Interaktive Künste in postdigitalen Zeiten
Abstract
Gerade noch schien der Prozess der Digitalisierung zu beginnen und schon sind wir unmerklich mitten drin, bereits in einer Phase des Danach. Auch die computergestützten Interaktionskünste blicken längst auf eine eigene Geschichte. Der Beitrag geht Fragen nach, die innerhalb des Forschungsprojektes „PKKB: Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung“ der FH Potsdam aufkamen. Befragt wird das Interaktionspotential Postdigitaler Künste zuletzt im Hinblick auf ihre soziale Interdependenz. Wenn es im Theater die Kopräsenz aller Beteiligten und die autopoietische Feedbackschleife ist, die die Aufführung hervorbringt, wenn selbst im Museum Kommunikation forciert wird und Ausstellungen zunehmend Aufführungscharakter bekommen, wäre zu fragen, wie die Feedbackschleife als sozial bedingtes Verhalten auch im Internet – etwa in einer Online-Ausstellung – erfahrbar und einem Vermittlungsanliegen zuträglich werden kann. Also dort, wo sich Akteure und Akteurinnen nicht direkt leiblich, sondern durch ein Medium aufeinander beziehen.
Nach dem digitalen Wandel
Digitale Medien sind aus dem gesellschaftlichen Alltag nicht mehr wegzudenken; sie sind in einer Weise allgegenwärtig, dass sie eher durch Abwesenheit (z.B. durch Internetausfall) manifest werden. Nicholas Negroponte, Mitbegründer des MIT Media Lab, blickt schon früh in die Zukunft des digitalen Wandels: „Like air and drinking water, being digital will be noticed only by its absence, not its presence. […] Computers will be a sweeping yet invisible part of our everyday lives: We'll live in them, wear them, even eat them.” (Negroponte 1998:o.S.) Die ehedem euphorisch begrüßte digitale Revolution zeigt derweil nicht nur ihre ,smarte’ Seite (man denke an das Internet of Things), sondern auch (mit Blick auf Big Data, künstliche Intelligenz, den Ressourcenverbrauch des Internets) ihre dunkle. Mixed Reality greift in das Leben der Menschen ein, verändert den Wirklichkeitssinn und das Raumempfinden. Virtual Reality nutzt die Vertrautheit physischer Umgebungen und erweitert die empirische Welt um eine virtuelle Dimension; Augmented Reality hingegen verwendet digitale Technologien, um die physische Umwelt mit virtuellen Informationen anzureichern. Die Koexistenz zwischen physischen und virtuellen Welten ist auf dem Vormarsch. Mit Pokémon Go, bei dem SpielerInnen im öffentlichen Raum nach Monstern suchen, kann das Softwareunternehmen Niantic im August 2019, nach nur drei Jahren, mit über einer Milliarden Downloads aufwarten. Eine Abgrenzung des Digitalen gegenüber dem, was für gewöhnlich ,real’ genannt wird, ist vor diesem Hintergrund nicht zu halten; ein solches Bemühen deutet eher auf ein sprachliches Unvermögen, digitale Erfahrungsräume nicht anders beschreiben zu können, als in Opposition zu einem vermeintlich Realen. Ein Spiel wie Pokémon Go zeigt indessen, dass die digitalen Technologien Wirkkräfte zeitigen, die normative Kraft haben und reale Veränderungen einleiten.
Digitale Medien sind längst nicht mehr als neu anzusehen. Der Wandel ist im Eiltempo längst vollzogen und die Menschen scheinen ihm bisweilen hinterher zu hinken. „,Postdigital’ refers to a state in which the disruption brought upon by digital information technology has already occurred,” so Florian Cramer, Dozent für Visuelle Kultur in Rotterdam. „[It] describes a perspective on digital information technology which no longer focuses on technical innovation or improvement, but instead rejects the kind of techno-positivist innovation narratives exemplified by media” (Cramer 2015:20). Wo es zuvor, besonders in der Netzkunst, um die experimentelle Erkundung und Auslotung des digitalen Feldes ging, geht es heute eher um kritische Positionen, vielfach auch um eine Rückbindung an die physische Welt und das Ineinander beider Wirklichkeiten. Selbst im Theater spielen digitale Technologien eine immer größere Rolle. Man denke nur an die schon historisch gewordenen Inszenierungen an der Berliner Volksbühne – z.B. das Stück Der Idiot (2002) von Frank Castorf, in dem das Publikum inmitten des Bühnenbildes sitzt und die Aufführung zum Teil nur über Monitore verfolgen kann, die die nicht einsehbaren Szenen in der verwinkelten „Neustadt“ simultan übertragen. Der Unterschied zwischen analog und digital taugt womöglich noch als Referenz, ist aber selbst im Theater immer weniger bedeutungstragend.
