„Kritische Raben“ – Eine Einladung zum prozesshaften Ergreifen von Transfergelegenheiten
Abstract
Der Beitrag diskutiert die Bedeutung von Wissenstransfer in kulturellen Bildungsprojekten, insbesondere in künstlerischen Residenzen in ländlichen Räumen. Die Autor*innen betonen die prozesshafte Natur des Transfers und die Rolle von „Transfergelegenheiten“, die sich spontan während des Forschungsprozesses ergeben. Sie beschreiben ihre ethnografische Forschungsmethodik, bei der sie teilnehmende Beobachtungen durchführten und mit Künstler*innen und Teilnehmenden in Dialog traten.
Ein zentraler Punkt des Textes ist die Identifizierung von Gelegenheiten zum Wissenstransfer und wie diese im Laufe des Forschungsprozesses entstehen. Die Autor*innen zeigen anhand von Beispielen auf, dass dabei das Entdecken von gemeinsamen Interessen entscheidend ist. Die Autor*innen diskutieren die Herausforderungen dieser Forschung, insbesondere die Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Beteiligten. Sie betonen die Bedeutung von Vertrauen und die Notwendigkeit, sich in unterschiedlichen Rollen zu bewegen, um das Verständnis zu vertiefen: Wissenstransfer ist Beziehungsarbeit.
Schließlich schlagen die Autor*innen die Rolle der Kritischen Raben vor, die als Vermittler*innen und Reflexionspartner*innen in kulturellen Bildungsprojekten dienen können. Diese Kritischen Raben sollten über Empathie, eine forschende Haltung und methodische Fähigkeiten verfügen und flexibel in ihrer Funktion sein. Insgesamt betont der Text die Bedeutung von Reflexion und Dialog in kulturellen Bildungsprojekten und plädiert für eine stärkere Einbeziehung der Perspektiven der Teilnehmenden. Die Autor*innen sehen Wissenstransfer als eine kontinuierliche und anpassungsfähige Praxis, die dazu beiträgt, das Verständnis und die Zusammenarbeit in Projekten Kultureller Bildung zu verbessern.
Im Rahmen beteiligungsorientierter künstlerischer Residenzen sind professionelle Künstler*innen für einige Wochen oder Monate an einem anderen Ort zu Gast, um im Austausch mit den Menschen und Verhältnissen vor Ort Kunst zu entwickeln. Das Forschungsprojekt „Der Dritte Ort? Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen“ (DO_KiL) der Universität Koblenz begleitete von 2020-2022 künstlerische Aufenthalte in drei deutschen Regionen ethnografisch (vgl. Waburg et al. 2022). Als zentrale Frage stellte sich für uns die nach den Umgangsweisen mit gesellschaftlicher Vielfalt in Prozessen Kultureller Bildung in ländlichen Räumen heraus.
Mit diesem Text laden wir dazu ein, unser Verständnis von Transfer in Forschungsprojekten im Feld der Kulturellen Bildung kennenzulernen. Wir begreifen Transfer als etwas, das sich prozesshaft entfaltet. Mit dem Begriff ‚Transfergelegenheiten‘ im Titel lenken wir deshalb das Augenmerk auf jene Momente, die von uns nicht vorab als Transfer konzipiert waren, sondern spontan durch unsere Anwesenheit im Feld entstanden. Im Folgenden reflektieren wir unseren Forschungsprozess aus Transferperspektive und zeichnen Entwicklungen anhand einzelner Szenen nach. Mit der Position der Kritischen Raben machen wir zum Ende des Textes einen strukturellen Vorschlag für Transfer in kulturellen Bildungsprojekten.
Die forschende Haltung zwischen Nähe und Distanz
Ethnografisch Forschende changieren stets zwischen zwei Vorgehensweisen, die Georg Breidenstein et al. (2015) kontrastierend als starke und schwache Teilnahme charakterisieren (vgl. ebd.:67): Eine starke Teilnahme zeichnet sich durch eine höhere Selbstbeteiligung, jedoch oft zu Lasten der Aufzeichnungen, aus. Eine schwache Teilnahme ist wiederum durch bessere Aufzeichnungschancen, doch eher oberflächliche körperliche Erfahrung gekennzeichnet (vgl. ebd.:68). Dennoch sind beide Formen nötig, um sich während der Teilnahme nicht völlig im Prozess zu verlieren. Die Forschenden hinterfragen jede ihrer Handlungen: Was ist zu viel, was zu wenig? Was will ich am eigenen Körper erfahren, was will ich bei anderen beobachten und beschreiben? Was nehme ich wahr und was davon ist relevant für die gesetzten Forschungsfragen?
