellen und sozialen Zusammenhängen im urbanen oder ländlichen Raum zu begegnen. Sozialraumorientierung ist damit auch ein Steuerungsmodell. Diese Einteilung birgt die Gefahr, dass sie soziale Segregation und Milieustrukturen, denen man unter anderem mit Sozialraumorientierung begegnen will, eher verstärkt werden.

Um Zugangsbarrieren aufzuweichen und Kindern und Jugendlichen in benachteiligenden Lebenslagen und -räumen Teilhabemöglichkeiten an Angeboten der Kultur- und Jugendarbeit einzuräumen, agieren Träger und Einrichtungen der Jugend(kultur)arbeit unter anderem in benachteiligten Stadtgebieten. Formate der offenen und der aufsuchenden Jugendarbeit sprechen Kinder und Jugendliche an, die in der Regel nicht zum gängigen Klientel von Bildungs- und Kulturangeboten gehören. Konzepte, die in diesem Sinne sozialraumorientiert ausgerichtet sind, müssen sich wiederum der Kritik stellen, zur Homogenisierung und Ghettoisierung von „Randgruppen“ aktiv beizutragen, indem sie eine soziale Durchmischung von Zielgruppen vermeiden.

Die Träger der Kulturellen Bildung können vor Ort im Stadtteil oder im Dorf die Besonderheiten des Raums reflektierend und gestaltend aufgreifen, diesen zugleich aufbrechen und/oder erweitern. In diesem Zusammenhang sind Strategien zu entwickeln, wie trotz der Ballung von Kultur- und Bildungseinrichtungen in bestimmten Quartieren und Regionen Kindern und Jugendlichen, unabhängig von ihrem Wohnort, Zugänge und Auswahlmöglichkeiten eröffnet werden, z.B. durch dezentrale und mobile Angebote, via Shuttleservices und mittels Förderung kultureller Träger, auch gerade in infrastrukturschwachen Gegenden.

Daraus ergeben sich strukturelle Herausforderungen. Kulturelle Bildung wird durch verschiedene Ressorts verantwortet, die in unterschiedlichem Ausmaß sozialraumorientiert agieren. Diese administrative Einbettung als Querschnittsaufgabe schafft konzeptionelle Spielräume und Möglichkeiten der Vernetzung, die besondere Relevanz haben, wenn eine Zusammenarbeit im und mit Akteuren im Sozialraum angestrebt und realisiert wird. Dabei geht es für die Träger der Kulturellen Bildung auch darum, dass diese geeignete sozialräumliche Partner und Netzwerke identifizieren und für Partnerschaften eine entsprechende sozialräumliche Konzeptions- und Kooperationsfähigkeit haben. In diesem Zusammenhang erlangen auch die Kooperationen mit (Ganztags-)Schulen und die Entwicklung von und Beteiligung an lokalen Bildungslandschaften, die in enger Verzahnung mit kommunaler Verwaltung entstehen, für die Jugendkulturarbeit an Bedeutung (siehe unten).

Es gibt aber auch institutionenbezogene Fragen zu klären: Was tragen Bildungs- bzw. Kultureinrichtungen zu ihrer räumlichen Erreichbarkeit bei, welche (baulichen, finanziellen bis hin zu sozial-kulturellen) Zugangsbarrieren haben sie, sind sie so gestaltet, dass sich Kinder und Jugendliche willkommen fühlen? Letzterer Aspekt verweist darauf, dass die realräumliche Perspektive des Sozialraumes auch bauliche bzw. innenarchitektonische Dimensionen hat. Kultur und Bildung sind ohne die sinnliche und ästhetische Qualität auf der einen Seite, ohne geeignete (z.B. entsprechend große und ausgestattete) Räume andererseits, nicht realisierbar.

Weil Sozialräume auch virtuelle Räume sind, kommt auch hier der Medienbildung als Teil und Querschnittsaufgabe der Kulturellen Bildung eine besondere Funktion zu: Im Umgang mit neuen Medien erschließen sich Kinder und Jugendliche virtuelle soziale Räume eigentätig – zur kompetenten Nutzung und Gestaltung dieser müssen sie empowert werden.


3.5 Sozialraumorientierung im Kontext lokaler Bildungslandschaften

Aktuell wird der Ruf nach mehr Sozialraumorientierung auch im Kontext der lokalen Bildungslandschaften angeführt. Ähnlich wie bei der Debatte um den Ausbau ganztägiger Bildung und damit verbundenen Kooperationen von Trägern formaler und non-formaler Bildung macht es auch hier den Anschein, als werde eine Sozialraumorientierung der Bildungslandschaften als per se gegeben betrachtet. Doch wie verhält es sich mit der sozialraumorientierten Ausrichtung der Bildungslandschaften im erweiterten Sinne?