Den Umgang mit digitalen Medien im Hinblick auf Bildungsprozesse in Augenschein zu nehmen, lässt neben der Frage nach dem Subjekt und dessen Reflexionsvermögen, so der Erziehungswissenschaftler Benjamin Jörissen, vor allem die Frage nach den Potenzialen digitaler Kunst, nach der Teilhabe an ihren Artikulationsformen vordringlich werden (siehe: Benjamin Jörissen „Subjektivation und ,ästhetische Freiheit’ in der post-digitalen Kultur"). Der Blick auf das digitale Kunstfeld zeigt indessen, dass Teilhabe und Interaktion nicht nur vorangetrieben wird, sondern oftmals sogar Voraussetzung für die künstlerische Produktion ist. Die Rückkopplungseffekte und Interaktionsanreize der digitalen Medien haben aus ehedem passiven MedienkonsumentInnen, man denke an Radio oder Fernsehen, längst kommunikationsfreudige Akteure gemacht – wozu nicht nur die Ortsunabhängigkeit und Niedrigschwelligkeit, sondern im Besonderen auch die gigantischen Netzwerke der Social Media beigetragen haben. Das partizipatorische Anliegen in den Künsten ist nicht neu, es hat mit dem Aufkommen der Mensch-Maschine-Interaktion allerdings einen gewaltigen Schub erfahren und rückt unter postdigitalen Bedingungen in ein neues Licht. Die Hoffnung auf Emanzipation durch die vormals noch ,neuen’ Medien ist einer allgemeinen Desillusionierung gewichen, die in den Künsten nicht nur Kritik provoziert, sondern auch neue Darstellungs- und Vermittlungsformen hervorgebracht hat. „Vor diesem Hintergrund erlauben Kunstpraktiken, die mit digitalen Methoden generiert, aber nicht notwendigerweise digital vermittelt werden, in besonderem Maße Prozesse der Digitalisierung kritisch zu reflektieren und so die Beziehungen zwischen digitalen und physischen Räumen nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern aktiv mitzugestalten.“ (Ackermann/Dörk/Seitz 2019:183)
Der Blick auf verschiedene Partizipationsmodi in den Künsten, speziell im Theater (siehe: Hanne Seitz „Modi der Partizipation im Theater") wird im Folgenden um das digitale Kunstfeld erweitert. Zunächst wird dem Aufkommen interaktiver Verfahren in den elektronischen und computergestützten Künsten in der Mitte des 20. Jahrhunderts nachgegangen, um sodann zu fragen, um welche Art Handlung und Interaktion es sich im postdigitalen Kunstschaffen überhaupt handelt. Wenn im Theater die kopräsente Interaktion aller Beteiligten die Aufführung überhaupt erst hervorbringt, im Museum unter bestimmten Bedingungen selbst die Ausstellung zu einer Aufführung werden kann, wäre am Ende zu untersuchen, wie sozialer Austausch und Interaktion – beispielsweise in einer Online-Ausstellung – in Gang kommen, erfahrbar und einem Vermittlungsanliegen zuträglich werden kann.
Interaktion in den Medienkünsten
Wenn auch Partizipation und Interaktion zumeist synonym gebraucht werden, so ist der Begriff Interaktivität in der Kunst anfangs mit den Möglichkeiten computergestützter, generativer Verfahren und damit zunächst mit der Medienkunst verbunden. Partizipation wird „auf ein Verhältnis zwischen einem Beobachter und einem bereits bestehenden unabgeschlossenen Kunstwerk angewendet, während der Begriff Interaktion die mögliche Zwei-Weg-Wechselwirkung zwischen einem Menschen und einem System der künstlichen Intelligenz impliziert“ (Popper 1991:258).
