Kulturelle Bildung im Anthropozän

Impulsbeitrag zur Tagung Quo Vadis Kulturelle Bildung und Versuch, den Stand der Diskussion um Kulturelle Bildung für nachhaltige Entwicklung zu systematisieren

Artikel-Metadaten

von Ernst Wagner

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Der Beitrag basiert auf meinem Impulsvortrag bei der Tagung Quo Vadis Kulturelle Bildung 2023 in Remscheid und vielen Gesprächen danach. Er aktualisiert und vor allem systematisiert den Stand der Diskussion.

Ziel des Textes ist es, das Potenzial der Kulturellen Bildung für nachhaltige Entwicklung zu untersuchen. Dafür werden zunächst die aktuellen Herausforderungen für uns persönlich wie unsere Gesellschaften konkretisiert: Auf der einen Seite sind wir konfrontiert mit der dringenden und drängenden Notwendigkeit zu handeln, auf der anderen Seite steht eine beunruhigende Ineffektivität bisheriger Ansätze – nicht nur in der Kulturellen Bildung. In der Folge werden Gründe für diese Ineffektivität analysiert und dabei besonders die Rolle von Präkonzepten an drei Modellen der Weltwahrnehmung herausgearbeitet: Subjekt-Objekt-Beziehungen (Zentralperspektive), Entwicklung (Kunstgeschichte) und Hierarchie (Angst vor dem Wolf). Im letzten Teil werden dann die möglichen Konsequenzen für eine Kulturelle Bildung – verstanden als Bildung für Nachhaltige Entwicklung – reflektiert: Gängige Narrative müssen diskutiert werden, um sie in Beziehung zu den ganz anders formulierten Narrativen in den Künsten zu setzen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für die Kulturelle Bildung, partizipativ eigene Narrative in den jeweiligen Kontexten zu entwickeln. Der Text schließt mit einem Katalog möglicher Qualitätskriterien für diesen Ansatz, der als Anregung zur weiteren Diskussion zu verstehen ist.

Drei Vorbemerkungen

(1) Nachhaltigkeit wird hier vorrangig als ökologische Nachhaltigkeit verstanden, wobei ökologische Nachhaltigkeit unauflösbar mit Politik und Ökonomie verwoben ist. (Zur Systematik der Nachhaltigkeitsdimensionen s. KMK/BMZ 2016:36.) Da sowohl Ökologie als auch Ökonomie und Politik immer von Menschen gestaltet sind, sind sie selbst als kulturelle Prozesse zu verstehen. Die kulturelle Dimension ist also übergreifend gedacht. Mit diesem ‚kulturellen Verständnis von Nachhaltigkeit‘ wird zugleich deutlich, dass BNE ein kulturgebundenes und kein universelles Konzept ist. Deshalb verweise ich im Folgenden immer wieder auf den Globalen Norden als Bezugssystem meines Denkens und damit dieses Textes.

(2) Dieser Text ist mir schwergefallen. Das hängt sicher auch mit meiner eigenen Stimmungslage zusammen: Überwiegen doch immer wieder Resignation und Hoffnungslosigkeit ob meiner Zweifel, dass wir Menschen es nochmals herumreißen könnten. Das führt auch zu dem Zweifel an der Grundausrichtung meines Textes: Wäre es nicht viel sinnvoller zu fragen: Welche ‚kulturellen‘ Fähigkeiten brauchen die heutigen Jugendlichen (falls sie überleben) während der Apokalypse bzw. für die Zeit danach – statt zu fragen, wie sich Kulturelle Bildung weiterentwickeln muss, um die Apokalypse zu verhindern? Ich werde im Folgenden dennoch so tun, als ob unser jetziges System und damit die einer den Menschenrechten verpflichteten Bildung eine Chance hätte. Und damit, dass es Sinn macht, Kulturelle Bildung in den heutigen Verständnissen weiterzudenken.

(3) Ich selbst komme aus der schulischen Kunstpädagogik. D.h. ‚visual culture‘ ist mein Fokus – auch in diesem Text. Ich hoffe, dass die hier vorgestellten Überlegungen dennoch für die anderen Künste und auch für den außerschulischen Bereich von Kunst, Kultur und Bildung sinnvolle Anregungen geben können.

Aktuelle Herausforderungen

Ein Blick auf die Art, wie wir heute – trotz besseren Wissens – mit drängendsten Fragen unserer Zeit wie der Erderwärmung, dem Artensterben oder der Umweltverschmutzung umgehen, ist mehr als ernüchternd. Es gibt eine erschreckende Diskrepanz zwischen vielfältigsten Bildungsanstrengungen sowie massiver Aufklärungsarbeit einerseits und frustrierenden Resultaten andererseits. Das zeigt sich für uns alle auch in den täglichen Erfahrungen: „Auf der Ebene der rationalen Informationen liegt alles vor. Viel Fantasie wurde in die Vermittlung des Wissens gesteckt. Doch bislang haben weder Zahlen noch Worte oder Bilder die gewünschte Wirkung entfaltet.“ (Schneider 2023:132)

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Abb. 1: Schautafel zur Geschichte der Aufmerksamkeit für das Thema Klimawandel in der Ausstellung KLIMA_X im Frankfurter Museum für Kommunikation 2022-2023 – der Spiegel-Titel mit dem Kölner Dom im Zentrum (Aufnahme des Verfassers)