Während unserer teilnehmenden Beobachtungen wurden stichwortartig Feldnotizen angefertigt, Foto- und Filmaufnahmen gemacht und teilweise GPS-Daten erhoben, um erlebte Situationen, gewanderte Strecken und besuchte Orte besser zu erinnern. Anschließend wurden die Erlebnisse im Austausch unter den Autor*innen dieses Textes zunächst mündlich erzählt, dann in Protokollen als Fließtext festgehalten. Zusätzlich wurden Teilnehmende der Residenzangebote einige Wochen nach Projektende zu Gruppendiskussionen eingeladen, um die eigenen Beobachtungen der Forschenden um ihre Perspektiven zu erweitern. Dieser Methodenmix (vgl. Knoblauch 2014; Breidenstein et al. 2015; auch Egloff 2012) ermöglicht Forschenden ein intensives Erleben des Feldes am eigenen Leib:
„Ziel ist, zu einem tieferen Verständnis dieser bis dahin unergründeten Welten, ihrer Funktionsweisen und Handlungspraktiken zu gelangen, indem man versucht, sich so weit wie möglich die Perspektiven der darin agierenden Akteurinnen und Akteure anzueignen, dadurch, dass man sie selbst ausführlich zu Wort kommen lässt und ihre Gewohnheiten sowie Lebensweisen detailliert beschreibt.“ (Egloff 2012:263)
Wissenstransfer als Beziehungsarbeit
Das Identifizieren von Gelegenheiten zum Wissenstransfer benötigt Zeit. Durch unser ethnografisches Vorgehen begleiteten wir die Künstler*innen bei ersten Terminen, in denen sie ihr Vorhaben vorstellten (vgl. Kranixfeld/Sterzenbach 2022), genauso wie später im Verlauf bei Proben, Besprechungen oder Präsentationen, verbrachten Mittagspausen und Grillfeste zusammen (vgl. Kranixfeld 2022; Sterzenbach/Kranixfeld/Waburg 2022) – und erwarben uns im Verlauf Vertrauen. Es war den Künstler*innen, so merken wir immer wieder, sehr wichtig, uns als Person verstehen zu können, um Vertrauen aufzubauen. Dies wurde zu unterschiedlichen Gelegenheiten deutlich: Ein Kollektiv, das mit filmischen Mitteln arbeitete, schaute vor unserer ersten Begegnung den Film Kitchen Stories, in dem ein Forschungsteam kleine Hochsitze in Küchen aufbaut, um die Menschen in ihrem Alltag zu beobachten, ohne mit ihnen zu interagieren – für das Kollektiv ein guter Anlass zur Verhandlung der Rolle des Forschenden. Eine andere Künstlerin, der die Arbeit mit Sprache sehr wichtig ist, unterbrach das Gespräch, als wir den Begriff Flüchtlinge statt Geflüchtete verwendeten und vergewisserte sich zunächst unserer politischen Haltung, bevor sie fortfuhr. Fast alle Künstler*innen, denen wir begegneten, gaben uns darüber hinaus kleine Aufgaben: Wir bastelten Bauchläden, schlugen die Filmklappe, kochten Kaffee, dokumentierten Proben oder leiteten Aufwärmübungen an – und wurden so in das Geschehen hineingezogen. Je besser wir uns kennenlernten, desto öfter wurden wir auch entsprechend unserer Qualifikationen und Fähigkeiten adressiert: Der eine mehr als Berater, der seine eigenen Erfahrungen als Künstler in ländlichen Räumen einbringen sollte, die andere als Erziehungswissenschaftlerin, Projektmanagerin und Musikerin.
