Kultur, Bildung und ländliche Räume: Ihr Wechselspiel aus einer globalen Meta-Perspektive
Abstract
Die Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen (KuBiLand) fußt auf einer Vielzahl theoretischer und empirischer Grundlagen. Wir entwickeln hier eine konzeptionelle Meta-Perspektive, basierend auf einem explorativen Literaturreview der nationalen und globalen KuBiLand-Forschung der letzten Jahre. Im Zentrum der Diskussion stehen zunächst das konzeptionelle Dreieck „Kultur—Bildung—Ländliche Räume“ und seine Repräsentation in deutsch- und englischsprachiger Forschungsliteratur. Danach diskutieren wir, wie die kausalen Wechselbeziehungen zwischen Kultureller Bildung und ländlichen Räumen in der aktuellen Forschung analysiert werden. Durch die Gegenüberstellung von ausgewählten Forschungsbeiträgen zu unterschiedlichen Ländern und Regionen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen mit aktueller deutscher KuBiLand-Forschung zeigt der Beitrag die Vielfalt der Perspektiven. Gleichzeitig deutet er an, warum ein globaler Blick nicht nur empirisch und theoretisch bereichernd ist, sondern warum er auch rein nationale Konzeptionen des KuBiLand-Dreiecks oder normative Erwartungen an Kulturelle Bildung in Frage stellen kann. Wir schließen mit Empfehlungen für zukünftige Forschung.
Einleitung
In diesem Beitrag entwickeln wir eine Meta-Perspektive auf Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen (kurz: KuBiLand). Wir vereinen dafür unterschiedliche konzeptionelle, disziplinäre und geografische Perspektiven aus der nationalen und internationalen KuBiLand-Forschung. Dabei bauen wir auf dem bereits entwickelten und ebenfalls auf kubi-online präsentierten theoretischen Rahmen zu Spannungsfeldern Kultureller Bildung in ländlichen Räumen auf (siehe: Nina Kolleck/Berfin Yildirim „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen: Entwicklung eines theoretischen Rahmens").
Ergänzend zu einem aktuellen Review nationaler, deutschsprachiger Literatur (Büdel/Kolleck 2023) greift die entwickelte Meta-Perspektive auf ausgewählte Beiträge aus zwei aktuellen deutschsprachigen Sammelbänden der KuBiLand-Forschung (Kolleck et al. 2022; Kolleck/Fischer 2023) sowie auf einen von uns erstellten Korpus aus über 100 Forschungsbeiträgen (Übersicht: https://t1p.de/kubiland_korpus_kubionline) internationaler, multi-disziplinärer KuBiLand-Forschung in englischer Sprache zurück. Dieser Korpus dient auch der Weiterentwicklung der deutschen KuBiLand-Forschung.
Wir schließen mit diesem Beitrag neben der deutschen Forschung unter anderem an internationale Diskussionen zu Kulturarbeit in ländlichen und peripheren Regionen (Duxbury 2021), an die Forschungsliteratur zu Kreativ-Industrien in dünn besiedelten Räumen (Silva et al. 2023) oder auch an empirische und konzeptionelle Diskussionen rund um kunstbasierte Entwicklung dörflicher Gemeinschaften (Balfour et al. 2018) an. Anders als diese internationalen Literaturen liegt der Fokus hier explizit auf Aspekten von Kultureller und künstlerischer Bildung in ländlichen Räumen, also Beiträgen, die das gesamte konzeptionelle Dreieck aus Kultur, Bildung und ländlichen Räumen in der nationalen und globalen Forschung repräsentieren.
Die zentrale Frage für diesen Beitrag lautet, welches kausale Wechselspiel zwischen „Ländlichkeit“ (Englisch: „rurality“) als räumliche oder soziale Kategorie einerseits und Kultureller Bildung andererseits in der Literatur angenommen oder beobachtet wird. Der Ausgangspunkt von Analysen ist häufig, dass künstlerische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen anders gestaltet ist — oder sein sollte — als in nicht-ländlichen Räumen, weil „Ländlichkeit“ als besondere Raumkategorie eine eigenständige Wirkung auf Kulturelle Bildung hat. Gleichzeitig findet man auch, implizit oder explizit, immer wieder die Annahme, dass Kulturelle Bildung anders auf ländliche Räume wirkt als auf nicht-ländliche Räume.