Dabei gibt es das Bewusstsein für die menschengemachten ökologischen Probleme schon lange. 1972 etwa wurde das UN-Umweltprogramm gegründet. 1986 titelte der Spiegel „Die Klimakatastrophe“ und zeigte den Kölner Dom unter Wasser (s. Abb.1). 1987 wurde der für das Verständnis von Nachhaltigkeit bis heute maßgebliche Brundtland-Bericht durch die UN veröffentlicht. 1988 gründeten die UN den Weltklimarat, der erste Weltklimagipfel fand 1992 in Rio statt. 2004 kam Emmerichs Film The day after tomorrow in die Kinos. Am 14. Juli 2021 zeigte sich im Ahrtal, was von Menschen koproduzierte ‚Natur‘ bewirken kann. Regelmäßig treffen uns Nachrichten über Temperaturrekorde und ‚Natur‘-Katastrophen (an sich ein seltsamer Begriff) in einer Intensität, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen wollen, und wenn wir sie wahrnehmen, reagieren wir eher resigniert und ermüdet als aufgerüttelt.

Das gilt auch, obwohl die Bildungsanstrengungen in Deutschland und darüber hinaus mit dem Konzept Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) nicht nachlassen. 2005 wurde die UN-Dekade BNE ins Leben gerufen und seit 2015 investiert die Bundesregierung viele Ressourcen in einen Nationalen Aktionsplan, in dessen Rahmen es auch ein Partnernetzwerk Kulturelle Bildung gibt, das vielfältige Aktionen bündelt und reflektiert (siehe z.B. Braun-Wanke & Wagner 2020).

Doch weder „Färbergärten“ und „Bauereignis“, noch „Wasserwerkstatt“ und „Natur-Klang-Parcours“ (alles Good-Practice-Beispiele aus Braun-Wanke & Wagner 2020) konnten offensichtlich in der Breite etwas bewirken, verhalten sich doch offensichtlich die Jugendlichen heute besonders unökologisch: „Ausgerechnet die Fridays-for-Futures-Generation hat einen besonders großen CO2-Fußabdruck“ (Salzburger 2024). Vor diesem Hintergrund stellt sich die einfache Frage: Wieso klafft die fatale Lücke zwischen Wissen und Handeln, warum scheitern offensichtlich die Bemühungen? Oder, etwas dramatischer: „Was ist los mit uns? Was hält uns wirklich davon ab, das Feuer zu löschen, das unser gemeinsames Haus zu verbrennen droht?“ (Schneider 2023:147).

Um die Potenziale der Kulturellen Bildung für eine wirkungsmächtigere BNE zu klären und entsprechende Strategien zu entwickeln, müssen zunächst die Gründe dieses Versagens untersucht werden, um aus der Kritik der alten Welt die neue skizzieren zu können. Dabei sind die Gründe für das Scheitern zunächst struktureller Art, sind also ohne direkte Beeinflussbarkeit seitens der Kulturellen Bildung:

  • Schließlich sind die Nationalstaaten die zentralen Akteure, die – auf der Makroebene – in einer von Wettbewerb um Machtpositionen durchdrungenen Welt Wettbewerbsnachteile zu vermeiden suchen, etwa um Kriege zu verhindern oder um Machtinteressen zu begrenzen. Diese Logik des Wettbewerbs bzw. des Wettlaufs verträgt sich nicht mit einer Logik von Klimagerechtigkeit.
  • Doch auch auf der Mikroebene ist die Frage der ‚Zuständigkeit‘ meist unklar. In vielen Debatten wird die Verantwortung für den Klimaschutz fälschlicherweise vor allem dem Einzelnen zugeschoben – ohne die zentrale Rolle und Bedeutung von Gesellschaft, Politik und Industrie zu benennen (vgl. bpb 2024).

Bereits diese strukturelle Rahmung macht eine Positionierung schwierig. Im Kontext von Bildung kommen darüber hinaus weitere, vor allem emotional unterfütterte Aspekte hinzu, die dazu führen, dass der Wandel aktuell nicht gelingt:

  • Einer der eher banalen Gründe für das Scheitern ist sicher, dass – trotz z.B. der Flut im Ahrtal 2021 – offensichtlich Anlässe fehlen, die zum verbindenden Symbol für große Gruppen werden können, wie dies z.B. bei den Unfällen von Fukushima oder Tschernobyl gegeben war. Es fehlt die Wahrnehmung einer realen, persönlichen Bedrohung Vieler, die eine kollektive Bereitschaft zur Veränderung von Einstellungen und Handlungen generieren könnte ( vgl. Horn 2023:16).
  • Auf der anderen Seite würde ein (An-)erkennen der Tatsache, an einem Kipppunkt zu stehen, zu einer (schwer auszuhaltenden) Verunsicherung gewohnter Muster führen, von denen gerade der Globale Norden seit Generationen profitiert. Marktlogiken wie Wachstum, Effizienz, Rationalität, Rentabilität und Wettbewerb sowie die Ausbeutung der Natur, haben enormen Reichtum und Macht geschaffen und uns damit ein angenehmes Leben beschert, auf das man ungern verzichten möchte (Schneider 2023:157 f.).
  • Ein Anerkennen des Anthropozäns – und damit nähern wir uns der Kulturellen Bildung – würde auch zu einer schwer auszuhaltenden Kränkung und Verunsicherung unseres modernen Selbstkonzepts führen. Dieses beruht ja auf der sehr komfortablen tradierten Vorstellung vom Menschen als dem Herrscher über die Natur.
  • Und mit einem Infragestellen dieser Idee wäre auch unser Alltag unmittelbar tangiert: „Die Klimakrise stellt fast alles am Lebensstil der Industriegesellschaften in Frage […] sie geht an die Wurzeln der Gewohnheiten, ins Herz der Kultur, sie stellt Mobilitätsverhalten, Urlaubskultur, Essenstraditionen, Konsum in Frage, alles, was normal ist in der Welt, in der wir leben“ (Schneider 2023:156).

