Kritische Medienreflexion im ‚Postdigitalen Schultheater‘: Eine Re-Lektüre Leekers „Die Zukunft des Theaters im Zeitalter technologisch implementierter Interaktivität“
Abstract
Der vorliegende Beitrag ist Teil des Projekts Theater – Auf(s) Spiel setzen, in dem sich zeitgenössische Akteur*innen der theaterpädagogischen Theorie und Praxis mit ausgewählten Beiträgen des Sammelbands Symposium Spieltheorie (1998) auseinandersetzen. Die Autoren dieses Beitrags kommentieren in ihrer Re-Lektüre von Martina Leekers Die Zukunft des Theaters im Zeitalter technologisch implementierter Interaktivität das Zusammenspiel von Theater und digitalen Medien unter besonderer Berücksichtigung von Interaktion, Reflexion und Subversion. Hierbei werden Leekers medien- und spieltheoretische Überlegungen aufgegriffen, um eine postdigitale sowie machtkritische Perspektive erweitert und für die gegenwärtige (schul-)theaterpädagogische Theorie und Praxis fruchtbar gemacht. Der Beitrag mündet in der These, dass das ‚Postdigitale Schultheater‘ ein Übungsraum für eine kritische Medienreflexion sein kann, die sich insbesondere in ‚Subversiven Spielräumen‘ und durch die theatral-spielerische Strategie des ‚Cultural Hackings‘ realisieren lässt.
Das Zusammenspiel von Theater und digitalen Medien wurde zuletzt – insbesondere resultierend aus Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie – vielseitig erprobt, weiterentwickelt und diskutiert. Vielerorts wurden Experimentierräume und Ressourcen geschaffen, die einen Schulterschluss dieser beiden Spielpartner*innen herbeiführen und neue theatrale Formate kreieren sollen. Beispielsweise kann das Projekt Elektrotheater. Eine Bühne für das Metaverse des Staatstheaters Augsburg angeführt werden, welches „eine Bühne im virtuellen Raum [ist], in der sich Publikum und Spieler*innen live und kopräsent begegnen – als Avatare in schier unendlichen immersiven Welten“ (Staatstheater Augsburg 2022). Dort können laut Inszenierungsbeschreibung „immersive und partizipative Abende“ gestaltet werden, die „live und im geteilten Raum stattfinden, und die nicht beschränkt sind durch die Grenzen des Guckkastens“ (ebd.). Projekte wie diese werden oftmals als besonders innovativ und zukunftsträchtig erlebt, da, wie es das Beispiel zeigt, digitalen Medien im Theater unter Anderem das Potential zugesprochen wird, Zuschauer*innen-Partizipation zu ermöglichen – ein Ideal, das gegenwärtig auch im Fokus theoretischer und praktischer Auseinandersetzungen in der schulischen und außerschulischen Theaterpädagogik steht (vgl. z.B. Kup 2019). Trotz dieser gegenwärtigen Entwicklungen sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass das Zusammenspiel von Theater und digitalen Medien nicht erst seit dem Jahr 2020 besprochen wird. Schon während der 1990er Jahre wurde die Verknüpfung von Theater und digitaler Medientechnologie bezüglich ästhetischer und künstlerischer Potentiale theoretisch untersucht (vgl. z.B. Dixon 1999 & LeNoir 1999). Als Koryphäe der Debatte gilt Martina Leeker, die 1995 in ihrer Promotion Mime, Mimesis und Technologie Einflüsse digitaler Medientechnologien auf das Theater betrachtete und seither den Diskurs zum Wechselspiel von Theater und Digitalität nachhaltig prägt.
Im Rahmen des Projekts Theater – Auf(s) Spiel setzen ist es unser Ziel den Text Die Zukunft des Theaters im Zeitalter technologisch implementierter Interaktivität von Leeker aus dem Jahr 1998, in dem sie davon ausgeht, dass die Zukunft des Mediums Theater in den Interaktionsmöglichkeiten digitaler Medientechnologie läge, aus einer zeitgenössischen Perspektive zu betrachten und mit unserem Forschungsinteresse, dem ‚Postdigitalen Schultheater‘, zu verknüpfen. In unserer Auseinandersetzung werden wir auf Grundlage aktueller Forschung zu digitalen Transformationsprozessen retrospektiv auf von Leeker aufgestellte Thesen und Kernaussagen eingehen und diese im Rahmen unserer Relektüre kritisch diskutieren. Die Komplexität des Texts lässt es nicht zu, all seine Facetten aufzugreifen, weshalb wir – im Sinne des übergeordneten Projektinteresses – eine thematische Eingrenzung bezüglich interaktiver Spielpotentiale durch digitale Medien im theatralen Kontext vornehmen. Diese Textbesprechung zeichnet sich in besonderer Weise durch eine postdigitale Perspektive mit Fokus auf (schul-)theaterpädagogische Handlungsräume aus, die wir bereits für weitere Forschungsarbeiten zum Postdigitalen Schultheater (z.B. Büchner/Traulsen 2021) eingenommen haben. Mit der Nutzung des Begriffs der ‚Postdigitalität‘ betonen wir, rekurrierend auf Florian Cramer (2014), das Verständnis, dass „digitale Transformationsprozesse so weit fortgeschritten sind, dass eine untrennbare Verschränkung mit der nicht-digitalen Lebenswelt besteht“ (Traulsen/Büchner 2022:334), in der „scheinbar dichotome Begriffspaare wie analog/digital oder online/offline aufgrund ihrer komplexen Verwobenheit zur Beschreibung unserer Gesellschaft nicht mehr zutreffend sind“ (ebd.). Postdigitales Schultheater zeichnet sich aus unserer Sicht dadurch aus, dass es „sich bewusst der gesellschaftlichen digitalen Transformationsprozesse annimmt“ (Traulsen/Büchner 2022:338) und eine kreativ kritische Auseinandersetzung auf Grundlage (postdigitaler) Lebenswelten von Schüler*innen im Theater-Unterricht fördert.