Deshalb zeigt der vorliegende Beitrag, wie in der nationalen und internationalen Forschung die Kausalwirkungen von Kultureller Bildung und ländlichen Räumen einzeln und zusammen diskutiert werden und wie je nach Disziplin eher die eine oder die andere Wirkrichtung im Vordergrund steht. Außerdem verdeutlich der Blick auf die globale KuBiLand-Forschung, dass theoretische Perspektiven oder kausale Annahmen nicht unkritisch auf neue Kontexte angewandt werden sollten, in denen zum Beispiel marginalisierte Gruppen oder Kulturelle Bildung in indigen geprägten (ländlichen) Räumen untersucht werden. Das wird zum Beispiel da wichtig, wo es um die Rolle von Kultureller Bildung bei der „Entwicklung“ von ländlichen Räumen geht (vgl. Sunderland et al. 2022; zwei der vier Ko-Autor*innen sind Personen der Wiradjuri First Nations People of Australia).
Im ersten Abschnitt des Artikels diskutieren wir die konzeptionellen Grundlagen in Form eines Begriffs-Dreiecks aus Kultur, Bildung und ländlichen Räumen, erweitert um Überlegungen zur globalen Übertragbarkeit dieser Konzepte. Im zweiten Abschnitt zeigen wir, welche kausalen Argumente in der nationalen und internationalen KuBiLand-Forschung vorherrschen, und welche theoretischen Wechselwirkungen existieren (können). Der Artikel schließt mit einem Ausblick auf die Frage, wie ein umfassendes, internationales Literaturreview helfen kann, Theorie- und Praxis-Lücken in der KuBiLand-Forschung zu schließen und neue kritische Perspektiven auf die bestehende und zukünftige Forschung zu eröffnen.
Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen: ein globaler Konzept-Raum
In den vergangenen Jahren ist in der deutschsprachigen Forschung viel konzeptionell zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen publiziert und diskutiert worden (siehe Beiträge in Kolleck et al. 2022; Kolleck/Fischer 2023). Dieser Beitrag soll diese Diskussionen nicht wiederholen. Wir skizzieren nur zentrale konzeptionelle Überlegungen und erweitern diese um internationale Diskussionen und Perspektiven.
Herausfordernd ist, dass die drei konstitutiven Konzepte (1) Ländliche Räume, (2) Kultur sowie (3) Bildung genauso wie Kombinationen — Kulturelle (+) Bildung, ländliche (+) Kultur etc. — schon für sich genommen eigene Konzeptionsräume sind. Diese zu diskutieren übersteigt den Umfang dieses Beitrags. Die Grundlage unserer weiteren Überlegungen ist daher ein konzeptionelles Dreieck (Abbildung 1), das den nationalen Diskussions- und Forschungsstand stark vereinfacht zusammenfasst.
Ein Blick auf die drei Kern-Begriffe (in Abbildung 1 in blau) und ihre unterschiedlichen konzeptionellen Dimensionen und Definitionen (in Abbildung 1 der Einfachheit halber dichotomisiert; in hellbraun) verdeutlicht, wie vielfältig Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen konzeptionell und empirisch gefasst werden kann: Arbeiten wir mit einem engen oder einem weiten Kulturverständnis? Betrachten wir formales oder non-formales Lernen mit expliziten oder impliziten Wissensbeständen in ländlichen Räumen? Und fokussieren wir in der Forschung zu ländlichen Räumen eher auf ein physisch-geografisches oder auf ein sozio-ökonomisches beziehungsweise sozio-kulturelles Raumverständnis?
Solche konzeptionellen Entscheidungen sind häufig disziplinär geprägt („Was interessiert uns?“), aber auch methodisch beeinflusst („Was können wir beobachten?“). Das führt zu sehr unterschiedlichen Fragestellungen und Forschungsdesigns. So fand beispielsweise eine groß angelegte Umfragestudie (N=6.500) mit bildungswissenschaftlichem Fokus zu privatem Musikunterricht in Kanada (also: formale Bildung mit „Hochkultur“-Anspruch) unter anderem heraus, dass es Unterschiede gibt, wie häufig Musikschüler*innen in ländlichen und städtischen Räumen (definiert nach Bevölkerungszahl und -dichte) öffentlich auftreten. Tatsächlich ist die Zahl in ländlichen Räumen höher (Purves/Upitis 2022) — vielleicht gerade, weil in diesen Räumen weniger Menschen und damit weniger professionelle Musiker*innen wohnen. Oder aber, als alternative Erklärung, weil musische Bildung und die Suche nach Gemeinschaft in ländlichen Räumen enger verzahnt sind als im urbanen Raum (vgl. Bons et al. 2023, in Deutschland).