Darüber hinaus ist es fatal, dass das so ausgelöste strukturelle wie emotionale Dilemma noch durch die Einsicht verstärkt wird, dass wir als Menschen gar nicht umhinkommen, die Erde auszubeuten. Wir sind auf der Welt und wir befinden uns dort an der Spitze einer Nahrungspyramide. Dafür müssen wir töten und ausbeuten – was wir als aufgeklärte Postmoderne aus ethischen Gründen jedoch irgendwie verwerflich finden. Das bedeutet aber, dass das Thema Nachhaltigkeit uns über die Dilemmata hinaus in einen fundamentalen Grundkonflikt treibt, den die Psychologie mit dem Konzept der „kognitiven Dissonanz“ beschreibt (Roth 2019). Und um diese kognitive Dissonanz aufzulösen, produzieren wir Menschen offensichtlich Pseudo-Lösungsmuster, die kontraproduktiv sind: von „Klimaleugnern“ über „Klimaschummler“ bis hin zu „Klimaausweichern“.

Status Quo

Kognitive Dissonanz als Herausforderung

Da das Dilemma so groß ist, ist es kein Wunder, dass sich selbst in der Community der Kulturellen Bildung aus der kognitiven Dissonanz geborene Reaktionsmuster zeigen, die den Haltungen der „Klimaausweicher“ ähneln. Das ergibt ein Überblick über den Diskurs zum Themenfeld Künste, Natur, Nachhaltigkeit auf kubi-online.

Hübner hat dieses Themenfeld analysiert und dabei eine deutliche Tendenz zum Insistieren auf dem Eigenwert der Kulturellen Bildung gegenüber der BNE festgestellt. Das Argument ist folgendes: Kulturelle Bildung dürfe nicht einer politischen Beauftragung folgen, sondern müsse „sich auf die Potenziale ästhetischer Bildung fokussieren. Implizit wird darin ein Eigenwert Kultureller Bildung konturiert, der sich gegen Adressierungen und Indienstnahmen wehrt“ (Hübner 2023:42). Hier bestätigt sich eine bereits früher festgestellte Tendenz (s. Wagner 2020a), und dazu passt dann auch die geringe Anzahl von thematisch einschlägigen Einträgen auf kubi-online.

Begründet wird diese beobachtbare Haltung bei Hübner durch die (im deutschen Idealismus fundierte) Autonomie der Kunst, die uneingeschränkt auch für die Kulturelle Bildung gelten müsse. Interessant ist in unserem Kontext, dass mit dieser Autonomie auch ein auf (individuelle) Emanzipation angelegter Bildungsbegriff korrespondiert. Das autonome Subjekt kennzeichnen Souveränität, Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, Widerständigkeit und Nonkonformität – alles Leitideen der Kulturellen Bildung und zugleich Paradigmen, die heute im Hinblick auf neuere Konzepte zur Relationalität (Kraus 2023) in Frage stehen.

Das Anthropozän führt uns nun aber vor Augen, dass dieses künstlerisch- und subjektorientierte Leitbild der Kulturellen Bildung mit einem anderen Leitbild kollidiert, das für eine produktive Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir heute leben, steht. Dort „findet sich der Mensch nicht mehr als Gegenüber, sondern gleichsam im Inneren der Dinge wieder: im Innern des Klimawandels, inmitten von koexistierenden und symbiotischen Lebensformen, umstellt von Technologien, abhängig von Kapital- und Materialflüssen“ (Horn 2023:15). Und tatsächlich, da bleibt wenig Raum für die Autonomie der Künste.

Doch gegen eine solche Einsicht finden wir in der Kulturellen Bildung immer wieder eine massive Abwehrhaltung. Ein gutes Beispiel liefert Reinwand-Weiss: „Während das Bildungsziel in der KuBi im Individuum selbst liegt […], entwirft das Konzept einer BNE allgemeine Bildungsziele, die von außen messbar und weitestgehend unabhängig von Einzelnen bestehen bleiben und überprüfbar sind. Ob sich mein ökologischer Fußabdruck durch mein individuelles Verhalten verändert, ist leicht überprüfbar; ob sich mein Grad der sinnlichen Wahrnehmung und damit meine Gestaltfähigkeit durch ästhetische Praxen verändert, ist wesentlich schwerer feststellbar“ (Reinwand-Weiss 2020:70).

