Kulturelle Bildung und gesellschaftliche Transformation. Eine Zustandsbeschreibung

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von Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss

Erscheinungsjahr: 2023

Abstract

„Transformation“ ist schon seit einiger Zeit das Wort der Stunde. Warum ist das gerade jetzt so, wo es doch gesellschaftlichen Wandel immer und zu jeder Zeit gab? Die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollziehen, sind geprägt von einer nie da gewesenen Schnelligkeit, mit der unsere anthropologischen Grundlagen als Menschen, aber auch die Systeme und Strukturen von Kultur und Bildung oft nicht vermögen mitzuhalten. Lebensbedingungen, gesellschaftliche Anforderungen und so genannte Krisenszenarien ändern und ergeben sich scheinbar täglich neu und fordern uns auf individueller und gesellschaftlicher Ebene heraus. Zudem sind viele unterschiedliche Lebensbereiche von starken Wandlungsprozessen betroffen und scheinbar kein gesellschaftliches Subsystem bleibt von solchen Erschütterungen ausgespart. Das Neue und zuweilen auch Bedrohliche an diesen Veränderungen ist aber nicht nur ihre Schnelligkeit, ihre Allumfasstheit, sondern besonders die Tatsache, dass die „alten“, bisher tragfähigen Antworten und Reaktionen, Handlungs- und Lösungsstrategien nicht mehr funktionieren. Überall braucht es scheinbar nicht nur kleine Schritte, Korrekturen und Reformen, sondern die ganz großen Würfe, die ganz große Transformation (Schneidewind 2018). Wir brauchen beispielsweise keine Reform des Schulsystems, sondern eine Transformation der Bildungsangebote dieser Gesellschaft; wir brauchen nicht nur umweltfreundlicheres Verhalten, sondern einen grundsätzlichen strukturellen Wandel unseres Wirtschaftens, Konsumierens und einen veränderten Umgang mit Ressourcen; wir brauchen nicht mehr Technik(-kompetenz), sondern eine Neuausrichtung unserer Lebens-, Arbeits- und Wissensformen in der Postdigitalität. Dieses Wissen um die Handlungsnotwendigkeit, die radikale Änderung von Handlungsschemata jedes und jeder Einzelnen, aber auch gesellschaftlicher Systeme als Ganzes lässt uns nicht selten resigniert und ohnmächtig werden angesichts der übermenschlich erscheinenden Aufgaben einer Transformation von Gesellschaft in ihren Grundwerten. Gesellschaftliche Transformationen besitzen also immer ein erleidendes und ein gestaltendes Moment.

In welcher Beziehung steht nun Kulturelle Bildung als kunstvermittelndes und kulturpädagogisches Feld, aber auch als ästhetische Bildungstheorie und -praxis zu dieser gesellschaftlichen Ausgangssituation? Mindestens drei Untersuchungsfelder schließen sich an:

  • Zum einen ist die Frage danach zu stellen, wie die (Praxis-)Felder Kultureller Bildung durch die aktuellen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse und Transformationen in gesellschaftlichen Teilsystemen beeinflusst werden.
  • Zum anderen lässt sich fragen, wie Kulturelle Bildung als Praxisfeld auf diese Transformationsbewegungen reagiert und
  • nicht zuletzt kann man analysieren, was Kulturelle Bildung bildungstheoretisch und -praktisch anzubieten hat, um sich als Subjekt in einer Gesellschaft, die derzeit einen massiven Transformationsdruck spürt, zu orientieren und zur Transformation gestaltend beizutragen.