Ausgehend von unserer Auseinandersetzung mit Leekers Text kommen wir zu dem Ergebnis, dass Theaterpädagogik als Übungsraum für zeitgenössisches Medienhandeln und eine kritische Medienreflexion genutzt werden kann. Diese These werden wir abschließend mit Blick auf das Postdigitale Schultheater ausformulieren, in dem wir das Konzept der ‚Subversiven Spielräume‘ als Übungsmöglichkeiten für kritische Medienreflexion vorschlagen.
Die Zukunft ist jetzt: Kommentierende Relektüre
Die folgende Relektüre wird entlang einiger zentraler Begriffe aus Leekers Text strukturiert. Diese werden anhand prägnanter Textstellen vorgestellt und daraufhin aus einer zeitgenössischen, postdigitalen Perspektive kommentiert. Ziel ist es dabei, Anknüpfungspunkte für das Spiel in zeitgenössischer (schul-)theaterpädagogischer Praxis generieren zu können.
Theater im Zeitalter elektronischer Kommunikation
Zentral für Leekers Argumentation ist eine Verortung des Theaters im von ihr wahrgenommenen ‚Zeitalter elektronischer Kommunikation‘. Grundsätzlich wird von ihr das Theater als „Maschine, mit der es gelingt, Wahrnehmung und Denken der Menschen zu formen und nachhaltig zu prägen“ (Leeker 1998:145) verstanden, was allerdings nur möglich sei, wenn sich das Theater an die dominante Medienumgebung der jeweiligen Zeit anpasse. Entsprechend sei das antike Theater, welches einer Gesellschaft entsprang, die primär von dem Medium Schrift geprägt war, überholt. Sogenannte ‚Neue Medien‘ hätten nun eine „Neuorganisation […] in unserer Psyche und in unserer Körperlichkeit hervorgebracht“ (Leeker 1998:145), die jenes Theater nicht mehr bedienen könne. Statt einer klaren Trennung zwischen Spielwirklichkeit und Wirklichkeit (‚als-ob-Status‘ der Handlungen) sowie zwischen Handeln (durch Schauspielende) und Denken (durch Zuschauende) als Charakteristika des antiken Theaters, ziele das Theater im Zeitalter elektronischer Kommunikation auf eine Durchlässigkeit der „Grenzziehung zwischen Spielwirklichkeit und Wirklichkeit“ (Leeker 1998:146) und eine „Reintegration von Denken und Handeln“ (Leeker 1998:146) ab. Wird nun eine postdigitale Perspektive auf diese Feststellungen eingenommen, kann der Begriff der Neuen Medien und die scheinbare Disruption von Gesellschaft und Kommunikation durch diese infrage gestellt werden, da Postdigitalität vielmehr einen Zustand bezeichnet, „in which the disruption brought upon by digital information technology has already occurred” (Cramer 2014:14). Mit der Verortung des Digitalen im Alltäglichen geht so auch eine distanziertere, nüchterne Betrachtung von digitalen Medien einher, die Medienwirken nicht grundsätzlich euphorisiert. Medientechnologien sind weder etwas Bestimmtes, nur weil sie Technologien sind (technologischer Essentialismus); noch führen sie zu etwas Bestimmtem, nur weil sie Technologien sind (technologischer Determinismus); noch lösen sie etwas Bestimmtes, nur weil sie Technologien sind (technologischer Solutionismus) (vgl. Selwyn 2022). Während für Leeker die Neuen, elektronischen Medientechnologien per se interaktiv sind, zu einer Neuorganisation des Denkens führen und unter anderem die Überholtheit des Spiels im Theater lösen können, werden digitale Medientechnologien aus postdigitaler Perspektive in ihrer Verwobenheit mit sozialen Alltagspraktiken und in diesem Sinne als sozial hervorgebracht gefasst. Für das Postdigitale Schultheater bedeutet dies, das Digitale nicht (nur) in bestimmten Technologien zu verorten, sondern (vielmehr) in den soziokulturellen Alltagspraktiken und der Lebenswelt der Theatermachenden (Büchner/Traulsen 2022).