In dieser Argumentation zeigt sich eine klassische Strategie zur Auflösung kognitiver Dissonanz, die bereits in subtilen Formulierungsunterschieden deutlich wird: Um die Änderung eigener Praxis und eigener Denkweisen zu vermeiden, wird BNE als normatives Top-Down-Instrument abgewertet. Sie sei „von außen messbar“ – was ja mit Kunst so gar nicht zusammengeht. Darüber hinaus wären die Zielgruppen damit ja eh nicht zu erreichen, da der BNE das Leib-Sinnliche, Kreative und der Spaßfaktor fehlen würde. Das Problem Anthropozän sollen dann halt Andere, die es auch besser können, richten. Kulturelle Bildung würde eh nichts ausrichten können (s.a. Roth 2019).

Diese Haltung ist fatal, da BNE ohne eine kulturelle Fundierung sowie kulturelle Auffassung versagen muss – so wie Kulturelle Bildung ohne BNE, ohne Nachhaltigkeits-Framing versagen muss. Ein Scheitern von beiden können wir uns jedoch nicht leisten.

Präkonzepte als Herausforderung

Vor diesem Hintergrund ist es dann nur folgerichtig, dass auch die inhaltlichen Traditionen der Kulturellen Bildung – häufig unbewusst – dementsprechend kontraproduktive Einstellungen transportieren. Hier geht es um tiefverwurzelte, prägende und emotional besetzte Vorstellungsmuster, die auf überlieferten Wissensbeständen beruhen. Die Fachdidaktiken der Naturwissenschaften sprechen in solchen Fällen von „Präkonzepten“ (Lehrerfortbildung 2004). Diese funktionieren als deep structures, d.h. als verinnerlichte und latente Narrative. Und sie werden besonders mächtig, wenn sie kollektive Überzeugungen bedienen, die aus kognitiven Dissonanzen (s.o.) hervorgehen. Ihre Wirksamkeit ist also dann besonders groß, wenn sie einem Wunschdenken im Hinblick auf ein Selbst-Welt-Verhältnis entsprechen und der Bequemlichkeit wie einem vertrauten Selbstverständnis entgegenkommen. Ein nahezu plakatives Beispiel dafür ist die Vorstellung, dass der Mensch sich die Erde untertan macht – was sich tief in den christlich geprägten Globalen Norden eingeschrieben hat.

Solche Narrative/Präkonzepte wurden und werden bislang zu wenig beachtet. Doch „ohne ausdrückliches Abbauen falscher Vorstellungen werden keine tragfähigen neuen Vorstellungen erworben" (Piaget 1976:74). Unlearning ist also auch hier das Gebot der Stunde. Um die aktive (Neu-)Konstruktion von Wissensstrukturen, einen Conceptual Change im Sinne konstruktivistischer Lerntheorien (Krist 1999), zu ermöglichen, bedarf es dann zunächst einer Analyse dessen, was verlernt werden muss. Drei Beispiele kontraproduktiver Narrative/Präkonzepte seien hier erwähnt, zwei aus dem schulischen Kunstunterricht (Zentralperspektive und Stilgeschichte) und eines aus dem kollektiven Diskurs in den Medien (Wolf).

Beispiel Zentralperspektive

Was bei Schüler:innen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren im Kunstunterricht immer gut ankommt, ist das Erlernen der Zentralperspektive – sicher ein wesentlicher Grund, warum diese dann auch in allen Lehrplänen vorkommt. Mit dieser Darstellungsmethode werden die Schüler:innen zu Beherrschern eines technischen Verfahrens, das zu eindrucksvollen Ergebnissen in Form von stimmigen Zeichnungen führt. Wir haben also die klassische Selbstwirksamkeitserfahrung: Die Schüler:innen sind stolz auf ihre Ergebnisse, die sie sich selbst vorher nicht zugetraut hätten.

Aus BNE-kritischer Sicht ist jedoch die Weltkonstruktion, die ‚hinter‘ diesem Verfahren steckt, kontraproduktiv – zumindest solange sie nicht als solche zum Lerngegenstand selbst wird: „Natur [d.h. die Umwelt als das in der Zeichnung Darzustellende – Anm. d. Verf.] kann im Anthropozän nicht mehr als objektivierbare Materie verstanden werden, als etwas, das wahrgenommen wird, selbst aber ohne Wahrnehmung ist, das bearbeitet wird, aber ohne Handlungsmacht  ist, etwas, das auf Distanz gerückt werden kann“ (Horn 2023:11).

Doch die mathematisch durchkonstruierte, in Europa zu Beginn der Neuzeit entwickelte Zentralperspektive unterwirft die als passiv aufgefasste Umwelt ihrem ehernen Gesetz. Ihre Grundlage, ohne die sie nicht denkbar wäre, ist die strikte Subjekt-Objekt-Trennung, bei der die Schüler:innen als Subjekte die Macht haben. Damit wird das ‚Die-Erde-Untertan-Machen‘ bestätigt, eine Haltung, die sich – und hier zeigt sich die Wirksamkeit dieses Narrativs oder Präkonzepts – als Muster dann im Kolonialismus wiederholt (s. Abb. 2 und 3).

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Abb. 2: Albrecht Dürer: Der Zeichner des liegenden Akts (um 1525). Abb. 3: Theodor Galle/Jan van der Straet: Vespucci ‚entdeckt‘ Amerika (1589). In beiden Beispielen tritt ein bekleideter und bewaffneter (!) Mann aktiv einer nackten, zurückgebeugten, passiven Frau gegenüber, die das ‚Natürliche‘, jeweils zu Bändigende, repräsentiert.