Unter diesen drei Perspektiven sollen im Folgenden anhand von einzelnen Beispielen Tendenzen und Entwicklungen, Herausforderungen und Potenziale Kultureller Bildung in transformativen Zeiten deutlich werden. Vertiefend sei auf weitere kubi-online Beiträge verwiesen (Dietrich 2023, Pinkert 2022, Eickhoff 2023, Liebig 2022, Deeg 2023 etc.; siehe Dossier „Zukunft Kultureller Bildung in Zeiten der Transformation"), die ausgewählte Transformationsthemen und/oder Transformationsprozesse und ihre Beziehung zur Kulturellen Bildung (Postdigitalität, Nachhaltigkeit, Transformationen in Schule, Theater etc.) detaillierter untersuchen, welche hier nur unter sehr allgemeiner Perspektive skizziert werden können.

Als Einstieg möchte ich auf ein 7-minütiges Video-Interview mit der Kollegin von Stadtteikultur Bremen verweisen, welches mein Nachdenken über Transformationen und Kulturelle Bildung wiedergibt.

 

Praxis(-felder) Kultureller Bildung unter dem Einfluss gesellschaftlicher Transformationsprozesse

In der Untersuchung von Praxisfeldern Kultureller Bildung soll im Folgenden systematisch unterschieden werden zwischen einem formalen Angebot Kultureller Bildung und hier im Wesentlichen Angebote von Kita und Schule im Bereich der ästhetischen und Kulturellen Bildung; zwischen einem non-formalen Angebot, das vor allem durch außerschulische Einrichtungen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung, aber beispielsweise auch Volkshochschulen, Jugendkunstschulen oder soziokulturellen Zentren geleistet wird und einem informellen Praxisbereich, der selbstbestimmt in familiären oder nicht-institutionellen Rahmen stattfindet.

Unser schulisches Bildungssystem offenbart vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 nicht mehr zu verdeckende Missstände: Digitale Lebenswelten, welche überwiegend und wachsend die Freizeit von Kindern und Jugendlichen bestimmen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2022), werden in Schule ausgeklammert, verboten und nicht ernst genommen. Lehrkräfte verfügen kaum über ausreichend digitale Medienkompetenz, um adäquat auf Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in Zeiten der Postdigitalität einzugehen. Eine zunehmende Zahl an Kindern und Jugendlichen zeigen psychische Auffälligkeiten in Folge der Instabilitäten von Lebenswelten, welche die Umstände der Pandemie wie Schließung von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen befördert haben (Robert Bosch Stiftung 2023). Klassengemeinschaften und Lehrkräfte sind durch den Zuzug von geflüchteten Menschen in besonderer Weise in der Integration und dem Einbinden von neuen Schüler_innen herausgefordert und unter Umständen nicht vorbreitet auf sprachliche und psychische Schwierigkeiten wie z.B. den Umgang mit Traumata (Robert Bosch Stiftung 2023). In Folge dieser und anderer Problemlagen in Schule und Kita wird der Lehrer_innen- und Erzieher_innenberuf zunehmend unattraktiv und nicht nur aufgrund steuerpolitischen Versagens fehlt es in Deutschland aktuell und zukünftig an qualifiziertem Lehrpersonal (Robert Bosch Stiftung 2023).

Die ästhetischen Fächer wie Bildende Kunst, Musik oder Darstellendes Spiel, aber auch Fremdsprachen, die Einblicke in andere Kulturen und somit auch einen Reflexionsrahmen der eigenen Kultur bieten, geraten durch diese Entwicklungen häufig noch stärker in die Bedeutungslosigkeit, da die sogenannten Kernfächer primär versorgt werden. Und auch wenn die Bedeutung der Kulturellen Bildung in und für Schulen erst im Dezember 2022 durch die Kultusministerkonferenz erneut bestätigt wurde (KMK 2022), scheinen Schulen kaum fähig, aus eigener Kraft kulturelle Schulprofile so zu entwickeln, dass verschiedenen Problemlagen damit begegnet werden kann. Dabei läge gerade in einer die Schule durchziehenden ästhetischen Haltung das Fundament, um aktuellen Wandlungsprozessen wie einer kritischen, postdigitalen Medienbildung, der Inklusion von sehr heterogenen Schüler_innen oder einem aktiven Umgang mit Themen wie ökologischer Nachhaltigkeit und Demokratiebildung einen adäquaten Rahmen zu geben, der Schüler_innen, Kooperationspartner_innen und Eltern in die Verantwortung nimmt, Schule mitzugestalten. Durch diese Gemeinschaft könnten Lehrkräfte entlastet und insgesamt das berufliche Umfeld für den oder die Einzelne wieder attraktiver werden (siehe: Olaf-Alex Burow Mit kultureller Schulentwicklung zu mehr Bildungsgerechtigkeit: Theoretische Überlegungen und praktische Umsetzungen"). Im Themenfeld der Kulturellen Bildung gibt es zahlreiche Modell- und Praxisprojekte, die jedoch oft nicht über den befristeten Ausnahmestatus hinauskommen. Damit befördern sie die Belastung der Schulgemeinschaft und der Lehrkräfte eher, als dass sie zur Entlastung und strukturellen Transformation des Systems Schule beizutragen vermögen.