Interaktive Medien
Wie angedeutet, konzeptualisiert Leeker in ihrem Text Neue Medien als elektronische Medien, die für sie gleichzeitig interaktive Medien sind. Während das antike Theater von dem nicht-interaktiven Medium Schrift geprägt und dementsprechend auch selbst nicht interaktiv gewesen sei, könne und solle das Theater im Zeitalter elektronischer Kommunikation durch die Prägung und Integration von interaktiven Medien selbst interaktiv sein. Interaktion im Theater würde sich nach Leeker „dadurch auszeichnen, daß zwei Menschen, ein Mensch und eine Maschine oder zwei Menschen vermittelt durch eine Maschine zusammen handeln“ (Leeker 1998:154). Zudem könne von Interaktion gesprochen werden, wenn „sich das theatralische Setting darum bemüht, für den Zuschauer die Arbeit transparent werden zu lassen und ihn zum Dialog zu bitten“ (Leeker 1998:162). Einen großen Stellenwert nimmt in diesem Zusammenhang auch die Improvisation ein, bei der für Leeker die Interaktion anfängt: „Ich weiß nicht, was geschehen wird, muß mich völlig auf den Moment einlassen. Und ich muß trotzdem ein Konzept haben.“ (Leeker 1998:164). Interaktion wird in diesem Sinne als zentrales Konzept des Theaters im Zeitalter elektronischer Kommunikation identifiziert. Jene drei von Leeker ausgemachten Bestandteile von Interaktion – das gemeinsame Handeln, das Transparentmachen von Arbeitsprozessen sowie die Improvisation – sind hierbei wichtige Spielprinzipien, die sich auch aus postdigitaler Perspektive in der zeitgenössischen Praxis der Theaterkunst, der Theaterpädagogik und des Schultheaters identifizieren lassen.
Interaktion und Postdigitale Partizipation
Aus postdigitaler Perspektive kann Leekers Konzeption von Interaktion mit einem Blick auf interaktive Spielformen des zeitgenössischen Theaters erweitert werden. Ausgangspunkt hierfür kann Christiane Hütters Typologie von Interaktion, Kooperation und Partizipation (2020) sein, in der verschiedene Grade der Interaktivität in unterschiedlichen zeitgenössischen Spielformen differenziert werden. Interaktivität wird hier als die Möglichkeit von Besucher*innen verstanden, „mehr oder weniger aktiv während der Aufführung Einfluss auf das Werk nehmen [zu können]“ (Hütter 2020:48). Die folgende Grafik bildet Hütters Überlegungen zu den unterschiedlichen, im zeitgenössischen Theater identifizierbaren Interaktionsgraden ab:
Jene Interaktivitätsgrade seien durch unterschiedliche ‚Aktionsradien‘ von Macher*innen und Besucher*innen sowie durch unterschiedliche Beschaffenheit des entsprechenden Werks bzw. der Aufführung gekennzeichnet, auf die hier exemplarisch eingegangen werden soll. So gelte der Chor der griechischen Tragödie als Beispiel für ‚Interpassivität‘. Die ‚Interpassivität beschreibt ein Setting, in dem die Macher*innen „[a]ktive und einzige Gestalter/innen“ (Hütter 2020:48) seien, während Besucher*innen „eher passive Rezipient/innen [sind], die gerne zuschauen und andere ihre Emotionen ausleben lassen“ (ebd.). Die Aufführung ist darüber hinaus „unabhängig von der Reaktion der Besucher/innen“ (ebd.). Erhöht man den Grad der Interaktivität um zwei Stufen zur ‚Pseudo-Interaktion‘, kommen klassische Theateraufführungsformate auf, bei denen, in Anknüpfung an das Konzept der autopoietischen Feedbackschleife (Fischer-Lichter 2004), Besucher*innen zwar durch Aufstehen, Klatschen oder Ausschalten (einer digitalen Performance) die Möglichkeit haben, die Aufführungssituation selbst mit hervorzubringen, jedoch habe „[n]ichts, was sie tun […] wirklich Einfluss auf den weiteren Verlauf“ (Hütter 2020:49). Die ‚asymmetrische Interaktion‘ hingegen, zu der beispielsweise Audiowalks oder Game Theater gezählt werden können, gebe den Zuschauenden in Form von ‚A/B-Entscheidungen‘ immerhin die Möglichkeit, „den Verlauf der Erfahrung [zu] beeinflussen, jedoch nicht das Ergebnis“ (ebd.). Am Ende des Spektrums der Interaktionsgrade nennt Hütter die ‚wechselseitige Kontingenz‘ oder ‚totale Interaktion‘, die beispielsweise in Live Action Role Plays (LAARPs) praktiziert werde. Hier gäbe es „[o]hne Aktion aller Beteiligten kein Werk, sondern allenfalls ein Regelset“ (ebd.) und der Aktionsradius der Besucher*innen sei so groß, dass der „Verlauf und Ausgang der Erfahrung […] offen und abhängig von dem [sind], was passiert“ (ebd.).