Auch mit den Teilnehmenden ergab sich über die Zeit der Residenzen ein intensiver Austausch mit uns Forschenden. Im Rahmen unserer Beobachtungen balancierten wir auch hier immer zwischen Nähe und Distanz: Einerseits waren wir den anderen Teilnehmenden ähnlich, weil wir an den Proben und Treffen teilnahmen, ohne sie zu leiten, andererseits standen wir nie selbst auf der Bühne oder vor der Kamera und hatten oft tieferen Einblick in die Strukturen und Projektplanungen als sie. Das Feedback einer Teilnehmerin beschreibt es treffend: Die Beobachterin sei „sozusagen eine von uns“ (persönliche Nachricht über Messengerdienst an BS am 13.02.2022) geworden, wobei das Wort ‚sozusagen‘ auf die beschriebene Nähe-Distanz-Beziehung verweist.
Mit zeitlichem Abstand von etwa zwei Monaten nach dem Ende der Arbeit der Künstler*innen vor Ort fragten wir die Teilnehmenden nach ihren Erlebnissen und Beobachtungen. Während die Künstler*innen meist schon wieder an anderen Projekten arbeiteten, nahmen wir wahr, wie die Erfahrungen im Rückblick beschrieben wurden. Bei den Gruppendiskussionen lieferten wir meist nur einen Anfangsimpuls, um das Gespräch zu starten, und fragten dann vertiefend nach. Für viele war das Gespräch ein guter Moment, um einander wiederzusehen, denn nicht immer standen die Beteiligten dauerhaft in Kontakt. Im gemeinsamen Erinnern kamen auch kritische Aspekte zur Sprache, die sich anscheinend erst mit etwas Abstand deutlicher zeigten oder erst durch die Befragung angestoßen wurden. Die Teilnehmenden benannten, wo ihnen Mitbestimmung fehlte, oder wo sie – mit dem Abstand des mehrmaligen Schauens – das künstlerische Produkt nicht überzeugen konnte, auch wenn der Prozess für sie bereichernd war. Nicht selten hatte sich dabei die Haltung im Vergleich mit der, die die Teilnehmenden zum Ende des Aufenthalts der Künstler*innen eingenommen hatten, verändert. Viele entwickelten über die Zeit eine differenzierte und kritische Perspektive, die auch unsere Wahrnehmung der Situation veränderte, wenn sie ihre Erlebnisse aus vielen Perspektiven und vor dem Hintergrund eigener Erfahrung mit Kultur in ländlichen Räumen schilderten. Unsere Form des nachträglichen Austauschs brachte Erkenntnisse hervor, mit denen wir wiederum mit den Künstler*innen ins Gespräch gingen, um diese mit ihrer Wahrnehmung abzugleichen. Wir bemerkten, dass wir eine in den Residenzprogrammen nicht eingeplante kommunikative Schnittstelle darstellten, die die Möglichkeit eröffnete, Einblicke und Reflexionsanlässe zu geben, und dafür auch die zeitlichen Kapazitäten besaß.
Wissenstransfer prozesshaft gestalten
Die folgenden Beschreibungen basieren auf Beobachtungsprotokollen von Micha Kranixfeld, die im Rahmen von zwei Residenzen der gleichen Künstler*innen in West- und Ostdeutschland entstanden sind. Sie zeigen beispielhaft, wie Transfergelegenheiten identifiziert wurden, die sich an einem gemeinsamen Interesse ausrichten.