In den frühkindlichen Bildungseinrichtungen sieht es ähnlich aus. Auch diese sind durch neue Bildungsparadigmen in der frühen Kindheit vermehrt mit zusätzlichen pädagogischen Ansprüchen (siehe z.B. das „Gute-KiTa-Gesetz“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) konfrontiert bei gleichzeitigem Fachkräftemangel und einer strukturellen Unterfinanzierung und gesellschaftspolitischen Missachtung des frühen Bildungssystems.

Der non-formale Bereich, vor allem der außerschulischen Kinder- und Jugendbildung, die beispielsweise in Musikschulen, Kunst- und Tanzschulen, Bibliotheken oder Medien- und soziokulturellen Zentren stattfindet, hat strukturell stark unter der Pandemie gelitten. Die Akteure klagen über Schwierigkeiten, Kinder und Jugendliche zurück zu gewinnen oder angesichts von Ganztagesschulen ohne ästhetische Angebote zu halten. Eine häufig strukturelle Unter- bzw. alleinige Projektfinanzierung sowie vor allem in ländlichen Gebieten ein bereits seit längerem bestehender Personalmangel erschweren die Arbeit von außerschulischen Akteuren Kultureller Bildung. Solche sogenannten „Dritten Orte“ neben dem Elternhaus und den formalen Einrichtungen wären aber gerade angesichts von stetig steigendem digitalen Medienkonsum der Heranwachsenden sowie im Sinne der Integration von nicht in Deutschland Geborenen oder auch von alternativen Handlungskonzepten für kulturellen Wandel im Erwachsenenalter unbedingt bedeutsam. Gerade die non-formalen Einrichtungen könnten Plattformen und Labor für bürgerschaftliches und gemeinwohlorientiertes, generationenübergreifendes lokales Handeln darstellen und die Weiterentwicklung von mangelnden Kompetenzen im Bereich der ökologischen Bildung, der Demokratiebildung, der Diversitätsschulung, der Stadtteilgestaltung oder der Postdigitalität (siehe: Mechthild Eickhoff „Zwischen Reichweite und Bedeutungstiefe: Kulturelle Bildung und Postdigitalität“) übernehmen. Gerade den non-formalen Feldern Kultureller Bildung käme in transformativen Zeiten die Rolle von „change agents“ (siehe: Volkmar Liebig „Kulturelle Bildung als Akteurin des Wandels“) zu, in der praktischen Erprobung von Handlungsalternativen und milieuübergreifenden Gemeinschaftskonzepten. Kultur- und bildungspolitisch wäre daher relevant, gerade diesen Teil des Bildungssystems systematisch zu fördern und zu entwickeln, um formale Einrichtungen zu entlasten und kommunale sowie regionale Bildungslandschaften aufzubauen, die eine Bildung für gesellschaftliche Transformationen in allen Altersstufen anbieten.

