How we share Voguing? Vermittlungskonzepte beim Voguing zwischen Kunst, Kultur und Kultureller Bildung

„The teacher is not really the teacher, I will say he*she*them* is the sharer“ (B3).

Artikel-Metadaten

von Jutta Krauß

Erscheinungsjahr: 2020

Peer Reviewed

Abstract

Im Zentrum dieses Beitrages steht die soziokulturelle Tanzpraxis Voguing und ihre Vermittlungskonzepte. Voguing ist eine in den 1960er Jahren in New York entstandene Bewegungssprache, welche Posen in Tanz transformiert. Die Bewegungssprache ist allerdings nicht ohne ihre soziokulturellen Implikationen zu betrachten, da sie als Reaktion auf die gesellschaftlich geprägten Kategorien race, class und gender gelesen werden muss. Die Performer*innen schufen sich mit spezifischen kulturellen Handlungen einen Tanz- und Lebensstil sowie den sicheren Raum des Ballrooms, um vielfältige vergeschlechtlichte Positionierungen zu verkörpern.
Der Beitrag verfolgt die Befunde, welche auf einer Interviewforschung basieren. Dazu wurden Performer*innen, welche Voguing im Kontext unterschiedlicher informeller und nonformaler Bildungsinstitutionen unterrichten, befragt, um deren Verständnis von Kunst, Bildung und Vermittlung sowie deren persönliche Zugangsweisen darzulegen und zu rekonstruieren. In den folgenden Ausführungen werden die zentralen Befunde der empirischen Studie dargestellt, wobei der Fokus nicht auf einer Generalisierung liegt, sondern vielmehr auf der Hervorhebung des Spezifischen. Die Vermittlungskonzepte werden im Rahmen von Weitergabe einer Kultur und Kultureller Bildung diskutiert.

Einleitung und Kontextualisierung: Beziehungen zwischen Tanzkunst und Tanzvermittlung

Tanzvermittlung wird verstärkt zum Thema wissenschaftlicher Auseinandersetzungen sowohl im Kontext von künstlerischer Praxis als auch von Kultureller Bildung. Dabei zeigt sich, dass der Begriff Tanzvermittlung als sogenannter Containerbegriff fungiert und sich unscharf und offen lesen lässt (Barthel 2017:79). Vorliegende Studien zur Tanzvermittlung analysieren Vermittlungskonzepte und Qualitäten von künstlerischen Angeboten (Westphal/Bogerts/Uhl/Sauer 2018; Barthel 2017; Eger 2014) bewusst im Kontext von konkreten Vermittlungssituationen.

Die folgenden Theorien bilden den Referenzrahmen dieser Forschung zum Verständnis von Bildung, Tanzkunst, Vermittlung und biografischen Bindungen. Außerdem waren sie maßgeblich für die Fragen des Interviewleitfadens prägend.

In den Forschungen von Antje Klinge (2015, 2014, 2010) zeigt sich, dass für die Erforschung von Tanzvermittlungskonzepten das Verständnis von Bildung, Kunst und Vermittlung von zentraler Bedeutung ist. Das Verständnis von Bildung im Kontext von Tanzvermittlung basiert in der hier dargelegten Forschung auf der Aussage von Klinge: „Bildung ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit anderen und mit den Dingen der Welt. Bildung ist demnach immer reflexiv. Bildung kann nicht erzeugt oder gar erzwungen, sondern nur angeregt und ermöglicht werden“ (2014:62-63). Klinge bringt darin die wechselseitige Bezugnahme des Selbst mit der Welt zum Ausdruck. Außerdem bestimmt sie den Bildungsbegriff als nicht-intentional und weist somit auf mögliche Erfahrungsräume von Bildung hin. Tanzen und Tanz wird hier als Tanzkunst begriffen und an Monika Woitas‘ weit gefasste Begriffsdefinition für den Tanz angeknüpft. Sie ermöglicht, spezifische Erscheinungsformen hinsichtlich der Dimensionen Kultur, Historie, Bewegungsmuster, Funktion sowie Zeitgenossenschaft zu rahmen: „Eine allgemein gültige Definition für Tanz erscheint angesichts der vielfältigen kulturellen und historischen Erscheinungsformen nahezu unmöglich, differieren doch Bewegungsmuster und Funktionen innerhalb verschiedener Gesellschaften und Zeiten ebenso wie der den diversen Phänomenen jeweils zuerkannte Status oder die ihnen zugeordneten Bezeichnungen“ (Woitas 2001:1). Diese Begriffsrahmung ermöglicht eine Betrachtungsweise, Voguing als Tanzkunst zu begreifen, welche vielfältige sich wandelnde soziokulturelle und historische Implikationen in sich trägt. Des Weiteren wird dem Verständnis von Vermittlung Yvonne Hardts gefolgt: „Tänzerische Vermittlungspraxis wird dabei dahingehend verstanden, dass sie nicht nur tanztechnische Fähigkeiten vermittelt, sondern auch Ort der Recherche, der Wissensfindung und -produktion ist“ (2016:155). Hardts Betrachtungen erweitern die bloße Vermittlung einer tanztechnischen Weitergabe hin zu einer Wissensgenerierung und zu einer kulturellen Weitergabe. Denn dieses Verständnis impliziert die Fort-, Um- oder Neuschreibung einer tänzerischen Praxis und tänzerischen Wissensproduktion. Bezugnehmend auf Ingo Diehl und Friederike Lampert wird davon ausgegangen, dass Vermittlungstechniken personalisiert sind und individualisierte Schwerpunktsetzungen vorgenommen werden (Diehl/Lampert 2011:12): „Tanztechniken zeichnen sich immer durch persönliche Bedingungen und kulturelle Konstellationen aus, durch Überkreuzungen und Mischungen von Methoden“ (ebd.). Sie weisen damit auf persönliche Aneignungsstrategien und Aushandlungsorte im Tanz und im Tanzen hin.