Darüber hinaus finden sich auch Studien aus dem Forschungsbereich des Ozean- und Küstenmanagements, die man in das Dreieck einordnen kann. In einer Fallstudie aus Schottland (UK) wird etwa nachgezeichnet, wie durch ein non-formales Kunst- und Bildungsprojekt immaterielles Kulturerbe, welches in einem durch Abwanderungen geprägten maritimen ländlichen Raum existiert, durch digitale Dokumentation erhalten und zugänglich gemacht wird (Brennan 2018). Hier werden sozio-kulturelle mit naturräumlichen Konzeptionen von ländlichen Räumen, Vorstellungen von traditionellem kulturellem Wissen mit neuen Perspektiven auf digitalisierte Kunst kombiniert. Der Typus des peripher-maritimen ländlichen Raums, der in einer Zeitschrift abseits des KuBiLand-Mainstreams in den Fokus rückt, steht in der deutschen Forschung bislang nicht im Vordergrund. Gleichzeitig leben global gesehen viele Menschen in solchen maritimen ländlichen Räumen.
Reflektiert man Kulturelle Bildung also über den nationalen Horizont hinaus, erweitern wir nicht nur einfach die bestehenden Konzepte um weitere empirische Beispiele. Durch eine globale Perspektive stellen sich stattdessen Fragen, wie unterschiedlich auf der Welt die Konzepte verstanden werden und ob, oder wie, sie sich auf unterschiedliche physische, soziale oder auch sprachliche Räume übertragen lassen. So ist etwa das Verständnis von „Ländlichkeit“ (rurality) nicht in allen Sprachen gleich angelegt. Zum Teil gibt es nicht einmal eine eigenständige sprachliche Kategorie dafür (Gkartzios et al. 2020 vergleichen das sehr unterschiedliche griechische, japanische und englische Verständnis). Sind also Erfahrungen aus ländlichen Räumen in Deutschland auf einen ländlichen Raum in Brasilien oder Australien übertragbar, und, wenn ja, mit welcher Wirkung? Wie ähnlich sind sich Narrative des immateriellen Kulturerbes in einem durch Fischerei geprägten ländlichen Raum in Schottland (Brennan 2018) im Vergleich zu queeren Repräsentationen von Travesti aus ländlichen Anden-Regionen in Peru (Wilson-Sanchez 2022) — oder welche unterschiedliche Vorstellung von Kultur, Bildung oder Ländlichkeit repräsentieren sie?
Ähnliches gilt für den Kulturbegriff. Während die deutsche Diskussion um dessen Konzeption insbesondere auf Unterscheidung in ein enges oder weites Verständnis fokussiert scheint, legt die internationale Forschung stärkeres Augenmerk auf Konzeptionen multi-kultureller (Kunst-)Bildung (Desai 2000). In einem globalen Kontext stellt sich mit einer kritischen Perspektive außerdem die Frage, inwiefern das Verständnis der Forschenden von Kultureller Bildung oder die Perspektive der Beobachtenden westlich-kolonial geprägt sind. Durch einen Blick in die globale Forschung kommen so nicht einfach nur indigene, afrikanische oder pazifische Kunst- und Kulturperspektiven als neue empirische Themen in den Fokus (beispielhaft Peru: Levitan und Johnson 2020; Botswana und Zimbabwe: Mamvuto/Mannathoko 2023, Vanuatu, Indonesien und Australien: Grant et al. 2022), sondern es stellt sich auch die Frage: Wer forscht mit welcher Perspektive und sind die untersuchten Gemeinschaften im Forschungs- und Publikationsprozess aktiv beteiligt? Dies sind auch Fragen, die in der nationalen Forschung stärker Beachtung finden können.
