Kompetenzlosigkeitskompetenz als Perspektive einer diversitätssensiblen Theaterpädagogik
Abstract
Theaterpädagogische Praxis findet in Deutschland im Kontext gesellschaftlicher Diversität statt. Im vorliegenden Text werden zentrale, sich aus dieser Rahmung ergebene Spannungsfelder theaterpädagogischen Arbeitens vorgestellt. Grundliegend ist hierbei eine machtkritische Perspektive, der es um die Frage danach geht, wie Theaterpädagogik einen Beitrag zu weniger struktureller Gewalt gegenüber „Anderen“ leisten kann. Diese Frage wird am Beispiel der Wirkungsweisen von Rassismus und der Bedeutsamkeit von Weißsein für diese Wirkungsweisen konkretisiert. Ausgehend vom nicht-essentialistischen Subjektbegriff der Cultural Studies werden die Positioniertheiten von Subjekten als Effekte von Diskursen zu verstehen gegeben, die durch Spannungsverhältnisse geprägt sind. Mit Bezug auf rassismuskritische Theorieperspektiven werden zwei dieser Spannungsverhältnisse und ihre Bedeutsamkeit für die theaterpädagogische Praxis diskutiert: Das Spannungsverhältnis zwischen Differenzfixierung und Differenzignoranz sowie das Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Als Perspektive für eine diversitätssensible theaterpädagogische Praxis wird abschließend Kompetenzlosigkeitskompetenz als Ansatz für die Entwicklung theaterpädagogischer Professionalität im Kontext von Diversität vorgestellt.
Positionierungen: Diversität, Subjekt, Rassismuskritik, Weißsein
Der Begriff „Diversität“ (engl. „Diversity“) ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Schlagwort in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten ebenso wie in der Theaterpädagogik geworden. Seine Ursprünge liegen in den weltweiten sozialen Bewegungen Mitte des 20. Jahrhunderts. Ausschlaggebend war hier u.a. die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und ihr Kampf gegen Rassismus. An den Geist dieser sozialen Bewegungen und ihrer Kämpfe für Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit schließt der folgende Text an. Diversität adressiert vor diesem Hintergrund hier nicht bloß eine Unterschiedlichkeit von Menschen, wie dies etwa der „Gemengebegriff“
Dieses Anliegen verfolge ich sowohl aus bestimmten theoretischen und biografischen Perspektiven heraus als auch ausgehend von einem bestimmten, und zwar einem reflexiven Verständnis theaterpädagogischer Praxis
Da es im Folgenden auch und besonders um das Differenzverhältnis Rassismus gehen wird, ist es für diese Perspektiven besonders bedeutsam, dass ich diesen Text als ein weiß positionierter Theaterpädagoge und Wissenschaftler schreibe. Im Anschluss an Ansätze der Britischen Cultural Studies (vgl. Hall 1999) und an Perspektiven der Critical Whiteness Studies (vgl. Eggers 2005) beziehe ich mich mit der (Selbst-)Positionierung weiß auf eine historisch mit der „Erfindung“ von Weißsein im europäischen Kolonialismus entstandene gesellschaftliche Positioniertheit. Im Zusammenspiel mit sich verändernden historischen und geografischen Kontexten befindet sich diese Positioniertheit in permanenten Transformationsprozessen und mit ihr auch die Vorstellung davon, was es (zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort) bedeutet, weiß zu „sein“. So gibt für den deutschen Kontext Wolf Hund
Gegenüber dem Versprechen der Modernität von der großen Zukunft: ‚Ich bin, ich bin der westliche Mensch, also weiß ich alles. Alles beginnt mit mir‘, sagt der Modernismus: ‚Immer langsam. Was ist mit der Vergangenheit? Was ist mit den Sprachen, die du sprichst? Was ist mit dem unbewussten Leben, über das du nichts weißt? Was ist mit all den anderen Dingen, die dich sprechen?‘.
(In der hier zitierten deutschen Übersetzung steht „Modernität“ für modernity und „Modernismus“ für modernism, meistens werde die Begriffe jedoch mit „Moderne“ (modernity) bzw. Spätmoderne (modernism) übersetzt.)
Diskurstheoretische Perspektiven
Anzuerkennen, dass man selbst „rassistisch ist“, ist bei weißen Menschen häufig mit Scham und Ablehnung verbunden (vgl.