Mit dem Beitrag wird eine bislang im tanzwissenschaftlichen Feld wenig sichtbare Tanz- und Kulturpraxis im Kontext ihrer Vermittlungskonzepte dargestellt, obwohl Voguing derzeit in vielen Tanzschulen und verschiedenen Bildungseinrichtungen vermittelt wird.

Forschungsfragen und forschungsmethodisches Vorgehen

Im Gesamtvorhaben geht diese Forschung folgenden Fragen nach: Auf welchen persönlichen und biographischen Zusammenhängen beruhen die Vorstellungen von und die Zugangsweisen zu Voguing? Welcher Kunstbegriff liegt der soziokulturellen Praxis Voguing zugrunde? Auf welchem Verständnis von Bildung basiert die Vermittlung von Voguing? Welche Vermittlungskonzepte liegen den Bildungssettings zugrunde? Damit zielt die hier vorgestellte Studie darauf, Erkenntnisse zu Konzepten von Vermittlung und zum Verständnis von Kunst und Bildung sowie zu biographischen Vorstellungen darzulegen, Vermittlung im Kontext von kultureller Weitergabe zu denken und dabei die Zusammenhänge von Kunst, Kultur und Kultureller Bildung diskursiv zu erweitern. Die Betrachtungsweisen zu Gender Performances, welche auch Thema der Interviewforschung waren, finden hier keinen Eingang.

Folgendes methodisches Vorgehen liegt der dargelegten Forschung zugrunde: Die qualitative Datenerhebung erfolgt mittels leitfadengestützter Expert*innen-Interviews. Für die vorliegende Untersuchung wurde ein Leitfaden entwickelt und eine Untersuchungsgruppe generiert. Der Leitfaden basiert zum einen auf Erkenntnissen der Untersuchung von Krauß (2020) und dem Gerüst einer leitfadengestützten Interviewforschung von Diehl und Lampert (2011) zu Tanztechniken. Weitere aus der Literatur identifizierten Themenfelder zu Vermittlungskonzepten im Tanz bilden die Grundlage für die Entwicklung des Leitfadens (Bogerts 2018; Fleischle-Braun 2016; Klinge 2010, 2014, 2015; Westphal 2018). Das damit verbundene Erkenntnisinteresse ist durch die Fragestellung nach dem biographischen Bezug, den Gender Performances, dem Verständnis von Kunst, Bildung und Vermittlung klar umrissen. Als Expert*innen werden Voguing-Performer*innen angesehen, welche die soziale Realität des Voguing repräsentieren und Voguing in Vermittlungskontexten teilen. Der Zugang zur Ballroom Community und die Kontaktaufnahme mit den befragten Personen gründet auf Aufenthalten im Feld und der Forschung Voguing on Stage (Krauß 2020).  Befragt wurden fünf Personen aus der Voguing-Community in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Aussagen sind anonymisiert und entsprechen den Zitaten von B1-B5. Die Auswertung der Expert*innen-Interviews erfolgt nach Udo Kuckartz (2014) im Sinne der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Sie zielt auf die „Bildung von thematischen Kategorien“ (Kuckartz 2014:77) und ermöglicht im Verfahren der Kategorienbildung ein induktives und deduktives Vorgehen.

