Institutionsferne Kulturvermittlung als Treiber von Teilhabegerechtigkeit. Die Wirkung zivilgesellschaftlichen Engagements für Menschen mit wenig oder keinem Einkommen
Reflexionen am Beispiel der Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe e.V.
Abstract
Die Frage nach kultureller Teilhabegerechtigkeit und danach, welche Barrieren Menschen vom Kulturbesuch abhalten und wie sich diese überwinden oder abbauen lassen, beschäftigt nicht nur die kulturelle Praxis, also Kulturinstitutionen, die Kulturpolitik und die Wissenschaft, sondern auch die Zivilgesellschaft – Menschen, die Brücken bauen und sich selbst und anderen dabei helfen wollen, Barrieren zu überwinden und Zugang zu Kultur zu finden.
Dieser Artikel fokussiert, am Beispiel der Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe e.V. (im Folgenden: BVKT) und spezifisch der Kulturliste Düsseldorf e.V., den Beitrag, den zivilgesellschaftliche Akteure für kulturelle Teilhabegerechtigkeit leisten, ordnet diese Akteure in das Gesamtbild der Bemühungen um Teilhabegerechtigkeit ein und analysiert die Transferpotenziale des zivilgesellschaftlichen Engagements. Der Aufbau dieses Artikels folgt zentralen Fragestellungen, wie sie auch dem Forschungsprojekt Kulturelle Teilhabe und Citizen Science der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (im Folgenden: HHU Düsseldorf) in Kooperation mit der BVKT zugrunde liegen:
- Wie lässt sich die Arbeit der Initiativen der BVKT als institutionsferne Kulturermöglichung in den Kontext von Kultureller Teilhabegerechtigkeit einordnen?
- Wie und warum ermöglicht die zivilgesellschaftliche Kulturvermittlung der Initiativen der BVKT mehr Teilhabegerechtigkeit für Menschen mit geringem Einkommen?
- Welche Transferpotenziale hat diese Arbeit für andere Akteure aus Kulturpolitik und -institutionen, die sich ebenfalls für Teilhabegerechtigkeit einsetzen?
Dabei gilt es sowohl die Perspektiven der Wissenschaft, im Rahmen der Forschungsergebnisse von Christine Stender (HHU Düsseldorf) heranzuziehen, als auch die praktische Perspektive einfließen zu lassen, die anhand der Kulturliste Düsseldorf e.V. durch Nora Faust eingebracht wird. Durch die gemeinsame Autorinnenschaft aus Wissenschaft und Praxis ergänzen sich diese beiden Perspektiven im Artikel und bringen sie in einen fruchtbaren Austausch.
Der Mehrebenen-Ansatz kultureller Teilhabe(gerechtigkeit)
Teilhabegerechtigkeit meint als Ergebnis des Teilhabeprozesses die Möglichkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, wie eine Person das eigene Leben gestalten will. Der Capabilities Approach, auch als Konzept der Verwirklichungschancen bekannt, von Amartya Sen (2007) dient immer häufiger als normativer Rahmen im Themenfeld der Teilhabegerechtigkeit: So nicht nur in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung, sondern auch als „Rahmenkonzept für eine inklusive Kulturpraxis“ (siehe: Sven Sauter „Gerechtigkeit in der Kulturellen Bildung? Gerechtigkeit durch Kulturelle Bildung!”). Zusammenfassend sei an dieser Stelle festgehalten, dass laut Sen die Frage von zentraler Bedeutung ist, welche Möglichkeiten (capabilities) Menschen haben, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
Während eine fehlende Definitionsschärfe und der „inflationäre Gebrauch” (Bartelheimer 2007:5) des Begriffs den wissenschaftlichen Diskurs um Teilhabe begleiten, bringt dieser Diskurs über verschiedene Fachdisziplinen hinweg auch einen neuen Konsens, den Iris Beck (vgl. 2022:35f.) unter anderem bezüglich folgender Punkte herausarbeitet: (1) Die Mehrdimensionalität von Teilhabe, also die Verknüpfung der Bereiche von gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Teilhabe; (2) die Verbindung von Teilhabe und Gerechtigkeit und damit die implizite Aufgabe von Gesellschaften, Teilhabeungerechtigkeiten abzubauen; sowie (3) den „Subjekt- und Kontextbezug von Teilhabe, also die Betonung des Wechselspiels zwischen Menschen und den sie umgebenden Bedingungen“ (ebd.).
Gerade die Aspekte des gesellschaftlichen Auftrags von Teilhabe- und damit Chancengerechtigkeit sowie dem Wechselspiel zwischen Personen und dem sie umgebenden Sozialraum sollen uns im Weiteren wieder begegnen. Thomas Renz fasst das Konzept der Teilhabe im kulturellen Kontext wie folgt zusammen:
„Die Verwendung des Begriffs der ‚Teilhabe‘ impliziert also die (politische) Haltung, das Nicht-Besuchen von Theatern oder Museen nicht ausschließlich als freie Entscheidung der Individuen zu verstehen, sondern eine ungleiche Verteilung der Teilhabe immer als abbauwürdigen sozialen Missstand, als Exklusion bestimmter Gruppen der Gesellschaft von demokratischen Prozessen zu begreifen.“ (Renz 2016:42)
Renz betont damit erneut das Einflusspotenzial und die Verpflichtung des öffentlichen Handelns, die Missstände abzubauen, die zu Teilhabeungerechtigkeit führen. Damit deckt sich seine Sicht mit der Becks, die im Hinblick auf die Kontextbedingungen ebenfalls auf die gesellschaftlichen Einflussfaktoren eingeht, welche Teilhabe erleichtern bzw. erschweren können. In der Teilhabeforschung wird in diesem Kontext von einem Mehrebenen-Ansatz gesprochen (vgl. Beck 2022), der auch hier herangezogen werden soll, um die zu analysierende Arbeit der Initiativen der BVKT im Kontext kultureller Teilhabegerechtigkeit zu verorten: Die „Makro-Ebene der politischen Steuerung“ (Beck 2022:35) als gesellschaftliches Organ kann und soll Wege ebnen; Kulturveranstalter können auf der Meso-Ebene Einladungen aussprechen, Akteure aus der Zivilgesellschaft können für sich selbst Plätze einfordern bzw. für andere Brücken bauen. Die Aktivitäten auf allen Ebenen wirken sich wiederum auf die Mikro-Ebene der alltäglichen Lebensgestaltung aus.
Wege ebnen auf der (kultur-)politischen Makro-Ebene
Die kulturpolitische Teilhabe-Forderung nach „Kultur für Alle“ (Hoffmann 1981), die seit den 1970er-Jahren den politischen Diskurs in Deutschland prägt, hat nicht zum Ziel, dass alle Menschen kulturelle Veranstaltungen besuchen müssen. Allen Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, kulturelle Veranstaltungen besuchen zu können. Die selbstbestimmte Entscheidung, ob sie diese Möglichkeit des Veranstaltungsbesuchs dann auch umsetzen wollen, ist ihnen selbst überlassen. Diese Möglichkeit, sich der Kultur zu erfreuen und an der Schaffung dieser teilzuhaben, ist Menschenrecht. Festgehalten in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen im Jahr 1948 in Artikel 27 wird jedem Menschen die Möglichkeit zugesprochen, an Kunst und Wissenschaft teilzunehmen. Während sich im Diskurs um Artikel 27 der Menschenrechte ein eher enger, auf die sogenannte „Hochkultur“ fokussierter Kulturbegriff etabliert hat, wird in den Forderungen des UNESCO-Übereinkommens über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen explizit die Teilhabe an den vielfältigsten Kulturaktivitäten herausgearbeitet (vgl. Deutsche UNESCO Kommission e.V. 2023). Auch der Arbeit der BVKT und damit ebenfalls diesem Artikel liegt ein solch weiter gefasster Kulturbegriff zu Grunde.