Laut Bleckmann und Durdel (2009:12) sind lokale Bildungslandschaften

  • „langfristige,
  • professionell gestaltete,
  • auf gemeinsames und planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung,
  • die – ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts –
  • formale Bildungsorte und informelle Lernwelten umfassen und
  • sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen.“

Diese Definition benennt die Perspektive der Kinder und Jugendlichen („des lernenden Subjekts“) als Ausgangslage der kommunalen bzw. regionalen Netzwerke und setzt damit eine lebensweltorientierte Ausrichtung voraus. Informellen Lernwelten räumt sie einen klaren Stellenwert ein und würde damit den wesentlichen Grundvoraussetzungen sozialraumorientierten Konzepten gerecht (wenngleich der Begriff „Sozialraumorientierung“ nicht explizit in der Definition auftaucht). Dies entspricht der Forderung Deinets (2010b:13), dass sich Bildungslandschaften nicht auf die Vernetzung von Institutionen beschränken sollten, sondern insbesondere öffentliche Räume einbeziehen müssen. „Die Planung von Spielräumen, Spielplätzen, öffentlichen Räumen bis hin zur Umnutzung und Zwischennutzung von Räumen kann die Grundlage für die Entwicklung einer vielgestaltigen Bildungslandschaft sein. Eine solche Bildungslandschaft unterscheidet vielfältige Settings und hat die Förderung formeller, non-formaler und informeller Bildungsprozesse zum Ziel.“ (Ebd.). Ausgehend von heterogenen Bildungsorten und Settings fordert Deinet in diesem Sinne, von einer schulzentrierten zur sozialräumlichen Bildungslandschaft zu kommen.

Anschlussfähigkeit der Sozialraumorientierung zu lokalen Bildungslandschaften

Hinze (2008) hat fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung formuliert, die konzeptionell unmittelbar anschlussfähig zur genannten Definition lokaler Bildungslandschaften sind – und dies vor allem in Hinsicht auf die Bedingung, dass die Perspektiven des lernenden Subjekts Ausgangspunkt sein sollten und unterschiedliche Akteure und Bildungswelten einbinden sollten:

  1. Kooperation und Koordination,
  2. Orientierung am Willen der Menschen,
  3. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
  4. Konzentration auf die Ressourcen (der Menschen und des Sozialraumes),
  5. Zielgruppen- und bereichsübergreifende Sichtweise.

Laut Reutlinger (2009:2) jedoch werden Bildungslandschaften häufig zu statisch aufgefasst. In der Fachdebatte, fußend auf den Konzepten und Positionen des Deutschen Vereins, der Aachener Erklärung und des 12. Kinder- und Jugendberichts, gehe es vornehmlich „um Steuerung, um Ausdifferenzierung, um Öffnung und Vernetzung und letztlich um Qualitätskontrolle, nicht aber um die Frage eines adäquaten pädagogischen Raumkonzeptes.“ Seiner Ansicht nach findet keine Differenzierung zwischen Orten, Handlungen unterschiedlicher Akteure und gesellschaftlicher Prozesse statt. Zudem schwingt die Gefahr mit, dass im Zuge der Neupositionierungen die Raumfrage für Hierarchie- und Machtfragen missbraucht wird. Dementsprechend plädiert Reutlinger für die (Er-)Öffnung neuer Möglichkeitsräume auf allen Ebenen.

Reutlinger (ebd.:7ff.) formuliert aus sozialräumlicher Perspektive vier raumtheoretische Einwände zum Konzept lokale Bildungslandschaften, die Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung und Verbesserung von Konzepten lokaler Bildungslandschaften sein sollten:

1. Raum wird als Ort verkürzt verstanden. Bildungsraum mit geografischem Ort gleichgesetzt: In der allgemeinen bildungspolitischen Diskussion post-PISA wird die Bildungslandschaft als Ort aufgefasst, z.B. im Ringen um das Gleichgewicht zwischen formeller, informeller und nichtformeller Bildung. Die Herausforderung bestünde darin, einen „Paradigmenwechsel vom Ort zum Raum“ zu vollziehen.

2. Bildungslandschaften sind zu sehr ein Nebeneinander von Bildungsorten im Territorium: Bildungsorte und Akteure miteinander zu vernetzen reicht nicht aus. Vielmehr sollten die Konstitutionsmechanismen der Landschaften in den Blick genommen werden. „Unter welchen regionalen spezifischen Rahmenbedingungen werden Landschaften von den unterschiedlichen Akteuren „erzeugt“? Welche Landschaftstypen haben unter welchen Voraussetzungen hohe Durchsetzungskraft?

3. Gleiche Augenhöhe meint nicht gleichberechtigt, eine Neupositionierung ist notwendig: Die Entwicklungen hin zu ganztägiger Bildung haben Neupositionierungen der verschiedenen Bildungs- und Erziehungsbereiche mit sich gebracht. Die außerschulische Seite sollte sich dabei nicht mit dem Motto „dabei sein ist alles“ zufriedengeben. Den außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbereich führt erst eine raumthematische Erweiterung, die vom Bildungsgedanken her und weniger territorial argumentiert, aus der „Nachrangigkeit“ hinter anderen Bildungsorten heraus.

4. Regional, kommunal, lokal – Es droht die Gefahr der Verdinglichung von Bildungslandschaften: Individuelle Betreuung und Verbesserung der Lern- und damit Lebenschancen scheint sich im Dreiklang aus Bildung, Erziehung und Betreuung darauf zu beschränken, alle Lern- und Bildungsorte in einem Territorium aufzusummieren. „Als verbindendes Element einer Landschaft scheint Bildung zu fungieren. […] Die Landschaft scheint sich so dem Individuum anzupassen, indem sie sich bewusst wird, dass sie eine Landschaft ist (reflexive Organisation). Durch die banale Raumvorstellung droht sie sich jedoch als starre Fläche langsam über die Lebenswelt zu legen, bis sie aus dieser institutionellen Perspektive scheinbar zur Lebenswelt wird.“

Die raumtheoretische Herausforderung besteht laut Reutlinger darin, biografische Bewältigungsformen und die sozialemotionalen Bildungsaufgaben in der Kindheit und Jugend mehr in den Blick zu nehmen und die Kompetenzen von jungen Menschen in Quartieren als Aneignungshandeln erneut zu entdecken.

