Wie kommt (Musik-)Theatermarketing bei Nicht-Besucher*innen an?
Eine Befragung in München
Abstract
Über die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland zählt zu den Nicht-Besucher*innen öffentlich geförderter Theater- und Opernhäuser. Gerade jüngere Menschen haben nachweislich immer weniger Interesse an einem Besuch. Diverse Gründe für ihr Fernbleiben, sogenannte Barrieren, wurden bereits erforscht. Die hier vorgestellte Dissertation überprüft die neuartige These, dass auch das Marketing der Theater (paradoxerweise) eine besuchsverhindernde Barriere sein kann: Wenn es nämlich die jungen Zielgruppen gar nicht erst erreicht oder sie nicht überzeugt und im schlimmsten Fall gar abschreckt. Denn auch heute noch orientiert sich das Marketing öffentlicher Häuser offenbar primär an theaterbegeisterten Stammbesucher*innen, anstatt auf Jüngere ohne klar definierten Theatergeschmack zuzugehen. Die Dissertation verfolgt einen dreistufigen empirischen Ansatz – die nachfolgende Zusammenfassung gibt einen Einblick in die Ergebnisse der dritten und letzten Stufe: eine quantitative Befragung von insbesondere jungen Nicht-Besucher*innen im Großraum München zu ihrer Wahrnehmung und Bewertung von realen Marketing-Beispielen von Theatern. Abschließend leitet die Autorin daraus erfolgversprechende Marketingstrategien für die Gewinnung junger Zielgruppen ab. Für die gesamte Dissertationsschrift: siehe Stainer 2024.
Hintergrund
In Deutschland zählen nur etwa 5 % der Bevölkerung zu den regelmäßigen Besucher*innen öffentlich geförderter Theater- und Opernhäuser. Dagegen sind circa 59 % Nicht-Besucher*innen (Reuband 2015:365). Der typische Theatergänger verfügt über höhere Bildung – dennoch haben gerade jüngere Menschen trotz ihres tendenziell hohen Bildungsniveaus immer weniger Interesse an klassischen Theaterangeboten: Zwischen 1993 und 2014 ist der Anteil regelmäßiger und gelegentlicher Besucher*innen von Theater- und Opernhäusern bei den 14–29-Jährigen um 41 % gesunken (Ebd.:369). Trotzdem kümmerten sich die öffentlichen Häuser lange Zeit nicht darum, diese jungen Besuchersegmente gezielt anzusprechen. Doch angesichts der Konkurrenz durch andere Freizeitangebote und der zunehmenden Überalterung ihres Publikums müssen sie sich immer mehr damit befassen, neue Zielgruppen zu gewinnen. Diese Bemühungen werden unter dem Dachbegriff ‚Audience Development‘ zusammengefasst (deutsch etwa: Besuchergewinnung). Eine Schlüsselkomponente ist dabei das Theatermarketing (Knava 2009:14).
‚Marketing‘ ist der Sammelbegriff für alle absatzorientierten Aktivitäten einer Institution und agiert auf Basis des sogenannten Marketing-Mix, bestehend aus Kommunikation, Preis, Service, Distribution und Produkt. Die öffentlichen Theater standen dem als zu ‚kommerziell‘ empfundenen Marketing, wie es in der freien Wirtschaft schon lange üblich war, bis ins 21. Jahrhundert hinein äußert kritisch gegenüber – und dies, obwohl Theatermarketing nicht nur als vermarktende, sondern auch als vermittelnde Instanz aufgefasst werden kann, die Besucher*innen wie Nicht-Besucher*innen die komplexen Codes der Kunstform (Musik-)Theater näherbringt (Stainer 2024:10). Auch wenn die Notwendigkeit von Theatermarketing zunehmend anerkannt wurde, sind die Folgen der langen Ablehnung bis heute zu beobachten: Es fällt Theatern offenbar nach wie vor schwer, gerade junge Menschen von einem Theaterbesuch zu überzeugen (Mandel 2009:24). Stattdessen richtet sich das Marketing vieler Häuser immer noch primär an ihr Stammpublikum, d.h. gut situierte Theaterliebhaber*innen höheren Alters (Ebd.:23). Zudem kommen die Marketing-Bemühungen um neues Publikum – beispielsweise in Form von attraktiven Ermäßigungsangeboten – oft gar nicht erst in diesen Zielgruppen an, erreichen sie also nicht (Deutscher Bühnenverein 2003:4).
