Künstlerische Bildung durch Bilderbücher. Ein Auftakt

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von Sidonie Engels

Erscheinungsjahr: 2021

Peer Reviewed

Abstract

Bilderbuchbilder sind eine spezifische Kunstform. Sie bieten viel Potenzial für die Kunst- und Kulturvermittlung: Mit ihnen lässt sich die Welt bespiegeln, durch sie kann aber auch die Welt der Kunst kennengelernt werden. Der Blick auf die Forschung zeigt, dass Bilderbücher in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erfahren haben. Die Bilder jedoch und damit die Bedeutung für eine künstlerische Bildung bedürfen einer gesonderten Betrachtung. Der Beitrag zeigt auf, wie Bilderbuchbilder als Kunst verstanden werden und inwiefern sie künstlerisches Denken vermitteln können. Die Rolle der Begleitperson beim Bilderbuchschauen sowie die Bedeutung von nicht konventionellen Darstellungsweisen werden dabei in den Blick genommen. Insgesamt ist es an der Zeit, sich Bilderbuchbildern verstärkt zuzuwenden und ihren Wert im Kontext Kultureller Bildung zu betonen.

So wie Kinder- und Jugendbücher in die Welt der Literatur einführen, sind Bilderbücher ein Tor zur Welt der Bildenden Kunst. Bereits auf dem ersten Kunsterziehungstag in Dresden 1901, der ersten kunstpädagogischen Großveranstaltung, war das Bilderbuch Thema. Gustav Pauli stellte in seinem viel beachteten Vortrag den klaren Bezug zur Kunst her, indem er die „Künstlerische Kultur“ von Bilderbüchern benannte (Pauli 1902:139). Es ist erstaunlich, dass es gut 100 Jahre dauern sollte bis das Bilderbuch grundlegende kunstpädagogische Beachtung erfährt. In einer umfassenden Publikation macht Jens Thiele auf die Bedeutung von Bilderbüchern in kunstpädagogischem Zusammenhang aufmerksam (Thiele 2003), doch ist das Forschungsinteresse unter Kunstpädagog*innen noch immer eher gering und konzentriert sich bei wenigen Interessierten. Gabriele Lieber etwa betont, wie wichtig Bilderbücher für die Bildung in der Kindheit sind: „Bilderbücher sind mit den Sinnen wahrnehmbar. Sie fördern kontemplative, emotional-multimodale, multiperspektivische und spielerische Zugänge zu vielen Bereichen der Lebenswelt." (Lieber 2010:140) Auch Kirsten Winderlich legt dar, wie Bilderbücher einen besonderen „ästhetischen Erfahrungsraum“ zu bieten vermögen (Winderlich 2012). Bettina Uhlig beschreibt die besondere Art und Weise, wie die Bilder in Bilderbüchern erzählen, welches Potenzial in der bildnerischen Auseinandersetzung mit Bildkonzepten von Bilderbüchern steckt und ganz allgemein, welche Bilder das Interesse von Kindern wecken (Uhlig 2014, Uhlig 2016). Uhlig verdeutlicht die unterschiedlichen Bildpräferenzen von Kindern und folgert, dass Kinder mit möglichst vielen Bildwelten in Kontakt kommen sollten (Uhlig 2010:102). Bilderbücher bieten hier einen reichen Fundus und sind zudem leicht zugänglich. So rücken sie ins Zentrum einer Kunstpädagogik der (frühen) Kindheit.