Wolfgang Zacharias entwickelte in einer Skizze (PA 1983:25) für die Kulturelle Bildung frühzeitig eine subjektive und sozialräumliche Bildungslandschaft mit pädagogisch veranstalteten Situationen und Milieus. Darin wird deutlich, dass sowohl die fünf Prinzipien der Sozialraumorientierung lokaler Bildungslandschaften realisiert werden (können) als auch der vorgebrachten Kritik begegnet wird und werden kann: Es werden in seinem Konzept ästhetische Erlebnis-, Erfahrungs- und Aktionsräume dargestellt, inklusive:

  • der Möglichkeit, „Kindern und Jugendlichen Primärerfahrungen in authentischen und vielseitigen Lebenswelten als sinnlich-gegenständliche Basis der Wirklichkeitsaneignung und darauf aufbauender symbolischer Wirklichkeitsbearbeitung zu erschließen [...];
  • [der] offensiven Erschließung der Orte und Räume, der Öffentlichkeit für Kinder und Jugendliche, aus denen sich die jeweilige Lebenswelt zusammensetzt, zugunsten aktiver Erfahrung in unterschiedlichen Situationen;
  • [des] Lockerns des Zeitkorsetts, in das für Kinder und Jugendliche Lernen gepresst ist, zugunsten mehr selbstbestimmter und gegenstandsorientierter Zeitrhythmisierung; [...]
  • [der] Rückeroberung der Felder und Inhalte, die aufgrund größerer Nähe zu Kinder- und Jugendbedürfnissen kommerzialisiert worden sind. Hier gilt es, Formen von Kinder- und Jugendkultur zu entwickeln.“ (PA 1983:13)

Zusammenfassung und Ableitung für Kulturelle Bildung

In der aktuellen Debatte um die Umsetzung von lokalen Bildungslandschaften sollte die sozialräumliche Perspektive eine wichtigere Rolle spielen, denn – so konnte bisher dargelegt werden – Sozialraumorientierung ist nicht nur ein wichtiges Paradigma der Sozialen Arbeit, sondern verbindet dies mit vielen Impulsen für die (kulturelle) Bildungs- und Jugendarbeit und umgekehrt. Strukturell ist sozialräumliche Arbeit nicht ohne Ressourcen- und bereichsübergreifende Orientierung sowie nicht ohne Kooperation und Koordination verschiedener Angebote zu realisieren. Kulturelle Bildung sollte daher ein fester Bestandteil lokaler Bildungslandschaften sein. Überdies kann sie aktiv zur sozialräumlichen Ausrichtung dieser Landschaften beitragen.

Für eine sozialräumlich ausgerichtete Kulturelle Bildung bedeutet dies, sektorale Grenzen noch weiter zu überwinden. Sozialräumlich zu denken heißt, eben nicht nur Politik, Verwaltung und Träger sowie Zivilgesellschaft aus Jugend, Bildung und Kultur zusammenzubringen, sondern auch die Ressorts und Anbieter aus den Bereichen Städtebau, Soziales, Wirtschaft, Umwelt etc. verantwortlich einzubinden.

Gerade aus der raumtheoretischen Kritik an den lokalen Bildungslandschaften ergibt sich ein kritischer Blick auf die kommunalen Gesamtkonzepte Kultureller Bildung, die seit einigen Jahren vermehrt entstehen. Ansätze sozialräumlicher Überlegungen oder Methoden sozialräumlicher Analysen kommen in diesen Gesamtkonzepten nicht oder kaum sichtbar vor. Dies lässt sich unter anderem darin begründen, dass sie oft von den Kulturverwaltungen verantwortet werden, die andere Schwerpunkte fokussieren. Zudem fehlt den Gesamtkonzepten mit ihrer kommunalen Prägung und Steuerung oft die Möglichkeit der Mitentscheidung und Mitgestaltung durch die Zivilgesellschaft.

Die verantwortlichen Akteure kommunaler Gesamtkonzepte bzw. kulturell geprägter Bildungslandschaften könnten ihre sozialräumliche Perspektive anhand folgender Fragen überprüfen:

  • Setzen sie die Bildungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ins Zentrum? Haben sie entsprechend ein inhaltliches und lebensweltorientiertes Bildungskonzept?
  • Wohnt ihnen ein umfassender Raum- und nicht nur ein (institutionsbezogener) Kulturorte- bzw. Bildungsorte-Begriff inne? Spielt die sozialräumliche Dimension eine Rolle?
  • Nehmen sie die regionalen „Landschaften“ jenseits der Bildungs- und Kulturlandschaft spezifisch auf und beziehen sie dabei alle Akteursebenen ein?
  • Achten sie bei den Akteuren auf eine Ausgewogenheit und Fairness in der Wertigkeit, z.B. von informeller, non-formaler und formaler Bildung?
  • Wer darf über die Landschaften und Konzepte bestimmen, d.h. welche (z.B. auch zivilgesellschaftliche und/oder kinder- und jugendorientierte) Beteiligung liegt ihnen zugrunde?