Forschungsleitende Frage
Im Zentrum der quantitativen Befragung steht daher die Frage: Wie kommt die Außenkommunikation der öffentlichen deutschen (Musik-)Theaterhäuser bei den Empfänger*innen an – insbesondere in der hier fokussierten Kernzielgruppe der höher gebildeten Nicht-Besucher*innen im Alter von 18 bis 29 Jahren? Dies beinhaltet einerseits das ‚Ankommen‘ im physischen Sinne, also ob das Marketing die jungen Erwachsenen überhaupt erreicht, und wenn ja, auf welchen Kanälen. Aber auch im übertragenen Sinne soll geklärt werden, wie die Kommunikation ‚ankommt‘, d.h. wie sie wahrgenommen und bewertet wird. Im Fokus der Befragung steht das Marketing der drei öffentlich geförderten Musiktheater-Häuser in München (d.h. Bayerische Staatsoper, Gärtnerplatztheater und Deutsches Theater München), welche als Fallbeispiele aus dem gesamten öffentlichen Theatermarketing in Deutschland dienen; die Studie bezieht sich also insbesondere auf das Marketing im Bereich des Musiktheaters mit seinen Gattungen Musical und Oper (Stainer 2024:32ff.).
Die beiden vorangegangenen empirischen Stufen – nämlich Experteninterviews mit Theatermarketing-Verantwortlichen zu ihren Prozessen, Zielsetzungen und Herausforderungen sowie eine Diskursanalyse von aktuell von Theatern eingesetzten Marketingmitteln wie Social Media-Posts, Newsletter oder Webseiten – schärfen dabei den Blick dafür, welche Aspekte im Fragebogen Beachtung finden sollten (für eine Zusammenfassung der Ergebnisse der ersten beiden Stufen: Stainer 2022) (siehe: Patricia Stainer „Von der Barriere zur Brücke? Teilhabe-fördernde Strategien im (Musik-)Theatermarketing“). ‚Herzstück‘ des Fragebogens sind dabei drei reale Marketing-Beispiele der Münchner Häuser: ein Instagram-Post zum Musical West Side Story (Deutsches Theater), ein Ausschnitt aus dem digitalen Spielplan der Staatsoper und ein Auszug aus der Landing-Page zur Oper Rigoletto inklusive Auflistung der Besetzung, Bilder-Galerie sowie Verweise auf einen Trailer, eine Video-Stückeinführung und einen weiterführenden Blogbeitrag (Gärtnerplatztheater). Diese drei Marketing-Beispiele bewerten die Befragten anhand von sogenannten Likert-Skalen (s.u.).
Stichprobenbeschreibung und Auswertung der Daten
Die Stichprobenziehung erfolgt in einem mehrstufigen Verfahren: Zur besseren Vergleichbarkeit der erhobenen Daten ist das Einzugsgebiet der Befragten geografisch auf den Großraum München beschränkt und umfasst entsprechend Personen ab 18 Jahren, die von ihrem Wohnsitz aus das Münchner Stadtzentrum in maximal eineinhalb Stunden erreichen können. Zudem ist die Stichprobe systematisch auf die Kernzielgruppe konzentriert, d.h. höher gebildete Nicht-Besucher*innen von 18 bis 29 Jahren, die also besonders stark vertreten sein sollen. Als ‚Nicht-Besucher*in‘ gilt, wer seit mindestens zwölf Monaten keine Musiktheater-Aufführung mehr besucht hat – generell und insbesondere in einem der drei Münchner Musiktheater-Häuser; in der Befragung beziehen sich diese zwölf Monate genau auf den Zeitraum des Jahres 2022.
Um zu untersuchen, wie die Kernzielgruppe das Marketing im Verhältnis zu anderen Segmenten wahrnimmt, müssen Vergleichsmöglichkeiten geschaffen werden. Daher werden auch Nicht-Besucher*innen ab 30 Jahren sowie aktive Besucher*innen jeden Alters befragt. Da formal niedrige Bildung eine prävalente Besuchsbarriere darstellt, ist speziell das Bildungsniveau in allen Kern- und Vergleichsgruppen durchgängig höher, um es als potenzielle Hemmnis weitgehend ausschließen zu können; ‚höhere‘ Bildung ist definiert als mindestens Fachhochschulreife bzw. eine abgeschlossene Berufsausbildung. Darüber hinaus ist von entscheidender Bedeutung, ob bei den Befragten ein Grundinteresse an einem Besuch im (Musik-)Theater besteht – denn nur dann kann das Marketing als mögliche besuchsverhindernde Barriere aufgefasst werden, die einen bestehenden Motivationsprozess unterbricht (vgl. Renz 2016) (siehe auch Thomas Renz: „Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen. Der Forschungsstand zur kulturellen Teilhabe in Deutschland").