Der globale Konzeptraum für Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen ist deshalb nicht einfach ein weiter ausdifferenziertes Konzept-Dreieck. Globale KuBiLand-Forschung, oder deren Übertragung in neue Kontexte, braucht kritische Reflexion zu Konzeptionen und Definitionen, die historisch, politisch, linguistisch und (multi-)kulturell geprägt sind. Diese Dimensionen sind theoretisch relevant und erweitern beziehungsweise hinterfragen das Verständnis von Kultureller Bildung in ländlichen Räumen.
Kausale Wechselbeziehungen zwischen Kultureller Bildung und ländlichen Räumen
In den letzten Jahren hat die nationale Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen vielfältige konzeptionelle und theoretische Ansätze präsentiert, um unterschiedliche Phänomene und Aspekte Kultureller Bildung und ihre Verortung(en) in ländlichen Räumen zu beschreiben und zu erklären. Eine Übersicht hierzu findet sich in Kolleck/Yildirim (2024) auf kubi-online sowie in der Einleitung zum Sammelband „Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Methoden, Theorien und erste Befunde“ (Kolleck et al. 2022). Die Entwicklung einer Meta-Perspektive in diesem Beitrag soll deshalb nicht einfach die bestehenden Ansätze wiederholen, sondern möglichst verallgemeinernd mit Blick auf kausale Annahmen oder Wirkungsketten zusammenfassen und dann in einen internationalen Forschungskontext einbetten.
Wenn zum Beispiel gefragt wird, ob Schulen (wirksame) Maßnahmen treffen können, „um ihren Schüler*innen unter möglicherweise erschwerten Bedingungen dennoch die Teilhabe an kulturellen, insbesondere musikalischen Bildungsprozessen zu ermöglichen“ (Brauns et al. 2022:131, unsere Hervorhebung), dann stehen dahinter zwei unterschiedliche kausale Argumente: Zum einen wird angenommen, dass der ländliche Raum „möglicherweise“ den Zugang zu Kultureller Bildung erschwert (= negativ konnotierte Hypothese), zum anderen wird angenommen, dass formale Bildungseinrichtungen in ländlichen Räumen (ebenfalls möglicherweise) dieser Wirkung dennoch etwas entgegensetzen können (= positiv konnotierte Hypothese). Nicht immer wird diese kausale Logik aber explizit gemacht. Im Folgenden wollen wir beide Richtungen deshalb herausarbeiten, insbesondere unter Einbeziehung von Erkenntnissen aus der internationalen Forschung.
Kausalrichtung 1: Ländlichkeit als Einflussfaktor für Kulturelle Bildung
In der nationalen KuBiLand-Literatur finden sich zahlreiche Beispiele für kausale Argumente für diese Wirkrichtung, auch wenn nicht immer klare Hypothesen formuliert werden. Beispielhaft für eine theoretische Fragestellung, in der Ländlichkeit als Einflussfaktor (oder: unabhängige Variable) für Kulturelle Bildung angenommen wird, ist diese Formulierung aus einem Beitrag (Otte et al. 2023:86) im Sammelband „Kulturelle Bildung in Ländlichen Räumen“ (Kolleck/Fischer 2023):
„Welche Erwartungen lassen sich … für Stadt-Land-Unterschiede in der Nutzung medialer Kulturangebote theoretisch ableiten?“
Hinter dieser Frage steckt eine einfache, aber zentrale kausale Annahme: Die Unterschiede zwischen Menschen, die „in der Stadt“ oder „auf dem Land“ wohnen, oder die Unterschiede, wie Menschen dort wohnen, haben Auswirkungen auf ihre Kulturelle Bildung beziehungsweise die Nutzung von bestehenden Angeboten der Kulturellen Bildung.
Ländlichkeit wird in dieser Forschung daher, vereinfacht zusammengefasst, auf zwei unterschiedliche Weisen operationalisiert. Zum einen werden „Kontexteffekte“, die den physischen Raum beschreiben, beleuchtet. Zum anderen liegt der Fokus auf solchen „Kompositionseffekten“, die die Zusammensetzung des sozialen Raums beschreiben (Otte et al. 2023:88). In beiden Perspektiven steckt ein kausales Argument: Ländlichkeit lässt sich in der Kulturellen Bildung nicht nur unterschiedlich beschreiben, sondern Ländlichkeit wirkt auch unterschiedlich auf Kulturelle Bildung.