4. Subjekte erschließen und Sozialräume gestalten

4.1 Der Sozialraum als subjektiver: Wahrnehmungs-, Handlungs- und Engagementraum

Ein umfassender Begriff von „Sozialraum“ bezieht „subjektive Räume“, d.h. Lebenswelten, Handlungs- und Aneignungszusammenhänge der Menschen ein, ebenso Familien, soziale Beziehungsgefüge und Netzwerke sowie nicht zuletzt auch virtuelle Räume wie z.B. Social Media-Netzwerke. „Den inneren Kern des Handlungskonzeptes Sozialraumorientierung bildet der konsequente Bezug auf die Interessen und den Willen der Menschen, dem Aspekte wie der geografische Bezug, die Ressourcenorientierung, die Suche nach Selbsthilfekräften und der über den Fall hinausreichende Feldblick logisch folgen. Sozialraumorientierte Soziale Arbeit ist somit ein hochgradig personenbezogenes Konzept [...].“ (Wikipedia 2015)

Der Sozialraum kann als ein subjektiver Erfahrungs- und Verhaltensraum verstanden werden. Menschen gestalten und erfahren ihre Lebenswelt durch ihre Kontakte und Aktivitäten in einem räumlichen Bezug. Auffällig ist, dass diese subjektive Kategorie der Sozialraumorientierung immer wieder betont, aber konzeptionell wenig erläutert wird, z.B. „ Sozialraum ist eine subjektive Kategorie, die sich aus den sozialen Beziehungen und Netzwerken eines Menschen ergibt.“ (Beck zitiert nach Eckert 2014:10).

Schon in diesen Darstellungen wird deutlich, dass sich die subjektive Dimension sowohl auf die Wahrnehmung des Sozialraums als auch den je individuellen Umgang mit dem wahrgenommenen Sozialraum bezieht: Aus den subjektiven Dispositionen und der subjektiven Wahrnehmung ergeben sich individuelle Beziehungsstrukturen und Handlungsmuster.

Dieser subjektive Faktor hat zudem zutiefst pädagogische bzw. bildungsrelevante Implikationen, gerade weil traditionelle Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule Unterstützung und Ergänzung brauchen, um (alltags- und zukunfts-)relevante Orientierung zu geben. Schon Böhnisch und Münchmeier analysierten, dass „die Auflösung tradierter Normen, Institutionen und Rollen im Prozess der Modernisierung [...] diese sozialräumliche Orientierung der Jugendlichen an ihrer konkreten Lebenswelt, insbesondere durch die wachsende Bedeutung von Cliquen, die weitgehend auf öffentliche Räume angewiesen sind“ vergrößert (Deinet 2009a:49). Determinanten und Chancen für gelingende Sozialisation und Bildung liegen daher neben Familie und Schule in jeder Form von Umwelt: Jugendarbeit, Freundeskreis, Szene, Medienwelt oder öffentlicher Raum (Schuster 2014). „Die Kids wachsen über die sozialräumliche Aneignung ihrer städtischen Wohnumwelt aus der Familie heraus in die soziale Welt hinein.“ (Böhnisch 1992:183).

Die grundsätzliche Dynamik und Offenheit, die soziale und Handlungsorientierung des Sozialraums, welche sich aus seiner subjektiven Dimension begründen, verweisen erneut auf die Zielrichtung „Empowerment“ und damit in letzter Konsequenz auf das demokratisierende Potential des Paradigmas „Sozialraum“, das unter anderem bürgerschaftliches Engagement fördert und deshalb auf zivilgesellschaftliche Strukturen angewiesen ist. „Der Sozialraum dient als Engagement- und Versorgungsraum. Der soziokulturelle Raum entsteht durch gesellschaftliche Mitbestimmung, politische Entscheidungen und nachfrageorientierte Steuerung [...]. Die Menschen gestalten ihren Lebensraum mit und setzen sich u. a. in Familie, Nachbarschaft, Schule, Pfarrgemeinde, in Initiativen und Organisationen für bessere Lebensbedingungen und für die Gemeinschaft ein. Wille, Interesse, Bedürfnisse des Einzelnen und seiner Familie sind Ausgangspunkt des Handelns. Bürgerschaftliches und zivilgesellschaftliches Engagement werden möglich und sinnvoll sowohl über die Bewohner/innen als auch über verstärktes soziales Engagement seitens der Verbände, Vereine oder Selbsthilfeinitiativen.“ (Eckert 2014:11).


4.2 Lebenswelt und Subjektperspektive aus sozialräumlicher Perspektive

Der Begriff der „Lebensweltorientierung“ wurde wesentlich geprägt durch Hans Thiersch (1998), der diese seit Ende der 1970er Jahre zur Grundlage sozialarbeiterischen Handelns weiterentwickelt hat. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zielt auf einen gelingenden Alltag ab und rückt die sozialen Probleme der Betroffenen sowie dessen Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuche ins Blickfeld. Im Zuge der verstärkten Hinwendung zum lebensweltorientierten Blick auf das Subjekt wird die Lebenswelt- und Sozialraumorientierung unter dem Motto „Vom Fall zum Feld“ grundsätzlich auch als Ent-Pädagogisierung der Sozialen Arbeit verstanden.

