Kulturelle Bildung und Eltern
Kulturelle Bildung und Eltern: (k)ein neues Thema?
Ein grober Blick in die vorliegende Literatur zur Kulturellen Bildung erweist sich als wenig ergebnisreich. Das Verhältnis von Kultureller Bildung und Eltern scheint zwar immer wieder mal in vorliegenden Beiträgen zum Thema zu werden (vgl. u.a. Braun 2006), jedoch ist es bislang kaum systematisch aufgearbeitet worden. Dies verwundert, weil grundsätzlich von einem Zusammenwirken informeller, non-formaler und formaler Bildungsorte und Lernwelten auszugehen ist (vgl. BMFSFJ 2005b). Im gemeinsamen Flyer der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (BKJ) und des BundesElternRates zum Thema „Mehr kulturelle Bildung in der Schule. Argumentationshilfe für Eltern“ wird dies ansatzweise aufgegriffen, indem davon ausgegangen wird, dass Kulturelle Bildung an der Schule zum einen Möglichkeiten der Beteiligung von Eltern schafft und zum anderen hier erworbene Kompetenzen auf die Familie einwirken könnten. Die Frage, wie die Begriffe Kulturelle Bildung und Eltern bzw. Familie zusammenhängen, kann aus mehreren Perspektiven, beantwortet werden. Zunächst soll geklärt werden, auf welchen Ebenen und an welchen Orten in der Kulturellen Bildung das Verhältnis bearbeitet wird. Zweitens kann das Verhältnis als erziehungswissenschaftliches Problem und drittens als eine professionelle Herausforderung für die in der Kulturellen Bildung Tätigen erörtert werden. Im Schlusskapitel werden schließlich zentrale Herausforderungen an die Kulturelle Bildung formuliert.
Ebenen des Verhältnisses von Kultureller Bildung und Eltern in der Praxis
Das Verhältnis von Kultureller Bildung und Eltern gestaltet sich in der Praxis auf vier Ebenen:
1. Kulturelle Bildung für Eltern: Kulturelle Bildung als gesondertes Angebot für Mütter und Väter wird es in der Praxis selten geben. Möglicherweise könnten z.B. Theaterstücke, die die Mutter- oder Vaterrolle zum Thema machen, auf dieser Ebene angesiedelt sein.
2. Kulturelle Bildung für Familien: Im Kontext des Erziehungs- und Bildungsmixes entsteht ein wachsender Markt an Angeboten, die sich auch als Kulturelle Bildung an Kinder und ihre Familien richten. Zu nennen wären hier z.B. Kindermuseen (siehe Gabriele König „Kinder- und Jugendmuseen und Museen als Orte für alle Generationen“), Kindertheater, kulturelle Feste oder Angebote der Familienbildung, wie z.B. Eltern-Kind-Gruppen zum Thema Musik. Kulturelle Bildung kann bei Angeboten für Familien, wie ein Theaterstück beim soziokulturellen Familienfest, als ein Thema unter anderen gelten oder wie das gemeinsame Singen in der Eltern-Kind-Gruppe eher als Medium dienen, um pädagogische Ziele wie die Stärkung des Gruppengefühls zu erreichen.
3. Elternzusammenarbeit und Kulturelle Bildung: Die Zusammenarbeit mit den Eltern kann aus Perspektive der Erziehungswissenschaft als ein zentraler Schlüssel für Bildungserfolg angesehen werden. Zusammenarbeit mit Eltern ist jedoch nicht überall notwendig und kann zuweilen – z.B. in der kulturellen Jugendbildung – auf Jugendliche abschreckend wirken.
4. Kulturelle Bildung als ergänzende oder kompensatorische Leistung zur Familie: Kulturelle Bildung macht Angebote, die Familien in der Regel nicht leisten können. In diesem Sinne ergänzt sie Familien in ihrer Erziehungsverantwortung, sei es als allgemeines Förderangebot in der Kindertageseinrichtung oder als Kurs in der Jugendkunstschule. Kulturelle Bildung als Veranstaltung nicht nur für Kinder und Jugendliche aus höheren Bildungsschichten übernimmt kompensatorische Leistungen, sei es in Form klassischer soziokultureller Arbeit (vgl. u.a. BKJ 2000) oder in neueren Projekten wie „Rhythm Is It!“.