Ein zentraler kausaler Mechanismus ist dabei physische Distanz. Immer wieder findet man in der nationalen und internationalen Literatur die Beobachtung, dass Menschen in peripheren ländlichen Räumen — häufig schon per Definition — in größerer Entfernung zu Kultur- und Bildungsangeboten leben, sowohl zu Angeboten innerhalb von ländlichen Räumen als auch zu (über-)regionalen Angeboten (groß-)städtischer Räume. Tatsächlich scheint physische Distanz ein stärkerer Erklärfaktor zu sein als der Grad der Urbanität. Eine Studie aus Belgien zur Teilnahme von Jugendlichen an außerschulischer künstlerischer Bildung fand heraus, dass Kursangebote je eher wahrgenommen werden, desto näher sie am Wohnort der Jugendlichen liegen, egal ob in der Stadt oder auf dem Land (Vermeersch/Groenez 2015:73). Phänomene wie „Elterntaxis“ rücken deshalb nicht überraschend in der Forschung zu ländlichen Räumen in den Mittelpunkt. Sie zeigen aber auch, warum die Überbrückung von Distanz nicht nur eine physische, sondern auch eine soziale Dimension hat (in Deutschland: vgl. Krüger/Schön 2023). Und nicht erst seit COVID steht auch die Frage im Fokus, ob und wie digitale Kulturangebote und neue Medien helfen können, Distanz im ländlichen Raum sowohl physisch wie auch sozial zu überbrücken (in UK: Awan/Gauntlett 2013).
Ein zweiter wichtiger Kausalmechanismus ergibt sich aus der sozio-kulturellen Zusammensetzung ländlicher Räume. Diese Zusammensetzung der „Landbevölkerung“ beeinflusst, unter Umständen, das Kulturverständnis oder die Erwartungen an Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen. Das Verständnis Kultureller Bildung in Dörfern erscheint zum Beispiel stärker auf „Breitenkultur“ und gemeinschaftliche Teilhabe orientiert, während in der Stadt die „passiv konsumierenden Angebote“ größer sind (Hasselhorn et al. 2023:33). Sozio-kulturelle Erwartungen beeinflussen so das Angebot — Wie organisieren Menschen in ländlichen Räumen Kulturelle Bildung? — und die Nachfrage — also Welche Angebote werden eigentlich gewünscht und genutzt?.
Ein dritter Kausalmechanismus resultiert aus der (besonderen) sozio-ökonomischen Situation in ländlichen Räumen. Die sozio-ökonomische Lage wirkt ebenfalls auf die Bereitstellung von oder Nachfrage nach Kultureller Bildung. Ein Aspekt ist die Wirkung der Attraktivität ländlicher Räume auf berufliche Entscheidungen von kulturellen Bildner*innen. So zeigte eine Studie zu formalem Musikunterricht in Uganda, dass Musiklehrer*innen zu Beginn ihrer Karriere zunächst in ländlichen Räumen arbeiten, um dann später in urbanere Räume umzuziehen. Auch seien Weiterbildungsmöglichkeiten im ländlichen Raum schlechter als im urbanen Raum (Sekalegga 2022). Durch diese Mechanismen unterscheidet sich der Musikunterricht auf dem Land von dem in der Stadt, weil unterschiedlich erfahrene Lehrkräfte in den jeweiligen Räumen leben und arbeiten.
Die hier separat aufgeführten Kausalmechanismen können auch überlappen, zusammenwirken oder in unterschiedliche Richtungen wirken. In Forschung zu US-amerikanischen Kleinstädten wird so gezeigt, dass einerseits die schlechtere ökonomische Lage dieser Räume wie auch ihre Entfernung zu den Kulturangeboten der nächsten urbanen Zentren negative Auswirkungen auf die musikalische und instrumentale Ausbildung in Dörfern und Kleinstädten haben kann (Foster/Causby 2024). Was weniger untersucht wird, ist, inwiefern es auch gegenläufige Kausalwirkungen geben kann. Was passiert in einem stark peripheren Raum mit großen Entfernungen zu urbanen Kultur- und Bildungsangeboten, der aber ökonomisch attraktiv ist, zum Beispiel durch die Ansiedlung von Industrie? Stärkt oder schwächt das die Angebote Kultureller Bildung? Wird dadurch eine Nachfrage nach einer anderen Kulturellen Bildung generiert als in ökonomisch schwächeren oder agrarisch geprägten ländlichen Räumen?