Als Perspektive hilfreich ist hierfür auch die „Subjektivität der Lebenswelt“, wie sie von Björn Kraus (o. J.:7) in Bezug auf Husserl und Schütz beschrieben wird: Sie „ergibt sich [...] im doppelten Sinne: Einmal dadurch, dass sich die Lebensbedingungen von Menschen unterscheiden. Zugleich aber auch dadurch, dass sich die Menschen selbst unterscheiden (in ihrer physischen und psychischen Ausstattung). Es unterscheidet sich also zum einen das, was wahrgenommen wird, zum anderen aber auch, wie etwas wahrgenommen wird.“

Derart umschreibt Lebenswelt die subjektiv wahrgenommene Welt des Menschen im Gegensatz zu seiner Lebenslage, d.h. zu dessen „tatsächlichen“ Lebensbedingungen (z.B. physikalisch-geografischer und gesellschaftlicher Raum). Jung (o. J.:1f.) differenziert phänomenologisch drei subjektive Raumkategorien, die wiederum für ein mögliches weites Sozialraumverständnis Relevanz haben:

  1. biologisch-körperlicher (physischer) Raum, d.h. die individuell-einzigartige Wahrnehmung unseres Selbst in Raum und Zeit;
  2. emotionaler Raum, indem die Umwelt, die in diese Zonen eindringt, Emotionen auslöst und Handeln bestimmt;
  3. biografischer Raum, der auf die Geschichte des Individuums verweist und im Zuge der Prozesse von Individualität und Enkulturation/Sozialisation die Wahrnehmung mitbestimmt.

Dieser Wahrnehmungsapparat liegt auch radikal-konstruktivistischen Erkenntnismodellen zugrunde, nach denen Realität (und damit der/ein Sozialraum) nicht das ist, was sie uns zu sein scheint. Sie ist eine soziale Konstruktion ihrer Akteure. Über dieses Abbild müssen wir uns in kommunikativen Prozessen mit unserer Umwelt versichern. „Raum wird auf diese Weise zum Gegenstand sozialer Interaktion, von sozialem Handeln überhaupt.“ (Jung o. J.:3). Es liegt in diesem sozialen Dialog ein besonderes Potential: Sozialräume sind grundsätzlich veränderbar (ebd.:5) und erweiterbar – auch dadurch, so Kurt Bader (2002:55), indem der Sozialraum über die erschlossenen und genutzten sozialen bedeutsamen Handlungszusammenhänge „gleichzeitig auf bisher unerschlossene und wenige bzw. nicht genutzte Handlungsmöglichkeiten“ verweist. Der Begriff der Lebenswelt beschreibt sowohl die sozialen Beziehungsstrukturen der jungen Menschen als auch dessen Aneignungskontexte.

Deinet (2009a:18) stellt fest, dass dem formalen Verständnis von Räumen als sozialgeografische Planungsgröße ein Verständnis von Sozialraumorientierung gegenübersteht, „welcher Sozialraum als subjektives Konstrukt einer Lebenswelt auffasst und danach fragt, wie subjektive Lebenswelten gestaltet und strukturiert sind, in welchen Räumen Kinder und Jugendliche leben und welche Anforderungen sich daraus an eine Kinder und Jugendarbeit ergeben.“ Dementsprechend fußt eine konsequente sozialraumorientierte Konzeptentwicklung auf dem Zusammenhang von Verhalten der Kinder und Jugendlichen und den territorialen Räumen, in denen sie leben. Diese Vorgehensweise beschreibt Deinet als Gegenmodell zu einer – oben beschriebenen – eher institutionell orientierten Konzeptentwicklung, die von den Rahmenbedingungen der Institutionen und Fachkräfte ausgehen (ebd.:19). Dementsprechend stellt die Methode einer qualitativen „Lebensweltanalyse“ zur Erkundung von Lebenswelten die Basis (und geeignete Methode) einer sozialraumorientierten Konzeptentwicklung dar. Erst darauf aufbauend erfolgt die Verortung der Institutionen (Jugendeinrichtungen) und die Analyse der zur Verfügung stehenden Aneignungsräume (vgl. Deinet 2010a).


Lebensweltanalyse als Methode

Qualitative Lebensweltanalysen als geeigneter Ausgangspunkt sozialraumorientierter (sozialer, Jugend-, Bildungs-)Arbeit nehmen konsequent die kindliche und jugendliche Perspektive ein und ermöglichen so einen subjektzentrierten Blick z.B. auf Bildungsorte und dessen Funktionen. Die

Lebensweltanalyse führt zu „einer Verbindung zwischen dem Blick auf Aktionsräume als von Kindern und Jugendlichen subjektiv konstituierten Räumen und den sozialpädagogischen Konzepten.“ (Ebd.:73).

Zentrale Methoden der Lebensweltanalyse sind (Deinet 2010:59):

  • die Stadtteilbegehung mit Kindern und Jugendlichen,
  • die Nadelmethode,
  • das Cliquenraster,
  • die Institutionenbefragung,
  • die strukturierte Stadteilbegehung,
  • die Autofotografie,
  • die subjektiven Landkarten und
  • die Zeitbudgets.

Diese Lebensweltanalysen können durch Methoden der Sozialraumanalyse – vor allem in Planungsphasen – ergänzt bzw. zu diesen in Bezug gesetzt werden, wie sie z. B. Sekundäranalysen der amtlichen Statistik, geografische Informationssysteme, Beobachtungsverfahren oder Expert/innen-Interviews umfassen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, partizipative Elemente (Zukunftswerkstätten, runde Tische, aktivierende Befragungen ...) einzusetzen.


Zusammenfassung und Ableitung für Kulturelle Bildung

Auch Kulturelle Bildung verweist auf subjektive Kategorien: Bildung als subjektive Seite von Kultur umfasst individuelle Wahrnehmungsphänomene und Verarbeitungsprozesse, die durch körperliche Voraussetzungen, emotionale Dispositionen und biografische Erfahrungen (mit-)bestimmt werden.