Durch diese Verankerung in der Menschenrechtskonvention ist es eine der zentralen Aufgaben von (Kultur-)Politik und laut Bernd Wagner (2010:50) auch Grundpfeiler der Legitimation von Kulturpolitik, „möglichst vielen, vor allem von bislang von Kulturinstitutionen kaum erreichten Menschen, die kulturelle Teilhabe zu ermöglichen“. Da kulturelle Teilhabe nun nicht losgelöst von den anderen Teilhabe-Bereichen gesehen werden kann und gesellschaftlich bedingt ist, welche Möglichkeiten Menschen haben, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, verwundert es nicht, wie breit die gesetzlichen Grundlagen für Teilhabegerechtigkeit gestreut sind: Die politische Steuerung auf der Makro-Ebene reicht damit von den Grundrechten eines diskriminierungsfreien Zusammenlebens via der Vorgaben des Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) über das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) bis – beispielsweise – hin zur Barrierefreiheit im digitalen Raum, anhand der EU-Richtlinie 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 zum barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (vgl. Stärk/Stender 2021:o.S.), um nur einige Meilensteine der Legislative zu nennen. Ergänzt werden diese Grundlagen durch die, meist in den Ländern verorteten, Gesetzestexte zu Kultur und Kulturförderung. Beispielhaft sollen das Kulturfördergesetz Nordrhein-Westfalen (2014), das Sächsische Kulturraumgesetz (2008) und auch das Niedersächsische Kulturfördergesetz (2022) genannt werden, in denen, wenn auch implizit, die Stärkung von Teilhabegerechtigkeit als kulturpolitisches Ziel definiert wird.
Einladungen aussprechen auf institutioneller Meso-Ebene
Um im Mehrebenen-Ansatz die Anforderungen an Kulturinstitutionen auf Meso-Ebene zu begründen, sei auf die Argumentation Janina Zehs (2015) verwiesen: Sie unterstreicht zunächst, dass es nicht Aufgabe der Personengruppe selbst ist, die auf der Mikro-Ebene von Teilhabeungerechtigkeit betroffen ist, die sie betreffenden Hindernisse zu überwinden. Gleichzeitig sei es aber auch nicht allein die Aufgabe des sozialstaatlichen Systems auf Makro-Ebene, Ausgleichsmaßnahmen vorzunehmen. Vielmehr seien es auch die Institutionen auf der Meso-Ebene, deren Auftrag es ist, „von sich aus Barrieren zu beseitigen und innerhalb des Feldes selbst den Ausgleich vorzunehmen, um Zugang und Mitwirkung zu ermöglichen“ (Zeh 2015:94).
Die Motivation von Kultureinrichtungen, neue und diverse Zielgruppen anzusprechen oder auch ihre (Handlungs-)Räume zu öffnen und Barrieren abzubauen, reicht damit von der politischen Vorgabe bzw. Incentivierung durch Förderanreize, über den wirtschaftlichen Faktor der Akquise neuer zahlender Kundschaft bis hin zur Erfüllung eines Bildungsauftrags oder des Engagements einzelner Mitarbeiter*innen, die sich dieser Aufgabe annehmen. In Anerkennung dieser unterschiedlichen Motivationen wird beim Audience Development, also dem Erreichen und Binden (neuer) Publika, unterschieden zwischen dem Missionary Approach und dem Mainstream Approach (vgl. Allmanritter 2017:43): Institutionen, die missionarische Audience Development-Bemühungen umsetzen, richten ihr Augenmerk auf die Ansprache von Nicht-Besucher*innen und zwar besonders solche, die von (Mehrfach-) Marginalisierung und damit besonders von Teilhabeungerechtigkeit betroffen sind. Dieser Approach lässt sich als teilhabeorientiert beschreiben und denkt nicht nur vom Angebot aus. Es werden gesellschaftliche Strukturen und Barrieren mit einbezogen, die außerhalb des Kultursektors oder einer einzelnen Institution liegen. Der Mainstream-Approach hingegen fokussiert eher wirtschaftliche Ziele, also die Erhöhung von Besuchszahlen und Einnahmen, durch die verstärkte Ansprache von kulturaffinen Noch-Nicht-Besucher*innen sowie dem bestehenden und ehemaligen Publikum. Dabei ist er angebotsorientiert, es wird also vom bestehenden Produkt aus gedacht und versucht, dieses möglichst erfolgreich nach außen zu vermitteln. Festzuhalten ist aber auch, dass eine Aktivität beide Ziele in sich vereinen kann und damit die Grenzen zwischen den Approaches in der praktischen Umsetzung verschwimmen können.
Versteht man das Ziel Kultureller Bildung als Stärkung des einzelnen Menschen, seiner Persönlichkeitsentwicklung, seiner Kompetenzen und der selbstbestimmten Lebensgestaltung (vgl. Maedler 2008:102), dann muss kulturelle Bildungsarbeit alle Teilhabeformen anerkennen und inkludieren, um dieses Ziel erfolgreich umzusetzen (vgl. Fuchs 2008:239).
Die Vielzahl und Vielschichtigkeit der praktischen Aktivitäten kultureller Einrichtungen hinsichtlich Kultureller Bildung, kultureller Teilhabe(-gerechtigkeit) und Audience Development wurden an anderen Stellen bereits mannigfaltig vorgestellt, kritisch kommentiert und befinden sich in stetiger Weiterentwicklung. Daher soll hier nicht weiter auf die jeweils konkreten Bemühungen und Projekte von Institutionen selbst eingegangen werden. Während in diesen Konstellationen Kulturinstitutionen direkt Einladungen aussprechen und mit Individuen interagieren (wollen), die Zugang erhalten sollen, gibt es noch einen weiteren Teil der Öffentlichkeit, der sich dem Postulat kultureller Teilhabe verschrieben hat, und der in der Zivilgesellschaft zu finden ist.
Plätze einfordern und Brücken bauen auf zivilgesellschaftlicher Meso-Ebene
Zivilgesellschaft lässt sich verstehen als „gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte [...], die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen“ (Adloff 2005:8). Damit agiert die Zivilgesellschaft, als organisierte Bürgerschaft, kollektiv jenseits von Marktwirtschaft und Verwaltungsstaat (vgl. Bode 2018:320) und steht zwischen diesen Systemebenen und der Privatsphäre, also der Mikro-Ebene der individuellen Lebensgestaltung. Frank Adloff (2005) zeichnet die Genese des Begriffs der Zivilgesellschaft nach und betont für die Bundesrepublik die Nähe von Zivilgesellschaft und den Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren und deren Einforderung elementarer Grundrechte (vgl. Andersen/Woyke 2021). Gerade im Kontext von Teilhabe und Kultur lässt sich seine historische Aufarbeitung um die Entstehung soziokultureller Zentren zur selbstbestimmten Gestaltung von kulturellen Räumen und um den Kampf von Menschen mit Behinderung um Selbstbestimmung und gesamtgesellschaftliche Teilhabe ergänzen. Dieser führte schlussendlich zum Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik: Von der Fürsorge zur Teilhabe, wie sie uns auch im Diskurs um kulturelle Teilhabe begegnet, in Form der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK): „Das Übereinkommen definiert Behinderung nicht als medizinisches oder individuelles Problem der betroffenen Menschen, sondern als Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Barrieren“ (Köbsell 2019:o.S.). Adloff (2005:13) endet mit der Erkenntnis, dass „freiwilliges Engagement – das Spenden von Zeit und Geld – […] mittlerweile als Kennzeichen einer lebendigen Zivilgesellschaft“ gilt und für das Funktionieren demokratischer Gesellschaften elementar sei.