Je nachdem, wie wir „Ländlichkeit“ konzeptionell fassen und welche ländlichen Räume wir untersuchen, entdecken wir daher unterschiedliche kausale Wirkmechanismen auf Kulturelle Bildung. Es ist wichtig, diese Wirkmechanismen gezielt zu untersuchen, um in der Praxis Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen mit den richtigen Maßnahmen unterstützen zu können.
Kausalrichtung 2: Der Einfluss von Kultureller Bildung auf ländliche Räume
Eine Metaperspektive auf KuBiLand-Forschung muss aber nicht nur die kausalen Implikationen von Ländlichkeit für Kulturelle Bildung diskutieren und hinterfragen. Sie muss auch zur Kenntnis nehmen, dass häufig die Frage im Fokus steht, wie Kulturelle Bildung ländliche Räume (als abhängige Variable) beeinflusst. Während die erste Kausalrichtung eine logische Perspektive der Bildungs- und Kulturwissenschaften ist, in denen Kulturelle Bildung als abhängige Variable eher einen disziplinären Fokus darstellt, ist interessant zu beobachten, dass die gegenläufige Kausalrichtung (Kulturelle Bildung = unabhängige Variable) viele verschiedene Disziplinen beteiligt, weil dort andere Aspekte als abhängige Variable(n) im Vordergrund stehen.
In praxisnahen Diskursen findet sich diese Kausalrichtung häufige in positiv aufgeladenen Diskussionen wieder. Gerne wird diskutiert, welche positive Wirkung Kultur und Kulturelle Bildung für „das Land“ oder „das Dorf“ haben. Zum Teil vermischt sich das mit Debatten, in denen ländliche Räume im Vergleich zur Stadt als (kulturell) defizitär oder sogar stereotyp kulturell verarmt repräsentiert werden (siehe auch Diskussion in Hasselhorn et al. 2023). In solchen Perspektiven wird dann Förderung von Kultureller Bildung durch externe (urbane) Akteure als notwendige Bedingung zum Aufholen von Defiziten verstanden.
In der internationalen Forschung ist die Debatte über die Effekte Kultureller Bildung auf ländliche Räume aber vielfältig und zeichnet sich durch unterschiedliche theoretische Annahmen und disziplinäre Perspektiven aus, in denen ganz verschiedene abhängige Variablen in verschiedenen ländlichen Räumen in den Fokus rücken.
Ein nicht kleiner Teil der Literatur zeigt zum Beispiel, qualitativ oder quantitativ, wie Kulturelle Bildung den Zusammenhalt in Dörfern insgesamt (in Kanada: Prest 2020), zwischen Frauen in Dörfern (in Kenia: Nyaberia 2020) oder über Dörfer hinweg (in den Niederlanden: Otte 2019) fördert. Kulturelle Bildung kann auch den ruralen Tourismus unterstützen (in Japan: Qu/Cheer 2021). Sie kann helfen, das ländliche kulturelle Erbe zu erhalten (in Tanzania: Ichumbaki/Lubao 2020, in Schottland (UK): McAra 2021) und kulturelles Kapital aufzubauen (für Italien und Irland: Rossetti/Quinn 2021). Sie kann Abwanderungstendenzen in ländlichen Räumen entgegenwirken (McAra 2021), zum Beispiel indem sie soziale Netzwerke oder emotionale Bindungen verstärkt. Eine zentrale Frage bei der Wirkung von Kultureller Bildung in ländlichen Räumen ist, ob und wie sie auf unterschiedliche Menschen gleich oder unterschiedlich wirkt, etwa auf Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte (in Deutschland: Retzar et al. 2023).