Nam June Paik gilt als Pionier der Medienkunst. In seiner mehrräumigen Installation Exposition of Music. Electronic TV und Participation TV (1963) hat der Komponist und Fluxus-Künstler Interaktivität wohl erstmals mit elektronischer Kunst zusammengebracht. BesucherInnen sprechen in ein Mikrophon und sehen die mit einem Tonfrequenzverstärker amplifizierten akustischen Signale ihrer Stimme als flimmernde Wellen auf einem TV-Bildschirm. In anderen Räumen sehen sie sich inmitten einer dadaistischen Ansammlung von Schallplattenspielern, Tonbandgeräten und präparierten Klavieren und sind aufgefordert, damit zu spielen. Die Tasten bringen allerdings nicht die erwarteten Töne zu Gehör, sondern schalten Transistorradios oder Filmprojektoren ein, gar das gesamte Raumlicht aus.
In einem solchen experimentellen Umfeld hat der Künstler und Kybernetiker Roy Ascott Mitte der 1960er Jahre seine kybernetische Vision entworfen und statt Visual Art den Begriff „Behavioral Art“ vorgeschlagen – eine Kunst, die sich ganz wörtlich übersetzt ,verhalten’, also kommunizieren und interagieren kann: „Wir suchen nach Bildsynthese, Klangsynthese, Textsynthese. Wir möchten menschliche und künstliche Bewegung einbeziehen, Umweltdynamik, Transformation des Ambientes, all das in ein nahtloses Ganzes. […] Nachdem Wechselseitigkeit und Interaktion die Essenz darstellen, kann ein solches Werk nicht zwischen ,Künstler’ und ,Betrachter’ unterscheiden, zwischen Produzenten und Konsumenten.“ (Ascott 1989:o.S.)
Mit dem Aufkommen des Computers richtet sich das Interesse zunehmend auf automatische, selbstgenerierende Prozesse, auf das, was eine einmal programmierte Maschine in der Folge ohne Zutun des Menschen und ohne soziales Miteinander leisten kann. Es geht um Zufallsproduktionen, aleatorische Verfahren, wie sie John Cage beispielsweise mit dem chinesischen Orakel I-Ging auch in die Musik eingeführt hat, um damit, etwa in seinem Klavierstück Musik of Changes (1951), die Entscheidungen über die Reihung oder Wiederholung bestimmter Tonfolgen einem externen System zu überlassen. Philip Galanter, Künstler und Professor an der Texas A&M University, formuliert es so: „Generative art refers to any art practice where the artist uses a system, such as a set of natural language rules, a computer program, a machine, or other procedural invention, which is set into motion with some degree of autonomy contributing to or resulting in a completed work of art.” (Galanter 2003:o.S.)
Der technologische Fortschritt in den elektronischen Medien hat die Interaktionsmöglichkeit schließlich um medial erweiterte Realitäten bereichert und dazu geführt, dass zunehmend auch BesucherInnen direkt und unmittelbar einbezogen werden. In Closed-Circuit-Video-Installationen wie Time Delay Room (1974) von Dan Graham stehen BetrachterInnen in Echtzeit ihrem eigenen Abbild gegenüber und erleben die Synchroniziät ihrer Anwesenheit in einer medial vermittelten Feedbackschleife. Die Aktionen, Bewegungen, Verortungen werden maschinell berechnet und im Modus des Sichtbaren oder Hörbaren rückgekoppelt. Die Feedbackschleife, wie noch zu erörtern ist, ist somit ein Grundprinzip interaktiver Kunst – nicht nur in den digitalen, sondern auch in den analogen Künsten.
Mit dem Internet, dessen Suchmaschinen Zugriff auf alle möglichen Informationen erlauben, ist es möglich geworden, generative Verfahren einem breiten Publikum zur Verfügung zu stellen. Die UserInnen bedienen sich eines Programms, dessen Genese, Entfaltung und Umsetzung allerdings undurchschaubar bleibt und, wenn überhaupt, so nur mit profunden Programmierkenntnissen verändert werden kann. Die Partizipation ist beschränkt auf die Teilnahme an einem im Prinzip endlosen Spiel, dessen Steuerung einem Zufallsgenerator überlassen ist, der im Wahrscheinlichkeitsrahmen eines Codes bzw. Algorithmus im Prinzip unendlich viele Bilder generiert. Natürlich ereignen sich auch die Zufallsoperationen in physischen Interaktionen innerhalb eines vorgegebenen Wahrscheinlichkeitsrahmens – wie er etwa durch die Regel in der Improvisationsmusik oder den Score im freien Tanz vorgeben ist. Während im Digitalen die Abweichung vom Regelwerk jedoch meist mit Programmabsturz und ERROR quittiert wird, stellt dies im Tanz die eigentliche Herausforderung dar: Nämlich eine kreative Lösung zu finden für eine unmöglich zu erfüllende Aufgabe: z.B. eine Regel zu befolgen, die die Zufallsoperation generiert hat und auffordert, gleichzeitig zu stampfen und zu springen. Das Imperfekte wird hier gerade als Teil der Kunst angesehen.