Gemeinsam mit Hütter lässt sich aus postdigitaler Perspektive Leekers Begriff der Interaktion aufweichen und flexibilisieren. Das zeitgenössische Theater zeichnet sich durch ein breites Spektrum von Interaktionsformen aus, die Theatermachenden und Zuschauenden unterschiedliche Aktionsspielräume zuweisen. Der Einsatz von digitalen Medien lässt sich dabei nicht auf einen bestimmten Grad der Interaktivität festlegen, vielmehr scheint das Spiel mit digitalen Medien ein ästhetisches Grundrauschen in jeglichen zeitgenössischen Spielformen zu sein, das sich mal mehr und mal weniger aufdrängt und die Erfahrung von Theatermachenden und Zuschauenden mal mehr und mal weniger konfiguriert. Die These, dass digitale Medien in ihrer Essenz interaktiv und daher per se interaktive Medien seien, lässt sich aus postdigitaler Perspektive somit nicht aufrechterhalten. Zwar können digitale Medien hilfreiche Tools für die Umsetzung von interaktiven Spielformen sein, wie beispielsweise als Abstimmungsmaschinen im bereits genannten Gaming Theater, sie sind aber nicht Träger des Interaktiven per se, was ein Blick auf diverse LAARPs verdeutlicht, deren Interaktion gänzlich ohne digitale Medientechnologien hervorgebracht werden kann. Für das Postdigitale Schultheater sind, genauso wie für Leeker, interaktive Mechanismen von Interesse, jedoch wird hier Interaktivität nicht in den digitalen Medien selbst, sondern im komplexen Aufeinandertreffen von ästhetischen, kulturellen und soziotechnischen Spielformen verortet.
Neben dem Element der Interaktion richtet die zeitgenössische Theaterpädagogik vermehrt ihren Blick auf partizipative Arbeitsweisen, die über das gemeinsame Spielen in Aufführungssituationen hinaus gehen und bereits in Konzeptions- und Produktionsprozesse diverse Akteur*innen involvieren. Hütter erweitert ihre Typologie um jene Überlegungen und fügt die Konzepte der ‚Kollaboration‘, der ‚Konditionierten Autonomie‘ und ‚Co-Kreation‘ an:
Während in der ‚Kollaboration‘, beispielsweise in Form der Inszenierung sogenannter ‚Expert*innen des Alltags‘ durch professionelle Regie-Teams wie Rimini Protokoll (Malzacher/Dreysse 2007), ein „[w]esentlicher Einfluss auf die Mitgestaltung des Werkes innerhalb vorgegebener Strukturen“ (Hütter 2020:51) gegeben sei, ermögliche die ‚Co-Kreation‘ eine „wesentliche Mitgestaltung“ (ebd.) der Teilnehmenden und führe zu einem Werk in „gemeinsamer Urheberschaft“ (ebd.). Hütter lässt ihre Überlegungen in dem Begriff der ‚Kollaboration & Partizipation‘ münden, deren „Werk […] in gemeinsamer Urheberschaft mit geteilter Verantwortung unter zusammen erarbeiten Bedingungen [entsteht]“ (ebd.). Interaktion wird in diesem Sinne um partizipative Arbeitsweisen in den Phasen Vorbereitung, Aufführung und Nachbereitung erweitert, wobei die Frage nach Urheberschaft in den Fokus gerückt wird. Eine postdigitale Perspektive greift diese Überlegungen auf und entwirft das Postdigitale Schultheater als einen Ort, an dem Interaktion und Partizipation mit und ohne die Hilfe digitaler Medien realisiert werden können.
Es kann festgehalten werden, dass eine postdigitale (Schul-)Theaterpädagogik Leekers Konzept der Interaktion produktiv implementieren kann, jedoch zwei zentrale Aspekte aus postdigitaler Perspektive zu einer anderen Beurteilung führen. Einerseits kann die Rolle bzw. die Wirkung digitaler Medientechnologie diskutiert werden, die für theoretische Annahmen und praktisches Handeln zugrunde gelegt wird, denn während Leeker das Interaktive grundsätzlich mit der Einbindung digitaler Medien verknüpft, sind postdigital gedacht, digitale Medien nur ein Teil einer deutlich komplexeren Konstellation, die interaktive Spielformen hervorbringt. Zweitens kann der Diskurs um gemeinsames Theaterspielen weiter differenziert werden. Im Gegensatz zu Leeker, die ihre Überlegungen auf den Begriff der Interaktion begrenzt, kann für das Postdigitale Schultheater, informiert durch die ästhetische Praxis des zeitgenössischen Theaters und den zugehörigen Diskurs, der Begriff der Interaktion um den Begriff der Partizipation erweitert werden.
Neue Weltbilder im Zeitalter elektronischer Kommunikation
Leeker geht in ihrem Text von zwei Entwicklungssträngen des Theaters im Zeitalter elektronischer Kommunikation aus, die sich im Zusammenspiel mit interaktiven Medien vollziehen würden: Einerseits würden „neue Weltbilder entworfen, und das technische Setting des Theaters […] modifiziert [werden]“ (Leeker 1998:145) und andererseits würde das Theater zu einer „interaktiven Installation [werden], die eher einem kollektiven Spiel als einer ‚Schaubühne‘ gleicht“ (ebd.). Bezüglich des ersten Entwicklungsstranges identifiziert Leeker Veränderungen unter anderem von Raum- und Identitätskonzeptionen unter dem Einfluss elektronischer Medien.