Forschung zum Bilderbuch

Seit der ersten Dekade dieses Jahrhunderts ist ein Anstieg an Literatur zum Thema Bilderbuch zu verzeichnen. Systematische Forschungen zu einzelnen Aspekten finden statt und werden auf Tagungen diskutiert (z.B. Kruse/Sabisch 2013, Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014, Scherer/Volz 2016, Scherer/Heintz/Bahn 2020). Es lässt sich ein Anspruch an Wissenschaftlichkeit feststellen, die zuvor nicht im Vordergrund stand (s. z.B. Kurz/Lange 2005). Insbesondere das Rezeptionsverhalten von Kindern wird erforscht. Beispielhaft sei hier die entwicklungspsychologisch orientierte Untersuchung von Marie Luise Lau genannt, in der etwa die Fähigkeit, Ironie zu verstehen verortet und in Beziehung zu Bilderbüchern gesetzt wird, die auf Ironie bauen (Rau 2013). Aktuell ist die Studie von Alexandra Ritter. Sie wertet „literarische Gruppengespräche“ neun bis zehn Jahre alter Kinder zu vier verschiedenen „neuen Bilderbüchern“ aus (Ritter 2017:81-113) und legt dar, wie „komplex und differenziert“ die Gespräche verlaufen können (Ritter 2017:259). Ritter zeigt auf, dass Kinder ganz individuelle Zugänge finden können, die der Komplexität der gewählten Bilderbücher durchaus gerecht werden.

Ein besonderer Forschungsbereich ist die historische Aufarbeitung und Sicherung. Beispielhaft können hier die Forschungen von Friedrich C. Heller genannt werden sowie Ausstellungskataloge insgesamt (Heller 2008, Schug 1988). Regelmäßig präsentiert beispielsweise das Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf, das neben verschiedenen Bilderbuchsammlungen auch Originalwerke von Bilderbuchillustrator*innen besitzt, Wechselausstellungen und gibt entsprechende Kataloge heraus. Außerdem ist hinzuweisen auf die systematische Aufarbeitung von Illustrationen der Grimm’schen Märchen durch Regina Freyberger (Freyberger 2009) sowie auf den historischen Überblick zur Bilderbuchillustration des 20. Jahrhunderts bei Mareile Oetken (Oetken 2008), die in einer darauf aufbauenden Publikation das Bilderbuch unter raumtheoretischen und narratologischen Aspekten umfassend beleuchtet (Oetken 2017). Auf die Hinwendung zum Bilderbuch im Zuge sowie im Vorfeld der Kunsterziehungsbewegung um 1900 geht Nobumasa Kiyonaga ausführlicher ein (Kiyonaga 2012).

Bereits erwähnt wurden die grundlegenden Arbeiten von Jens Thiele (Thiele 1985, Thiele 2003), der selbst als Autor von anspruchsvollen Bilderbüchern in Erscheinung tritt (z.B. „Jo im roten Kleid“, 2004), viele Bilderbücher rezensiert und für Preise vorgeschlagen hat. Thiele umreißt eine „Theorie des Bilderbuchs“, indem er das „mediale Feld“ (Thiele 2003:39) in den Blick nimmt. Er betont das Narrative der Bilderbücher und zieht Dramen- und Filmtheorien heran, um die spezielle Erzählweise von Bilderbuchbildern zu erfassen. Das Bild-Text-Verhältnis steht bei Thiele im Vordergrund. Er spricht sich gegen eine Verwendung des verengenden Terminus „Illustration“ aus: Indem von „Bild“ gesprochen werde, würde die „bildnerische Ebene mehr Autonomie gegenüber dem Text“ gewinnen (Thiele 2003:45). Bilderbücher ohne oder mit nur sehr wenig Text spielen bei ihm allerdings keine Rolle. Thiele prägt wichtige Begriffe und Kategorien wie „monoszenisches“ oder „pluriszenisches Bild“, „Parallelität von Bild- und Textebene“, „geflochtener Zopf“ bei abwechselnden Betonungen der Erzählebenen von Bild und Text oder „kontrapunktische Inszenierung“ bei gegensätzlichen Bild- und Textaussagen. Außerdem macht er auf die vielgestaltigen Möglichkeiten nicht-linearer Erzählformen im Bilderbuch aufmerksam (Thiele 2003:56-89). Mithilfe fünf exemplarischer Analysen – von anderen Autor*innen verfasst – zeigt Thiele auf, wie Bilderbücher umfassend untersucht werden können. Damit hat Thiele eine beispielhafte Grundlage für weitere Forschungen geschaffen. Insgesamt hat Thiele mit seiner Publikation den (Eigen-)Wert des Bilderbuchbildes gesteigert. Viele Bilderbuchautoren haben in den letzten 20 Jahren thematisch wie gestalterisch neue Wege eingeschlagen und Verlage haben dies mitgetragen, was sicher auch Thieles Verdienst ist.