Die Zivilgesellschaft ist ein „Ort für praktische Initiativen, die gezielt auf gesellschaftliche Probleme reagieren“ (Bode 2018:320) und damit ist sie zunächst einmal getragen durch Handlungen von Einzelpersonen, die in ihrer Lebensgestaltung Ungerechtigkeiten oder Handlungsbedarfe sehen und sich gemeinsam mit anderen organisieren, um Veränderungen zu erreichen. So begann auch die Arbeit der BVKT zunächst als vereinzeltes Engagement von Betroffenen bzw. für Betroffene und wechselte mit wachsender Organisierung von der individuellen Mikro- auf die zivilgesellschaftliche Meso-Ebene. Das individuelle bürgerschaftliche Engagement einzelner Menschen bildet so die Grundlage der organisierten Zivilgesellschaft, als die die BVKT heute gesehen werden kann. So versuchen die Initiativen in der Bundesvereinigung die Gestaltung des Sozialraums auf Mikro-Ebene und damit das „Wechselspiel […] zwischen Menschen und den sie umgebenden Bedingungen“ (Beck 2022:35) zu bearbeiten, der Fokus liegt dabei zunächst auf der finanziellen Barriere, ist in sich aber intersektional wie die folgende Betrachtung zeigen soll. Da die Bemühungen um Teilhabegerechtigkeit nicht aus den Kulturinstitutionen selbst herauswachsen, wie beispielhaft beim Audience Development, sondern eben aus der Zivilgesellschaft, ist hier von institutionsferner, zivilgesellschaftlicher Kulturermöglichung zu sprechen.
Arbeit und Ziele der Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe e.V.
Die Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe e.V. gründete sich im Oktober 2016 und ging dabei aus der ebenfalls bundesweit agierenden Arbeitsgemeinschaft Kulturelle Teilhabe in Deutschland (BAG) hervor. Seit 2017 ist die BVKT als gemeinnütziger Verein eingetragen und fungiert als Dachverband, unter dem sich inzwischen 32 größtenteils ehrenamtlich geführte, gemeinnützige Initiativen zusammengeschlossen haben. Verbunden sind die Mitglieder in ihrer je regionalen Arbeit für kulturelle Teilhabe (vgl. BVKT 2024a). Pro Jahr werden durch die Mitgliedsinitiativen bundesweit rund 190.000 kostenfreie Veranstaltungsbesuche für mehr als 90.000 Menschen ermöglicht, die an oder unter der Armutsgefährdungsgrenze leben (vgl. BVKT 2024b). Die Namen der verschiedenen Vereine variieren dabei zwischen Kulturlisten, Kulturräumen, Kulturlogen oder auch Kulturtafeln. Den deutschlandweit ersten Verein gründete Christine Krauskopf 2008 mit der Kulturloge Marburg (vgl. BVKT 2024c). Die Mitglieder der Bundesvereinigung haben sich dabei auf eine gemeinsame Mission geeinigt:
„Die Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe setzt sich für ein Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe ein. Sie kämpft für eine gesamtgesellschaftliche und politische Anerkennung von Kultur als wichtigem Mittel zur Steigerung der Lebensqualität, zur Linderung von Einsamkeit und Isolation, zum Abbau von finanziellen und anderen Barrieren sowie zur Förderung der Gesundheit. Ziel des Engagements ist die Ermutigung und Befähigung aller Menschen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am demokratischen Diskurs.“ (BVKT 2024a)
Die BVKT versteht sich als Netzwerk für die einzelnen Initiativen und schafft Plattformen für den gleichberechtigten Austausch. Darüber hinaus fungiert sie als Anlaufpunkt für Vereine in der Neugründung und betreibt Lobbyarbeit auf Bundesebene, um das gemeinsame Anliegen der Initiativen, Kultur für Alle zu ermöglichen, weiter voranzutreiben und Sichtbarkeit zu schaffen.
Das Ziel, den sogenannten Kulturgäst*innen, also Menschen mit geringem oder ohne Einkommen, „eine würdevolle, selbstverantwortliche kulturelle und damit soziale Teilhabe (z. B. durch Theater-, Konzert- und Museumsbesuche) zu ermöglichen” (BVKT 2024c), ist allen Vereinen inhärent. Die BVKT beschreibt die verschiedenen Herangehensweisen der Initiativen, um dieses Ziel zu erreichen, wie folgt (vgl. ebd.):
- durch telefonische und teilweise auch digitale Vermittlung von kostenfreien Eintrittskarten für Kulturveranstaltungen, die von Veranstalter*innen zur Verfügung gestellt werden;
- durch Ausstellung eines Kulturpasses, mit dem die Inhaber*innen selbständig Veranstaltungen auswählen und kostenfrei oder nach Entrichtung eines symbolischen Betrags besuchen können;
- durch Angebote aktiver kultureller Beteiligung bei Bildungs- und Freizeiteinrichtungen;
- durch Begleitprojekte wie zum Beispiel Kulturtandems, -pat*innen oder -lots*innen;
- durch verschiedene vielfältige Begegnungsangebote wie zum Beispiel Kulturcafés.
Die Breite der Aktivitäten zeigt, dass der Aspekt des kostenfreien Eintritts nur eine Facette des Engagements für Teilhabe ausmacht. Die Fokussierung auf einkommensschwache Menschen ist ein eher pragmatisches Herangehen, da durch intersektionale Marginalisierung das Einkommen oft nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs ist: „materielle Armut bedeutet im Regelfall auch soziale Ausgrenzung“ (Huster/Boeckh/Mogge-Grotjahn 2012: 27).
Die Initiativen sehen sich als intermediäre Brückenbauer zwischen der Bevölkerung und der jeweils lokalen Kulturszene. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung einer größeren finanziellen Divergenz der Bevölkerung resultiert in diesem, im letzten Jahrzehnt beständig gewachsenen, bürgerschaftlichen Engagement. Es ist anzumerken, dass jede Initiative personell und finanziell unterschiedlich aufgestellt ist und sie sich zum Teil auch in ihren Arbeitsweisen unterscheidet – gerade bedingt durch eklatante Unterschiede hinsichtlich öffentlicher Finanzierungsstrukturen und damit auch Zahl der hauptamtlich Mitarbeitenden.
Arbeitsweisen der Kulturliste Düsseldorf e.V. – ein Bericht aus der Praxis
Anhand des Fallbeispiels der Kulturliste Düsseldorf e.V. soll im Folgenden die konkrete Arbeitsweise einer der Mitgliedsinitiativen der BVKT nachgezeichnet werden.