Raum im Theater im Zeitalter elektronischer Kommunikation
Da unsere Welt im Zeitalter elektronischer Kommunikation polyperspektivisch organisiert sei, könne die Theaterbühne „als eine Maschine [arbeiten], die einen Raum entwirft, in dem wir unsere Wahrnehmung gemäß den Erfordernissen der Neuen Medien anordnen können. […] Wir sitzen dem Raum, der black box, nicht mehr gegenüber, sondern sind ein Teil von ihr.“ (Leeker 1998:157). Hier bedient sich Leeker des Begriffs der ‚Blackbox‘ als Metapher für einen Theaterraum, der klassischerweise klar zwischen Spielenden und Schauenden trennt und dementsprechend monoperspektivisch konzipiert ist. Teil der Blackbox zu werden bedeute also das Auflösen dieser Trennung und das Hinbewegen zur Polyperspektive. Interessanterweise werden in unserer postdigitalen Gesellschaft häufig auch digitale Medientechnologien selbst als Blackbox bezeichnet, da ihre häufig ‚schicken‘ und intuitiv zu bedienenden materiellen Oberflächen (wie beispielsweise die von Smartphones) die darunter liegenden komplexen technischen Beschaffenheiten, Codierungen und Dateninfrastrukturen verdecken. Jene haben jedoch signifikante Auswirkungen auf unser Leben und Wohlbefinden, dann zum Beispiel, wenn unsere Lieblings-Apps dauerhaft persönliche Verhaltensdaten von uns sammeln und diese, oftmals ohne unser Wissen, kommerzialisieren. Während uns interaktive Medien also einerseits, mit Leeker gesprochen, erlauben, die Blackbox (als monoperspektivischen Theaterraum) aufzulösen, erhalten digitale Medientechnologien andererseits, postdigital gesprochen, als Blackbox Einzug in unsere Alltags- und Theaterräume. Der differenzierte Umgang mit diesen Blackboxes und den damit zusammenhängenden konfliktgeladenen Themen der Datafizierung oder Algorithmisierung sollte genauso Teil einer zeitgenössischen Theaterpädagogik und postdigitalen Schultheaterpraxis sein, wie das interaktive Auflösen von Theaterspiel und Theaterschau.
Identität(en) im Theater im Zeitalter elektronischer Kommunikation
Neben einer Neudefinition des Raumes beschreibt Leeker auch Veränderungen von Identitätskonzeptionen im Zeitalter elektronischer Kommunikation und dem folgend auch im Theaterspielen. Das Rollenspiel – klassischerweise Teil des Theaters und des Theaterspielens – werde im Internet rekonfiguriert. In der Kommunikation im Internet könnten Menschen „verschiedene Rollen annehmen und dazu entsprechende Identitäten aufbauen“ (Leeker 1998:158). Sie begännen in diesem Sinne „selbst Theater zu spielen, eine Figur und einen Text im Prozeß der Kommunikation zu entwerfen“ (ebd.). Obwohl die tatsächliche Identität hinter den Kommunikationspartner*innen nicht bekannt werde, würde hingenommen, „dass der Partner eine Rolle spielt“ (ebd.) und die Frage nach dessen tatsächlicher Identität sei „nicht von Bedeutung, denn sie kommunizieren in einem System, in dem die Verabredung gilt: Was ich in diesem Moment zeige, bin ich jetzt.“ (ebd.). Leeker bemerkt in diesem Zusammenhang zwar, dass das Rollenspiel im Internet sich vom Rollenspiel im Theater unterscheide, da ersterem die „typische Reibung von Rollenidentität und der Person des Schauspielers“ (ebd.) fehle, welche wiederum im zeitgenössischen Theater zunehmend verhandelt werde, versteht das Rollenspiel im Internet jedoch trotzdem als einen Möglichkeitsraum persönlicher Identitätsentfaltung: „So entstehen ein virtueller Körper und ein virtueller Raum, die keine festgefügte Ordnung mehr haben, sondern sich nur noch aus einer Ansammlung von Möglichkeiten konstituieren“ (Leeker 1998:159). Aus postdigitaler Perspektive scheinen in diesem Zusammenhang zwei Überlegungen bemerkenswert: Erstens hat sich das von Leeker prophezeite Rollenspiel im Internet als enorm konfliktbehaftete Praktik erwiesen. Die hiermit zusammenhängende Anonymität führt in unserer postdigitalen Gesellschaft oftmals zu einer verantwortungslosen oder gewaltvollen Kommunikation im Internet. Die Folge sind beispielsweise Hasstiraden in Kommentarspalten, sogenanntes ‚Cybermobbing‘ oder sogar digitale (Mord)Drohungen (Kopatzki 2022). Ein ganzes Spektrum der Cyberkriminalität konnte aus den von Leeker identifizierten Kommunikationspraktiken durch interaktive Medien erwachsen – eine Beschäftigung mit dem Rollenspiel im Internet sollte also, insbesondere im Postdigitalen Schultheater, um eine kritische Reflexion dessen erweitert werden.