Margarete Hopp und Tobias Kurwinkel beispielsweise legen für ihre Analysen Thieles Kategorien zugrunde. Für Hopp ist das Bilderbuch jedoch „in erster Linie […] Literatur." (Hopp 2015:29) Sie konzentriert sich auf das Erzählen und meint: „Das Erzählen im Bilderbuch ist definiert über die Unauflöslichkeit der Beziehungen zwischen Bildebene und Sprachebene und ihrer Synthese im Ikonotext." (Hopp 2015:64) Durch die Konzentration auf den Bezug der Bilder zum „Verbaltext“ und die inhaltliche Deutung in Bezug auf Todesvorstellungen, den Umgang mit dem Tod, den Trauerprozess und dessen Bewältigung, treten Fragen der bildlichen Gestaltung allerdings in den Hintergrund. Ähnlich geht Tobias Kurwinkel vor, der in einem Einführungsband „Bilderbuchanalyse. Narrativik – Ästhetik – Didaktik“ erläutert, wie der „Bildtext“ zu erfassen ist (Kurwinkel 2017:129-152).

Uhlig weist dezidiert darauf hin, dass Bilder keine Texte sind. „Es ist berechtigterweise zu fragen, ob die Übertragung eines linguistischen oder literarischen Verständnisses auf Bilder der Spezifik von Bildern wirklich entspricht. Wenngleich Begriffe wie Bilderlesen oder Bildliteralität im übertragenen Sinne verstanden werden können, werden damit doch begriffliche Setzungen vorgenommen, die nicht zuletzt Diskurshegemonien spiegeln." (Uhlig 2014:11) Sie erläutert, wann Bilderbuchbilder besonders qualitätvoll sind: dann, „wenn sie sich nicht mit dem ersten Blick begnügen, ja sich ihm geradezu verstellen. Und vielmehr den zweiten Blick, das attentive Sehen, herausfordern." (Uhlig 2014:16; vgl. auch Fiedler, s.u., der von „entkonventionalisiertem Ansehen“ spricht, Majetschak 2009:173.) Ausführlich und anschaulich beschreibt Uhlig anhand des Bilderbuchs „Das Geheimnis der Nachtigall“ mit Bildern von Carll Cneut (Verhelst/Cneut 2009), inwiefern das Bildersehen und -deuten eine kulturelle Praxis ist und zum Imaginieren auffordert (Uhlig 2014:16-20).

Dass diese kulturelle Praxis erlernt werden kann, liegt auf der Hand. Und dass Bilderbücher hier eine Schlüsselfunktion einnehmen können, ebenfalls. In der Literaturdidaktik ist die Bedeutung von Kinder- und Jugendliteratur für die Entwicklung einer „stabilen Lesemotivation“ (Hurrelmann 2010:143) längst erkannt. Eine ausdifferenzierte Kinder- und Jugendliteraturforschung, die unabhängig von schulischen Kontexten u.a. Korpusbildung, Distributionssysteme oder entsprechende Poetikdiskurse sowie das Kritikwesen untersucht, hat sich zudem seit geraumer Zeit etabliert (s. z.B. Ewers 2012). Für eine Bilderbuchforschung steht dies noch aus (vgl. Engels 2013); Jens Thiele und Bettina Uhlig haben wichtige Weichen dafür gestellt. Die im Folgenden angestellten Überlegungen schließen daran an und wenden sich künstlerischen Darstellungsweisen sowie der Bedeutung der zeigenden Person zu.