Beispiel Kunstgeschichte

Ein ähnlich etabliertes und erfolgreiches Modell, nun im Bereich der Kunstgeschichte, ist das Konzept der Stilgeschichte: Die mittelalterliche Gotik (der Stil mit den hochaufragenden Spitzen) wird von der neuzeitlichen Renaissance (mit den eher horizontalen Rechtecken und Rundbögen) abgelöst. Und diese Epoche markiert eine Station auf dem Weg, an dessen Ende – nach der Befreiung des souveränen Menschen aus den verschiedensten Formen geistiger Unmündigkeit – die heutige ‚Moderne‘ steht: lineare Entwicklung auf ein Ziel hin, verstanden als Fortschritt. Nach diesem Konzept wird in vielen Schulbüchern Kunstgeschichte dementsprechend entlang eines Zeitstrahls in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Verästelung visualisiert. Diese wiederum zeigt strukturelle Ähnlichkeiten mit der Illustration der Evolution in Form eines sich ähnlich ausdifferenzierenden Baums (s. Abb. 4 und 5).

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Abb. 4 und 5

Dieses Muster einer quasi naturgegebenen ‚Höher‘- oder ‚Weiter‘-Entwicklung, verstanden als Fortschritt, hat sich tief in unser kollektives kulturelles Gedächtnis eingegraben. Wir finden es als Präkonzept im Fach Kunst wie in Biologie oder Geographie, wo es immer gleich falsch ist. Es ist „für uns überlebenswichtig, den auf einer Abfolge von Zeitetappen beruhenden Begriff des Fortschritts durch eine Vorstellung eines dauerhaften Nebeneinanders von Etappen im Stoffwechsel des Menschen mit der Natur zu ersetzen. Erst diese Revision unserer Zeitwahrnehmung würde uns in die Lage versetzen, aus der Dynamik einer voranschreitenden Naturaneignung auszusteigen“ (Münkler 2023).

Und trotz dieses Einspruchs nehmen wir mit dieser Vorstellung linearer Zeit als Fortschritt immer noch die heutige Welt wahr, z.B. wenn wir Hilfe für die ‚Entwicklungsländer‘ leisten, damit diese auf ihrem Weg, so zu werden wie wir, endlich tatkräftig unterstützt werden.

Beispiel Wolf

Die beiden soeben genannten Beispiele gehen zunächst von einem fachspezifischen Befund aus, die dabei erkannten Strukturen entsprechen aber – wie gezeigt – allgemeinen Mustern des Selbst- und Weltverhältnisses, mit denen wir Menschen unsere kognitiven Dissonanzen erträglich machen können. Ich füge noch ein Beispiel aus dem tagespolitischen Raum an: die Angst vor dem Wolf. Sie zeigt – zumindest in den betroffenen Gebieten des ländlichen Raums – eine erstaunliche Mobilisierungsmacht. Erstaunlich ist sie vor allem, wenn man die Zahlen der von Menschen und der von Wölfen getöteten Tiere pro Jahr miteinander vergleicht. Ganz offensichtlich lauert hinter dem Wolf mehr.

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Abb. 6: Poster am Garagentor in einem deutschen Dorf. Aufnahme des Verfassers im Sommer 2023, ca. 250 cm breit.

Im Zentrum dieses Posters (Abb. 6) steht ein (noch) unberührtes, weißes Lamm. Hinter ihm ragt der Wolf auf. Links und rechts sind je drei Bilder von Wolfsopfern angeordnet. Ein Art Triptychon, bekannt von christlichen Altären mit dem unschuldigen, bedrohten Lamm im Zentrum. Der Wolf ist das einzige Tier, das von rechts ins Bild kommt. (Schon für die Kriegsberichterstattung im Nationalsozialismus galt, dass der Feind immer von rechts – gegen die Leserichtung – ins Bild kommen muss.) Sein offenes Maul mit den Reißzähnen direkt über dem Nacken des Lamms. In der Überschrift wird deutlich, um was es geht: Wem gehören die Tiere? Uns (den Menschen) oder (auch) den Wölfen – zumindest hie und da?

Mit dem in der Überschrift angesprochenen Besitz ist die Machtfrage verknüpft. Dabei geht es um Besitz als Monopol. Und dieses Regelwerk verletzt der Wolf, der sich dann auch noch dem menschlichen Zugriff entzieht. Domestiziert, als Hund, würde er sich der Macht des Menschen unterwerfen und sein treuerster Gefährte werden. Ans Haus gebunden würde er auch nicht (ein-)wandern und dabei Grenzen ignorieren. Auch hier ist es die Verbindung mit einem zweiten Narrativ, Migration, die entscheidend für die Mobilisierungsmacht ist. Dies zeigt sich im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs um Einwanderung.