Instrumente der Kulturellen Bildung werden auch genutzt, um Ziele der Gesundheitsbildung (in Haiti: Preidis et al. 2010) oder der Nachhaltigkeitsbildung (in Spanien: Carbó Ribugent/Servalls Munar 2022) zu erreichen. Hier geht es also um sich verstärkende Wirkmechanismen zwischen verschiedenen didaktischen Bildungsansätzen oder -zielen. Gleichzeitig wird aber auch hervorgehoben, auch in historischer Forschung, wie nationale Akteure Kulturelle Bildung nutzen, um ländliche Räume nach ihren politischen und ideologischen Vorstellungen zu gestalten, etwa durch politisches Kino in der Sowjetunion (Damiens 2023). Hier stellt sich auch heute noch die Frage, wo zentralisierte Curricula in der Kulturellen Bildung noch Bildung fördern und wo sie in kulturelle Erziehungsmaßnahmen übergehen, möglicherweise mit negativer Wirkung für lokale Kultur(en).
Die kausalen Wirkungen von multi- oder interkultureller Bildung auf Gemeinschaften oder Kultureinrichtungen in ländlichen Räumen werden deshalb auch in Beiträgen sichtbar, die sich kritisch mit neokolonialen Dynamiken von Kulturaustausch oder vertieft mit indigenen Beiträgen hin zu einer dekolonialisierten Repräsentation von Kulturerbe befassen. Dekoloniale und indigene Kulturelle Bildung in Museen bedeutet so nicht nur, Artefakte ländlich-geprägter indigener Kultur oder ‚international anerkannte‘ indigene Künstler*innen auszustellen. Stattdessen sollen indigene Relevanzkriterien sowie Entscheidungs- und Konfliktlösungsmechanismen integrale Bestandteile des Designs von Ausstellungen werden (für Tonga und Aotearoa (Neuseeland): Cobley et al. 2022), weil sich erst so die dekoloniale Wirkung von Kultureller Bildung entfalten kann. Und auch bei einem lokal verankerten und postkolonial reflektierten universitären Austauschprogramm zwischen den USA und ländlichen Räumen in Kenia ergeben sich nicht intendierte Wirkungen auf die lokalen Gemeinschaften und ihre kulturellen Erwartungen, die ihren Ursprung in kolonial geprägten Beziehungsmustern haben (Wairungu et al. 2022).
Zusammenfassend wird also deutlich, dass insbesondere in der Wirkrichtung von Kultureller Bildung auf ländliche Räume sehr unterschiedliche Fragen und Konzeptionen von Kultur, Bildung und ländlichen Räumen diskutiert werden und dass die disziplinäre Breite der Studien groß ist. Während sich die Wirkmechanismen von Ländlichkeit auf Kulturelle Bildung noch zu drei zentrale Dynamiken vereinfachen lassen, scheint die Heterogenität der Perspektiven in der kausalen Gegenrichtung größer zu sein.
Das Wechselspiel der Kausalwirkungen
Aus der Betrachtung der beiden einzelnen Kausalrichtungen und den unterschiedlichen Kausalmechanismen ergibt sich die Frage nach dem Wechselspiel der Dynamiken. Gibt es zum Beispiel ein ländliches Filmfestival im australischen Outback (Ellison/van Hemert 2020), weil es dort schon vorher einen starken sozialen Zusammenhalt (als unabhängige Variable) gab oder wurde der Zusammenhalt (als abhängige Variable) erst gefördert, nachdem das Festival von einigen wenigen vor Ort oder sogar von außen in den ländlichen Raum ‚gebracht‘ wurde? Diese Frage zeigt, warum eine praktisch relevante KuBiLand-Forschung die theoretische Vielfalt und die kausalen Wechselbeziehungen explizit(er) machen muss. Dazu gehört, beide Kausalrichtungen als Möglichkeit anzuerkennen und dann durch passende Methoden, insbesondere auch durch die Evaluation der zeitlichen Abfolge von Veränderungen, herauszuarbeiten, wie genau sich ländliche Räume und Kulturelle Bildung gegenseitig beeinflussen.