Das Projekt findet in einem kleinen Ort in Ostdeutschland statt. Geplant ist ein filmisches Portrait des Dorfes. Die Bewohner*innen haben selbst den Anstoß dazu gegeben und sind entsprechend offen für die Künstler*innen. Sie organisieren zum Kennenlernen eine Rundfahrt und laden zum Kaffee nach Hause ein. Innerhalb weniger Tage etabliert sich zwischen einigen von ihnen und den Künstler*innen ein sehr persönliches Verhältnis. Die Situation, um die es nun gehen soll, findet an einem intensiven Drehtag mit vielen Beteiligten statt. Ich entspanne mit zwei Künstler*innen und dem Teilnehmer Erik in der Sonne im Gras. Erik, den die Künstler*innen noch nicht so gut kennen, erzählt von sich. Er berichtet, dass er lange als LKW-Fahrer gearbeitet habe. Meist habe er Lieferungen nach Großbrittanien gemacht. Wegen der krassen Arbeitszeiten und um näher an Zuhause zu sein, habe er den Beruf gewechselt. Ein weiterer Grund fürs Aufhören sei aber auch gewesen, dass immer wieder Personen versucht hätten, sich an den LKW zu hängen, um unentdeckt über die Grenze zu gelangen. Er benutzt für diese Personen einen rassistischen Begriff. Ich erschrecke und erwarte eine Reaktion, aber keine der Künstler*innen sagt etwas dazu. Sie fragen weiter nach seiner Biografie. Später am selben Tag, beim Abschlussgrillen, lenkt Alfred, einer der wichtigsten Kontakte der Künstler*innen im Ort, das Gespräch auf das Jahr 2015. Als Berufssoldat habe er bis dahin „zu 100%“ hinter dem Staat gestanden, aber jetzt habe sich die Stimmung „in der Truppe“ ganz stark gewandelt. Er scheint anzunehmen, dass wir alle wissen, was sich hinter „2015“ verbirgt.
Am nächsten Tag bin ich mit dem Team der Uni Koblenz im Video Call und spreche das Erlebte an. Wie hätte man intervenieren können – als Künstler*in, aber auch als Forscher? Wir beschließen, dass ich das Thema mit ins Gespräch mit den Künstler*innen nehme, das später am Tag stattfindet. Dort bringe ich es am Ende ein: „Ich hab' noch so eine Kopfnuss, die ich mit euch teilen will“, sage ich. (Beobachtungsprotokoll von Micha Kranixfeld)
Die Haltung des Forschers weist auf das im Projekt etablierte Verhältnis hin. Die professionellen Beteiligten in den von uns beobachteten Residenzen artikulierten früh Transferinteressen: Die Künstler*innen sprachen die Forschenden als Träger*innen speziellen Wissens an; als ‚besondere‘ Teilnehmende, als Pädagogin, Künstler und als Akademiker*innen, mit denen man den Prozess reflektieren konnte und Austausch erwartete. Von Seiten der Programmleitungen wurden wir um Workshops und Vorträge zu unseren Forschungsbereichen gebeten, zur Beratung aufgrund unseres Wissens über andere Residenzprogrammen eingeladen und um die Vermittlung von Kontakten gebeten. Gleichzeitig muss betont werden, dass unsere Arbeit an einen bestehenden Wissenaustausch im Feld der kulturellen Bildung anschloss: Viele Künstler*innen sind im Gespräch mit Kolleg*innen, die ebenfalls beteiligungsorientiert und in ländlichen Räumen arbeiten. Auch die Residenzprogramme sind eingebunden in Netzwerke der Kulturellen Bildung, der Regionalentwicklung und auch im Austausch miteinander.
Im weiteren Gespräch werde ich als Forscher und Kollege adressiert, der in seiner eigenen künstlerischen Arbeit vor ähnlichen Herausforderungen steht. Auf ihre Bitte hin verweise ich auf ein Netzwerk von Kulturschaffenden aus Sachsen, das sich mit diesen Themen beschäftigt, und berichte von meiner eigenen Erfahrung. Dabei suche ich nach Worten für das, was ich sagen will, gerate etwas ins Stolpern. Ich berichte, dass das Arbeiten in ländlichen Räumen für mich ein Hinaustreten aus meinem Milieu bedeutet, bei dem ich mit der Vielfalt von Gesellschaft konfrontiert bin und lernen muss, damit um- und in Debatte zu gehen. Gemeinsam diskutieren wir, dass auch zu unterscheiden ist zwischen der Situation eines ersten Kennenlernens und dem bereits engeren Kontakt zu einer zentralen Bezugsperson im Projekt. Die Künstler*innen berichten, dass es mit Alfred in anderen Situationen durchaus Diskussionen gegeben habe. Das Vertrautwerden bildet einen Hintergrund, vor dem Kritik nicht nur Irritation und Affront, sondern als Stärkung des Austauschs und Vertiefung des Kennenlernprozesses wahrnehmbar wird. (Beobachtungsprotokoll von Micha Kranixfeld)
Zu beobachten ist hier eine Gelegenheit zum Wissenstransfer, die aus einer gemeinsamen Erfahrung, einer gemeinsamen Herausforderung, erwächst. Das gemeinsame Erleben von herausfordernden Situationen ist eine gute Grundlage zum Gespräch zwischen den unterschiedlichen Beteiligten. Es löst die anfängliche Opposition Beobachtende/Beobachtete auf und stiftet eine neue Beziehung. Noch aber ist der Forscher weit davon entfernt, methodisch geleitet Erkenntnisse aus dem Erlebten ableiten und souverän vermitteln zu können. Was er zu diesem Zeitpunkt anbieten kann, ist, sein Wissen darüber zu teilen, welche Fragen man noch stellen kann, welche Perspektiven man über die von den Künstler*innen eingenommene hinaus einnehmen könnte.