Nachdem sich im Winter 2011 erstmals eine Gruppe engagierter Düsseldorfer*innen traf, wurde im Herbst 2012 der gemeinnützige Verein Kulturliste Düsseldorf e.V. gegründet (vgl. Kulturliste Düsseldorf 2024a). In der Satzung des Vereins wurde festgehalten, dass sein Zweck „die Förderung von Kunst und Kultur durch eine Stärkung der kulturellen Teilhabe von Geringverdienern und die Verbesserung der bürgernahen Vermittlung von Kunst und Kultur“ (Kulturliste Düsseldorf 2024b) ist. In den 13 Jahren seit der Gründung des Vereins haben sich Teamstrukturen entwickelt, in denen aktuell etwa 40 Ehrenamtliche aktiv sind. Dabei befassen sich fünf Teams mit den Bereichen der Akquise von Kulturgäst*innen und Betreuung der sozialen Partnerinstitutionen, der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, dem Fundraising, der Akquise und Betreuung der Partner aus der Kultur und final natürlich der telefonischen Kartenvermittlung. Eine im Tandem besetzte Geschäftsleitungsstelle unterstützt die Arbeit der Ehrenamtlichen zum einen im Bereich der Kartenvermittlung im Rahmen der Datenbankpflege und Emailvermittlung von Karten und zum anderen den ehrenamtlichen Vorstand in der Ehrenamtskoordination und administrativen Tätigkeiten.
Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, deren Zugangsmöglichkeiten zu Kultur und anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eingeschränkt sind, können sich postalisch oder online bei der Initiative als Kulturgäst*innen anmelden. Hierfür ist der Nachweis der Berechtigung notwendig, der unter anderem durch einen sozialen Träger oder Bescheide über den Erhalt von staatlichen Transferleistungen (außer Kindergeld) erbracht werden kann. Die Kulturliste Düsseldorf orientiert sich bei der Einkommensgrenze an der Armutsgefährdungsschwelle für die Stadt Düsseldorf. Aktuell beträgt die Nettoeinkommensgrenze für alleinlebende Personen in Düsseldorf 1.370,00 €, basierend auf der Berechnungsgrundlage der OECD (vgl. Statistische Ämter 2024). Um Menschen in ihrem direkten Umfeld zu erreichen und eine niedrigschwellige Ansprache zu ermöglichen, kooperiert der Verein mit rund 120 Organisationen aus dem sozialen Sektor, die als Multiplikatoren das Angebot des Vereins an ihre Klient*innen kommunizieren und damit auch selbst, durch den Ausbau des Angebotskatalogs für ihre Klient*innen, profitieren (vgl. Kulturliste Düsseldorf 2024c:5).
Von sogenannten Kulturpartnern, also kooperierenden Kultur- und Sportveranstaltern, erhält der Verein kostenfreie Kartenkontingente. Die Kontingente werden in die Datenbank des Vereins eingepflegt und über 14 Interessenskategorien (wie Theater, Sport, Soziokultur oder Oper) gelabelt. Als Kulturvermittler*innen arbeiten die Ehrenamtlichen der telefonischen Vermittlung sowie die Geschäftsleitung mittels Emailvermittlung daran, die zur Verfügung gestellten Kontingente mit den Kulturgäst*innen zusammenzubringen. Dabei wird zunächst in der Datenbank hinterlegt, für welche der 14 gelisteten Genres sich die Kulturgästin interessiert, um so ein Matching vorzunehmen. Mithilfe der Software der Datenbank wird in diesem Matching-Verfahren die Gruppe von Kulturgäst*innen zusammengestellt, die sich für die entsprechende Veranstaltung interessieren könnte und es werden automatisiert diejenigen Gäst*innen zuerst angezeigt, deren letzter Veranstaltungsbesuch am längsten zurückliegt. Je nach Vorliebe der Vermittlungsart werden diese dann telefonisch oder per Mail über die Möglichkeit des Veranstaltungsbesuchs informiert und um Rückmeldung gebeten. Im telefonischen Vermittlungsgespräch werden nicht nur Informationen zum Inhalt der Veranstaltung und auch möglichen Alternativangeboten gegeben, sondern auch alle weiteren eventuell aufkommenden Fragen besprochen: von Anreise und Barrierefreiheit, über Sorgen zu unbekannten Orten und Verhaltensweisen, bis hin zu persönlichen Empfehlungen. Damit geht die Vermittlung über die reine Zurverfügungstellung kostenfreier Eintritte hinaus und hilft auch bei der Überwindung weiterer Hürden. Bei einer Zusage am Telefon werden der Kulturgästin in der Regel unmittelbar zwei Karten zugewiesen, wodurch sie gemeinsam mit einer Begleitung ihrer Wahl die Veranstaltung besuchen kann. In der Datenbank wird zugleich für den Veranstalter Name und Anzahl der Tickets hinterlegt, woraus sich schließlich die Gästeliste generiert. Die jeweiligen Kulturgäst*innen melden sich am Tag der Veranstaltung an der Abendkasse und sagen dort, dass ein oder zwei Karten auf ihren Namen hinterlegt sind. Ein erneuter Nachweis über die Einkommensverhältnisse ist somit nicht nötig. Einige Initiativen, wie beispielsweise Kultur für Alle Osnabrück (KAOS) e.V. und Kultur für Alle Stuttgart e.V., arbeiten statt der persönlichen Vermittlung mit der Ausstellung eines Kulturpasses, über den die Gäst*innen selbstständig Veranstaltungen auswählen und kostenfrei (oder stark ermäßigt) besuchen können.
„Liebe Kulturliste, ich möchte mich ganz herzlich bedanken für die Karten, welche ich von Ihnen für die o. g. Veranstaltung geschenkt bekommen habe. Es war ein sehr sehr schöner Abend, welchen ich seit langer Zeit nicht hatte, zumal ich krankheits-bedingt nach ca. 3 Jahren wieder einmal unter Menschen sein konnte. Es war ein sehr schönes Erlebnis!!!“ (Kulturgästin Karin H.; Quelle: Interne Kommunikation, 17.03.2024)
Da nicht jeder Mensch in der Lage ist, das Angebot der Kartenvermittlung eigenständig in Anspruch zu nehmen, vermittelt die Kulturliste Düsseldorf zusätzlich größere Kartenkontingente an Gruppen. Die Gruppen werden in der Regel durch eine Ansprechperson vertreten, die selbst zum Beispiel in einer sozialen Einrichtung tätig ist, zu der die Gruppe gehört. Dabei soll ein möglichst niedrigschwelliger Kulturbesuch gewährleistet werden, der so die Teilhabe an Kultur und gesellschaftlichem Leben ermöglicht und dadurch zur Handlungskompetenz der einzelnen Menschen beiträgt. Stellvertretend für die Mitglieder der Gruppen erhält die Gruppenleitung Emails mit Kulturangeboten, kann diese mit der Gruppe besprechen und dann rückmelden, wie viele Tickets gewünscht sind. Das Gruppenangebot wird besonders von solchen sozialen Einrichtungen genutzt, die mit Menschen zusammenarbeiten, die von Mehrfachmarginalisierung betroffen sind, wie Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung oder Anlaufstellen für Menschen mit Fluchterfahrung:
„Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf e.V. nutzt seit zwei Jahren die Gruppenvermittlung der Kulturliste Düsseldorf e.V. Viele Flüchtlinge aller Nationen erlebten kostenfrei durch Gruppenbesuche Kultur- und Sportveranstaltungen. Das wäre ihnen aus finanziellen Gründen sonst nicht möglich. Die Kulturliste unterstützt damit unsere engagierte Integrationsarbeit immens. Wir schätzen die Zusammenarbeit sehr und sind dankbar, unseren Klient*innen so gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.” (Gruppenleitung Flüchtlinge willkommen in Düsseldorf e.V. Christoph Wilden; Quelle: Interne Kommunikation, 05.03.2024)
Für viele Düsseldorfer*innen ist der Besuch der Oper oder auch eines Konzerts unerschwinglich. Wie zu Beginn beschrieben, wird sich in diesen Fällen nicht aus Gründen wie fehlendem Interesse gegen den Besuch einer Sport- oder Kulturveranstaltung entschieden: Neben der fehlenden finanziellen Möglichkeit sind auch andere Barrieren wie beispielsweise eine emotionale Barriere Hinderungsgrund. Um dieser Teilhabeungerechtigkeit entgegenzuwirken, will die Kulturliste Düsseldorf eine Vermittlungsrolle zwischen den kooperierenden Veranstaltungsorten und Düsseldorfer*innen mit geringem oder ohne Einkommen einnehmen.