Zweitens scheint auch der von Leeker beschriebene Möglichkeitsraum der Kommunikation im Internet zu kurz zu greifen. In der postdigitalen Gesellschaft ist ein Großteil unseres Handelns durch digitale Plattformen konfiguriert. Soziale Medien wie Facebook, Instagram oder TikTok prägen genauso wie die Dienste von beispielsweise Google oder Microsoft unsere alltägliche Erfahrung im Internet. Jene Plattformen geben jedoch in großem Maße vor, welche Möglichkeiten der Kommunikation und Persönlichkeitspräsentationen bestehen. Versteht man das zeitgenössische Internet postdigital als größtenteils plattformisierten Erfahrungsraum, wird die von Leeker ausgemachte Ansammlung von Möglichkeiten stark beschränkt. Kommunikations- und Identitätskonzepte müssen den in die Plattformen eingeschriebenen Logiken folgen und sind dementsprechend in der Regel eng verbunden mit Kommerzialisierungsbestrebungen eben jener Unternehmen. Ein ‚Like‘ auf Instagram ist in diesem Sinne beispielsweise einerseits eine von der Plattform vorgeschriebene kommunikative und identitätsbildende Praktik, die andererseits auf eine möglichst effiziente Extraktion von Persönlichkeitsdaten ausgelegt ist und jene Persönlichkeitsdaten vermarktbar macht. Das Rollenspiel im Internet und die hiermit von Leeker verbundenen ‚flexiblen Identitäten‘ sollten aus postdigitaler Perspektive also in zweierlei Hinsicht kritisch betrachtet und für das Spiel im Postdigitalen Schultheater fruchtbar gemacht werden: Einerseits bezogen auf den Zusammenhang zwischen Anonymität im Internet und gewaltvoller Kommunikation, sowie andererseits bezogen auf jene Einschränkungen, die digitale Plattformen für Kommunikation und Identitätsbildung im Internet vornehmen und wie diese mit der Kommerzialisierung persönlicher Verhaltensdaten zusammenhängen.
Das Postdigitale Schultheater als Übungsraum kritischer Medienreflexion
In der vorangegangenen Relektüre von Leeker wurden die medialen und theatralen Veränderungsprozesse in einem Zeitalter der elektronischen Kommunikation nachgezeichnet und aus einer zeitgenössischen, postdigitalen Perspektive kommentiert. Leekers Argumentation zielt unter anderem darauf ab, dass im antiken Theater eine scharfe Trennung zwischen Denken (der Zuschauenden) und Handeln (der Schauspielenden) vollzogen wird, die in einem zeitgenössischen Theater, welches Teil einer Gesellschaft ist, die von den Auswirkungen digitaler (=interaktiver) Medien umgewälzt wurde, nicht mehr aufrecht zu erhalten sei. Stattdessen müsse gefragt werden, „welche neuen Funktionen […] durch den Einfluß von oder im direkten Umgang mit interaktiven Medien“ (Leeker 1998:163) entstehen würden. Ein zeitgenössisches Theater solle laut Leeker auf die neue Medienumgebung reagieren und sich um eine Reintegration von Denken und Handeln bemühen. Dies könne geschehen, wenn das Theater weniger als Schaubühne und mehr als „interaktive Installation“ (Leeker 1998:154) konzipiert wäre, in der „kollektives Spiel“ (ebd.) möglich wird. Für Leeker müsste das Theater eine Umgebung sein, in der „wir kollektives interaktives Handeln erproben“ (Leeker 1998:163) können und lernen, „wie […] man in einer großen Gruppe zusammen handeln [kann]“ (ebd.). Eine weitere Funktion des Theaters könne zudem darin bestehen, ein Ort zu sein, „an dem wir die Möglichkeit haben, Weisen der Koexistenz von Wirklichkeiten zu entwerfen und zu erproben (Leeker 1998:161)“. Diese Funktion scheint besonders vor dem Hintergrund des zuvor beschriebenen Rollenspiels im Internet relevant. Da sich im Internet Personen nicht mehr körperlich begegnen und die Konstruktion von alternativen Identitäten und Wirklichkeiten möglich wird, sieht Leeker im Theater die Aufgabe, „Wirklichkeiten zu differenzieren, den Körper als Ort der verläßlichen Differenzierung zu inaugurieren und transparent zu machen, daß und wie man Rollen spielt“ (Leeker 1998:158). Das Theater scheint als eine Art Übungsraum reimaginiert zu werden, in dem der Umgang mit digitalen Medientechnologien sowie der Umgang mit einer veränderten Gesellschaft erprobt werden können. In diesem Übungsraum könne es in diesem Sinne gelingen, die nötige Reintegration von Denken und Handeln vorzunehmen
Unsere kommentierende Relektüre aus postdigitaler Perspektive hat jedoch deutlich gemacht, dass das von Leeker identifizierte Zeitalter elektronischer Kommunikation weitere Problemstellungen hervorgebracht hat, auf die sich eingestellt werden muss. Mit der Verwobenheit digitaler Medientechnologien mit unserem Alltagshandeln sowie unseren Institutionen rücken die bereits aufgeführten Fragen nach Cyberkriminalität oder Plattformisierung und der damit einhergehenden Datafizierung, jedoch auch weitere Fragen nach Überwachung, Kontrolle, Kommerzialisierung von Personendaten oder digitalen Ungleichheiten in das Bewusstsein. Wird dem Postdigitalen Schultheater eine solche machtkritische Perspektive zugrunde gelegt, kann Leekers Argument folgendermaßen erweitert werden: Ist das Theater ein Übungsraum zeitgenössischen Medienhandelns, kann das Postdigitale Schultheater als Übungsraum kritischer Medienreflexion stark gemacht werden. Eine kritische Medienreflexion wird hier in Anlehnung an Andreas Weich, Katja Koch und Julius Othmer „als die Bewusstmachung der an einer Medienkonstellation beteiligten (digitalen und nicht-digitalen) Elemente und deren Wechselwirkungen“ (Weich/Koch/Othmer 2020:46) verstanden. Diese Elemente einer Medienkonstellation sind hiernach sowohl die Materialität von Medien (ihre materiellen Bestandteile), die hierüber transportieren Inhalte, die vorgesehenen Subjektpositionen (zugewiesene Funktionsstelle der Menschen) als auch das in ihnen eingeschriebene Wissen bzw. die damit verbundenen Praktiken (vgl. ebd.). Das besondere Potential (schul-)theaterpädagogischer Praxis ist dabei, dass die beschriebene Reflexion innerhalb von gemeinsamem Spiel als Teil angeleiteter Spielformen vollzogen werden kann. Die Reintegration von Denken und Handeln, die Leeker für das Theater fordert, scheint in der (schul-)theaterpädagogischen Praxis bereits angelegt zu sein. Das Anwenden einer machtkritischen und postdigitalen Perspektive führt uns im letzten Abschnitt dieses Beitrages zu der These, dass im Postdigitalen Schultheater kritische Medienreflexion im Rahmen von Subversiven Spielräumen praktiziert werden kann.