Wissenstransfer findet meist zwischen unterschiedlichen Kontexten (Disziplinen, Organisationsweisen, Regionen, Milieus, …) statt, sodass „Wissen, Methoden oder Technologien im Zielkontext entsprechend neuer Bedingungen adaptiert, transformiert und nutzbar gemacht werden“ (Küchler 2017:561) müssen. Statt von Transfer kann man nach Küchler besser von „Transformation“ (vgl. ebd.:563) sprechen. Aus forschender Perspektive sind deshalb die „Auslassungen, Veränderungen oder Adaptionen“ (vgl. ebd.:562f.) zu beobachten, die bei jedem Individuum entsprechend der bereits vorhandenen Wissensbestände geschehen. Aber auch die Beharrungskräfte spielen eine Rolle: Im Fall der Künstler*innen wird die Frage nach Strategien zum Umgang mit rassistischen Begriffen und Haltungen anfänglich mehrfach auf den ursprünglichen Wunsch nach einem Ausschluss von „Nazis“ zurückgeführt, denen man keine Bühne bieten will.
Einige Monate später folge ich den Künstler*innen in eine ländliche Gemeinde in Westdeutschland. Ich wurde von ihnen eingeladen, gemeinsam mit einer Kollegin aus meinem eigenen Künstler*innenkollektiv einen Workshop im Ort durchzuführen. Auf der Busfahrt fallen uns die vielen Plakate der AfD auf; es ist etwa 1,5 Monate vor der Bundestagswahl: „Ein echter Landwirt für Berlin!“, „Die Welt retten? Fangen wir mal mit Deutschland an.“, „Deutschland. Aber normal“, steht darauf. Andere Parteien haben zu diesem Zeitpunkt kaum plakatiert. Ich erinnere mich, dass ich im Jahr davor mit einem Lokaljournalisten über die hier mancherorts sehr hohen Zustimmungswerte der AfD gesprochen habe. Am Abend wollen wir uns mit den Künstler*innen in einem Lokal treffen. Vor der Tür empfängt uns ihre Produktionsleiterin. Sie erklärt, dass wir draußen sitzen müssen, weil drinnen ein Verein junger Männer feiere. Einer von ihnen habe geheiratet, deshalb hätten die Männer bei der Hochzeit Spalier gestanden. Danach ging es für sie in die Gaststätte, bevor sie zur Hochzeitsfeier führen, um ein Lied zu singen. Gerade werde geprobt und die Künstler*innen seien eingeladen worden zuzuhören. Hinterm Wirtshaus sind nun die Singenden zu hören. Wenig später kommen die Künstler*innen zurück. Sie sagen, dass sie jetzt schon was zu erzählen hätten beim geplanten Rassismus-Workshop. Auch für sie ist die Beschäftigung mit der Thematik also weitergegangen.