Dabei ist das Verständnis, was genau Kultur ist, die die Kulturliste Düsseldorf vermitteln möchte, spartenübergreifend und breit gefächert und richtet sich nachfrageorientiert vor allem nach den Interessen der angemeldeten Gäst*innen. Das spiegelt sich in der Vielzahl der Kulturpartner wider: vom Opernhaus über Museen, (Privat-)Theater und der Freien Szene bis zum Fußball-, Eishockey- oder Tischtennisverein – mittlerweile arbeitet die Kulturliste erfolgreich mit 78 Partnern aus Kultur und Sport zusammen und kann auf jahrelange Partnerschaften und zuverlässige Kooperationen zurückblicken (vgl. Kulturliste Düsseldorf 2024c:3f.). Die wissenschaftliche Einordnung dieses breiten Kulturbegriffs erfolgt im weiteren Verlauf des Artikels.
„Nicht WIR helfen der Kulturliste – die Kulturliste hilft UNS: Mit lachenden Gesichtern, begeisterten Reaktionen und vielen netten Gesprächen vor und nach der Vorstellung. Schön, dass es Euch gibt!“ (Theaterleitung Theater an der Luegallee Christiane Reichert; Quelle: Interne Kommunikation, 13.10.2020)
Das gemeinsame Forschungsprojekt Kulturelle Teilhabe und Citizen Science
Im Forschungsprojekt Kulturelle Teilhabe und Citizen Science. Eine bürgerwissenschaftliche Analyse der Arbeits- und Wirkungsweisen intermediärer Vereine im Feld der kulturellen Partizipation arbeiten seit 2021 Wissenschaftler*innen der HHU Düsseldorf und Praktiker*innen der BVKT zusammen. Die Wirksamkeit und Expertise des zivilgesellschaftlichen Engagements der BVKT-Initiativen wurde bis dato kaum wissenschaftlich betrachtet – und das obwohl die Initiativen seit über einem Jahrzehnt als wichtige Stakeholder im Kulturbereich bundesweit aktiv sind. Die Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen arbeiten im Projekt unter Nutzung des Ansatzes der Citizen Science, oder auch Bürgerwissenschaften, zusammen, um das Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit wenig oder keinem Einkommen zu analysieren, Voraussetzungen und intersektionale Zugangsbarrieren zu Kultur zu identifizieren und Möglichkeiten zu evaluieren, wie aus Nicht-Besucher*innen ein aktives Publikum werden kann – um so Umsetzungsformate des Postulats Kultur für Alle gestalterisch weiterzuentwickeln. Gefördert wird das Projekt durch den Förderfonds zur Finanzierung von Forschungsprojekten mit Bürgerbeteiligung an der HHU. Schon in der Zusammensetzung des ca. 20-köpfigen Forschungsteams spiegelt sich eine Herausforderung bürgerschaftlichen Engagements: Nicht alle Initiativen, die in der Bundesvereinigung versammelt sind, haben die personellen Ressourcen, um den Mehraufwand zu leisten, am Forschungsprojekt teilzunehmen. Im Kernteam sind 17 Vereine und Initiativen aktiv, die alle eher im urbanen Raum angesiedelt sind.
Durch Expert*inneninterviews mit Ehrenamtlichen und Fokusgruppengespräche mit Nutzenden der Initiativen hat sich das Projektteam qualitativ dem Forschungsfeld genähert und final gemeinsam einen standardisierten Fragebogen erstellt. Die Umfrage wurde vom 20.04.2023 bis zum 12.05.2023 deutschlandweit an rund 13.000 Kulturgäst*innen verschickt und von mehr als 2.500 Menschen ausgefüllt. Im Fragebogen wurden Informationen zur Person, zum Kulturnutzungsverhalten und zur Nutzung der Angebote der Kulturinitiativen erhoben. Erste Ergebnisse wurden im November 2023 auf der vom Forschungsteam organisierten Tagung Kultur mit wem? Tischgespräche zu Kultur und Teilhabe im KAP1 in Düsseldorf vorgestellt (mehr Informationen hier). Zur Kommunikation der Ergebnisse des Forschungsprojekts ist eine Publikation in Planung, so dass hier nur einige Schlaglichter vorgestellt werden.
Ergebnisse des Forschungsprojekts
Der Kulturbegriff der zivilgesellschaftlichen Kulturermöglichung
Die zuvor bereits angesprochenen Verständnisse davon, wozu Teilhabe in der Kultur überhaupt hergestellt werden soll, beeinflussen unweigerlich das Forschungsprojekt. In der Vermittlungspraxis der Initiativen reicht die Bandbreite von öffentlich geförderten Opernhäusern, über die freie Szene und privatwirtschaftliche Anbieter bis hin zu Orten der Soziokultur und Sportveranstaltungen, die von den Kulturgäst*innen eingefordert und besucht werden. In den Fokusgruppeninterviews stellt sich heraus, dass die Einschätzung dessen, was Kultur bedeutet, für die teilnehmenden Kulturgäst*innen weniger durch konkrete Inhalte bestimmt ist, als durch den verknüpften Nutzungsgrund: So wurden in den Interviews wiederholt Volksfeste und Ausflüge in die Natur als favorisierte kulturelle Aktivitäten genannt – um Zeit mit Familie und Freund*innen zu verbringen und eine Abwechslung vom Alltag zu erleben. Diese Nutzungsgründe bestätigten sich in den Ergebnissen der quantitativen Erhebung als priorisierte Nutzungsmotivationen. Die in Studien wiederholt angewandte Abgrenzung des Kulturbegriffs nach administrativen Faktoren wie der öffentlichen Förderung (vgl. Renz 2016) spiegelt ebenso wenig die Nutzungsrealität der Kulturgäst*innen wie eine aus der Theorie hergeleitete Definition. Ergänzend sei auf die These hingewiesen, die in den Expert*inneninterviews formuliert wurde: Durch das breite Angebot und die persönliche Vermittlung werden Kulturgäst*innen auf neue Veranstaltungen und Sparten aufmerksam, die sie ausprobieren können – gerade die Aufnahme sportlicher Veranstaltungen in das Angebotsspektrum sei ein niedrigschwelliger Anmeldegrund und über den Nutzungszeitraum hinweg können neue Sparten ausprobiert werden, die höhere emotionale Zugangsbarrieren aufwiesen. Die Breite des Kulturbegriffs ergibt sich also aus der Bedarfsorientierung ebenso wie einer Anerkennung von Habitus-Barrieren durch die Initiativen. Erfahrungsgemäß scheinen gerade Orte der Hochkultur weniger zugänglich für Menschen mit wenig Besuchserfahrung. In den quantitativen Daten bestätigt sich diese These: Die angegebenen Interessen der Kulturgäst*innen verändern sich mit der Zeit – sind bei Menschen mit geringerer Besuchserfahrung, also denjenigen, die noch nicht so viele kulturelle Veranstaltungen besucht haben, gerade Sparten der Populärkultur (Sport, Kino, Comedy, Volksfeste) beliebter, so steigt mit der Zahl der Besuche auch das Interesse an der sogenannten Hochkultur, also Oper, Theater oder Ballett.