Subversive Spielräume im Postdigitalen Schultheater
Wie beschrieben sehen wir das Postdigitale Schultheater als möglichen Übungsraum kritischer Medienreflexion. Dabei liegt aus unserer Sicht insbesondere in Subversiven Spielräumen das Potential, das gesellschaftliche Wirken digitaler Medientechnologien kritisch zu hinterfragen, spielerisch zu verhandeln und interaktiv mit dem Publikum zu diskutieren. Das Konzept der Subversiven Spielräume haben wir jüngst in Subversive Spielräume. Das Postdigitale Schultheater als kultureller Hackspace (Büchner/Traulsen, in Erscheinung) dargestellt und nutzen dieses, um Bildungsmomente im Postdigitalen Schultheater zu beschreiben, die „durch [die] macht- und kulturkritische Praxis des Cultural Hackings von Schüler*innen im Rahmen theatraler Unterrichts-, Proben- und Aufführungsprozesse gestaltet werden“ (ebd.). ‚Cultural Hacking‘ meint in diesem Kontext ein „kritisches und subversives Spiel mit kulturellen Codes, Bedeutungen und Werten“ (Meyer 2013), welches als Reaktion auf einen „Überschuss an Kontrolle“ (Meyer 2018:170) in der Gesellschaft gesehen werden kann. Auch wenn es beim Cultural Hacking nicht etwa um informatische Fähigkeiten, sondern grundsätzlich um die Identifizierung kulturell codierter Handlungsmuster und darauf aufbauendes subversives Agieren geht, scheint die kritische Reflexion digitaler Medientechnologien für das Konzept fruchtbar, da diese unser sozio-kulturelles Miteinander maßgeblich beeinflussen. Beispielsweise kann der US-Präsidentschaftswahlkampf 2017 genannt werden, in dem Social-Media intensiv genutzt wurde, um potentielle Wähler*innen zu erreichen und zur Optimierung dessen die Strategie des ‚Microtargeting‘ genutzt wurde, die zielgerichtete Wahlwerbung orientiert an Merkmalen von Individuen wie z.B. das Geschlecht oder die Erstsprache schaltet und auswertet (Christl 2019). So testete beispielsweise das Wahlkampteam von Donald Trump täglich 50.000 – 100.000 Variationen von Anzeigen auf Facebook, um diese zielgruppenspezifisch zu optimieren (Beckett 2017).
Auch in der Schule, die als Institution eng mit den sie umgebenen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen verwoben ist, haben sich digitale Medientechnologien tief in das Alltagserleben aller Schulakteur*innen eingeschrieben. Im Sinne einer Erziehung von Schüler*innen zu mündigen, verantwortungsvollen und selbstständigen Menschen scheint eine Reflexion dieser postdigitalen Strukturen notwendig. Cultural Hacking als künstlerisch subversive Strategie im schulischen Raum kann aus unserer Perspektive interaktive Spielformate schaffen, die zu ebendieser Reflexion postdigitaler Lebenswelten beitragen können. Darüber hinaus sehen wir im Cultural Hacking eine zeitgenössische theatrale Spielmöglichkeit, die sich, in Anknüpfung an Leekers Überlegungen zu Theater und digitalen Technologien, ausgezeichnet mit den in diesem Artikel besprochenen theatralen Mitteln verbindet. So liegen aus unserer Sicht beispielsweise in partizipativen Spielformen, die digitale Technologien geschickt einbinden, besondere Potentiale, Medienwirken in der Schule kritisch und zugleich spielerisch zu reflektieren.
Um zu verdeutlichen, inwiefern eine kritische Medienreflexion unter Anwendung Cultural Hackings funktionieren könnte, wird im Folgenden kurz ein fiktives Beispiel einer schultheaterpädagogischen Produktion skizziert. Als Vorbild für diese Theaterproduktion dienen zeitgenössische partizipative Theaterformen, in denen ein Publikum direkt mit den Darsteller*innen oder der Bühnenhandlung interagiert und so Teil der Inszenierung wird (vgl. Enkeler 2020). Im schulischen Kontext liegen in der Publikumspartizipation zusätzliche subversive Potentiale, da die Publika von Schultheaterproduktionen in der Regel aus der Schulbelegschaft, den Mitschüler*innen oder den Familienangehörigen der Darsteller*innen bestehen. Im Rahmen einer Schultheateraufführung treffen demnach weitestgehend miteinander vertraute Personen aus machtdurchzogenen Institutionen, wie Familie oder Schule, aufeinander. Publikumspartizipation ist in diesem Kontext höchst politisch und bietet die Möglichkeit, etablierte Machtverhältnisse der genannten Institutionen in einem öffentlichen Raum auf die Probe zu stellen, indem beispielsweise Lehrkräften bestimmte Rollen zugesprochen werden, die Handlungen erfordern, die eigentlich nicht den erwarteten Handlungen von Lehrkräften entsprechen.