Kultureller Bildung liegt ein weiter Bildungsbegriff zugrunde, der die subjektive Dimension sozialraumorientierter Jugend-, Kultur- und Bildungsarbeit mit Konzepten und Methoden realisieren kann, die neben dem Kognitiven das Soziale und Emotionale berücksichtigen und für Selbstbildungsprozesse Raum und Zeit lassen, die nicht gesellschaftliche Funktionserwartungen bzw. Fremdbestimmung, sondern die Selbststeuerung des Lernens in den Fokus rücken.

Wichtige Grundprinzipien der Kulturellen Bildung sind Subjekt- und Lebensweltorientierung (siehe unten). Sie setzen die Einzelnen ins Zentrum, regen ausgehend von individuellen Wünschen und Bedarfen, Ideen und Vorstellungen, Realitäten und Visionen, Beziehungen und Dialogen Bildungsprozesse an.

Kulturelle Bildung ist immer auch Wahrnehmungsschulung, die nicht nur eigene ästhetisch-sinnliche Erfahrung ermöglicht und reflektiert, sondern mittels Perspektivwechsel auch weitere Deutungen einbezieht und erfahrbar macht. Sie erweitert damit (auch sozialräumliche) Horizonte und Handlungsmöglichkeiten.

Kulturelle Bildung findet in Familie und Schule statt, zu einem sehr bedeutenden Anteil aber auch in weiteren sozialräumlichen Kontexten: informell in selbstorganisierten Jugendkulturen oder in medialen sozialen Netzen, non-formal beispielsweise in Einrichtungen der Jugend- oder Kulturarbeit. Gerade an letztere Anbieter richtet sich der Auftrag, in ihrer Arbeit das soziale Hineinwachsen von Kindern und Jugendliche in ihre Welt nicht nur aufgrund der subjektiven Kategorien zu unterstützen, sondern auch durch sozialräumliche Vernetzung.

Sozialraumkonzepte sollen auf Empowerment und partizipativen Ansätzen beruhen. Sie benötigen dafür die zivilgesellschaftliche Kompetenz von Verbänden und Vereinen, Initiativen und Netzwerken. Sozialraumorientierte Arbeit ermöglicht demnach Lernprozesse, die direkt auf Teilhabe und Mitbestimmung zielen, wie sie in der Kulturellen Bildung üblich sind bzw. angestrebt werden. Das bedeutet auch, dass die Ausgestaltung und Umsetzung sozialräumlicher Ansätze keine (alleinige) Aufgabe kommunaler Verwaltung sein kann. Denn die subjektiven und zivilgesellschaftlichen Dimensionen widerstehen weitestgehend staatlichen Steuerungsmechanismen und sollten sich diesen auch entziehen. An dieser Stelle sei die Verantwortung der Anbieter der Jugend(kultur)arbeit und Kulturellen Bildung betont, mittels Subjektivität und Sozialität zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken.


4.3 Aneignung als subjektorientierte Methode für sozialraumorientierte Jugend(kultur)arbeit

Die stark subjektorientierte Ausrichtung sozialraumorientierter Arbeit stellt Deinet unter Bezugnahme auf das Aneignungskonzept nach Leontjew her, das die Entwicklung des Menschen als tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur versteht. Im Gegensatz zu klassischen entwicklungspsychologischen Ansätzen begreift Leontjew die menschliche Entwicklung als tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die gegenständliche Umwelt wird dabei nicht passiv rezipiert, sondern verarbeitet. Aus der Aneignungstätigkeit entsteht Bewusstsein, Gegenstände und Symbolisierungen erhalten so ihren Sinn und ihre neue Bedeutung. Es interessierten also nicht allein die objektiven Gegebenheiten der Umwelt, sondern die subjektiven Wahrnehmungen der Kinder und Jugendlichen. Dahinter steht die Einsicht, dass sich Umwelt nicht direkt auf das Verhalten von Kindern auswirkt, sondern dass die Art, wie ein Individuum eine Situation oder überhaupt seine „Welt“ und Veränderungsoptionen dieser Welt wahrnimmt und erlebt, seine Bewertung und sein Verhalten entscheidend bestimmt. Das Konzept der „Aneignung“ fragt danach, wie Kinder und Jugendliche diese objektiven Parameter subjektiv wahrnehmen, deuten und verarbeiten (Klawe o. J.:4f.).

Insbesondere Holzkamp (1983) hat das Aneignungskonzept auf der Grundlage Leontjews weiterentwickelt und auf heutige Rahmenbedingungen übertragen. „Der Leontjewsche Begriff der Gegenstandsbedeutung (als Vergegenständlichung gesellschaftlicher Erfahrung, die im Aneignungsprozess erschlossen werden muss) wird von Holzkamp abstrahiert bis auf die gesellschaftliche Ebene komplexer sozialer Beziehungen, die in der individuellen Entwicklung ebenfalls von einfachen (gegenständlichen) Formen bis zu hochkomplexen Zusammenhängen verallgemeinert werden müssen.“ (Deinet 2009a:28). Die Aneignungsprozesse der Kinder und Jugendlichen finden also eingebettet im Raum unserer Gesellschaft statt.