Soziodemographische Daten und Kulturnutzungsverhalten der Kulturgäst*innen
Insgesamt lässt sich festhalten, dass es sich bei den Befragten überwiegend um ältere Menschen handelt (44,6 % sind 60 Jahre oder älter) und die Gruppe der Rentner*innen mit 36,8 % den größten Anteil bei der Frage nach der aktuellen Tätigkeit ausmacht. Auffallend ist hier auch die mit 21,1 % vergleichsweise hohe Zahl von Personen, die trotz Erwerbsarbeit (Vollzeit, Teilzeit, ‚Mini-Job‘, ‚Ein-Euro-Job‘, angestellt in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, gelegentlich oder unregelmäßig beschäftigt) von Armut bedroht und damit nutzungsberechtigt sind. 71,2 % der Befragten gaben an, sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig zu fühlen, was der höheren Armutsgefährdung für Frauen ebenso entspricht wie dem höheren Anteil von Frauen im gesamtgesellschaftlichen Kulturpublikum. Auffallend ist die, ebenfalls durch die Intersektionalität von Marginalisierung bedingte, hohe Zahl an Menschen, die angeben, mit einer Behinderung oder dauerhaften Beeinträchtigung zu leben (46,2 %).
Das Projekt konnte bestätigen, dass die Initiativen weitaus mehr erreichen, als finanzielle Barrieren zu überwinden: Besonders durch den individuellen Austausch im Rahmen der persönlichen Vermittlungsgespräche mit den Nutzenden werden intersektionale Barrieren abgebaut. So hat ein Viertel der Befragten (24,8 %) angegeben, vor der Anmeldung bei den Initiativen seltener als einmal im Jahr bzw. gar keine Kulturveranstaltung besucht zu haben. Durch die Anmeldung sinkt dieser Wert auf 5,5 %. Aus Nicht-Besucher*innen wird also ein aktives Publikum. Auch bei jenen Personen, die angeben, bereits vor der Anmeldung regelmäßig kulturelle Veranstaltungen besucht zu haben, steigt die Besuchsfrequenz – und zwar unabhängig von deren Alter. Dabei bedingt der Bildungsabschluss die kulturelle Vorerfahrung: Je höher der Bildungsabschluss, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten vor der Anmeldung bei den Initiativen schon zum aktiven Kulturpublikum gehörten. Auch die Gegenprobe bestätigt die These: Je niedriger der Bildungsabschluss, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Befragten vor der Anmeldung zur Gruppe der Kaum- und Nicht-Besucher*innen zählten. Im Vergleich zu den Auswertungen vieler Audience Development Bemühungen erreichen die Vereine dabei auffallend viele Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen: Der Anteil derjenigen Befragten ohne beruflichen oder akademischen Bildungsabschluss liegt bei gut einem Drittel, während diese Gruppe in der erwachsenen Gesamtbevölkerung nur rund 20% ausmacht (vgl. Sozialbericht 2014:118).
Einflussfaktoren auf den Kulturbesuch
Die meistgenannte Barriere ist in Konsequenz der Ausrichtung der BVKT-Initiativen die finanzielle. Weitere Hauptfaktoren, welche die kulturelle Partizipation der Befragten negativ beeinflussen, lassen sich in drei Gruppen kategorisieren: Faktoren, die von Kultureinrichtungen beeinflusst werden können (wie ‚ansprechende Kommunikation des Programms‘ und auch die Ticketpreise); Faktoren, die strukturell bedingt sind (wie ‚Anbindung im ÖPNV‘), die gerade im Vergleich von städtischen und ländlichen Räumen hervortreten. Final sind es individuelle Faktoren (wie ‚Unsicherheit bzgl. des erwarteten Verhaltens‘), die sich nur indirekt von Seiten der Kulturveranstalter beeinflussen lassen, jedoch gerade durch die persönlichen Vermittlungsgespräche anvisiert werden. Gründe, die Menschen zum Kultur- oder Sportbesuch animieren, sind zunächst ‚Abwechslung vom Alltag‘ und ‚etwas Neues erleben‘, gefolgt von ‚qualitativ ansprechende Darbietungen‘ und der ‚Atmosphäre vor Ort‘. Auffallend ist, dass der Besuchsgrund ‚bestimmte Künstler*innen/ Aufführungen‘ sehen zu wollen, in der Priorisierung erst auf Platz elf von vierzehn liegt. Betrachtet man die Gründe dafür, dass Menschen sich bei den Initiativen angemeldet haben, wird der finanzielle Aspekt und die Motivation, etwas Anderes zu erleben, ergänzt durch die soziale Perspektive – die Arbeit der Kulturinitiativen ist auch erfolgreich, weil Menschen kostenfrei eine zweite Person mitnehmen können.
Die Wirksamkeit der Brückenbauer-Funktion
Das Konzept der institutionsfernen Kulturvermittlung, welches der Arbeit der Initiativen zugrunde liegt, ist ein pragmatisches. Es umfasst die Akquise und kostenfreie Verteilung der zur Verfügung gestellten Kartenkontingente ebenso wie die Weitergabe von Informationen. Diese Zusatzinformationen können sich auf den Inhalt der Kulturveranstaltung beziehen, aber auch ergänzende Hinweise zur Anreise, zur Barrierefreiheit vor Ort umfassen, bis hin zum Besprechen von Unsicherheiten, zum Beispiel bezüglich Kleidung oder Verhaltensweisen. Basierend auf den Bedarfen der Nutzer*innen haben die Initiativen durch das Ehrenamt die zeitlichen und personellen Ressourcen individuell in den Austausch zu gehen und dabei die Perspektive und Wünsche der potenziellen Besucher*innen in den Mittelpunkt zu stellen. Gerade für Menschen mit wenig oder keiner Besuchserfahrung sind diese Vermittlungsgespräche besonders wertvoll und führen zu verbesserter kultureller Teilhabe. Damit unterscheidet sich dieser Vermittlungsansatz von den Bemühungen der Kulturinstitutionen insofern, dass nicht die angebotsseitigen Zielsetzungen motivationsgebend sind, wie es im Audience Development oder anderen aus den Häusern selbst heraus entwickelten Ansätzen zwangsläufig der Fall ist. Zusätzlich handelt es sich bei den ehrenamtlichen Vermittler*innen nicht um ausgebildetes Kulturvermittlungspersonal, sondern um Privatpersonen, deren Wissen und Motivation aus der eigenen Erfahrung als Kulturbesuchende stammt. Die direkte Affiliation mit einer Kulturinstitution positioniert professionelle Kulturvermittler*innen innerhalb des kulturellen Elfenbeinturms, aus dem heraus sie sprechen. So gibt es bei Bemühungen aus den Kulturinstitutionen heraus ein Innen und ein Außen: Professionelle Kulturvermittler*innen laden Außenstehende zu sich ins Innen ein. Die Ehrenamtlichen jedoch stehen zwischen den Kulturgäst*innen, sind in manchen Fällen sogar Kulturgästin und Ehrenamtliche zugleich, und sind damit in einer Position des Brückenbauens zwischen allen Beteiligten.