Sie berichten, dass eins der Lieder, die sie grade mitsingen sollten, von einem Fußballverein handelte, was sie erst richtig toll fanden, weil Fußball eine Rolle in ihrem künstlerischen Vorhaben spielt. Dann ging es jedoch darum, dass ein „deutscher Mann“ eine „schwarzbraune“ Frau verehre. Also seien sie gegangen. Während die ersten Männer abfahren, kommt einer auf uns zu; er ist etwas angetrunken. Es stellt sich heraus, dass die Künstler*innen seine Mutter in ihrer Recherche kennengelernt haben. Er hat noch etwas auf dem Herzen und setzt sich zu uns. Er spricht an, dass er ihr Fortgehen bemerkt habe. Er wisse schon warum und nennt die Textstelle. Er wisse von einem großen Chortreffen in Berlin, dass die Zeile als rassistisch diskutiert würde – auch er ist also in Transferprozesse eingebunden. Aber für ihn sei das Kulturgut und das müsse man doch pflegen. Er sagt es mit einer Betonung, die nach Verständnis bei den anderen sucht. Der Text stamme eben aus einer anderen Zeit. Da habe man sich noch nicht so Gedanken gemacht. „Naja“, wirft die Produktionsleiterin ein, „du kannst es halt singen, weil du der deutsche Mann aus dem Lied bist.“ Überraschend für mich widerspricht er nicht, sondern nickt. Ja, das stimme. Er scheint das Argument zu verstehen. Aber für ihn sei das einfach anders. Meine Kollegin sagt, früher habe man sich da vielleicht keine Gedanken gemacht, aber warum singe man es heute: Das sei eine Entscheidung. Eine der Künstler*innen nimmt sich das Textblatt, das er auf dem Tisch abgelegt hat. Hier und da seien doch auch Textstellen geändert worden. Also könne man den Text doch anpassen! Er widerspricht: Die Änderung sei ja nur, damit der lokale Fußballverein drin vor komme. Trotzdem sei ja wohl die Tür für Änderungen nun offen, sagt die Künstlerin schelmisch lächelnd. (Beobachtungsprotokoll von Micha Kranixfeld)
Die kurze Begegnung wird zum Labor zur Erprobung rassismuskritischer Handlungsweisen. Die Herausforderung im Umgang mit rassistischen Strukturen versuchen die Künstler*innen für sich auf unterschiedlichen Wegen zu lösen. Sie buchen einen Workshop, nutzen den Austausch mit dem Forscher und anderen Künstler*innen, erproben das Intervenieren risikoarm mit Personen, die nicht zentral entscheidend für ihre Projekte sind. Das schließt an das im Rahmen der Dokumentarischen Methode etablierte Verständnis von Bildungsprozessen an. Bildung dient danach „der Steigerung der relativen Freiheit, das heißt der Handlungsfähigkeit gegenüber der tradierten Struktur“ (Thomsen 2021:60) – und die ist je nach Kontext unterschiedlich.
Das Erlebnis der geschilderten Situationen wird auch für uns Forschende zu einem Ausgangspunkt für die Entscheidung, unseren Fokus in der Analyse auf den Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt – auf das Un/Doing Difference – in beteiligungsorientierten künstlerischen Residenzen in ländlichen Räumen zu legen. Um diese Prozesse zu rekonstruieren, kombinieren wir im Forschungsprojekt DO_KiL Ethnografie und Dokumentarische Methode. Ihnen ist ein ähnliches Verständnis davon gemeinsam, wie soziale Wirklichkeit beobachtbar und rekonstruierbar wird: „In der Dokumentarischen Methode ist dabei der Ausgangspunkt die Sozialität des Wissens, in der Ethnografie ist es die Sozialität von Praktiken.“ (Neumann 2019:64) Wissenstransfer wird damit als „responsives Antwortgeschehen vor dem Hintergrund einer leiblichen Verwicklung in Lebenswelten“ (Westphal/Bogerts 2019:201) bestimmbar.
Kritische Raben
Für unsere Tätigkeiten fanden wir lange keinen Begriff, der so ganz zu uns passte: Am ehesten waren wir vielleicht ‚Critical Friends‘, weil wir uns gerne einladen ließen, in vertrauensvoller Atmosphäre kritische Fragen zu stellen, doch der Begriff Freundschaft wirkt für uns ebenfalls fehl am Platz. Vielleicht musste es metaphorisch werden? Mit der Eule ist bereits ein Vogel als Symbol der Wissenschaft etabliert, der für umfassende Klugheit und distanziertes Beobachten stehen soll. Wir dagegen empfinden uns eher als Kulturfolger der Menschen, die in unterschiedlichsten Lebensräumen mit immer neuen Situationen und unterschiedlichste Nahrungsquellen umgehen und die dabei benötigten Werkzeuge selbst basteln und anpassen – ganz wie man es von Raben berichtet. Auch Raben lernen aus Beobachtung, aber nicht um abstrakter Weisheit willen, sondern um herauszufinden, welchen Nutzen sie für sich und andere daraus ziehen können. Durch das genaue Beobachten und Notieren fokussierten wir sehr auf den Prozess und seine verschiedenen Phasen. Gleichzeitig bewegten wir uns zwischen verschiedenen Orten und brachten von überall her Gedanken und Beispiele mit, die wir in unseren Austausch einfließen ließen. Das Ergreifen von Gelegenheiten war dabei entscheidend, denn wo wir mit unserem Wissen und unseren Perspektiven gebraucht wurden, ergab sich meist erst durch unsere Beobachtungshaltung, die sich erst einmal für alles interessierte und akribisch festhielt.