Die Mensch-Maschine-Interaktion hat sich indessen beschleunigt und umfassende, nicht durchschaubare Netzwerkstrukturen hervorgebracht. Das Internet wird weniger als Informationsspeicher und -verteiler angesehen, sondern als ein mit dem Leben verflochtener Sozial- und Kommunikationsraum. Jenes „Gesamtdatenwerk“, von dem Ascott träumte, es könne Unsichtbares gänzlich sichtbar machen, ist zum Albtraum geworden. Es entpuppt sich als totalitäres Kontrollsystem, das unsere Interaktionen nicht nur speichert, sondern auch verwertet. Die Spuren, die unser Verhalten im Internet hinterlässt, füttern Algorithmen, die auf das Konsumverhalten oder die Vernetzungswünsche zielen. Die Ernüchterung führt zu neuen Vermittlungsformen, die nicht nur über die Gefahren der Überwachung aufklären oder diese visualisieren, sondern im digitalen Umgang erfahrbar machen, z.B. der (namenlose) Beitrag der beiden Hacker Danja Vasiliev und Julian Oliver, die auf dem Kunstfestival Transmediale 2014 heimlich eine Funkzelle aufstellen, die sich automatisch mit den Handys verbindet, wenn die BesitzerInnen in die Nähe kommen. Diese erhalten dann zu ihrer Überraschung eine SMS: „Willkommen im neuen NSA-Partnernetz". Oder in [help me know the truth] (2018) von Mary Flanagan, wo durch leicht veränderte Selfies erfahrbar wird, wie Vorurteile unsere Entscheidungen prägen. Kunstschaffende nutzen die Technologie aber auch, um andere Welten zu erzeugen, bereiten in der Virtual Reality (VR) beispielsweise ganz neue Erfahrungsräume: Die VR-Installation Chalkroom (2017) von Laurie Anderson und Hsin-Chien Huang führt BesucherInnen in eine Welt aus Geschichten, Klängen und Bildern, in der sie auch selbst zeichnen oder trommeln können; sie betreten dieses komplexe Universum nicht, sondern erfliegen es und erleben den Flug vollkommen sinnlich und körperlich. In der immersiven, audio-visuellen Installation Eye of the Dream (2018) bringt auch David O'Reilly ein Universum als interaktive Echtzeit-Simulation zur Aufführung – mit dem Unterschied, dass BesucherInnen die Reise vom Urknall bis in die moderne Welt zusammen antreten und gemeinsam unter dem Himmel eines Planetariums in komplexe, sich stets weiterentwickelnde, unwiederholbare Formen und Strukturen eintauchen. Gerade das letzte Beispiel deutet darauf, anstelle isolierter Interaktionen mit dem Medium – sei es mit der Tastatur vor dem Bildschirm oder dem Controller im Cyberspace – ein Gemeinschaftserleben bereiten zu wollen. Wo O'Reilly dieses in den physischen Raum verlagert, zielen Spatial-Computing-Technologien längst darauf ab, soziale Interaktion auch in der VR zu ermöglichen, wo die Interaktion dann nicht nur mit der virtuellen Umgebung stattfindet, sondern eine Kommunikation mit anderen möglich wird.