Gemeinsam anschauen und zeigen

Für Kinder, die Bücher noch nicht selbst lesen können, spielt die vorlesende Person eine wichtige Rolle. Aus dieser Perspektive wird auch deutlich, dass der Text weniger Bedeutung haben kann, denn Vorlesende können den Text verändern, kürzen oder ganz weglassen und frei erzählen oder direkt mit den Kindern ins Gespräch gehen. Dem Text kommt aus dieser Sicht eine bestimmte Aufgabe zu. Er sorgt für eine gewisse ‚Voreinstellung‘ oder ‚Begleiteinstellung‘, mit der das Bild betrachtet werden kann. Ähnlich wie ein Bildtitel eines Kunstwerks, der den Zusammenhang mit einer bekannten Geschichte, einem bestimmten Thema oder einem Ereignis herstellen kann (und über den sich Museumsbesucher*innen meist erste Informationen über das Exponat verschaffen), liefert der Text im Bilderbuch eine bestimmte Orientierung. Wenn das Buch vorgelesen wird, eröffnet der Text etwas Gemeinsames, das einen Auftakt für Gespräche über das zu Sehende liefert. Besonders lustig wird es dann, wenn auf dem Bild etwas ganz Anderes zu sehen ist, als der Text angibt, wie z.B. in dem Bilderbuch „Das ist nicht mein Hut“ von Jon Klassen (2013). Es kann also beim Bilderbuchvorlesen weniger um das Vorlesen als vielmehr um das gemeinsame Anschauen gehen. Doch was es alles zu sehen gibt, hängt davon ab, wonach Ausschau gehalten wird. Entsprechend lassen sich Jochen Herings Beobachtungen werten, der verschiedene Bilderbücher für die Arbeit in der Kita und der Grundschule vorstellt: „Wird die Bildsprache zu unverständlich, werden sie [die Kinder] das Bilderbuch aus der Hand legen und nach einem anderen verlangen." (Hering 2016:165) Die Studien von Thiele und Uhlig (s.o.) und auch schon Hinkel (Hinkel 1975) haben längst erwiesen, dass die auf Pauli zurückgehende Idee einer kindgerechten Gestaltung (Pauli 1902:136f.) zu überwinden ist. Was es jedoch braucht, sind Begleitpersonen, die eine anregende und vielseitige Auswahl treffen, die zum intensiven Schauen anregen, die Gespräche über die Bilder initiieren, die zeigend Hinweise geben und die Überraschungen, Entdeckungen oder Irritationen wahrnehmen, diese ansprechen und gemeinsam verorten. Diese Begleitpersonen werden dies umso mehr und umso intensiver tun, je mehr sie selbst über Bilder reflektieren (vgl. Wiesing 2013:48).

Vermittlung künstlerischen Denkens: „Entkonventionalisierung des Blicks“

Bilderbuchbilder können viel zu sehen geben. Da mag man zunächst an Bilder mit vielen, womöglich ungewöhnlichen Details denken wie beispielsweise in den bereits etwas älteren Wimmelbüchern von Ali Mitgutsch oder in den neueren Bilderbüchern von Sven Nordqvist oder Lieve Baeten. Doch hier soll der Blick gelenkt werden auf Bilder, die mit künstlerischen Mitteln arbeiten und ungewohnte Perspektiven oder Darstellungsweisen bieten. Letztere ergeben sich etwa aus der Verwendung besonderer Techniken oder Materialien. Ungewohnte Perspektiven umfassen nicht allein bestimmte ‚Kameraeinstellungen‘, die den Betrachterstandpunkt markieren, sondern erzeugen eine „Entkonventionalisierung des Blicks“ (Busse 2004:73). Auf diesen wichtigen Aspekt, der in der Kunstpädagogik stets eine herausragende Rolle spielt, hat Konrad Fiedler Anfang des 20. Jahrhunderts hingewiesen. Fiedler wurde in der Kunstpädagogik bereits früh rezipiert: zunächst bei Britsch und Kornmann (Kornmann 1931), später bei Staguhn (Staguhn 1962) und Mollenhauer (Mollenhauer 1997). So liegt es auch auf der Hand, dass sich Max Imdahl, der mit seiner das „sehende Sehen“ von dem „wiedererkennenden“ und dem „erkennenden Sehen“ abgrenzenden „Ikonik“ (Imdahl 1994) genau dies aufgreift, für die Kunstpädagogik anschlussfähig zeigt (vgl. Engels 2015:47, 289). Es lohnt sich, dem nachzugehen, was Stefan Majetschak anhand Fiedlers Schriften bezüglich des Sehens und der Sichtbarkeit herausgearbeitet hat.