Spannungsverhältnisse als Kern theaterpädagogischer Arbeit
Einen weiteren relevanten Hintergrund der vorliegenden Überlegungen bildet meine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Spannungsverhältnissen für eine herrschaftskritische theaterpädagogische Praxis in der Studie „Theaterpädagogik am Theater der Migrationsgesellschaft. Eine rassismuskritische Analyse“. Ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchung besteht darin, dass eine herrschaftskritische theaterpädagogische Praxis als Teil Kultureller Bildung angehalten ist, sich mit den strukturell in Herrschaftsverhältnisse eingeschriebenen Ambivalenzen und Widersprüchen und den aus ihnen resultierenden Spannungsverhältnissen zu beschäftigen. Im Folgenden möchte ich eines dieser Spannungsverhältnisse, das Spannungsverhältnis zwischen Differenzfixierung und Differenzignoranz, in der gebotenen Kürze erläutern. Dies auch deshalb, weil mir sowohl Studierende als auch praktizierende Lehrkräfte und Theaterpädagog*innen in einer Vielzahl an Seminaren, Workshops und Fortbildungen, die ich in den letzten Jahren geben durfte, immer wieder die Rückmeldung gegeben haben, dass die Beschäftigung mit diesem Spannungsverhältnis für ihre Auseinandersetzungs- und Reflexionsprozesse besonders hilfreich war. Gleichzeitig schließe ich mit diesem Fokus an eine strukturtheoretische Perspektive erziehungswissenschaftlicher Professionalitätsforschung an, in der das Wissen um und der Umgang mit für das pädagogische Feld konstitutiven Spannungsverhältnissen als Grundlage professionellen Handelns verstanden wird (vgl. einführend
„Race doesn´t exist, but it does kill people“
Mit diesem drastischen Satz fasst die französische Soziologin Colette Guillaumin für das Herrschaftsverhältnis Rassismus eine paradoxe Struktur zusammen, welche sich auch auf andere soziale Differenzverhältnisse (Diversitäten) beziehen lässt.
Zum einen sind diese durch ihren Konstruktionscharakter geprägt. Für das Sprechen über „Diversität“ grundlegende Kategorien wie race, class, gender, sexuality oder ability lassen sich als gesellschaftliche Konstruktionen verstehen, die nicht natürlich gegeben sind. Unsere Vorstellungen davon, was ein „Migrationshintergrund“, was ein „Mann“ oder was eine „Behinderung“ ist und nicht ist, lassen sich als Effekte historisch gewachsener machtvoller (und umkämpfter) gesellschaftlicher Diskurse verstehen. Als solche sind sie hinsichtlich ihrer Funktion für die Herstellung und Legitimation von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu hinterfragen und auch zu problematisieren.
Zum anderen sind diese Kategorien trotz ihres Konstruktionscharakters wirkmächtig. Im äußersten Fall, wie im obigen Zitat bis hin zur Tötung von Menschen, weil sie in der jeweiligen Kategorie als Andere hervorgebracht werden. Prozesse der Konstruktion Anderer zeitigen Effekte auf materieller wie symbolischer Ebene und verändern die Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse aller von Differenzverhältnissen betroffenen (und damit schlicht: aller) Subjekte. „Rassismus [und Sexismus, Ableismus, etc.] bildet“
Praxisimpuls
In ihrem Gedicht „For the White Person Who Wants to Know How to Be My Friend” schreibt die afroamerikanische Feministin Pat Parker 1978 über (ihre) Wünsche und Forderungen an potenzielle weiße Freund*innen. Die ersten beiden Zeilen lauten: „The first thing you do is to forget that I’m black. Second, you must never forget that I’m black.“ (vgl.
Das Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz
Es war lange ein Merkmal von in einem Differenzverhältnis strukturell privilegierten Subjektpositionen, dass diesen ihre strukturell privilegierte Positioniertheit relativ unbewusst war und wenig entgegenschlug. So spricht etwa Ursula Wachendorfer in dem oben erwähnten Text von der „Unsichtbarkeit“ der Positioniertheit weiß, eine Unsichtbarkeit, welche auch im Kontext von etwa Vernetzungstreffen oder Weiterbildungsangeboten in den Bereichen Theaterpädagogik und Kulturelle Bildung, , die nicht explizit Diversität zum Thema haben, häufig weiterhin scheinbar besteht.
In meinen Seminaren frage ich die Teilnehmenden vor diesem Hintergrund häufig, welche Wirkung ein Gedichtanfang hätte, in dem die Positionierungen Schwarz und weiß umgekehrt wären. Also das von einer weißen Person verfasste Gedicht: „For the black person, who wants to be my friend“. Im Gespräch über dieses Gedankenexperiment erfahren wir häufig viel über Weißsein. Zentral ist, dass über einen langen Zeitraum hinweg der Wunsch danach, nicht auf sein Weißsein reduziert zu werden („forget that I´m white“), eben wegen oben erwähnter Unsichtbarkeit, bzw. präziser der gesellschaftlichen „Norm und Normalität“ (
Mit dem Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz versuche ich (mindestens) einer Gleichzeitigkeit Rechnung zu tragen, die auch in meinem Verständnis des Beginns von Pat Parkers Gedicht den Kern bildet. Die Gleichzeitigkeit, sowohl (im Rassismus) positioniert zu sein (und mit dieser Positioniertheit einhergehend auch entsprechend festgelegt auf bestimmte Erfahrungsräume, während andere Erfahrungsräume verwehrt bleiben) als auch viel mehr zu sein als nur der Effekt einer Positioniertheit innerhalb einer Differenzordnung, die weiße Menschen erschaffen haben, um die Ausbeutung Anderer zu legitimieren.