Feedbackschleifen in einer mediatisierten Welt
Mit der performativen Wende seit den 1960er Jahren geht es auch im Theater nicht mehr darum, im stillen Zuschauen theatrale Zeichen zu dechiffrieren, sondern um Inszenierungsstrategien, die ZuschauerInnen gezielt einbeziehen und zu Co-ProduzentInnen einer Aufführung machen. In ihrem Buch „Ästhetik des Performativen“ sucht die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte diese Interaktion und deren wirklichkeitsgenerierenden Aspekt als „autopoietischen feedback-Schleife“ zu fassen. Diese sei nur unter Live-Bedingungen möglich und setzt die Einheit von Zeit und Ort, die leibliche Kopräsenz aller Beteiligten und den Wechsel zwischen Distanz und Nähe und damit zwischen Beobachtung und Aktion voraus (Fischer-Lichte 2004:63ff.). Die Handlungen auf der Bühne sollen das Publikum unmittelbar berühren, Reaktionen hervorrufen, es mitunter sogar zum direkten Eingreifen bewegen und Rollenwechsel provozieren – Experimente wie sie Richard Schechners Performance Group etwa in Dionysus in 69 (1968) schon früh unternommen hat. Die autopoietische feedback-Schleife bringe die Aufführung überhaupt erst hervor, versetze die Beteiligten in liminale Zustände, die Normen und Regeln außer Kraft setzen und Transformation möglich machen – eine Wechselwirkung, die selbstbezüglich und selbsthervorbringend, eine Interaktion, die unverfügbar und unvorhersehbar, einmalig und nicht wiederholbar ist.
Wo den digitalen Medien allerorts interaktives Potential zugesprochen wird, spricht Fischer-Lichte ihnen dieses gerade ab; diese ließen keine Wechselseitigkeit zu, wobei sie vornehmlich an Reproduktionstechnologien wie Film und TV denkt. „Ein neuer Gegensatz scheint entstanden zu sein: der zwischen ,Live’-Aufführungen, die durch die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren konstituiert und von der autopoietischen feedback-Schleife erzeugt werden, und medialisierten Aufführungen, bei denen Produktion und Rezeption getrennt voneinander ablaufen.“ (ebd.115) Damit sucht sie dem Performance-Theoretiker Philip Auslander zu widersprechen, der sich bereits 1999 kritisch mit dem Terminus ,live’ auseinandergesetzt hat: “mediatized performance derives its authority from its reference to the live or the real, the live now derives its authority from its reference to the mediatized, which derives its authority from its reference to the live, etc.” (Auslander 2008:43). Der Begriff sei überhaupt erst durch die medialen Aufzeichnungsmöglichkeiten aufgekommen; „Liveness“ sei nicht vorgängig, die mediatisierte Kultur forme, wirke zurück, verändere nicht nur künstlerische Ausdrucksformen, sondern auch das alltägliche Handeln und Verhalten der Menschen. „The ubiquity of reproductions of performances of all kinds in our culture has led to the depreciation of live presence, which can only be compensated for by making the perceptual experience of the live as much as possible like that of the mediatized.” (ebd.:40) Man mag dem nicht zustimmen wollen, denn einem Konzert beizuwohnen zeigt zweifellos ein anderes Erleben als dessen Aufzeichnung, wenngleich auch im Film reichlich Finesse an den Tag gelegt wird, um das Erleben von Unmittelbarkeit und Intensität, ein Gefühl des Dabeiseins zu transportieren. Mit Blick auf die interaktiven Möglichkeiten digitaler Technologien ist dennoch zu fragen, ob die Trennung von phänomenaler und digitaler Welt überhaupt Sinn macht und die Kategorie ,live’ nicht neu zu denken wäre. Denn selbst Handlungen in einer vollkommen fiktionalen Welt – obwohl sie medialisiert sind und ihnen daher die Differenz zu realen Handlungen per se eingeschrieben ist – werden nichtsdestotrotz ,real’ und live erlebt. Im Chalkroom von Anderson bilden sich BesucherInnen qua ihrer Imaginationskraft oder ihres Glaubens ja nicht ein, sie würden fliegen, der Körperzustand sagt ihnen, dass sie tatsächlich fliegen.