Majetschak bringt Fiedlers Überlegungen zum Sichtbarmachen und zur Sichtbarkeit folgendermaßen auf den Punkt: „Diesem Bildverständnis zufolge geben Bilder – gleich welcher Art – vorgegebene, vermeintlich definitive Sichtbarkeit nicht etwa bloß wieder, wie die meisten Ähnlichkeitstheorien des Bildes annehmen. Ihr Zauber, ihre Macht und auch ihr Erkenntnispotential bestehen vielmehr darin, daß sie eine Möglichkeit realisieren, wie eine Welt, die eines definitiven Angesichts entbehrt, gesehen werden kann." (Majetschak 2009:174) Denn Sehen ist „mehr als ein mechanisches Widerspiegeln des festen Angesichts der Welt nach den optischen Gesetzen einer Physik des Lichts“ und die vermeintlich intersubjektiv identischen Daten, die das Auge erhebt, folgen den „visuellen Ordnungen“ im jeweiligen individuellen Bewusstsein unter „Beteiligung subjektiver Interpretationsleistungen“ (Majetschak 2009:167f.). Hinzukommt, dass die Menschen gewöhnlich die Dinge nur so lange anschauen, bis sie Begriffe für das Gesehene gefunden haben (vgl. Majetschak 2009:168). Das schnelle Sehen, so Fiedler, greife zudem zurück auf ein „‘Kapital fertiger Bilder‘, das der Mensch im Prozeß der Sozialisation von frühestem Alter an erwirbt“. Dieser Fundus ist Fiedler zufolge „in starkem Maße von ‚unbewußten Konventionen‘, das heißt von ‚anschauliche[n] Formeln‘ und ‚konventionellen Bilder[n]‘ geprägt." (Majetschak 2009:170) Künstler schaffen, so Fiedler, ein „Sichtbarkeitsgebilde“, das einen „entkonventionalisierten und innovativen Anblick von etwas hervortreten lassen kann“ (Majetschak 2009:173). Bilderbuchbilder, die nicht ein schnelles begriffliches Erfassen des zu Sehenden intendieren, bieten demnach Möglichkeiten, die bereits vorhandenen „fertigen Bilder“ zu ergänzen, die Sicht auf die Welt zu erweitern und das sich stets ändernde „Bewußtsein von der Sichtbarkeit der Welt“ (Majetschak 2009:168) zu reflektieren. Das Alter der Kinder sowie ihre individuellen Voraussetzungen und auch ihre Erfahrungen (vgl. z.B. Hering 2016:12) spielen hier selbstverständlich eine entscheidende Rolle. Hier gibt es noch viel Forschungsbedarf (vgl. Volz 2014:27f.).

Darüber hinaus vermögen Kinder über Bilderbuchbilder eine erste Idee zu entwickeln, was Bilder können und was Kunst überhaupt ausmacht. Bilderbuchbilder bieten – mithilfe der zeigenden Begleitperson – Vermittlungspotenzial in der Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Abbildhaftigkeit stehen (vgl. Wiesing 2013:189).

‚Entkonventionalisierungen des Blicks‘ können sich auf ganz vielfältige Weisen vollziehen, und auch Techniken wie Materialien können unterschiedlich zum Tragen kommen, sodass eine Klassifizierung von Bilderbuchbildern, wie sie etwa für historische Kunstwerke üblich ist, kaum sinnvoll erscheint. Es wird daher in Zukunft darum gehen, prägnante Beispiele zu beschreiben, anhand derer besondere Bildgestaltungsweisen aufzuzeigen sind, die ein entkonventionalisierendes Bilder-Gucken ermöglichen. In welchem Alter damit begonnen werden kann, ob es nicht vielleicht grade zunächst darum geht, „Konventionen“ aufzubauen, stellt eine spannende Frage dar, der im Rahmen einer grundlegenden Studie nachgegangen werden kann. Wie die Ausführungen Jochen Herings belegen, hängt dies nicht allein von entwicklungspsychologischen Parametern ab, sondern genauso von sozio-kulturellen (vgl. Hering 2016:12f.). Die Frage, ob es stets einer Eindeutigkeit bedarf und inwiefern die Verständigung über Uneindeutigkeit zu Demokratiebildung beiträgt, lässt sich hieran anknüpfen (vgl. Schnurr 2021).