Trotz aller Bemühungen, zahlreiche und diverse Befragte zu gewinnen und so ein möglichst repräsentatives Sample zu erreichen, lässt die erhobene Stichprobe im Rahmen der durchgeführten Auswertungen keine statistisch signifikanten Ergebnisse zu; sie liefert aber sehr wohl erste Einblicke in die Beziehung zwischen Besuchsfrequenz und Wahrnehmung von Theatermarketing. Entsprechend wird das Antwortverhalten rein deskriptiv, d.h. primär visuell anhand von Streu- und Säulendiagrammen, Boxplots (= Kastengrafiken) und Semantischen Differentialen sowie Mittelwert (= Durchschnitt) und Median (= mittlerer Wert) untersucht. Betrachtet wird in erster Linie die Verteilung der Antworten bezüglich Theatermarketing in Relation zum jeweiligen Besuchsverhalten; dabei gilt zu bedenken, dass immer noch andere Faktoren und Variablen die Antworten der Befragten beeinflussen könnten.
Die Stichprobe umfasst n = 481 Datensätze; alle nachfolgenden Prozentangaben sind auf eine Nachkommastelle gerundet. Das Durchschnittsalter beträgt 36 Jahre (Median: 32 Jahre); 40,0 % der Personen sind 18 bis 29 Jahre alt und zählen damit zu den ‚jungen Erwachsenen‘ – die Stichprobe erscheint entsprechend geeignet, die Sichtweisen speziell von jungen Menschen wiederzugeben. 63,2 % sind weiblich, 35,3 % sind männlich, und 1,2 % geben diverses oder anderes Geschlecht an; Frauen sind also überrepräsentiert. 96,7 % haben mindestens das (Fach-)Abitur oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. 20,3 % der Befragten sind aktuell Student*innen und 4,1 % Doktorand*innen; 67,1 % sind berufstätig und 5,0 % in Rente/pensioniert. 26,0 % verfügen über max. 1.000 Euro netto pro Monat (z.B. aus Berufstätigkeit, Stipendium oder BAföG); 35,1 % haben 1.001 bis 3.000 Euro und 29,1 % mehr als 3.000 Euro netto monatlich.
In Bezug auf im engeren Sinne kulturelle Aktivitäten bestätigen 79,4 % der Befragten ihre Lust auf einen Besuch im Kino, 56,5 % im populären Konzert sowie 46,2 % im klassischen Konzert; 68,6 % können sich speziell einen Besuch im Theater als Freizeitaktivität vorstellen. Zudem antworten 81,1 % auf die Frage, ob sie für 10 Euro mit einer Bekannten in die Oper gehen würden, „Ja, auf jeden Fall“ oder „Eher ja“. Das nötige Grundinteresse an gemeinschaftlichen und insbesondere kulturellen Aktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände ist in der Stichprobe also breit vertreten – auch bezüglich Theater und Oper. Trotzdem geben 63,3 % der Befragten an, 2022 nicht im Musical gewesen zu sein, und 70,0 % waren nicht in der Oper.
Die Stichprobe verfügt insgesamt über einen sehr hohen Bildungsgrad sowie tendenziell ausreichende finanzielle Mittel; Bildung und ‚Einkommen‘ (im weiteren Sinne) stellen also durchgehend eher keine Barriere dar. Gleichzeitig zählt die Mehrheit der Teilnehmer*innen nicht zum aktiven Musiktheater-Publikum, weshalb diese Befragung zu Recht als ‚Nicht-Besucher-Studie‘ einzustufen ist. Die Stichprobe besteht zu einem großen Teil aus Personen, die an sich gut ‚geeignet‘ wären, aktive Besucher*innen im Musiktheater zu sein – es aber nicht sind; gerade bei ihnen besteht ein realistisches Potenzial, sie durch effektives Marketing zu gewinnen (vgl. Reuband 2012:35).
Zentrale Ergebnisse
Wie also nehmen die Nicht-Besucher*innen das Marketing der Musiktheater-Häuser wahr? Sämtliche der analysierten Zusammenhänge folgen – teils stärker, teils schwächer, aber durchweg – einem klaren Trend: Nicht-Besucher*innen werden deutlich weniger von Theatermarketing erreicht und bewerten die Marketing-Beispiele auf den 7-Punkte-Likert-Skalen durchweg negativer im Vergleich zu aktiven Besucher*innen (Bewertungsskala von 1 = „stimme gar nicht zu“ bis 7 = „stimme voll zu“; 4 = neutral). Insbesondere fühlen sich Nicht-Besucher*innen von den Marketing-Beispielen eher nicht persönlich angesprochen und oft nicht zum Besuch ermuntert. So stimmen Nicht-Besucher*innen beispielsweise im Schnitt mit 3,4 (Median: 3) eher nicht zu, dass der beispielhafte Instagram-Post „Lust darauf macht, in West Side Story zu gehen“ (Zitat: Ausschnitt aus Frageformulierung im Fragebogen, leicht umformuliert); hingegen stimmen Besucher*innen mit 4,2 (Median: 5) eher zu.