Durch den zuletzt pandemiebedingten Rückzug aus öffentlichen oder halböffentlichen Räumen wie sie kulturpädagogische und -vermittelnde Einrichtungen anbieten, findet Kulturelle Bildung vor allem im Privaten und Verborgenen oder im digitalen Raum statt. Durch postdigitale Möglichkeiten und Plattformen, Algorithmen, künstliche Intelligenz oder allen zugänglichen Tools für unterschiedlichste Anwendungsgebiete ist ein ästhetischer Raum entstanden, der von Praxisfeldern der Kulturellen Bildung noch zu wenig entdeckt und in seinen Auswirkungen auf gesellschaftliche Muster durchdrungen zu sein scheint (siehe: Christoph Deeg „Zum Verhältnis Kultureller Bildung und Digitalisierung“). Damit entwickelt sich gerade für Kinder und Jugendliche ein zunehmend ausdifferenzierter Bereich an (digitalen) Bildungs- und Handlungsmöglichkeiten, die abgekoppelt von anderen (kulturellen) Bildungsfeldern existieren und mit ihren je spezifischen Logiken der Bewertung (like/dislike), Ästhetiken und Zeitrhythmen nicht mehr anschlussfähig sind an andere Bildungsdiskurse. Wenn Lehrkräfte und Lernbegleiter_innen diese Lebens- und Gestaltungswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen, wie sollen diese dann Themen, Muster oder Gestaltungen aktiv einbringen, um – ggf. auch kritisch – daran anzuknüpfen? Aktuell wird dies zum Beispiel deutlich in der Diskussion um die wachsenden Möglichkeiten sowie Einsatzgebiete von textgenerierenden KIs wie das Programm ChatGPT. Solche Tools scheinen formale wie non-formale Bildungssysteme und -praktiker_innen vollkommen unvorbereitet zu treffen und machen die Hilflosigkeit und Überforderung bestehender Bildungssysteme angesichts dieser Entwicklungen mehr als offensichtlich. Ein entdeckender und kreativer Umgang mit diesen (neuen) Möglichkeiten könnte Anschlussfähigkeit und eine gemeinsame Entwicklung von Schüler_innen und Lehrkräften gewährleisten.

Praxis(-felder) Kultureller Bildung in Reaktion auf gesellschaftliche Transformationsprozesse

Angesichts der oben skizzierten Beispiele für massive und vor allem auch strukturelle Auswirkungen gesellschaftlicher Transformationsprozesse auf Felder der (Kulturellen) Bildung ist nun interessant, welche Reaktionen sich in den ästhetisch-vermittelnden Berufsfeldern auf diese Transformationsprozesse beobachten lassen.

Angefangen im formalen Bereich zeigt sich, dass das Potenzial ästhetischer Praktiken für den produktiven Umgang mit den Folgen gesellschaftlicher Transformationsprozesse weitestgehend nicht erkannt oder zumindest nicht ausgeschöpft wird. Vielmehr wird in einer Art Krisenmodus versucht, zu retten, was zu retten ist und der Blick eher enger anstatt weiter. Die Konzentration auf die Kernkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen) und der Ruf nach streng überprüfbaren Qualifikationen von Lehrpersonal verstellt leicht den Blick auf einen kreativen und produktiven Umgang mit der Vielzahl an Herausforderungen. Die Verbände der ästhetischen Fachdidaktiken (insbesondere Bundesverband Musikunterricht, BDK Fachverband für Kunstpädagogik, Bundesverband Theater in Schulen) kämpfen für die Erhaltung ihrer ästhetischen Fächer, stehen aber bei weitem nicht geschlossen und offen einer allgemeinen ästhetisch-kulturellen Schulentwicklung zugunsten der Aufweichung von Fächerstandards gegenüber. Voraussichtlich bräuchte es hier einen größeren Willen von den eigenen Fächergrenzen zu abstrahieren und sich insgesamt verantwortlicher für die Entwicklung von Schulkultur zu fühlen, um letztlich die Bedeutung der ästhetischen Fächer nicht vollkommen zu nivellieren und aus dem Schulalltag zu verdrängen. Es braucht also eine stärkere Fähigkeit und den Mut „out-of-the-box“ zu denken, um neu über die Rolle der ästhetischen Bildung in Schulen in transformativen Zeiten, wie wir sie aktuell durchleben, zu verhandeln. Ein Klammern an alten Rahmen und Standards, die vermeintlich Sicherheit bieten, wäre kontraproduktiv.