In ihren Ausführungen zu dem Stichwort „Inszenierung“ im Lexikon „Theatertheorie“ geht Fischer-Lichte den „Präsenz-Effekten“ der Massenmedien nach, die „bewirken, dass der Zuschauer, wohl wissend, dass er es mit elektronisch hergestellten Bildern von Menschen zu tun hat, doch meint, ihre leibliche Anwesenheit zu spüren“ (Fischer-Lichte 2014a:158 Hervorh. H.S). Es gäbe also durchaus Wirkung, aber keine Interaktion, obwohl auch hier, wie sie selber schreibt, die Einflussmöglichkeiten zunehmend größer würden. Doch ist unübersehbar, dass den technisch produzierten Bildern abgesprochen wird, was dem Theater, in Grenzen sogar dem physischen Bild zugestanden wird: Nicht nur etwas darzustellen, sondern es zugleich performativ hervorzubringen. Auch Bilder haben Handlungsmacht und erzeugen durch das Blickverhältnis Wirklichkeiten (vgl. Seitz 2019). Gleichwohl kann aus Fischer-Lichtes Sicht das Visuelle und besonders die computergestützte Simulation nicht mehr, als die Evidenz einer Wirklichkeit nur zu suggerieren; es sei eine „quasi-intersubjektive und in diesem Sinne ko-präsentische Beziehung zwischen dem blickenden Betrachter und dem angeblickten und scheinbar zurückblickendem Bild“ (Fischer-Lichte 2012:150, Hervorh. H.S.). Angesichts dessen, dass die Autorin im Museum eine zunehmende „auratische Aufladung der Bilder durch kuratorische Inszenierung als auch die Animierung der Besucher“ beobachtet, gar bemerkt, dass Ausstellungen sich in Aufführungen verwandeln (ebd.:158), bleibt zu fragen, warum hier wie auch in ihrem Lexikon-Artikel zu „Aufführung“ die autopoietische feedback-Schleife nicht mehr genannt wird (vgl. Fischer-Lichte 2014b:15ff.) – ein Terminus, der ehedem für die „Ästhetik des Performativen“ grundlegend war. Das Feedback als ein Grundmerkmal in der Kybernetik mag als Wort ein der Technik und Maschine zugewandtes Assoziationsfeld eröffnen – und darum einer Aufführungstheorie offenbar doch nicht dienlich sein –, aber gerade darum wäre die Feedbackschleife im Kontext digitalen Kunstschaffens und Ausstellens prominent zu machen. Angesichts der Möglichkeiten, Räume digital zu inszenieren und zu vernetzen, Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine zu zeitigen, nicht leiblich anwesende Akteure zu vernetzen und soziale Interaktion zu erlauben, rückt nicht zuletzt die grafische Oberfläche, über die das Feedback vollzogen und wahrnehmbar wird, in das Zentrum der Aufmerksamkeit, besonders im Hinblick darauf, dass sich NutzerInnen in wechselseitiger Interaktion meist nicht direkt, sondern vermittelt aufeinander beziehen – durch (bewegte) Bilder, Töne, Farben etc.
Digitale Kunst im Theater, Museum und Internet
Medienkunst ist nicht nur eine eigene Sparte, digitale Medien sind aus den Künsten nicht mehr wegzudenken und gerade auch im Theater, wo sie längst nicht nur der Aufzeichnung dienen, sondern Teil der Aufführung sind und diese auf besondere Weise prägen. Es ist keineswegs so, „dass die zunehmende Medialisierung die Sehnsucht der Zuschauer nach leiblicher Anwesenheit der Schauspieler“ (Fischer-Lichte 2004:125) entfacht; ganz im Gegenteil wird hier sogar mit Virtual Reality umgegangen: am Theater Dortmund etwa, wo das Publikum in das Stück Borderline Prozession (2017) eintreten kann; in Berlin in Biene im Kopf (2018) am Theater an der Parkaue oder in Verirrten sich im Wald... (2019) am Jungen DT wird selbst einem jungen Publikum VR als Erfahrungsraum geboten.
Im Ausstellungswesen hält längst nicht nur physische Interaktivität Einzug, durch die das Werk mitunter sogar erst entsteht, wie die One Minute Sculptures (2014) von Erwin Wurm im Städel Museum Frankfurt, wo BesucherInnen inmitten der Alten Meister, angeleitet durch ein Regelwerk, auf einem Sockel stehend eine Skulptur darstellen und für diese spontane Aufführung von den im Raum zufällig anwesenden Personen sogar Applaus bekommen. Davon abgesehen, dass im Museum längst auch digitale Kunst zu sehen ist, gibt es nun auch vermehrt VR-Installationen, die manchmal auch ganz dezidiert Vermittlungsarbeit leisten – wie in der Alten Nationalgalerie Berlin die Ausstellung Mit dem Mönch am Meer. Caspar David Friedrich in Virtual Reality (2019), in der BesucherInnen eine Ikone der romantischen Malerei betreten können.