Des Weiteren vermissen die Nicht-Besucher*innen offenbar häufig Informationen, die für ihre Entscheidung für eine konkrete Produktion relevant wären. Entsprechend stimmen Nicht-Besucher*innen mit durchschnittlich 5,1 (Median: 6) klar folgendem Item zu: „Hinweise wie ‚Für Opern-Neulinge besonders geeignet‘ oder ‚Empfehlung für Opern-Kenner‘ fände ich nützlich.“ – aber selbst aktive Besucher*innen befürworten derartige Zielgruppen-Labels tendenziell. Gleichzeitig sind digitale Formate mit Fokus auf Vermittlung in ihren aktuell typischen Formen offenbar nicht zwangsläufig eine Hilfestellung bei der Stückauswahl. Beispielweise werden Stückeinführungen in Videoform von ‚mittlerer‘ Länge (im Beispiel knapp acht Minuten lang) von Nicht-Besucher*innen eher nicht genutzt (Zustimmung von 3,5 mit Median: 3). Ein Interview im Theaterblog mit dem Regisseur zu seinem Inszenierungskonzept ist noch einmal deutlich uninteressanter für sie (Zustimmung von 2,6 mit Median: 2). Sehr kurze Trailer (im Beispiel 22 Sekunden lang) konsumieren sie dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit (Zustimmung von 5,5 mit Median: 6). Der Aussage „Ein Video mit dem Titel ‚Das Wichtigste zu Rigoletto in 1 Minute‘ fände ich eine gute Ergänzung.“ stimmen Nicht-Besucher*innen mit 5,1 (Median: 6) entsprechend klar zu.
Bei der Frage, ob die konkrete Besetzung einer Produktion wichtig für die eigene Entscheidung für oder gegen einen Besuch ist, stimmen Nicht-Besucher*innen mit durchschnittlich 2,7 (Median: 2) klar nicht zu. Besucher*innen stimmen mit 3,8 (Median: 4) zwar deutlich stärker zu – aber absolut gesehen auch nur neutral. Selbst für sehr aktive Besucher*innen haben die beteiligten Darsteller*innen teils lediglich geringe Relevanz – jedoch nimmt gerade die Auflistung der Besetzung in vielen Marketingmitteln von öffentlichen Theatern prominenten Platz ein, wie die vorangegangene Diskursanalyse zeigt (vgl. Stainer 2022). Insgesamt erscheinen die aktuell im Theatermarketing gegebenen Informationen also tendenziell ungeeignet, um insbesondere Nicht-Besucher*innen von einem Besuch zu überzeugen – und als nachweislich hilfreich eingestufte Hinweise fehlen dagegen.
Des Weiteren haben Nicht-Besucher*innen ein deutlich negativeres Image von einem Besuch im Musiktheater, vor allem in der Oper, als aktive Besucher*innen (s. Abbildung 1). Beispielsweise bewerten sie einen Besuch klar als steif, ungesellig und insbesondere teuer – die Befragung zeigt an anderer Stelle aber auch, dass den Nicht-Besucher*innen oft nicht bewusst ist, dass öffentliche Häuser durchweg auch günstige Preiskategorien für Opernvorstellungen anbieten.
Dagegen fällt die Bewertung eines potenziellen Besuchs im Musical insgesamt merklich positiver aus – insbesondere bei Nicht-Besucher*innen. Lediglich den Preis von Musicals bewerten Besucher*innen wie Nicht-Besucher*innen sogar als noch höher als in der Oper. Womöglich nähren bekannte Großproduktionen privater Anbieter wie Der König der Löwen das Vorurteil, Musical sei grundsätzlich eine teure Gattung, obwohl öffentliche Häuser durchaus auch günstige Musicaltickets anbieten; dieser Umstand scheint im allgemeinen Bewusstsein jedoch nicht präsent zu sein, analog zur Oper (s.o.).