Auch bezogen auf die frühe Bildung ist ästhetische Bildung zwar als fester Bestandteil der Bildungspläne der Kindertagesstätten in allen Bundesländern verankert, die Umsetzung variiert jedoch verständlicherweise stark. Auch hier werden, wie im schulischen Bereich, nur vereinzelt Entwicklungen erkennbar, Einrichtungen der frühkindlichen Bildung als Teil von kulturellen Bildungslandschaften (in der Kooperation gerade auch mit künstlerischen und kulturellen Partner_innen) zu etablieren und dadurch Personal entlasten und den Alltag in den Einrichtungen durchlässiger gestalten zu können. Dies wäre zumindest eine produktive Reaktion auf die Herausforderungen, welche sich durch die Veränderung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme (z.B. vermehrter Berufstätigkeit von Frauen und dementsprechend steigender (Ganztags)Betreuungsbedarf oder heterogene Entwicklungsstände der Kinder) für Einrichtungen der frühen Kindheit ergeben.

Non-formale Einrichtungen, welche häufig von Projektgeldern abhängig sind, haben sich in den letzten Jahren intensiv um Themen der gesellschaftlichen Transformation wie Postdigitalität, Nachhaltigkeit oder auch Diversität gekümmert und sich als „Anwälte“ junger Menschen in gesellschaftliche Diskurse eingemischt. Deutlich wird dies beispielsweise an der Themensetzung und den Diskursen des nationalen Dachverbandes der non-formalen Einrichtungen kultureller Kinder- und Jugendbildung, der BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung). Zahlreiche Förderprogramme und Modellprojekte auf Bundes- und Landes- sowie kommunaler Ebene machen das überdies offensichtlich und überprüfbar (siehe z.B. die Themensetzungen im Programm „Kultur macht stark“ oder die Förderungen des Fonds Soziokultur). Gefragt werden muss aber auch hier nach einem neuen Selbstverständnis non-formaler Einrichtungen und Akteure als gesellschaftlich wirksame change agents in Kooperation mit zahlreichen anderen lokalen Akteuren. Solche echten Transformations-Bewegungen hin zu vernetzten Dritten Orten der Stadtgesellschaft finden sich vereinzelt (siehe: Mechthild Eickhoff „Zwischen Reichweite und Bedeutungstiefe: Kulturelle Bildung und Postdigitalität“), als Massen-/Mehrheitsbewegung sind sie jedoch nicht erkennbar. In Kooperationen mit Schulen, einzelnen Projekten, Fort- und Weiterbildungen und der Bemühung um kommunale Gesamtkonzepte sind diese Entwicklungen zwar angelegt, müssten jedoch mit größerer Kraft und Intensität vorangetrieben werden, um ein stärkeres Gewicht in der Gestaltung von (Stadt-)Gesellschaften/ländlichen Räumen zu haben und positiv erprobte Handlungskonzepte auch auf Dauer durchzusetzen.