Eine der wohl bedeutsamsten Erkenntnisse des Forschungsprojekts ist es, dass die Kulturinitiativen erfolgreich zwischen Bevölkerung und Kulturanbietern vermitteln: Wer dort angemeldet ist, besucht über die Zeit mehr kulturelle Veranstaltungen. Ähnlich ist es bei den Nutzungswegen: Je mehr Veranstaltungen die Nutzer*innen durch die Initiativen besuchen, desto eher besuchen sie auch Veranstaltungen außerhalb des Programms der Initiativen. Der Kulturbesuch findet dabei nicht abgekoppelt vom sonstigen Leben statt: 57,2 % der Befragten berichten, dass sich ihr persönliches Wohlbefinden durch die Wahrnehmung der Kultur- und Sportangebote verbessert hat.
Transferpotenziale für andere Ebenen
Wie eingangs angekündigt folgen nun Erkenntnisse, die auch Transferpotenziale für Kulturveranstalter und Kulturpolitik bergen – aufgeteilt nach Gedanken aus der praktischen und der wissenschaftlichen Perspektive.
Aus der praktischen Perspektive heraus…
… zwischen Mensch und Institution: Zivilgesellschaftliche Umsetzung von Teilhabe
Das Herz der Arbeit der BVKT-Initiativen ist sicherlich die persönliche Vermittlung, der direkte Austausch, das sich Zeit nehmen, Empfehlungen geben und Beantworten von individuellen Fragen. Der personelle und zeitliche Aufwand, den diese Arbeit mit sich bringt, ist wohl für fast alle Kulturinstitutionen in Deutschland nicht leistbar und daher ist der Kern des zivilgesellschaftlichen Engagements von Kulturliste und Co nicht zu transferieren. Was aber ein Learning für Kulturpolitik und Kulturinstitutionen sein sollte, ist, dass der zivilgesellschaftliche Wille vorhanden ist, einen Beitrag zu kultureller Teilhabegerechtigkeit zu leisten. Die Kooperation mit der Zivilgesellschaft ist dabei immer auch ein Aushandeln und sicherlich auch ein Abgeben von Macht, doch erreichen Kulturinstitutionen durch solch bestehende Organisationen Menschen, zu denen sie sonst keinen Weg gefunden hätten. Und hier geht es nicht nur um die Initiativen der BVKT, auch Nachbarschaftsvereine, Selbsthilfegruppen oder auch Akteure wie Diakonie, AWO oder caritas sind potenzielle Ansprechpartner, Mitgestalter und Multiplikatoren.
… zwischen Menschen: kulturelle und soziale Teilhabe
Habituelle Unsicherheiten beim Kulturbesuch und das erhöhte Risiko der sozialen Isolation, von dem sowohl ärmere als auch ältere Bevölkerungsgruppen stärker betroffen sind, verhindern aktive kulturelle Teilhabe. Hier birgt gerade der gemeinsame Kulturbesuch „durch Begleitprojekte wie z.B. Kulturtandems, -pat*innen oder -lots*innen” (BVKT 2024c) ein starkes Transferpotenzial für Kulturveranstalter. Seit 2024 gibt es auch in Düsseldorf ein solches Angebot Unterwegs mit den Kulturfreund*innen, bei dem bis zu zehn Gäst*innen gemeinsam mit den Ehrenamtlichen des Vereins Veranstaltungen besuchen.
„Ich finde Ihrer aller Idee richtig gut, denn auch ich mag ungern abends - gerade in der Herbst-/Winterzeit - alleine 'losziehen'... Würde gern an Ihrem Projekt teilnehmen - und, wie Sie schon anmerkten - gern darüber andere Kulturgäste kennenlernen - und vielleicht ergibt sich dadurch auch eine neue Bekanntschaft, um mit dieser vermehrt zusammen Ihre tollen Angebote zu besuchen!!!“ (Kulturgästin Renate P.; Quelle: Interne Kommunikation, 09.09.2024)
Durch den Erhalt einer Förderung konnten im Rahmen des Projekts außerdem ÖPNV-Tickets gekauft werden, womit auch die finanzielle Barriere der Anreise ausgehebelt werden konnte. Darüber hinaus wurden die Kulturgäst*innen vor der Veranstaltung auf ein gemeinsames Getränk eingeladen, um mehr Raum für den sozialen Austausch zu schaffen. Idealerweise entstehen im Rahmen der gemeinsamen Ausflüge Bekanntschaften, die wiederum gemeinsam das reguläre Kartenangebot nutzen könnten.
In der vorherigen Abfrage auf Seiten der Kulturpartner gab es eine sehr spannende Rückmeldung. So berichten Kulturpartner, dass auch sie schon von Besucher*innen mit dem Wunsch nach Vernetzung kontaktiert wurden. Der Bedarf existiert und wird wahrgenommen – aus der zivilgesellschaftlichen Erfahrungen heraus lässt sich sagen, dass sich die Umsetzung solcher Angebote zum gemeinsamen Kulturbesuch lohnt – natürlich auch über die finanziellen Hintergründe der Besucher*innen hinweg.
… zwischen Mensch und Ort: Teilhabegerechtigkeit im Nahverkehr
Gerade in den dunkleren Monaten erhält die Kulturliste von Kulturgäst*innen die Rückmeldung, dass Veranstaltungsbesuche am späten Nachmittag oder Abend ungern wahrgenommen werden – die jedoch einen Großteil des Veranstaltungsportfolios ausmachen. Die An- und Abreise in der Dunkelheit stellt damit ein Hindernis für den Kulturbesuch dar.
Unterstützung auf dem Weg würde helfen, Barrieren zu überwinden und Kulturbesuche zu ermöglichen. Und es existieren in vielen Städten Angebote, auf die hier zurückgegriffen werden könnte: Beispielsweise gibt es einen Begleitservice der Düsseldorfer Rheinbahn, dem städtischen Verkehrsbetrieb, in Zusammenarbeit mit dem JobCenter Düsseldorf und der Zukunftswerkstatt Düsseldorf. Der kostenlose Begleitservice richtet sich an Menschen, „die kurzzeitig mobilitätseingeschränkt sind, schwer alleine einsteigen können oder unsicher sind, an welcher Haltestelle sie aussteigen müssen” und begleitet die jeweilige Person von Haustür zu Haustür über die gesamte Fahrt hinweg (Rheinbahn AG 2025). Aktuell wird er allerdings nur von Montag bis Freitag von 8.00 Uhr bis 18.30 Uhr angeboten, was größtenteils die Zeiten der Veranstaltungen besonders am Wochenende und in den Abendstunden nicht abdeckt. Hier braucht es also (kultur-)politische Entscheidungen und Kooperationsanstöße mit Kulturinstitutionen, um Teilhabegerechtigkeit nicht nur am Veranstaltungsort selbst, sondern schon auf dem Weg dorthin zu verbessern.