In diesem Zusammenhang spannend ist ein Ergebnis einer Studie, die Mareile Oetken durchgeführt hat. Sie hat Bilderbuchillustrator*innen danach gefragt, an welche Bilder aus ihrer Kindheit sie sich erinnern. „Auffallend ist die Emotionalität, mit der die IllustratorInnen gerade auf diese biografisch orientierte Frage reagierten und die Hinweise auf die Intensität des vergangenen Bild-Erlebens gibt. Obwohl die Buchtitel in vielen Fällen aus dem Bereich der bekannten Longseller stammen, beziehen sich die eindrücklichsten Erinnerungen gerade auf die Irritation in den Bildern, die einer weiteren Klärung bedurften." (Oetken 2008:240) Es waren also genau die nicht konventionellen Bilder, die nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Daraus ist abzuleiten, dass genau solchen im Kontext von Bildung eine besondere Rolle zukommen kann. Ihnen gebührt daher besondere Aufmerksamkeit.

Ausblick: Den Bilderbuch-Atlas öffnen

Aufbauend auf seiner Idee, Bilder in Anlehnung an Aby Warburg zu kartografieren (Busse 2004), versammelt Klaus-Peter Busse künstlerische Herangehensweisen in einer non-linearen Form (Busse 2009). Dieses Kompendium kann als Anregung für eigenes künstlerisches Arbeiten oder für das Arrangieren kunstpädagogischer Settings sowie als Kunstvermittlungstool für zeitgenössische Kunst verwendet werden.

Die jeweils einzeln vorgestellten „Module“ oder „Versuchsanordnungen“ sind sehr vielfältig und werden von Busse nicht in eine bestimmte Ordnung gebracht, sondern lediglich alphabetisch gelistet (s. Abb. o.). Daran orientierend sollen im Weiteren Dimensionen von Bilderbuchbildern, nicht konventionelle Darstellungsweisen und pädagogische Perspektiven versammelt werden:

Auf den zweiten Blick – Bildverweise – Die Metaebene ansprechen – Erfindungen – Geschichten deuten – Gedanken und Gefühle darstellen – Gleichzeitiges zeigen – In eine andere Perspektive wechseln – Kunstgeschichte – Materialqualitäten – Mit Techniken experimentieren – Ohne Worte – Phantastische Welten erschaffen – Philosophieren – Raum gewinnen – Schwere Themen heben – Stimmungen wiedergeben – Spielen – Tiere – Vom Text abweichen.

  • Auf den zweiten Blick: Bei längerem oder erneutem Betrachten von Bilderbuchbildern können sich Zusammenhänge oder Perspektiven ergeben, die beim schnellen Schauen nicht bemerkt werden.
  • Bildverweise: In Bilderbuchbildern können andere Bilder zitiert werden, sodass weitere Sinndimensionen erzeugt werden.
  • Die Metaebene ansprechen: Bilderbuchbilder können das Bilderbuchmachen thematisieren.
  • Erfindungen: In Bilderbuchbildern können für die Menschheit bedeutsame und auch denkbare, für Kinder bedeutsame Erfindungen dargestellt werden.
  • Geschichten deuten: Bilderbuchbilder können bekannte Geschichten wie Märchen oder Fabeln in ein anderes Licht rücken oder neu interpretieren.
  • Gedanken und Gefühle darstellen: In Bilderbuchbildern können Gedanken und Gefühle zum Ausdruck kommen und anschaulich werden.
  • Gleichzeitiges zeigen: Bilderbuchbilder können Handlungen zeigen, die in einer zeitlichen Abfolge stehen oder parallel stattfinden.
  • In eine andere Perspektive wechseln: Bilderbuchbilder können einen Perspektivwechsel anzeigen oder herausfordern.
  • Kunstgeschichte: In Bilderbuchbildern können Bezüge zur Kunstgeschichte hergestellt werden.
  • Materialqualitäten: Bilderbuchbilder können Oberflächen und Eigenschaften unterschiedlicher Materialien zeigen.
  • Mit Techniken experimentieren: Bilderbuchbilder können auf verschiedenen Wegen entstehen und sie können Techniken sichtbar machen.
  • Ohne Worte: Bilderbuchbilder können ein Eigenleben haben, also auch ohne oder mit nur sehr wenig Text vorkommen.
  • Phantastische Welten erschaffen: Bilderbuchbilder können neue Welten, neue Möglichkeits- und Denkräume erschaffen.
  • Philosophieren: Bilderbuchbilder können grundlegende Fragen aufwerfen, über die gemeinsam nachgedacht werden kann.
  • Raum gewinnen: Bilderbuchbilder können aufzeigen, wie auf der Bildfläche Räumlichkeit erzeugt werden kann.
  • Schwere Themen heben: Schwierige oder tabuisierte Themen wie Flucht und Migration, Nachhaltigkeit oder Tod können in Bilderbuchbildern verhandelt werden.
  • Stimmungen wiedergeben: Bilderbuchbilder können Stimmungen erzeugen oder wiedergeben.
  • Spielen: In Bilderbuchbildern können spielerische Elemente vorkommen, die zum Gedankenspielen oder Nachmachen anregen.
  • Tiere: Bilderbuchbilder zeigen häufig Tiere, die anthropomorphisiert sind oder die man bereits aus Geschichten kennt, aber auch Tiere als sie selbst.
  • Vom Text abweichen: Bilderbuchbilder können etwas Anderes zeigen oder erzählen als der Text und dadurch bereichernd wirken oder gezielt für Irritationen sorgen.