Dies schließt Kulturvermittlungs- und Educationabteilungen an Kulturinstitutionen mit ein. Diesbezüglich hat es in den letzten Jahren eine Aufwertung, Personalerweiterung und ein stärkerer Einbezug kultureller Bildungsaspekte in künstlerische Entwicklungen stattgefunden. Dies ermöglichte eine gestaltende Teilhabe von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren, eine Aufweichung von Machtmechanismen, andere Spielpläne, teilweise andere Publika und Partner_innen. Beispielhaft sind die größeren Programme der Kulturstiftung des Bundes zu nennen (wie 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft, dive in – Programm für digitale Interaktionen oder TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel), die sich mit Transformationsthemen wie Diversität, Digitalität oder auch teilhabeorientierte Entwicklung von ländlichen Räumen auseinandersetzen und eine Vielzahl an Kultureinrichtungen zur intensiven Erprobung eines neuen Umgangs mit diesen Themen angeregt hat. Von konsequent offenen Kultureinrichtungen, die einem breiten Publikum eine Plattform und einen Raum für gesellschaftliche ästhetische Gestaltung bieten und damit zu politischen Zukunftslaboren und niedrigschwelligen Kulturräumen werden können, sind wir jedoch noch ein gutes Stück entfernt.

Qualifizierte und systematische Reaktionen von Praxisakteur_innen Kultureller Bildung auf informelle ästhetische Formen und Muster sind noch kaum beobachtbar. Die Auseinandersetzung formaler oder auch non-formaler Akteure mit beispielsweise postdigitalen Praktiken und ästhetischen Formen (Videoproduktion, Tanzgestaltung, Games(-entwicklung), ästhetische Produktion mittels KI etc.) findet selten statt (Rat für Kulturelle Bildung 2019), wird aber von Kindern und Jugendlichen gewünscht. Online-Angebote, wie sie während der Pandemie häufig von formalen und non-formalen Akteuren generiert wurden, werden kaum analog begleitet, womit ein „echte“ postdigitale Verschränkung von formalen und informellen sowie analogen und digitalen Praktiken selten ermöglicht wird. Die mangelnde Beziehung dieser Angebote zur sozialen, analogen Wirklichkeit der gestaltenden Einrichtungen führt dann dazu, dass die digitalen Kulturangebote nicht in dem Maße genutzt werden, wie es vielleicht erwartbar (gewesen) wäre (Tewes-Schünzel/Allmanritter 2022).

Insgesamt ist feststellbar, dass die Akteur_innen Kultureller Bildung sich durchaus diskursiv mit den oben skizzierten Wandlungsprozessen beschäftigen, dies aber nicht dazu führt, dass Angebote und Einrichtungen sowie Organisationen unter den Bedingungen großer Transformationsbewegungen komplett neu gedacht werden. Themen gesellschaftlicher Transformationsauswirkungen in den Feldern wie ökologische Nachhaltigkeit, Postdigitalität oder Diversität, Inklusion und anderen werden ästhetisch bearbeitet, führen aber noch nicht zwangsläufig zu einer weitreichenden Anwendung von Einsichten und Erkenntnissen auf die eigene Praxis und Institution und noch weniger zu einem transformierten Status, einer neuen Rolle dieser Felder im Bildungssystem.

Bildungstheoretische Überlegungen zu einer Wechselwirkung des Subjektes mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen über ästhetische Praktiken

Bisher konnte gezeigt werden, dass gesellschaftliche grundlegende Wandlungsprozesse derzeit massive Auswirklungen auf formale, non-formale und informelle Felder Kultureller Bildung haben. Es konnte zudem schlaglichtartig beleuchtet werden, dass die unterschiedlichen Felder diese Wandlungsprozesse wahrnehmen und die Akteure versuchen, vor allem diskursiv, aber auch durch Praxisprojekte und teilweise veränderte Alltagspraktiken darauf zu reagieren.

Wie bereits angedeutet wurde, birgt Kulturelle Bildung als ästhetische Praxis das theoretische Potenzial, gesellschaftlichen Transformationsprozessen und den damit für das Individuum häufig einhergehenden Ohnmachtsgefühlen zu begegnen. Zu fragen wäre nun, worin die besondere Kompetenz und Rolle der Felder Kultureller Bildung bestehen, Transformationsprozesse produktiv zu begleiten.