Nicht zuletzt nutzen Museen digitale Technologien inzwischen, um auch ihre Sammlungen online zu zeigen. Die Visualisierungen auf den digitalen Plattformen sind allerdings häufig noch recht konventionell gestaltet. Ausstellungen im digitalen Format zu präsentieren, heißt nicht selten, einen Katalog zu durchblättern – nur eben ins Digitale übertragen. Interaktive Verfahren sind diesbezüglich noch eine Herausforderung und finden erst allmählich Anwendung. So untersucht das UCLAB der Fachhochschule Potsdam, wie bestimmte Exponate aus einer Online-Sammlung nach bestimmten Kriterien herausgefiltert und in fluiden Layouts neu sortiert werden können (vgl. Gortana u.a. 2018). In der Online-Ausstellung Mermaids & Unicorns suchen die KuratorInnen Carlotta Meyer, Benoit Palop und Tina Sauerländer das Thema Vergänglichkeit in aktuellen Kunstprojekten mit der Vergänglichkeit der Medien im digitalen Zeitalter zu verknüpfen (vgl. Peer to Space 2017). Die Rezeption geht allerdings über das Betrachten kaum hinaus. Durch das Auftauchen und Verschwinden der am Bildschirm horizontal vorbeiziehenden Exponate und Filme wird zwar, neben dem Inhalt, Zeitlichkeit als lineare Bewegung in Szene gesetzt, aber eine Feedbackschleife kommt nicht zustande. Die Rezeption geschieht alleine, erlaubt keine Reaktion, macht nicht erfahrbar, dass auch andere die Ausstellung gesehen haben, womöglich sogar zeitgleich sehen.
Ein Anliegen, das postdigitale Künste nicht nur zeigen, sondern zugleich mit und im digitalen Medium, beispielsweise im Internet, vermitteln und themengebunden Kommunikation in Gang bringen möchte, steht – sofern es die interaktiven Möglichkeiten der Technologie für den sozialen Austausch nutzen will – vor gleich mehreren Herausforderungen:
- Es gilt offene Handlungsoptionen bereitzustellen, mit denen BesucherInnen einer Online-Ausstellung auf das ihnen gebotene reagieren, es verändern, neu sortieren, die erlauben, körperliche Affekte oder gedankliche Reflexe als sinnhafte und formgebende Spur zu hinterlassen und für andere kenntlich zu machen. Die Ausdrucksumgebungen wären so zu gestalten, dass präsent bleibt, dass das Programm nur zulässt, was der Algorithmus vorgibt, um gleichwohl zu bedenken, dass Subjekte auch in ihren realen Handlungen innerhalb bestimmter Grenzen handeln, die sie nicht zwangsläufig selbst bestimmen.
- Der Vorzug des digitalen Mediums, Raum, Zeit und körperliche Anwesenheit der Akteure überwinden zu können, scheint im Hinblick auf die autopoietische Feedbackschleife geradezu der Mangel zu sein. Wie also können Ausdrucksumgebungen so gestaltet sein, dass Feedbackschleifen möglich werden, nicht nur die eigene Anwesenheit Spuren hinterlässt, sondern auch die der anderen präsent und damit soziale Interdependenz auch ohne direkte Face-to-Face-Kommunikation sichtbar, hörbar, spürbar werden kann?
- Das Medium als Vermittler und zugleich Erzeuger eines Inhaltes verschwindet meist im Gebrauch – selbst der Blick auf ein Bild ist geneigt, den Rahmen auszublenden, um zu vergessen, dass das Dargestellte eine Darstellung ist; extremer noch in virtueller Realitäten, wo nicht nur mit, sondern in dem Medium gehandelt wird. Am Ende wäre zu fragen, wie die konstituierende Funktion des Mediums und seine Vermittlungsleistung, etwa durch Strategien der Störung und des Bruchs, wahrnehmbar bleiben und bewusst werden können?
Das Forschungsprojekt „PKKB: Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung“ (vgl. Ackermann/Dörk/Seitz 2019) möchte solchen Fragen nachgehen. Eine in Planung befindliche Online-Ausstellung wird postdigitale Kunstprojekte, die sich dem Garten im Zeitalter des Anthropozäns widmen, nicht nur präsentieren, der Besuch soll vielmehr Interaktivität als kollektives, soziales Erlebnis erfahrbar machen.