Aktive Opernbesucher*innen sind bereit, mehr Geld für ein Opernticket auszugeben als Nicht-Besucher*innen, nämlich im Schnitt 73,63 Euro (Median: 60 Euro). Aber auch Nicht-Besucher*innen der Gattung Oper scheinen grundsätzlich willens, überraschend viel Geld für eine Karte auszugeben (Mittelwert = 54,70 Euro; Median = 49 Euro; Maximum = 201 Euro). Teils mögen diese relativ hohen Werte über soziale Erwünschtheit sowie die Annahme, Oper sei nun einmal sehr teuer (s.o.), zu erklären sein. Zur Ergründung erscheinen hier aber weitere, insbesondere qualitative Erhebungen wünschenswert, um zu erörtern, wie man Nicht-Besucher*innen dazu bewegen könnte, ihre hypothetische Preisbereitschaft (häufiger) zu realisieren.
Auch bei der Frage, inwieweit die Befragten überhaupt von Theatermarketing erreicht werden, zeigt sich ein Zusammenhang mit dem Besuchsverhalten: Beispielsweise stimmen Nicht-Besucher*innen mit 3,1 (Median: 3) eher nicht und deutlich weniger als Besucher*innen (4,4 und Median: 5) zu, „im Alltag häufig Werbung für Theater“ wahrzunehmen (Zitat aus Fragebogen). Fragt man weiter (mittels Auswahl aus einer gegebenen Liste), über welche Kanäle die Proband*innen „vom Angebot der Theater an ihrem Wohnort“ erfahren (Zitat aus Fragebogen), so zeigt sich: Nicht-Besucher*innen erfahren insbesondere über Plakate (= zu 72,4 % erreicht) vom Theaterprogramm vor Ort – fast genauso stark wie Besucher*innen (76,5 %). Bei anderen Medien sind dagegen merkliche Diskrepanzen zu beobachten: So werden Nicht-Besucher*innen nur zu 28,3 % über Online-Werbung wie Anzeigen auf Google oder Instagram erreicht, Besucher*innen dagegen zu 38,3 %. Über organische (d.h. nicht bezahlte) Social Media-Posts erfahren Nicht-Besucher*innen nur zu 31,7 % vom Theaterangebot, versus 53,0 % bei den Besucher*innen. Flyer von Theatern erreichen Nicht-Besucher*innen zu 23,4 % – Besucher*innen hingegen zu 35,6 %.
Insgesamt erfahren fast alle Besucher*innen (= zu 96,0 % erreicht), aber selbst 84,8 % der Nicht-Besucher*innen auf mindestens einem Kanal vom Theaterangebot vor Ort; auch Nicht-Besucher*innen werden also zum Großteil vom Marketing der Theater erreicht – aber offenbar nicht effektiv von einem Besuch überzeugt. Eine alternative Betrachtungsweise: Vergleicht man die Altersgruppen U30 (= bis einschließlich 29 Jahre) versus Ü30 unabhängig vom Besuchsverhalten, so zeigen sich – wohl vor allem aufgrund unterschiedlichen Mediennutzungsverhaltens – ebenfalls Unterschiede. Demnach wird U30 deutlich seltener von Print-Werbung erreicht als Ü30 (18,2 % versus 31,1 %). Online-Werbung erreicht U30 dagegen eher als Ü30 (36,4 % versus 30,6 %). Über organisches Social Media bekommen U30 deutlich eher vom Theaterprogramm mit als Ü30 (51,5 % versus 38,3 %).
Strategien für Ansprache und Erreichen junger Nicht-Besucher*innen
Ziel der Befragung war auch, Handlungsempfehlungen für die Kommunikationsabteilungen öffentlicher Theater zu überprüfen, die im Vorfeld der Befragung erarbeitet worden waren, nämlich anhand von Bezugstheorien aus den Kommunikations-, Marketing- und Sprachwissenschaften, anhand ausgewählter Ansätze aus der Kulturvermittlung sowie anhand der ersten beiden empirischen Stufen (= Experteninterviews und Diskursanalyse, s.o.). Tatsächlich hat die Befragung viele der propagierten Strategien für Ansprache und Erreichen junger Nicht-Besucher*innen bestätigt; einige davon seien nachfolgend kurz vorgestellt.