Das Besondere an unserer Position war dabei, dass wir uns zwischen den Positionen hin- und herbewegten und für jede von ihnen anders agierten: Das Nachdenken über Strukturen ländlicher Kulturarbeit mit den Förderprogrammen, der Austausch zwischen wissenschaftlich und künstlerisch Forschenden und nicht zuletzt das Angebot zum Austausch über das Erlebte mit den Teilnehmenden erforderten jeweils andere Vorgehensweisen. Dadurch konnten wir hin und wieder auch als Vermittler*innen und Übersetzer*innen zwischen den beteiligten Positionen agieren, wurden aber auch selbst durch die Perspektivwechsel auf neue Gedanken und Vorgehensweisen gestoßen. Das klassische Transferverständnis (von der Forschung in die Praxis) wurde in unserem Erleben ausgehebelt und machte Platz für mehrseitige Lernprozesse.
Für den Kontext kultureller Bildungsarbeit machen wir deshalb aufgrund unserer Erfahrungen den Vorschlag, Kritische Raben als eine notwendige Position oder Praxis in die Gestaltung von Projekten zu integrieren. Dafür sind einige Kompetenzen zentral: Kritische Raben
- benötigen große Empathie und ein feines soziales Gespür.
- müssen eine forschende Haltung einnehmen. Sie sind zurückhaltend und wertschätzend.
- müssen methodisch geleitete Vorgehensweisen beherrschen, um das Beobachtete und Gehörte auszuwerten.
- finden ihre Funktion erst im Verlauf ihrer Tätigkeit. Ein Auftrag kann nach einer ersten Beobachtungszeit im gemeinsamen Austausch formuliert werden. Kritische Raben dürfen sich Beauftragungen verweigern.
- bieten stattdessen eine befragende Haltung an, beschreiben, vergleichen und geben Impulse zum Wechsel von Perspektiven.
- bringen dafür Zeit mit, Transfergelegenheiten zu eröffnen und gemeinsam zu nutzen.
Kritische Raben können von Teilnehmenden oder Interessierten, die vielleicht nicht am künstlerischen Produkt, jedoch am Prozess partizipieren wollen, sowie von Forschenden ausgefüllt werden. Sie könnten sogar von Programmleitungen beauftragt werden, wenn die Raben keinerlei Berichtspflicht unterliegen und frei von hierarchischen Strukturen mit Künstler*innen, Teilnehmenden und Leitungen kommunizieren können.
Transfer in der Kulturellen Bildung würde damit als vermittelnde Praxis gelebt. Machtkritisch und mit forschender Haltung könnten entlang gemeinsamer Interessen Gelegenheiten zur Wissenstransformation ergriffen werden. Eine besondere Relevanz hätte dies aus unserer Sicht für eine stärkere Wahrnehmung der Perspektive der Teilnehmenden im Diskurs um Kulturelle Bildung allgemein, aber auch im konkreten Vollzug einzelner Projekte. Im Rahmen unserer Forschung trafen wir – der Logik des beobachteten Feldes folgend – meist zuletzt auf die Menschen vor Ort und beobachteten, dass am Projektende zu häufig Zeit und Raum dafür fehlt, zusammen mit allen Beteiligten über Anschlüsse, andere Wege oder Verwerfungen zu diskutieren. Reflexion und Nachsorge für alle Beteiligten sind zu oft nicht vorgesehen.