Aus der wissenschaftlichen Perspektive heraus…
… zwischen institutionsferner Kulturvermittlung und Audience Development
Da Audience Development die angebotsseitige Bemühung von Kulturinstitutionen beschreibt, bestehende Besucher*innen zu binden und neue Zielgruppen zu erreichen, kann die Kooperation mit den BVKT-Initiativen aus der Veranstalterperspektive als Teil des Audience Developments gesehen werden. Das Agieren der Initiativen selbst geschieht zwar in Kooperation mit diesen Veranstaltern, aber doch eigenständig, und ist damit in sich institutionsfern.
Der enge Austausch zwischen den meist ehrenamtlichen Vermittler*innen und den Kulturgäst*innen resultiert in einem breiten Wissen und langjähriger Expertise der BVKT-Initiativen, welche gerade bei der Planung neuer Angebote von Kulturinstitutionen abgefragt und in die Konzeption mit aufgenommen werden kann und sollte.
… zwischen Strukturen und Teilhabeorientierung
Die Arbeit der BVKT-Initiativen bewegt sich an vielen Stellen innerhalb der bestehenden Strukturen des kulturellen Sektors und bemüht sich, „Symptome“ dieser teilhabeungerechten Strukturen zu lindern – in der Hoffnung, dass die grundlegenden Mängel an Verwirklichungschancen auf gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe-Ebene langfristig abgebaut werden. Anpassungen in den Veranstaltungszeiten und den Zusatzangeboten können aber auch kurzfristig dabei helfen, Menschen den Kulturbesuch zu erleichtern beziehungsweise Bedarfe zu beantworten: Veranstaltungen, die nicht am späten Abend stattfinden, Zusatzangebote, die den sozialen Austausch stärken, wie etwa Angebote, die Menschen ohne Begleitung zusammenbringen, und aber auch die Einrichtung von Ruheräume oder Umsetzung von Relaxed Performances – gerade in Anbetracht der hohen Zahl von Befragten mit schweren seelischen und/oder psychologischen Erkrankungen.
… zwischen Image und Identität – strategische Anpassungen der Kommunikation
In der Kommunikation sei sowohl auf die hohe Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Darbietungen hingewiesen als auch auf den Wunsch des Wiedererkennens, die von den Befragten betont wurden. Eine sehr persönliche Kommunikation mit dem potenziellen Publikum, wie sie durch die ehrenamtlich getragene Arbeit der Initiativen möglich ist, wird die Ressourcen der meisten Kulturveranstalter überstrapazieren, unterstreicht aber eine mögliche Anpassung der Kommunikation hin zur individuellen Beziehung. Gerade die Kommunikation von basalen Informationen zum (Nicht-)Vorhandensein von Barrierearmut der Örtlichkeiten erreicht mit wenig Aufwand viel Wirkung. Über die Kommunikation hinaus soll hier auch darauf hingewiesen werden, dass barrierearme Architektur nicht an der Tür zum Vorstellungssaal enden darf – wenn der Rollator nicht mit zum Platz genommen werden kann oder eine Assistenzkraft nicht direkt neben einer Person im Rollstuhl sitzen darf, verhindern die letzten Meter einen erfolgreichen Kulturbesuch. Auch zu schmale, zu harte und allgemein zu wenig Sitzplätze sowie fehlende Festhaltemöglichkeiten bei Treppen wurden von den Befragten wiederholt als Quelle des Unwohlseins genannt.
Fazit und kritische Anmerkungen
Die Praxis und das Forschungsprojekt zeigen, wie erfolgreich die Initiativen arbeiten und wie es ihnen gelingt, Menschen zu erreichen, die sonst vom Kulturleben ausgeschlossen sind. Während auch Kulturveranstalter selbst Schritte unternehmen, um Besuchsbarrieren abzubauen und diverse Zielgruppen zu ihren Veranstaltungen einzuladen, stehen die Initiativen der BVKT zwischen den Kulturveranstaltern und potenziellen Besucher*innen und erreichen auch die Menschen, die die Outreach-Angebote der Veranstalter selbst nicht nutzen. Damit ergänzt die Arbeit der Initiativen auf der Schwelle zwischen Mikro- und Mesoebene die Aktivitäten rund um Teilhabegerechtigkeit, dem sie ihre institutionsferne Vermittlung in der Peripherie des kulturellen Elfenbeinturms und der damit verbundenen Hierarchiestrukturen des kulturellen Kapitals und Habitus umsetzen.
Während Kulturpolitik und Kulturinstitutionen also von der Arbeit der Brückenbauer lernen und durch Kooperationen Synergien erschlossen werden können, sei jedoch auf eine Problematik hingewiesen, die sich auch in der Debatte um das Tafelsystem in Deutschland findet: „In Almosensystemen sind die Menschen fremdbestimmt. So kann es keine soziale Gerechtigkeit geben“ (Selke in Schmidt 2023). Beide Formen von Almosensystemen, die Arbeit der Tafeln wie die Arbeit der BVKT, agieren innerhalb des gesellschaftlichen und strukturellen Status Quo und bearbeiten damit zwar Symptome, um Barrieren zu überwinden, bauen diese Barrieren selbst aber nicht ab. Hier braucht es die gemeinsame Veränderung durch Akteur*innen auf Makro-, Meso- und Mikro-Ebene.
Zum Abschluss dieses Beitrags soll ein weiterer Punkt unterstrichen werden: In der Wissenschaft wie auch in der kulturellen Praxis stehen wir vor einer gemeinsamen Herausforderung, die Mark Terkessidis (2019:79) pointiert zusammenfasst: „Doch während ‚wir‘ besprechen, wie Teilhabe etwa das Abgleiten in Parallelgesellschaften verhindern könnte, bemerken ‚wir‘ gar nicht, dass wir die eigentliche Parallelgesellschaft darstellen.“ Damit meint er die Gefahr, an der Zielgruppe vorbei zu arbeiten, wenn sich in den personellen Strukturen von Institutionen und Initiativen niemand findet, der Barrieren aus der eigenen Lebenserfahrung heraus einschätzen kann. Die Gefahr, wenn homogene Teams aus dem Bildungsbürgertum imaginieren, was Menschen brauchen könnten, die strukturellen Barrieren gegenüberstehen. Wir können also nicht nur über die fehlende Diversität im Publikum sprechen, sondern müssen auch die Diversität im Programm, im Personal und auf der Bühne hinterfragen. Die Ehrenamtlichen der BVKT bilden hier schon ein breiteres Bild der Bevölkerung ab und helfen damit dabei, aus der „kulturellen Parallelgesellschaft“ auszubrechen. Gleichzeitig muss auch die organisierte Zivilgesellschaft sich immer wieder selbst reflektieren und die Initiativen dafür sorgen, das Machtgefälle zwischen Zugangsschaffenden und Zugangsnutzenden aufzubrechen.