Diese Gleichzeitigkeit begegnet theaterpädagogisch Tätigen täglich in ihrer Praxis. Sowohl bezogen auf die eigenen Positioniertheiten und deren Einfluss auf die eigenen Erfahrungen, Perspektiven, Möglichkeiten und Wissensbestände. Als auch bezogen auf die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, mit denen gearbeitet wird. Hier kommt allerdings der Umstand erschwerend hinzu, dass wir als theaterpädagogisch Tätige gar nicht wissen und nie umfassend wissen können, wie unsere jeweiligen Gegenüber in den verschiedenen Differenzkategorien positioniert sind und sich positionieren. Und noch weniger können wir wissen, was diese Positioniertheiten und Positionierungen im Moment für die jeweiligen Personen bedeuten und welche bestehenden Erfahrungen, Wissensbestände, Vulnerabilitäten oder Widerstandsstrategien mit ihnen einhergehen. Besonders, wenn wir selbst diese Erfahrungen schon aus strukturellen Gründen nicht machen können.
Das Spannungsverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen
Mit dem Spannungsverhältnis von Differenzfixierung und Differenzignoranz geht also ein weiteres Spannungsverhältnis einher: das Spannungsverhältnis von Wissen und Nichtwissen. Theaterpädagogisches Handeln findet in Interaktionssituationen und mit Bezug auf einen künstlerischen Gegenstand (Theater) statt, die (auch) nicht komplett durchschaubar, mehrdeutig, ambivalent, widersprüchlich und durch (Un-)Gleichzeitigkeiten geprägt sind. Theaterpädagogisches Handeln ist durch Dimensionen des Nichtwissens strukturiert.
Da es weder allgemeine Regeln noch Möglichkeiten für eine 1:1-Übersetzung etwa von in Ausbildungskontexten gelernten theaterpädagogischen Handlungsstrategien in situationsspezifisches Handeln gibt, gilt auch für die Theaterpädagogik, was der Erziehungswissenschaftler Michael Wimmer grundsätzlich mit Blick auf jedes pädagogisches Handeln anmerkt: Es „bleibt stets ein Rest, der nicht Wissen ist und nicht Wissen werden kann und dessen Verhältnis zum Wissen unklar ist.“
Kompetenzlosigkeitskompetenz als Professionalität theaterpädagogischen Handelns
Mit Blick auf ein professionelles theaterpädagogisches Handeln im Kontext von Diversität verkompliziert sich das Spannungsfeld von Wissen/Nicht-Wissen zusätzlich in der Dimension des Wissens über „die Anderen“ und der Geschichte dieses Wissens – auch und besonders im Kontext pädagogischen Handelns. Wissen ist nicht nur aus postkolonialer Perspektive eng mit Macht verknüpft, so dass vor diesem Hintergrund auch die Gewaltförmigkeit von Wissen in den Blick gerät. Weil es „[…]keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“
Um ein Spannungsverhältnis handelt es sich zwischen Wissen und Nicht-Wissen deshalb, weil die Anerkennung des (eigenen) Nicht-Wissens allein einer diversitätssensiblen und herrschaftskritischen theaterpädagogischen Praxis eher nicht zuträglich ist. Aus diskriminierungskritischer Perspektive läuft sie Gefahr zu exotisieren, da sie die „Erkennbarkeit des Anderen in seiner Unerkennbarkeit“
Statt einer bloßen (nur vermeintlich: bescheidenen) Zurücknahme im Sinne eines „Überlassens von Räumen“ geht es für eine professionelle theaterpädagogische Leitung im Kontext von Diversität darum,
- Wissen und Nicht-Wissen als ineinandergreifend zu denken und die hieraus resultierende Verantwortung nicht an Andere zu delegieren,
- aus dem reflexiven Umgang mit dem eigenen Nicht-Wissen Erkenntnisse über die Grenzen des eigenen Wissens zu erlangen,
- ein Wissen über die Eingebundenheiten des eigenen Wissens in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu entwickeln.
Paul Mecheril