Ein weiterentwickeltes, tätigkeitsorientiertes Aneignungskonzept muss dementsprechend veränderten Raumvorstellungen gerecht werden. Diese werden im Rahmen der „Raumsoziologie“ von Martina Löw (2001) herausgearbeitet. Löw kritisiert die bis heute vielfach aufrechterhaltende Trennung von Subjekt und Raum. Raum werde als etwas Äußeres betrachtet, was das Individuum betritt, um ihn zu nutzen, zu gestalten etc. Solche Vorstellungen gehen davon aus, dass Subjekte ohne Raum existieren und Raum mehr oder weniger eine physikalische Gegebenheit darstellt. Ihrer Ansicht nach entstehen Räume jedoch durch die Interaktion von Menschen und sie schlägt deshalb einen relationalen Raumbegriff vor. Dieser relationale Raumbegriff hat vier Dimensionen: soziales Handeln, materielles Erscheinungsbild, kultureller Ausdruck und Regulation (Ordnungskriterien und -elemente).

Löw beschreibt, dass Kinder und Jugendliche heute im Unterschied zu früheren Generationen andere, weniger homogene Raumvorstellungen entwickeln, sondern unter anderem aufgrund des Einflusses der Medien Raum als inkonsistent erfahren. Diese Erkenntnis sollte in zeitgemäßen Aneignungskonzepten Berücksichtigung finden. „Dies bedeutet, dass sich neben der Kontinuität der tradierten Raumvorstellung [...] auch eine Vorstellung von Raum zu etablieren beginnt, die Raum statt einheitlich als uneinheitlich, statt kontinuierlich als diskontinuierlich, statt starr als beweglich manifestiert.“ (Löw 2001:88). Auf dieser Grundlage kommt Deinet (2009a:57) zu dem Schluss, dass „Tätigkeit“ heute als aktive prozesshafte Form, die auch virtuelle und symbolische Räume einbezieht, verstanden werden muss, der über realräumliche „Gegenstände“ hinausgeht.


Zusammenfassung und Ableitung für Kulturelle Bildung

Sozialraumkonzepte beinhalten eine lebensweltliche Orientierung, die ebenso ein leitendes Handlungsprinzip Kultureller Bildung ist. Die Aneignung ihrer jeweiligen Lebens- und Umwelt ist ein schöpferischer Prozess, der auf subjektiver Wahrnehmung beruht und sich im konkreten Handeln und Gestalten zeigt. Kulturelle Bildung öffnet dafür Gelegenheiten und greift dabei alle Aspekte des Aneignungskonzeptes von Deinet (2009b) auf, insbesondere:

  • Kulturelle Bildung ist die eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt mittels kultureller und künstlerischer Methoden;
  • Kulturelle Bildung ermöglicht die (kreative) (Um-)Gestaltung von Räumen mit Symbolen;
  • Kunst und Kultur sind Inszenierung und Verortung im öffentlichen Raum (Straße, Park, Brachflächen ...) und in Institutionen;
  • Kulturelle Bildung erweitert motorische, gegenständliche, kreative und mediale Kompetenz und unterstützt die eigentätige Nutzung neuer Medien zur Erschließung virtueller sozialer Räume;
  • künstlerische Prozesse ermöglichen es, ein verändertes Verhaltensrepertoire in neuen Situationen zu erproben.

Diese Proklamationen können nur dann gute Praxis werden, wenn – nach Christoph Stoik (o. J.:3f.) – folgende Konsequenzen berücksichtigt werden:

  1. Es braucht zielgruppenspezifische Angebote, d.h. die Anbieter müssen wissen und berücksichtigen, „wie die Zielgruppen ticken“, wie ihre Lebenslagen sind und wie die Handelnden ihre Lebenswelt wahrnehmen und bewerten.
  2. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit dem physischen Raum. Kulturelle Bildung kann den physischen Raum und dessen Rückwirkung auf den sozialen Raum sowie auf die Handlungsmöglichkeiten von Menschen nicht unberücksichtigt lassen.
  3. Es ist unbedingt notwendig, dass Kinder und Jugendliche lernen und erfahren, wie sie ihre ökonomische, soziale und kulturelle Lage verbessern können, also – mit dem Bildungsverständnis der Kulturellen Bildung gesprochen – sollten Angebote der Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes dienen.
  4. Es bedarf der Gestaltung von Räumen durch die „Betroffenen“, durch Kinder und Jugendliche, ihre Eltern und Freunde selbst.

„Dem eher weiten, raum- und subjektbezogenen Sozialraumverständnis ist eine sozialraumorientierte kunst- und kulturpädagogische Sichtweise verwandt. Hierbei liegt der Fokus auf räumlicher Präsenz und Repräsentanz künstlerischer, kultureller und ästhetischer Phänomene der jeweils erreichbaren und nutzbaren Lebens(um)welt. Sowohl die produktiv-gestaltende wie auch die partizipativ-interaktive Chance der Raumnutzung wird dabei als wertvoll gesehen und betont – als Möglichkeit professioneller Aktivierungs- und Aktionsangebote für die in diesem Kultur- und Sozialraum lebenden Kinder und Jugendlichen.“ (Schuster 2014).

Für sozialräumlich orientierte Konzepte Kultureller Bildung lohnt es in jedem Fall, ihre Praxiskonzepte, Lebensweltanalysen durchzuführen und mit diesen in Erfahrung zu bringen, welche kulturellen Räume (von subjektiv bis realräumlich) Kinder und Jugendliche „nutzen“ und wie sie diese wahrnehmen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich kulturelle Handlungsräume erweitern und lässt sich kulturelle Teilhabe ermöglichen.