Um jüngere und weniger (musik-)theateraffine Personen mittels Marketing zu erreichen, eignen sich demzufolge in erster Linie digitale Kanäle wie Social Media (v.a. Instagram und TikTok), Online-Werbung, Streamingdienste, Musik-Plattformen sowie insbesondere YouTube. Dies sind jedoch Möglichkeiten, welche die Marketingabteilungen der öffentlichen Theater (den Experteninterviews zufolge) aktuell eher untergeordnet nutzen – d.h. sie bespielen diese Kanäle nicht/nur unregelmäßig sowie in aller Regel mit bereits anderweitig existierenden und daher nicht optimal auf die einzelnen Plattformen abgestimmten Inhalten. Die Potenziale dieser Kanäle voll auszuschöpfen würde die Theater entsprechend vor die Herausforderung stellen, dafür spezifische Formate professionell zu produzieren (vgl. Stainer 2024:263). Für junge Zielgruppen ungeeignet erscheinen dagegen Printmedien, Fernsehen, Radio und auch Facebook. Diese Ergebnisse dürfen im Vergleich zu umfassenden Mediennutzungsstudien als plausibel gelten (z.B. ARD/ZDF-Forschungskommission 2020). Insbesondere Plakate werden auch von Nicht-Besucher*innen stark wahrgenommen, was ihre nach wie vor hohe Relevanz zur Präsenzbildung unterstreicht.
Entsprechend sollten die Theater auch ‚knappe‘ Marketingmittel wie Plakate, (Online-)Anzeigen oder Social Media-Posts gezielt nutzen, um die Aufmerksamkeit von Nicht-Besucher*innen zu wecken und sie möglichst effektiv zum Einholen weiterer Informationen zu motivieren. Um dies zu erreichen, erscheint es effektiv, in diesen Mitteln nicht nur produkt-inhärente Aspekte wie Stücktitel, Besetzung oder Regisseur*in zu kommunizieren, sondern einen Besuch offensiv und prägnant mit für die Adressat*innen relevanten Nutzen zu verknüpfen – beispielsweise mögliche Bereicherungen ästhetischer oder sozialer Natur, oder Bedürfnisse und Wünsche, die ein Theaterbesuch potenziell befriedigen könnte, z.B. nach Unterhaltung, Live-Erlebnissen oder dem Erleben von Emotionen.
Zu den bestätigten Strategien für die Ansprache insbesondere junger Nicht-Besucher*innen im Marketing zählen: Es erscheint zielführend, aktivierend und interaktiv zu kommunizieren – den Empfänger*innen also Möglichkeiten zu bieten, sich aktiv zu beteiligen oder selbst zu Wort zu kommen, z.B. in Form von Testimonials; dies würde die junge Zielgruppe auch ‚sichtbarer‘ in der Kommunikation machen und ihre Zugehörigkeit zum Theaterpublikum ‚normalisieren‘ (Stainer 2024:290). Ebenfalls zentral wäre ein durchgängiges Bekenntnis zu verständlicher und zugänglicher Sprache ohne Fachbegriffe und Insider-Referenzen (beispielsweise auf andere Inszenierungen eines Regisseurs). Weiterhin sind bei Nicht-Besucher*innen offenbar immer noch gängige Vorurteile vor allem gegenüber der Oper prävalent. Es erscheint daher wichtig, diesen Image-Barrieren gezielt in der Außenkommunikation zu begegnen; dazu zählt insbesondere, ein Bewusstsein für günstige Preiskategorien an öffentlichen Häusern zu schaffen. Zudem gilt es, über aktives Branding zu vermitteln, dass gerade Oper nicht zwangsläufig steif und exklusiv sein muss, sondern dass auch weniger affine Personen ins Publikum ‚passen‘ – ohne dabei das bestehende Publikum zu ‚verprellen‘, was durchaus herausfordernd ist, aber gelingen kann (vgl. Stainer 2024:118f., 167f.).
Erfolgsversprechend erscheinen zudem explizite Orientierungs- und Entscheidungshilfen wie Labels – vor allem in Bezug auf mögliche Zielgruppen, die Gefallen an den jeweiligen Produkten finden könnten. Jedoch würden solche Labels die Theater vor die Schwierigkeit stellen, implizit auch Zielgruppen auszuschließen – was ihrem aktuellen Auftrag widerspricht, ‚alle‘ Menschen in der Bevölkerung anzusprechen (vgl. Stainer 2022). Weiterhin zielführend erscheinen proaktiv kommunizierte ‚harte Fakten‘ zu einer Produktion (z.B. klare Angaben zu Ticketpreisen, Dauer und dem Vorhandensein von Pausen) sowie prägnante Formate (z.B. sehr knappe Zusammenfassung der Handlung); dabei müsste unbedingt an der Bezeichnung des entsprechenden Formats (z.B. über den Videotitel oder eine Überschrift) direkt erkennbar sein, dass es sich eben um eine kurze Zusammenfassung der zentralen Aspekte handelt. Gerade diese drei Punkte – Orientierungshilfen, harte Fakten und Kurzformate – sind im Marketing öffentlicher Häuser aktuell aber oft nicht enthalten (Stainer 2024:280f.).