Das Verhältnis von Kultureller Bildung und Eltern als erziehungswissenschaftliches Problem
In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion werden Familie und Elternschaft unter verschiedenen Gesichtspunkten thematisiert. Generell wird Familie als eine zentrale gesellschaftliche Reproduktions- und Sozialisationsinstanz hervorgehoben. Besonders stark wird hier der historische und aktuelle Wandel von Familie betrachtet, der damit einhergehende Funktionswandel, neu hinzugekommene Familienformen, die sich verändernden Konzepte von Elternschaft sowie die Frage, wie Familien angesichts gesellschaftlicher Veränderungen die von ihnen erwarteten Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsleistungen erbringen können. Zuweilen wurden in der Debatte Skandalisierungen vorgenommen. Gesprochen wurde vom Funktionsverlust der Familie und von einer zunehmenden Verunsicherung von Eltern in Erziehungsfragen. Weniger skandalisierend formuliert ergeben sich für Thomas Rauschenbach (2009) drei familienpolitische Herausforderungen angesichts bestehender „Ambivalenzen des Bildungsortes Familie“ (Rauschenbach 2009:123).
Erstens nennt er das Betreuungsdefizit der Familie. Familien könnten angesichts gestiegener Erwartungen an Flexibilität und Mobilität nicht mehr selbstverständlich Betreuungsleistungen eigenständig bewältigen. Immer mehr Kinder werden immer früher für eine immer längere Dauer am Tag an für sie speziell hergerichteten Orten betreut. Mehrere Betreuungs- und Bildungsorte wirken hier in Form eines Bildungs- und Betreuungsmixes zusammen.
Zweitens spricht Rauschenbach von einem Erziehungsdefizit der Familie. In einer Gesellschaft, die immer mehr Handlungsoptionen für die Menschen bereithalte, gingen in „Sachen Erziehung vermeintliche Sicherheiten verloren“ (ebd.:129). Gleichzeitig lässt sich aber auch angesichts sich erschwerender Bedingungen am Arbeitsmarkt beobachten, dass der Erwartungsdruck an Eltern steigt, die für die (berufliche) Zukunft ihrer Kinder notwendigen Leistungen zu erbringen.
Im Anschluss an die PISA-Ergebnisse (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 1993) wird die Familie zudem als die entscheidende Bildungsinstitution für Kinder und Jugendliche betont, in der „die grundlegenden Fähigkeiten und Bereitschaften für schulische Lern- und lebenslange Bildungsprozesse der nachwachsenden Generation […] geschaffen werden“ (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002:9). „Mehr öffentlich veranstaltete Bildung, so lautet die Forderung, weil die Erfolglosigkeit des Bildungsgeschehens in der Privatheit vieler Familien mehr als offenkundig sei“ (Büchner 2008:184). Geschlussfolgert wird aus dieser „Erziehungsmächtigkeit der Familie“ (Liegle 2009:100) aber auch, dass erst durch eine „gemeinsame Verantwortung für die Förderung des Wohls der Kinder“ (Liegle 2005:15) die pädagogische Qualität von öffentlicher und privater Bildung und Erziehung zu verbessern sei.
Auch wenn nun nicht pauschal beantwortet werden kann, wie stark Familien heute durch diese Ambivalenzen geprägt sind, lassen sich aus diesen Tendenzen Konsequenzen für die Kulturelle Bildung ableiten. Lässt sich ein Betreuungsdefizit konstatieren, dann stellt sich an Kulturelle Bildung die Anforderung, ihren funktionalen Ort im Kanon des bestehenden Bildungs- und Betreuungsmixes zu bestimmen. Angebote der Kulturellen Bildung – sei es im Rahmen von Ganztagsschule, in Form kultureller Ferienprojekte oder als zusätzliches Angebot im Kindergarten – tragen schon längst im Rahmen einer institutionalisierten Kindheit (vgl. Honig 2009) dazu bei, Lösungen für das Betreuungsdefizit zu finden. Die Bedeutung der Kulturellen Bildung angesichts des beschriebenen Erziehungsdefizits steht außer Frage, auch wenn ihr kein Mandat in Sachen Erziehungsberatung zukommt. Indem Kulturelle Bildung (immer auch alternative) Betrachtungsweisen von Welt ermöglicht, damit selbstreflexive Prozesse initiiert und Sinnzusammenhänge bearbeitet sowie kulturelle Kompetenzen vermittelt (siehe Siegfried J. Schmidt „Kulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz“), stellt sie einen nebenfamiliären Erziehungsort dar. Kulturelle Bildung kann als allgemeine Förderung möglichst aller oder angesichts der hohen Bedeutung kulturellen Kapitals für die Hervorbringung von sozialen Unterschieden (vgl. Bourdieu 1982) als ein Programm zur Kompensation bei spezifischen Gruppen zur Sicherung der kulturellen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden.