Kritische Reflexion und Ausblick
Die Analyse des nationalen und globalen Forschungsstands zum Thema der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen hat gezeigt, dass sich ein großer Teil der Forschung in eine der zwei hier diskutierten großen Kausalrichtungen einordnen lässt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Verständnisse von Ländlichkeit, Kultur und Bildung unterscheiden sich die Forschungsperspektiven dabei stark. Dies hat zunächst disziplinäre Gründe: Welche Themen und Fragen stehen im Fokus und wie schauen Forschende mit ihren disziplinären Brillen auf die kausalen Zusammenhänge? Gerade durch eine globale Perspektive kann verdeutlicht werden, dass dabei sehr unterschiedliche ländliche Räume mit anderer Geschichte, diversen Kultur- und Bildungsverständnissen und mit unterschiedlichen Zugängen der Forschenden auch neue, kritische Fragen in den Vordergrund rücken.
Der vorliegende Beitrag umfasst eine Analyse der internationalen und nationalen Literatur und eine Einordnung in Bezug auf den bereits entwickelten theoretischen Rahmen. Künftige Forschungsarbeiten könnten die dort diskutierten Spannungsfelder (siehe auch Kolleck/Yildirim 2024) noch vertiefter diskutieren und durch Daten aus unterschiedlichen regionalen Kontexten auf breitere empirische Füße stellen. So könnten auch Fragen beantwortet werden, die in der Literatur noch nicht (ausreichend) adressiert wurden, insbesondere die Frage, ob beziehungsweise wie indigene oder marginalisierte Perspektiven auf Kulturelle Bildung explizit beachtet werden, vom Forschungsdesign bis zur Reflexion der Erkenntnisse. Wenn also der Wirkmechanismus von Kultureller Bildung auf den Zusammenhalt im ländlichen Raum untersucht werden soll, dann stehen dahinter auch die Fragen: Welche Kulturelle Bildung? Für den Zusammenhalt welcher Bevölkerungsgruppen? In welchen ländlichen Räumen? Beobachtet durch welche Forschenden? Mit welchen Methoden?
In der deutschen Debatte wurden diese Fragen zuletzt auch auf der Abschlusskonferenz der Förderrichtlinie „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“ aufgeworfen, als die Forschenden sich fragten, warum in ihren vielfältigen Projekten nicht der wachsende Bereich der völkisch-nationalistischen Kulturellen Bildung in das Blickfeld geraten war, während dieses Phänomen in der öffentlichen Debatte bereits als Problem identifiziert wurde. In der globalen Forschung, die hier explorativ zusammengefasst wurde, rückt außerdem die Frage in den Mittelpunkt, welche normative Dimension kausale Argumentationen aufweisen: Was ist, wenn die Förderung des kreativen Handwerks zwar den Tourismus ankurbelt, die gestiegene Nachfrage nach Kunsthandwerk aber nicht zu einer Stärkung der lokalen Produktion und Erhalt der Kulturtechniken, sondern nur zu mehr Importen von leicht verkäuflichen Tourismus-Waren führt (Beispiel in Äthiopien: Wondirad et al. 2022)?
Insgesamt laden die hier entwickelte Meta-Perspektive und ihre Einbettung in nationale und internationale Forschungskontexte zu einer weiteren Systematisierung der Forschungslandschaft zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen ein. Allein die vertiefte Synthese der empirischen Erkenntnisse zu einer der zwei zentralen Kausalrichtungen in der globalen Forschung, die hier nur angerissen wurde, könnte die nationale Forschungsdebatte weiter beleben. So könnten zum Beispiel Leerstellen bei der Erforschung formaler Kultureller Bildung in ländlichen Räumen, die in der nationalen Forschung bestehen (siehe Büdel/Kolleck 2023), nicht einfach nur durch internationale Erkenntnisse gefüllt werden. Stattdessen könnten auf Grundlage globaler Forschung plausible kausale Hypothesen entwickelt und für neue Forschungsdesigns in der nationalen Forschung herangezogen werden.
Die internationale Forschung kann außerdem dabei helfen, die Vielfalt von Ländlichkeit konzeptionell und empirisch besser zu repräsentieren als eine rein nationale Forschung. Bestimmte kausal relevante Kontextfaktoren, die in Deutschland nicht oder nur selten existieren, sind vielleicht global bereits gut erforscht, zum Beispiel wenn wir Kulturelle Bildung in Räumen mit nationalen Minderheiten untersuchen. Hier bieten die theoretischen Überlegungen und empirischen Perspektiven dieses Beitrags erste Anknüpfungspunkte für neue und vielfältige KuBiLand-Forschung.