Zwischenbilanz

Wir könnten die Beispiele fortsetzen und z.B. bei der Ästhetik von SUVs weitermachen. Oder bei Weltkarten, bei denen Europa immer in der Mitte oben und dann auch noch in falschen Größenverhältnissen (also zu groß) dargestellt ist. Doch schon bei den drei ausgeführten Beispielen wird deutlich, dass die Verbindung eines bestimmten Wissens mit Haltungen, die sich als Muster unserer Selbst- und Weltwahrnehmung kulturell tief eingeschrieben haben, produktiv oder – in den genannten Beispielen – kontraproduktiv sein können. Entscheidend ist, dass sie unser Lernen, Urteilen und Handeln steuern. Sie sind einprägsam, zugleich erzählerisch wie visuell kodiert, und sie versprechen Erfolg. Damit ermöglichen sie es uns, mit unseren kognitiven Dissonanzen umzugehen. Als ‚große Erzählungen‘ unserer Kultur sind sie meist latent wirksam. Unreflektiert entfalten sie eine kontraproduktive Wirkung auf die Bereitschaft zur Überdenkung tradierter Überzeugungen und Werthaltungen.

Perspektiven und nötige Paradigmenwechsel

Wollen wir kognitive Dissonanz nicht durch individuelle Pseudolösungen wie etwa ‚Klimaschummeln‘ abmildern und wollen wir kontraproduktive Präkonzepte nicht weitertragen, müssen wir Kulturelle Bildung neu denken. Der dafür nötige Paradigmenwechsel umfasst dann zum einen eine grundsätzlich veränderte Sichtweise auf das Feld und zum andern konkrete Transformationsprozesse.

Zu ersterem gehört, die Trennung von Kultureller Bildung und BNE aufzuheben. „Die Klimakrise ist kein Thema, sondern – analog zu Demokratie und Menschenrechten – eine Dimension jedes Themas“ (Netzwerk Klimajournalismus 2024). Jegliche Kulturelle Bildung heute ist – da sie im Anthropozän stattfindet – automatisch Bildung für (oder gegen) Nachhaltige Entwicklung. Und da es in der BNE um menschliche Aktionen in der Welt geht, also letztlich um ‚Kultur‘, ist sie damit immer automatisch ‚Kulturelle‘ Bildung. Auf diese Weise ist jede BNE eben auch gute (oder schlechte) Kulturelle Bildung. Nachhaltigkeit ist also kein „Thema“ der Kulturellen Bildung.

Das wird nochmals aus anderer Perspektive einleuchtend, wenn wir Kulturelle Bildung und BNE so verstehen, dass beide bestimmte Selbst- und Weltverhältnisse nicht nur vermitteln, sondern auch selbst hervorbringen. Dabei ist ein Punkt zu beachten: BNE kann in diesem umfassenderen Verständnis natürlich nicht auf die ökologische Dimension reduziert werden, sondern umfasst das gesamte Spektrum der SDGs, von Demokratie bildenden Aspekten bis zu sozio-ökonomischen. Für die dazu nötigen Transformationsprozesse in der Kulturellen Bildung schlage ich vor, folgende Aspekte zu diskutieren:

A. Narrative wahrnehmen und verstehen

Um auf das Anthropozän reagieren zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, wie dieses die Weltwahrnehmung formt und umgekehrt, wie eine bestimmte Weltwahrnehmung zum Anthropozän beiträgt. Hier spielen die oben bereits diskutierten Narrative oder Präkonzepte eine zentrale Rolle. Da sie selbst kulturelle Konstrukte – in einer je spezifischen Ästhetik – sind, kann die Kulturelle Bildung (im Verbund mit anderen Zugängen zur Welt) hier ihr besonderes Potenzial zu ihrem Verständnis beitragen. Sie kann z.B. aufzeigen, wie die Ästhetiken der Narrative bestimmte Bedeutungen, Emotionen und Einstellungen transportieren. Eine solche ‚Dekodierung‘ ist wichtig, da kontraproduktive Leitfiguren als Präkonzepte meist latent wirkungsmächtig bleiben und sich gerade deshalb tief in die Selbst- und Weltwahrnehmung und damit die Lebensgestaltung der Menschen des Globalen Nordens einweben. Damit aber eine Neuorientierung der Kulturellen Bildung gelingen kann, ist ihre Kritik eine wichtige Grundlage.

Dazu hat Gabriele Dürbeck eine, für unsere Überlegungen sehr hilfreiche Systematisierung von Narrativen des Anthropozäns vorgelegt. Sie zeigen typische Leitfiguren der Weltwahrnehmung auf (vgl. Dürbeck 2018). Die Autorin hatte eine systematische Literaturrecherche von mehr als 600 Veröffentlichungen zum Anthropozän zwischen 2000 und 2018 unternommen und daraus fünf Kategorien von Narrativen entwickelt: das Katastrophen- bzw. Apokalypse-Narrativ, das Gerichtsnarrativ, das Narrativ der ‚Großen Transformation‘, das (bio-)technologische Narrativ und das Interdependenz-Narrativ. Dabei geht es letztlich immer um die Frage, wie wir uns selbst zu den Herausforderungen des Anthropozäns positionieren. Eine solche Systematisierung kann nun für unsere Zwecke genutzt werden – wobei ich das Apokalypse- und das Gerichtsnarrativ zu einem zusammenfasse. Sie sind sich für unseren Diskurszusammenhang zu ähnlich. Bezieht man die vier Grundtypen von Narrativen nun auf die jeweils zugrundeliegenden Selbst- und Weltwahrnehmungen, können sie in einer Systematik (s. Abb. 7) verortet werden.