Auch für Kultur und Bildung kann dabei nur ein relationaler Raumbegriff zugrunde gelegt werden. Zum einen existieren Kultur und Bildung nicht unabhängig vom Subjekt. Zum anderen sind sie dynamische Kategorien, bei denen es sich nicht zuvorderst um kontinuierliche und gegenständliche Räume handelt.

5. Fazit und Ausblick

Für Kulturelle Bildung und Sozialraumorientierung gibt es insofern nicht nur zahlreiche Anschlüsse und Übersetzungsmöglichkeiten – die Darstellungen legen, in Anlehnung an Mayrhofer und Zacharias (1977:309ff.) nahe, dass Kulturelle Bildung ohne lebensweltliche und sozialräumliche Strategien und Konzepte individuelle und gesellschaftliche Ziele nicht erreicht: „Kulturelle Aktivität erfordert Spielräume. Sind diese ritualisiert, verkommt Kultur zu Kult, der fremden Interessen dient. Sind sie auf Lebenssituationen bezogen, ermöglichen die darin gemachten Erfahrungen das Verständnis und die Veränderungen der realen Lebenssituationen.“

Insofern ist es gut, wenn die sozialräumliche Perspektive eine Renaissance in der Kulturellen Bildung erlebt und den Blick auf deren Selbstvergewisserung und Weiterentwicklung lenkt.

Zu dem bereits Gesagten kommen dazu folgende Herausforderungen:


1. Konzeptionelle und methodische Herausforderungen

  • Jugend(kultur)arbeit und Kulturelle Bildung sollten in jedem Fall einen weiten Sozialraumbegriff in ihre Konzeption aufnehmen.
  • Sozialraumorientierung fragt immer nach der Teilhabe und der Inklusion aller Kinder und Jugendlichen, was zu kultursensiblen und diversitätsbewussten Konzepten führen muss, mit denen heterogene Zielgruppen angesprochen und erreicht werden. Davor stellt sich die Frage der Zielgruppenidentifikation und -analyse.
  • Sozialräumlich orientierte Jugendarbeit hat in den vergangenen Jahren, wie die Kulturelle Bildung auch, intensiver intergenerative Schwerpunkte verfolgt, in Familien- und Elternarbeit sowie Peer-Education investiert. Diese Schwerpunkte gilt es weiterzuentwickeln.
  • Sozialraumorientiert bzw. sozialräumlich sensible Arbeit ist in allen Formaten möglich: von den mobil-aufsuchenden Angeboten bis zur Erweiterung von Sozialräumen durch Komm-Strukturen. Der Perspektivwechsel findet eher in Bezug auf das Partizipationsverständnis, den Lebensweltbezug und die Aneignungsprozesse statt.

Träger und Einrichtungen der Kulturellen Bildung bezeichnen mit sozialraumorientierten Angeboten häufig jene, die sich inhaltlich mit dem nahen Umfeld der Kinder und Jugendlichen beschäftigen (z.B. mediale Stadtteilerkundungsprojekte usw.).


2. Herausforderungen für die professionelle Haltung

  • Sozialräumlich zu wirken, bedeutet für die Fachkräfte der Kulturellen Bildung, sich mit möglichen eigenen Habitus-Hürden zu konfrontieren und diese zu überwinden. Dies könnte z.B. den eigenen Kulturbegriff betreffen und das Wissen darum, dass mit Kunst und Kultur gesellschaftliche Exklusionsfunktionen verbunden sind. Darin inbegriffen ist aber auch, kritisch das Selbstverständnis als „Künstler“ oder „Kulturpädagoge“ zu reflektieren und sozial wie gesellschaftspolitisch „aufzuladen“.
  • Sozialraumorientierung ist eine (politische) Positionierung, um den Dilemmata raumbezogener Vorgehensweisen (Homogenisierungs-, Präventions-, Vernetzungs- und Milieudilemma) zu entgehen. Das bedeutet, sich den sozialräumlichen Fallstricken zu widersetzen. In dem Zusammenhang sollte den Akteuren bewusst sein, dass Sozialraumarbeit nicht generell gut ist oder immer auf der richtigen Seite steht. Sozialraumarbeit hat sich vielmehr immer wieder zu legitimieren und zu beweisen (Jung o. J.:10).
  • Zunächst heißt es für die Einrichtungen und Fachkräfte, ein sozialräumliches Selbstverständnis zu entwickeln. Dafür ist nach Kessl/Reutlinger (2010:126ff.) entscheidend, dass der jeweilige Handlungsraum systematisch sozialräumlich kontextualisiert wird – unter Einbeziehung aller Beteiligten. Damit verbunden ist ein potentialorientierter Blick auf das „Quartier“ und auf die Zielgruppen.
  • Sozialraumorientierung beinhaltet einen Prozess der Demokratisierung der Kultur bzw. einer Demokratisierung durch Kultur. Die Teilhabe an den gesellschaftlichen Werten, die sich in Kunst und Kultur manifestieren und verdichten, wird durch Kulturelle Bildung zu einer Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft insgesamt.

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Kerstin Hübner, Viola Kelb (2015): Kulturelle Bildung und Sozialraumorientierung: Kontexte, Entwicklungen und Herausforderungen . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/kulturelle-bildung-sozialraumorientierung-kontexte-entwicklungen-herausforderungen (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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