Des Weiteren erscheint es empfehlenswert, die Relevanz der Marketing-Botschaften für Nicht-Besucher*innen zu erhöhen, z.B. über klare Bezüge zu ihrer Lebenswelt oder über die Darstellung des gesamten Besuchserlebnisses, anstatt lediglich die Besetzung und Produktion (an der oft kein spezifisches Interesse besteht) in den Vordergrund zu stellen. Dafür müsste aber – anders als aktuell durch die Bank im öffentlichen (Musik-)Theatermarketing üblich – das künstlerische Produkt stark in den Hintergrund treten, was die Häuser mit ihrem Selbstverständnis vereinbaren müssten. Gleichzeitig bestünde die Gefahr, das Produkt im Marketing so ‚verfälscht‘ zu verkaufen, dass es zwar Nicht-Besucher*innen vom Ticketkauf überzeugt – das reale Besuchserlebnis dann aber nicht den ‚Versprechungen‘ gerecht wird. Über eine explizite, greifbare und ‚ehrliche‘ Einordnung ihrer Angebote könnten Theater hingegen ihr Erwartungsmanagement verbessern, indem das Marketing ein ‚Versprechen‘ gibt, das beim Besuch tatsächlich eingelöst werden kann.
Zum Abschluss einige Worte zur methodischen Metaebene: Die Methode der quantitativen Befragung bietet offensichtlich großes Potenzial, um auf strukturierte Weise tiefere Einblicke in die Verhaltens- und Denkmuster von (Nicht-)Besucher*innen zu erhalten. Jedoch hat die durchgeführte Umfrage handfest demonstriert, wie anspruchsvoll Konzeption, Erhebung und Auswertung einer (zumindest halbwegs repräsentativen) quantitativen (Nicht-)Besucherstudie tatsächlich ist – vor allem, da die Zielgruppe der Nicht-Besucher*innen grundsätzlich schwer ‚zu fassen‘ ist, weil sie sich ja über eine Nicht-Aktivität definiert.
Daher erscheinen insbesondere auch Hilfestellungen für öffentliche Theater bei derartigen Unterfangen wünschenswert, damit diese öfter und strukturierter durchgeführt werden können; Unterstützung könnten beispielsweise Universitäten und Hochschulen (z.B. über Kooperationen für Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten) sowie (Kultur-)Beratungsfirmen leisten. Ebenfalls denkbar wäre Unterstützung vonseiten der Kulturverwaltung, z.B. in Form von entsprechenden Ausschreibungen. Zusammenschlüsse mehrerer Kultureinrichtungen erscheinen in diesen Bestrebungen besonders zielführend (vgl. Allmanritter 2019:35). Ein relativ einfacher Schritt wäre auch ein deutlich verstärkter Austausch von Wissen, Erfahrungen (z.B. zu neuen digitalen Formaten) und Studienergebnissen zwischen den Häusern – denn aktuell nutzt der Großteil der Theater durchgeführte Besucherstudien lediglich hausintern und veröffentlicht die Ergebnisse nicht (Föhl & Lutz 2011:85f.).
In der hier vorgestellten Befragung war der Anteil an vollständig ausgefüllten Fragebogen mit 87,1 % relativ hoch. Die Konzeption der Umfrage insgesamt sowie das Fragebogen-Design im Besonderen erscheinen also prinzipiell gut geeignet, um speziell auch jüngere und weniger theateraffine Personen erfolgreich zur Teilnahme zu gewinnen und bis zum Ende ‚bei der Stange‘ zu halten. Die Bemühung, den Fragebogen so kurz wie möglich zu halten, und ihn dabei mit Erläuterungen zu Begriffen (auch so grundlegender wie ‚Oper‘ und ‚Musical‘), weiterhin mit anschaulichen Marketing-Beispielen sowie mit abwechslungsreichen Fragetypen zu gestalten, erscheint also als fruchtbares Konzept für künftige Studien; dies bestätigen auch diverse positive Rückmeldungen während Pretest und Befragung.