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Abb. 7: Narrative des Anthropozäns. [Diese Grafik nutzt die Bilder, die ich bereits für das Vorgängermodell, das hier wesentlich überarbeitet wurde, verwendet habe (vgl. Wagner 2020a).

In dieser Verortung thematisiert die horizontale Achse unser jeweiliges Selbst-Verständnis als Mensch – zwischen den Polen melancholischer Passivität und aktiven Eingreifens. Die senkrechte Achse wiederum thematisiert unsere Vorstellungen von der Welt, der Natur, also dem Kontext, in dem wir leben – nun zwischen den Polen eines ausbalanciertem, ‚heilen‘ Ökosystems und einem Verständnis von Natur oder Welt als ‚Kampfzone‘. Je nach eigener Selbst- und Weltwahrnehmung wird man sich in diesem von den beiden Dimensionen aufgespannten Feld verorten können.

Diese Verortungen sind nicht statisch. Und sie sind nicht als Schubladen zu verstehen, in die etwas hineingesteckt wird, schon gar nicht als gute oder böse Schubladen. Ihre Zuordnung wird sich je nach Kontext dynamisch ändern und sie selbst werden verschiedenste Mischformen bilden. Das Feld zwischen den Polen kann jedoch helfen, die Haltungen zu klären.

Und, die aktuelle Situation der Welt wie der Anspruch auf Aufklärung machen es erforderlich, alle Konzepte als gleichberechtigt zu sehen und sich auf diese in der Kulturellen Bildung auch einzulassen – solange ein Bewusstsein für die Vielfalt und die Anerkennung der Vielfalt des Spektrums gewahrt bleiben. (Die Curriculum-Theorie würde hier von einem metakognitiven Ansatz sprechen.)

B. Künste beobachten und als Ressource nutzen

Wenn es aber um ein Quo Vadis für die Kulturelle Bildung geht, muss dieser Ansatz, der von dem Bestand von Weltwahrnehmungen ausgeht, also die Zielgruppen da abholt, wo sie sind, ergänzt werden. Dabei geht es um Dimensionen, die den Bestand und die Struktur der Narrative über das Gegebene und Erwartbare hinaus erweitern. Hier bietet das immense Repertoire, das die Künste liefern können, einen herausragenden Bezugspunkt. Wie dieses Erweitern der Möglichkeiten durch Nutzung der Künste aussehen kann, zeigt eine Beobachtung des Soziologen Hartmut Rosa am Beispiel Museen: „Was moderne Menschen in die Museen […] treibt […] ist der Umstand, dass sie spielerisch und explorativ ganz unterschiedliche Arten und Formen der Weltbeziehung – die Einsamkeit und Verlassenheit, die Melancholie, die Verbundenheit, den Überschwang, die Wut und den Zorn, den Hass und die Liebe – […] einüben und ausprobieren können und dass dabei ihre eigene Bezogenheit auf die Welt modifiziert wird. Ästhetische Resonanz wird so zu einem Experimentierfeld für die Anverwandlung unterschiedlicher Muster der Weltbeziehung“ (Rosa 2019:483).

Überschwang, Hass, Liebe …, die Aspekte, die Rosa benennt, kommen in den Kategorien Dürbecks nicht vor, jedoch sehr wohl in den Werken der Kunst. Ich habe unlängst konkrete Beispiele aus der Kunst im Hinblick auf die Erweiterung des Repertoires der Kulturellen Bildung diskutiert (vgl. Wagner 2020b:180ff.). Stichpunkte dort sind etwa Ohnmacht, Schrecken, Zauber, Nachahmung, Fantasie oder menschliches Maß. Aus Platzgründen kann ich hier nur darauf verweisen. Lässt man die dort diskutierten Beispiele Revue passieren, fällt auf, dass die zeitgenössische Kunst sich offensichtlich kaum der von Dürbeck vorgestellten Bildwelten bedient. Es fehlt der blaue Planet, es fehlen die (Kinder-)Hände, die den Planeten (oder eine Pflanze) beschützen und bewahren, es fehlt die apokalyptische Vision des erhitzten, glühenden Planeten, die uns aufrütteln soll.

Im Hinblick auf Nachhaltigkeit, also auf die Frage, wie sich der Mensch in Bezug zur Welt sieht, wie er in der Welt agiert, liefert uns die Kunst offensichtlich andere Formen von Selbst- und Weltverhältnissen. Sie zeigt uns ein breites Spektrum von Möglichkeiten, die – und das ist entscheidend für die weiteren Überlegungen – auch emotional besetzt sind.

C. Narrative gestalten

Die beiden Narrations-Systeme, die der Künste (s. B) und die der öffentlichen Diskurse (s. A) können und müssen zueinander in Bezug gesetzt werden. Schneider (2023:226) formuliert als zentrale Herausforderung einer ‚Kommunikation im Anthropozän‘ die Suche nach einem Mindset, nach Weltbildern und Narrativen, mit denen der Wandel gelingen kann. Und dazu kann Kulturelle Bildung beitragen. Schließlich machen nicht nur die oben gezeigten Beispiele, sondern auch Formulierungen wie „Mindset, Weltbilder, Narrative“ deutlich, dass Narrative immer von Menschen gestaltet sind und dass sie sich laufend verändern – und auch das wäre ein wichtiger Gegenstand von Bildung.