Zusammenarbeit mit den Eltern als professionelle Herausforderung
Als überwiegend autoritär-hierarchisch wird bis in die 1960er und 1970er Jahre die Zusammenarbeit zwischen Familie und pädagogischen Institution gekennzeichnet (vgl. im Folgenden Cloos/Karner 2010). Bauer und Brunner (2006:9) fassen die Bedeutung der Elternarbeit im pädagogischen Alltag als ungeliebte Zusatzbelastung, als „Unterrichtung der Eltern“ zusammen. Seit Mitte der 1990er Jahre bietet das Konstrukt der Erziehungspartnerschaft in vielfältigen pädagogischen Handlungsfeldern einen wichtigen Maßstab für professionelles Handeln. Im Gegensatz zur Elternarbeit wurde Erziehungspartnerschaft als ein Programm für ein verändertes Interaktionsverhältnis auf Basis einer „neuen“ Haltung gegenüber den Eltern entwickelt. Im Gegensatz zum alten Verständnis haben PädagogInnen und Eltern hier die enorme Bedeutung von Familien für die Bildungsbiografien ihrer Kinder wahrzunehmen. Sie sollen sich gegenseitig als ExpertInnen für das Kind akzeptieren. Ein offenes, respekt- und vertrauensvolles Verhältnis soll zwischen ihnen entwickelt werden. Erziehungspartnerschaft sei schließlich nur zu realisieren, wenn beide Parteien sich über ihre Erziehungsvorstellungen austauschen und sich auf gemeinsame Ziele verständigen (vgl. u.a. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2005).
Unter dem Konstrukt Erziehungspartnerschaft wird ein breites Spektrum an Aufgaben zusammengefasst. Es beinhaltet Formen der Mitwirkung von Eltern, betont die Zusammenarbeit bei der Förderung der Kinder und beinhaltet die Unterstützung von Familien und die Familienbildung. Genannt wird hier auch die gegenseitige Information über den jeweiligen Alltag. Darüber hinaus ist es Ziel, dazu beizutragen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander zu vereinbaren. Die mit dem Konstrukt der Erziehungspartnerschaft verbundenen Aufgaben scheinen für die Praxis nicht einfach umsetzbar zu sein, zumal Eltern und MitarbeiterInnen ungleiche PartnerInnen sind. Eltern können nicht zur Zusammenarbeit verpflichtet werden. Die Zusammenarbeit nimmt auch bei den Eltern Zeit in Anspruch, die ihnen möglicherweise fehlt. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit erfordert, dass Eltern sich auch mit den jeweiligen Zielen der kulturellen Bildungsmaßnahme identifizieren können, was bei sprachlicher Förderung vielleicht besser und schneller vermittelt werden, im Falle der Kulturellen Bildung durchaus stärkere Widersprüche hervorbringen kann.
Die Kulturelle Bildung – wenn sie nicht gerade in solchen Arbeitsfeldern stattfindet, bei denen der Zugang zu den Eltern relativ niedrigschwellig funktioniert und zum selbstverständlichen Kanon der Arbeit gehört – steht vor dem Problem, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern zum einen methodisch wenig ausbuchstabiert ist. Zum anderen hat sie insbesondere bei Arbeitsformen, die kursförmig, projektförmig und weniger kontinuierlich sind, das Problem, dass eine Arbeitsbeziehung zu den Eltern angesichts der zur Verfügung stehenden Zeit schwierig aufzubauen ist. Insbesondere dann, wenn sie mit Kindern und Jugendlichen aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten arbeitet und erhebliche Differenzen z.B. bei Kunstvorstellungen und Bildungszielen bestehen, steht sie vor der Aufgabe, mit diesen Differenzen entweder produktiv umzugehen oder ihre Inhalte und Ziele lebensweltlich anzugleichen. Aufgrund der oben beschriebenen „Erziehungsmächtigkeit der Familie“ (Liegle 2009:100) wird es jedoch weniger wahrscheinlich, dass eine Kulturelle Bildung sich als Arbeit gegen die kulturellen Vorstellungen der Eltern als wirksam erweisen dürfte.
Herausforderungen an die Kulturelle Bildung
Der Beitrag konnte verdeutlichen, dass Kulturelle Bildung und familiäre Erziehung in einem vielschichtigen Wechselverhältnis zueinander stehen. Kulturelle Bildung steht vor der Herausforderung, Methoden und Konzepte der Zusammenarbeit mit Eltern (weiter) zu entwickeln, insbesondere in solchen Arbeitsfeldern, die kompensatorische Aufgaben übernehmen, und in denen sich der Zugang zu den Eltern weniger selbstverständlich und einfach gestaltet. Angesichts der zunehmenden Bedeutung eines Bildungs- und Betreuungsmixes ist sie herausgefordert, ihre Stellung und Funktion innerhalb dieser Angebotsvielfalt auch bildungs- und kulturpolitisch deutlicher hervorzuheben und klarer zu konturieren. Zudem scheint es notwendig, Konzepte der Zusammenarbeit mit den Eltern empirisch zu unterfüttern. Auch wenn die Zusammenarbeit mit den Eltern nicht überall zum Portfolio Kultureller Bildung gehören muss, kann sie ihre Wirksamkeit vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung der Familie für die Bildungs- und Berufsbiografie von Kindern und Jugendlichen durch eine Zusammenarbeit erhöhen.