Hier lohnt es sich den Bildungsbegriff, der von Akteuren Kultureller Bildung im Gegensatz zu Begrifflichkeiten wie Erziehung, Sozialisation, Lernen oder Aneignung von Wissen überwiegend genutzt wird, genauer zu beleuchten. Dies soll folgend mit Bezugnahme auf den transformatorischen Bildungsbegriff wie er bei Koller, Kokemohr oder Marotzki zu finden ist, geschehen. Der transformatorische Bildungsbegriff erfährt in den Sozialwissenschaften spätestens seit den 1990er Jahren eine reiche Rezeptionsgeschichte und vor allem auch Anwendung in der empirischen Untersuchung von Bildungsvorhalten (Rainer Kokemohr) – als Potenziale für Bildungsprozesse – und Bildungsprozessen selbst. Entscheidend für den transformativen Bildungsbegriff ist „die begriffliche Unterscheidung zwischen (kumulativen) Lern- und (transformatorischen) Bildungsprozessen, das Verständnis von Bildung als einer Veränderung grundlegender Strukturen von Welt- und Selbstverhältnissen und schließlich die These, dass solche Bildungsprozesse durch neue, gesellschaftlich bedingte Problemlagen herausgefordert werden“ (Koller 2022:9). Koller und Kokemohr denken dabei kein von der Welt getrenntes Selbst, sondern sehen diese Instanzen als wechselseitig aufeinander verweisend an, als selbst- bzw. sozialreferentiell. Es handelt sich also bei der Untersuchung transformativer Bildungsprozesse immer um relationale Prozesse, nicht um die Untersuchung von Selbst- und Weltverhältnissen, sondern um Selbst-Weltverhältnisse, die nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Empirisch beobachtbar werden diese transformativen Prozesse sprachlich oder zeichenhaft vermittelt beispielsweise in der Analyse biografischer Interviews.

Ein neues Selbst-Weltverhältnis ist dann zu beobachten, wenn die Qualität des relationalen Aufeinander-Bezogen-Seins dieses Verhältnisses, d.h. die Rahmen (Marotzki 1990) sich geändert haben. Das Subjekt kann dann zur es umgebende Umwelt in eine andere Beziehung treten und kann durch eine andere Wahrnehmung sein Handeln verändern. Die Weltanschauungen und dadurch die Sicht auf sich selbst können sich so grundlegend ändern und damit auch der generelle Rahmen der subjektiven Weltaufordnung, wie Winfried Marotzki ausführt. Der Begriff des „Lernens“ unterscheidet sich dagegen innerhalb der Theorie des transformatorischen Bildungsbegriff von Bildung durch eine Ansammlung von Wissen innerhalb desselben Rahmens der Selbst-Weltwahrnehmung.

In Biografien werden transformatorische Bildungsprozesse häufig gerade durch Krisen- oder Differenzerfahrungen möglich. Übertragen auf gesellschaftliche Transformationsprozesse würde das bedeuten, dass Veränderungsprozesse sich zwar ereignen können, jedoch ohne eine qualitative Änderung des Rahmens, eine tatsächliche Transformation nicht stattfinden kann. Hier scheint es wie in biografischen Bildungsprozessen so, dass wir als Gesellschaft insbesondere durch Krisenerfahrungen und liminale Erfahrungen dazu veranlasst und befähigt werden, Rahmungen und damit Bedingungen gesellschaftlicher und sozialer Ordnung zu verändern.

Ästhetische Erfahrungen, wie wir sie in den Künsten, aber ganz allgemein in der intensiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken machen können, beinhalten verdichtete und geronnene menschliche Erfahrungen, Interaktionsformen und Handlungsrahmen. Durch ästhetische Erfahrungen werden wir unter Umständen auf einer zeichenhaften Ebene irritiert, herausgefordert und dazu gezwungen, bisherige Rahmungen und Gewohnheiten zu verlassen. Diese Form der Irritation und ein Stück weit der Entfremdung des Subjektes vom eigenen Habitus oder der Doxa (nach Bourdieu) bedeuten eine Verunsicherung, kann jedoch kulturelles Bildungspotenzial freisetzen.