Die Liste lässt sich weiter ergänzen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie erscheint allerdings hilfreich, um einen ersten Überblick über die verschiedenen Potenziale zu gewinnen. Ein Bilderbuch kann dabei verschiedene Aspekte gleichzeitig aufweisen. So steht es nun an, einzelne Bilderbuchbilder ausführlicher vorzustellen und die aufgezählten Punkte anhand von Beispielen näher zu erläutern. Ein Anfang ist gemacht (vgl. Engels 2020, Engels 2022, Engels 2022a, Engels 2022b). Dass Bilderbuchbilder eine spezifische Kunstform sind, die eine besondere Möglichkeit der Welterschließung sowie Weltbespiegelung bereithält, zeigt sich in der Übersicht. Es ist überfällig, Bilderbuchbildern (und ihren Schöpfer*innen) viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken und ihre Bedeutung im Kontext Kultureller Bildung aufzuwerten.

Verwendete Literatur

  • Busse, Klaus-Peter (2004): Bildumgangsspiele: Kunst unterrichten. Norderstedt: Books on Demand.
  • Busse, Klaus-Peter (2009): Bildumgangsspiele einrichten. Norderstedt: Books on Demand.
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  • Engels, Sidonie (2020): Kunstgeschichte in Bilderbüchern. In: Engels, Sidonie/Kirschenmann, Johannes (Hrsg.): Kunst und Pädagogik in historischer Perspektive (172-189). München: kopaed.
  • Engels, Sidonie (2021): Kunst und ästhetisch-bildnerisches Tun im Elementarbereich. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kunst-aesthetisch-bildnerisches-tun-elementarbereich (letzter Zugriff am 03.12.2021).
  • Engels, Sidonie (2022): Bilderbuchkunst: Mehr sehen als sichtbar ist (in Vorbereitung).
  • Engels, Sidonie (2022a): Bilderbuchkunst: Methoden, Techniken und Materialien (in Vorbereitung).
  • Engels, Sidonie (2022b): Bilderbuchkunst: Darstellung von Gedanken und Gefühlen (in Vorbereitung).
  • Ewers, Hans-Heino (2012): Literatur für Kinder und Jugendliche. 2. überarbeitete Auflage. Paderborn: Wilhelm Fink.
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  • Hering, Jochen (2016): Kinder brauchen Bilderbücher. Erzählförderung in Kita und Grundschule. Seelze: Friedrich.
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Sidonie Engels (2021): Künstlerische Bildung durch Bilderbücher. Ein Auftakt. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/kuenstlerische-bildung-durch-bilderbuecher-auftakt (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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