Reflexion und Fazit
Alles schön und gut, könnte man nun sagen – aber es liegt doch nahe, dass Menschen, die eine persönliche Nähe zum Musiktheater verspüren und aktive Besucher*innen sind, auch Marketingmittel zu diesem Thema grundsätzlich positiver bewerten und eher davon erreicht werden als die, die damit wenig ‚am Hut‘ haben. Ein berechtigter Einwand – jedoch sind die Nicht-Besucher*innen in der Stichprobe durchweg sehr hoch gebildet und tendenziell wohlhabend. Weiterhin haben sie breites Interesse an (kulturellen) Aktivitäten wie Kino, Konzert und auch (Musik-)Theater sowie in aller Regel vergangene Besuchserfahrung in Oper und Musical: 90,5 % der befragten Nicht-Besucher*innen geben an, vor 2022 mindestens einmal im Leben im Musical gewesen zu sein, und 82,4 % in der Oper; man könnte also auch von ‚Nicht-Mehr-Besucher*innen‘ sprechen (s.u.). Viele der ‚typischen‘ Barrieren können bei ihnen also weitgehend ausgeschlossen werden. Dass sie das Marketing trotzdem negativer bewerten, deutet darauf hin, dass speziell das Marketing aktuell nicht optimal geeignet ist, um diese eigentlich ‚prädestinierte‘ Zielgruppe zu überzeugen. Es scheint also beim Theatermarketing durchaus noch Verbesserungsbedarf zu bestehen, wenn man neue – gerade jüngere, diversere und weniger (musik-)theateraffine – Segmente gewinnen möchte. Die Ergebnisse der dreistufigen empirischen Studie deuten entsprechend geschlossen darauf hin, dass das öffentliche Theatermarketing in Deutschland derzeit tatsächlich eine besuchsverhindernde Barriere sein kann, insbesondere für jüngere Nicht-Besucher*innen (Stainer 2024:344).
Trotzdem ist Marketing kein Wundermittel, das alle Probleme der öffentlichen Theaterlandschaft in Deutschland zu lösen vermag. Dafür müssten sich die Theater insgesamt noch viel intensiver mit ihrem (Nicht-)Publikum auseinandersetzen, dessen Vorlieben wirklich ernstnehmen und den Menschen Erfahrungen bieten, die diese tatsächlich wollen (Stainer 2024:202f.; Renz 2016). Denn (in der Vergangenheit) erfolgte Theaterbesuche tragen bei den Nicht-Besucher*innen nicht unbedingt dazu bei, ihr Image von (Musik-)Theater zu verbessern – insbesondere, wenn die dargebotene (Musik-)Theaterkunst die ‚Neulinge‘ langweilt, verwirrt oder abschreckt. Ein bloßes ‚Über die Theaterschwelle-Bringen‘ hat also nicht unbedingt positive, sondern gegebenenfalls sogar negative Effekte, wenn die Erwartungen nicht adäquat durch Marketing gelenkt und dann zwangsläufig enttäuscht werden – z.B. wenn die besuchsunerfahrenen Gäste nicht darauf vorbereitet wurden, die ‚moderne‘ Interpretation eines Klassikers zu erwarten (Stainer 2024:214).
Statt des (vor allem in Deutschland) üblichen Produkt-geleiteten Ansatzes im Bestreben um neues Publikum, welcher das Kunstprodukt unverändert belässt und nur dessen Präsentation anpasst, erscheinen mehr Zielgruppen-geleitete Ansätze unerlässlich. Dies stellt jedoch eine gewaltige Herausforderung für Kulturinstitutionen dar, weil es unweigerlich eine umfassende Überprüfung ihrer Kernprodukte mit sich bringen würde – was die Einrichtungen bislang strikt ablehnen, unter Berufung auf die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit (Kawashima 2006:55). Dies ist problematisch, da letztlich die Theaterprodukte selbst entscheidend für den Erfolg in der Besuchergewinnung sind.
Die Ergebnisse der hier vorgestellten Dissertation legen nahe, dass gerade im Marketing signifikante Potenziale für realistisch erreichbare Erfolge anzunehmen sind; dabei liegt das Marketing im Gegensatz zu vielen anderen Aspekten weitgehend im Einflussbereich der Häuser und könnte entsprechend genutzt werden. Auch wenn man die ‚Einmischung‘ der Marketingabteilungen in die künstlerischen Produkte ablehnt, könnte man die verbleibenden vier Komponenten im Marketing-Mix – nämlich Kommunikation, Preis, Service und Distribution – noch stärker an den Bedürfnissen des breiten Publikums ausrichten; erfolgsversprechende Strategien dafür wurden oben vorgestellt. Alles in allem kann Theatermarketing wohl vor allem bei den – je in großer Zahl vorhandenen – Nicht-Mehr-Besucher*innen sowie Gelegenheitsbesucher*innen erfolgreich sein, die (Musik-)Theater zwar schon länger nicht mehr besucht haben bzw. nur sporadisch besuchen, der Kunstform aber grundsätzlich positiv gegenüberstehen und daher auch für entsprechende Marketing-Botschaften empfänglich sind (Stainer 2024:342). Bei effektiver Gestaltung des Marketings kann es gelingen, diese Zielgruppen (wieder) zu gewinnen.