So besteht in der ästhetischen Auseinandersetzung natürlich nicht die einzige Möglichkeit für transformatorische Bildungsprozesse, aber doch eine besondere, da es häufig nicht-sprachliche Formen sind, die diesen Erfahrungen zugrunde liegen und die leiblich vermittelt, eine besondere Kraft entfalten können. Jonas Wollenhaupt beschreibt dies in Bezug auf die Habitustheorie Bourdieus:

„Kunstwerke [und ästhetische Praktiken, V.R.] wirken, weil sie Lebensentwürfe vermitteln, die durch die Dispositionen des Habitus verschüttet sind. […] Das Kunstwerk spricht daher den unpraktischen Sinn an und ermöglicht eine kurzfristige Identifikation von Habitus und Subjektivität, wenn Wahrnehmungs- und Denkschemata, durch Irritation angestoßen, reflexiv werden. Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (Habitus) werden so kurzfristig mit der unbewussten Handlungsmatrix verknüpft. Das resultierende Aufblitzen öffnet einen Spalt zu den unbewussten Entwürfen, diese weisen gewissermaßen der reflexiven Analyse den Weg.“ (Wollenhaupt 2018:289 ff.)

In diesem Sinne kann die Auseinandersetzung mit ästhetischen Praxen, wie sie in kulturellen Bildungspraxen stattfindet, zu einer reflexiven Auseinandersetzung von Menschen mit bekannten Rahmen zur Transformation dieser und damit zu sehr grundsätzlichen individuellen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen führen. Kulturelle Bildungsprozesse gehen in diesem Sinne über ein kulturelles Lernen, d.h. die Aneignung verschiedener Wissensbestände weit hinaus, sondern fordern vielmehr neue Handlungsmuster und Rahmungen heraus. Voraussetzung ist aber, dass Subjekte sich anrühren und berühren lassen, also Irritation und Veränderung zulassen (siehe: auch Cornelie Dietrich „Transformationsprozesse der Schule und die Kulturelle Bildung“).

Nach Kokemohr ist Bildung ein Erkenntnisprozess, der in Rückgriff auf Kant „einem Begriff ein Bild verschafft“ (Kokemohr 2022:29). Übertragen auf die behandelte Thematik könnte dies heißen, einer bislang veränderten Diskursebene endlich eine radikal neue Handlungsebene gegenüber zu stellen und ein konkretes Bild zu entwerfen. Künstlerische und kulturelle Praktiken können in dieser Absicht wie Labore wirken, in denen neue Handlungsweisen reflektiert, erprobt und verfestigt werden. Wenn beispielsweise eine Kultureinrichtung nicht nur ein Projekt zur Förderung von Diversität anbietet, sondern diversitätsorientiertes Denken radikal umsetzt und dadurch den Rahmen der Institution transformiert, ist aus einem ästhetisch-künstlerischen Erprobungsraum eine neue Wirklichkeit geworden. Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik hat hier die besondere Aufgabe, Anreizsysteme und Rahmen für transformative Bewegungen zu setzen und sich nicht auf den Slogan „Die Kunst ist frei“ zurückzuziehen.

Kulturelle Bildung und die Transformation ihrer eigenen Praktiken im Sinne einer größeren gesellschaftlichen Transformationsgestaltung alleine wird nicht ausreichen, um neue Rahmen und gesellschaftliche Systeme zu erschaffen. Ästhetische Praxen können aber den Spalt zu einem reflexiven Gestaltungs- und Ermöglichungsraum für Menschen unterschiedlicher Milieus öffnen, der verhindert, dass Subjekte angesichts wachsender Transformationsherausforderungen handlungsunfähig zurückbleiben, und im besten Fall lassen sich durch sie aktiv neue Rahmen entwerfen, die gesellschaftlichen Wandlungsbewegungen eine Richtung und Orientierung geben. Wenn das gelingt, ist viel gewonnen.