Das kulturelle Skript von Schultheateraufführungen sieht in der Regel außerdem vor, dass die Theaterschüler*innen auf der Bühne die Ergebnisse eines langen Probenprozesses veröffentlichen und so beispielsweise darstellerisches Talent, die Fähigkeit, sich eine Menge Text zu merken, oder einfach den Mut auf einer Bühne zu stehen, zeigen können. Was passiert nun aber, wenn die Aufführung das anwesende Publikum zur Teilhabe auffordert? Wenn die Performance beispielsweise gar kein klassisches Bühnenstück ist, sondern ein Schultribunal, in dem symbolisch-theatral Belange des postdigitalen Schulalltags verhandelt werden? Der Regisseur Milo Rau hat im Rahmen seiner theatralen Tribunale Die Moskauer Prozesse (Rau 2012), Die Zürcher Prozesse (Rau 2013) oder Das Kongo Tribunal (Rau 2015) längst gezeigt, wie symbolische Gerichtsverhandlungen unter Einbezug einer partizipierenden Öffentlichkeit die Grenzen zwischen fiktiver Bühnenhandlung und realgesellschaftlichem Wandel verwischen und dadurch subversiv in bestehende Machtkonstellationen wirken können (vgl. von Bothmer 2019). Theaterschüler*innen können das kulturelle Skript der klassischen Schultheateraufführung überschreiben und das ursprünglich passiv anwesende Publikum in Aufführungsformaten wie den beispielhaft angeführten Schultribunalen partizipieren lassen. Konkrete Spielformen eines solchen Schultribunals könnten beispielsweise Apps sein, die Liveabstimmungen im Publikum ermöglichen oder Textbeiträge live auf der Bühne visualisieren. Auf inhaltlich-reflexiver Ebene finden in Schultribunalen des Postdigitalen Schultheaters möglicherweise Verhandlungen über die Einführungen bestimmter Technologien (Tablets, Laptops etc.) oder bestimmter Schulverwaltungssoftware statt. Dabei würden reale Vertreter*innen verschiedener Unternehmen ihre Produkte auf der Bühne vorstellen können und sich den Fragen von ebenfalls zum Tribunal eingeladenen Daten- oder Umweltschützer*innen stellen müssen. Die Schulleitung würde den finanziellen Rahmen vorstellen und Lehrkräfte ihre Pläne, wie mit den jeweiligen Technologien Unterricht gemacht werden würde. Schüler*innen würden zu Wort kommen und deutlich machen, wie sie mit digitalen Technologien lernen wollen und Eltern könnten für und gegen Leih- bzw. Anschaffungskonzepte argumentieren.
Anhand dieser beispielhaften Darstellung werden auch weitere Möglichkeiten zu Partizipation deutlich: Nicht nur das Publikum partizipiert an den Theateraufführungen des Postdigitalen Schultheaters, sondern auch die Expert*innen des Schulalltags (Reinigungskräfte, Hausmeister*innen, Schulverwaltungspersonal etc.), die ebenso wie Schüler*innen Teil des Machtraums Schule sind, oder die Stadtgesellschaft, in deren System die Schule als Institution eingebettet ist, sodass im Sinne Leekers ein kollektives Spiel aller bzw. die Erprobung dessen ermöglicht wird.
Abschließende Überlegungen
Ausgehend von einer Relektüre Leekers Annahmen bezüglich des Wandels des Theaters im Zusammenspiel mit digitalen Technologien, haben wir die These aufgestellt, dass das Postdigitale Schultheater als Übungsraum kritischer Medienreflexion dienen kann und skizziert, inwiefern eine solche (schul-)theaterpädagogische Praxis aussehen könnte. Auch wenn unsere vorangegangene theoretische Auseinandersetzung aus postdigitaler Perspektive einige Aspekte wie z.B. das Einhergehen von digitalen Technologien und Interaktion kritisch beleuchtet hat, sehen wir in der Fusion von Digitalität und Theater durchaus bereichernde Handlungsmöglichkeiten, die Leeker bereits 1998 identifiziert hat. Das eingangs dargestellte Projekt Elektrotheater zeigt beispielsweise, wie kollektives und interaktives Handeln im digitalen Raum umgesetzt und auf diese Weise eine neue Wirklichkeit sowie neue Identitäten geschaffen und erprobt werden können. Gleichzeitig sehen wir auch, mit welcher Macht digitale Technologien gesellschaftliche Prozesse und Handlungen beeinflussen und erachten eine kritische Perspektive darauf als zwingenden Gegenpart zur Digitalitätseuphorie. Im Cultural Hacking liegt aus unserer Sicht eine theatral-spielerische Strategie, die beides vereinen kann.