Letztlich geht es bei einem solchen Ansatz darum, wie eine neue Art des „In-der-Welt-Seins" aussehen und wie man es im Kontext von Kultur und Bildung erproben könnte. „Einer Ästhetik des Anthropozäns geht es um ein analytisches, häufig experimentelles und hochgradig wissensgestütztes Ausdrücklich-Machen von Prozessen, Gegenständen und Praktiken des Anthropozäns, die latent zu groß, zu klein oder zu selbstverständlich sind, um wahrgenommen zu werden“ (Horn 2023:19). Und in der Kulturellen Bildung geht es um die Entwicklung von Narrativen, die das Anthropozän zum Tanzen bringen …, mit Hilfe des Repertoires der Künste und in Bezug auf die öffentlichen Mainstream-Diskurse.

Diese Aktionsformen können z.B. visualisieren, sie können mobilisieren, sie können aber auch neue Denk- und Wahrnehmungsweisen entwerfen. Sie müssen nur Qualitätskriterien folgen, die noch zu entwickeln sind (s. D). Dabei ist eine Verzahnung von Produktion, Reflexion und Metakognition von zentraler Bedeutung. Und diese Verzahnung muss in einem permanenten „Sich-In-Beziehung-Setzen“ verortet werden: Was leistet mein Tun im Gesamtbild der (möglichen) Aktivitäten? Was leisten die Anderen? Wie können wir kooperieren, damit kein wichtiger Aspekt fehlt und damit Ressourcen geschont werden? Wie können wir resilient bleiben?

Wenn wir dann die bereits oben erwähnten Färbergärten, Bauereignisse, Wasserwerkstätten, Natur-Klang-Parcours und noch viel mehr realisieren, dann haben wir zwei Aufgaben: Wir müssen sie im Hinblick auf die ihnen innewohnenden Narrative untersuchen bzw. gestalten. Und wir müssen ihren jeweiligen Ort im Gesamtspektrum der BNE/Kulturellen Bildung transparent machen, für uns selbst als Entwickler:innen wie für die Teilnehmer:innen.

D. Qualitätskriterien entwickeln

Ein letzter Punkt: Schneider hofft „auf die Kultur als einem Raum, in dem über Deutungen ästhetisch, erzählerisch und kritisch spekuliert werden kann, in dem wir unser Fühlen und Vorstellen dehnen, entwickeln und miteinander teilen können“ (Schneider 2023:260). Entscheidend für Schneider ist dabei, „dass Kulturen unterschiedliche Verständnisse vom Klimawandel besitzen und dass das diesem Verständnis zugrundeliegende Wissen nicht starr ist, sondern sich entwickelt“ (ebd.:261). Damit spricht sie zentrale Punkte an, die für die zu entwickelnde Kulturelle Bildung konstitutiv sein können. Eine Checkliste für eine entsprechende ‚Futures Literacy‘ in der Kulturellen Bildung ist zu entwickeln. Dazu kann – in einer ersten, provisorischen Liste – gehören:

  • Lebensweltlich relevante Fragestellungen und Situationsorientierung fokussieren.
  • Eine Zielgruppendifferenzierung mit Hilfe von Milieutheorien oder Persönlichkeitsmerkmalen zur Profilierung von Aktivitäten nutzen.
  • Funktion der eingesetzten Mittel klären. Sollen sie etwa visualisieren, mobilisieren oder zu neuen Denkweisen führen – oder mehrere Funktionen gleichzeitig in der Überschneidung und Verdichtung bedienen?
  • Transparenz der Narrative und der Verortung im Spektrum für Anbieter:innen und Teilnehmer:innen herstellen. Umgang mit Macht reflektieren (ein wichtiger Aspekt der politischen Bildung).
  • Die lokale Verwurzelung sowie die Transkulturalität der jeweiligen Ansätze deutlich machen. Mehrperspektivität strukturell berücksichtigen. Relativierung des Eurozentrismus durch Einbeziehung von Stimmen und Kunstwerken aus dem Globalen Süden. Globales Lernen.
  • Offenheit gegenüber dem Prozess und dem Ergebnis bewahren. Strukturelle Widersprüchlichkeiten einbauen und als Störmomente für Korrekturen nutzen. Mehrere Lösungswege parallel ausführen. Unterschiedliche Haltungen erproben. Repertoire der Künste zur Irritation und als Erweiterung nutzen, auch als Ausweg aus normativen Fallen.
  • Die mit den Prozessen verbundenen Emotionen (Preuß 2023), Ängste, Träume ebenso thematisieren wie die darauf antwortenden Werteorientierungen. Ambiguität, kulturelle Resilienz unterstützen.
  • Wissensbasierte, wertebezogene und emotional reflektierte Haltungen zur Bewältigung von Erfahrungen modellieren.
  • Gruppenprozesse in sinnvollen, arbeitsteiligen Teams anvisieren. Wertschätzende Kooperation mit Partnern außerhalb des eigenen Horizonts und so Beziehungen herstellen. Zusammenarbeit mit Akteuren außerhalb des Felds für transdisziplinäre Ansätze nutzen.
  • Die Vernetzung der Ansätze incl. Transfermöglichkeiten mitdenken, da kein Projekt, keine Maßnahme alle notwendigen Bereiche abdecken kann. Klarheit über die eigenen blinden Flecken gewinnen.