Zum Beziehungsgeflecht Biographie und Ballroom Culture

Dieser Aspekt ermöglicht es, eine erhöhte Aufmerksamkeit auf autobiographische Aussagen zu legen. Die Beziehung der Voguing-Künstler*innen zum Ballroom kommt maßgeblich in ihren Erzählungen zum Tragen. So zeigen sich in den Aussagen der Voguing-Performer*innen persönliche Erfahrungen und Empfindungen, welche prägend für den Zugang zur Ballroom Culture sind. In ihren Erzählungen spiegelt sich eine bewusste Hinwendung zum Voguing wider, welche oft auf einer Suche nach Verkörperungen des Selbst basieren. Die Aussagen sind als Quellen zu lesen, um eine Suche nachzuzeichnen und Zugangsweisen zum Ballroom aufzuzeigen. So spiegelt sich in der folgenden Aussage die Suche nach einer tänzerischen Sprache wider, die abseits von männlich und weiblich gelesenen Bewegungen ein tänzerisches Verhalten ermöglicht: „In Tanzschulen bin ich natürlich vielen verschiedenen Stilen begegnet […] und da gab es in allen diesen Tanzbewegungen so eine sehr klare reglementierte Idee davon, wie sich Männer und wie sich Frauen zu bewegen haben“ (B1). Voguing wird hier als Möglichkeit betrachtet, sich gegen heteronormative Vorstellungen, welche Bewegungsmuster als weiblich oder männlich markieren, zu verhalten. Des Weiteren charakterisiert die persönliche Identifikation mit dem Tanzstil, ­– „dass ich mich mit der Kultur und dem Tanzstil identifizieren kann“ (B2) – eine enge persönliche Verwobenheit mit Voguing. Fragen an das Selbst und dessen Ausdrucksmöglichkeiten werden aufgeworfen – „What’s yourself? How do you feel and how do you present yourself others?“ (B3) – und rahmen die Suche nach einem tänzerischen Ort. Dabei zeigt sich in den Aussagen der Voguing-Performer*innen immer wieder, dass New York City als der Ort betrachtet werden kann, der die Möglichkeit bietet, „die Kultur einfach kennen[zu]lernen, […] in ihrem original Space“ (B4). Auch Befindlichkeiten kommen in den Aussagen zum Ausdruck: „Und dann bin ich […] in den ersten Workshop gegangen und war komplett in Bann gezogen, weil ich so eine Energie noch nie erlebt habe“ (B5). In den Aussagen kommen die Beweggründe der Voguing-Performer*innen zum Ausdruck: Sie erzählen von ihrer ersten Begegnung mit der soziokulturell geprägten Tanzpraxis Voguing, welche dann in dem Finden einer Ausdrucksweise gipfelt, welche es ihnen erlaubt, das Selbst auszudrücken. Dabei sind Reisen zum Entstehungsort dieser Tanzkultur für sie bedeutsam. Sie ermöglichen Voguing mit all seinen soziokulturellen Implikationen fassen zu können. Die Voguing-Performer*innen nehmen kulturelle Eigenheiten des Ballrooms auf und gründen in Europa die sogenannten Houses, um eine Szene zu etablieren und gemeinsam trainieren zu können. Houses sind in der Ballroom Culture familienähnliche Strukturen, welche als soziales Gefüge und ästhetische Allianzen zu verstehen sind. In den Interviewaussagen zeigt sich, wie die Voguing-Performer*innen selbst die Etablierung einer Szene reflektieren: „Wir haben versucht, Dinge wirklich zu übersetzen in die europäischen Szenen. Und das ist manchmal mehr, manchmal minder gut gelungen“ (B1). In den Aussagen kommt zum Ausdruck, wie sie ihr eigenes Vorgehen zwischen Aufnahme und Weitergabe der Voguing-Kultur reflektieren. Erzählend legen die Voguing-Performer*innen ihre persönliche Zugangsweise und ihr Zugewandt-Sein dar. Die Aussagen sind als Zeugnisse eines Beziehungsgeflechtes zwischen Biographie und Ballroom Culture lesbar. Dabei werden die Suche und das Finden von Möglichkeiten der Selbstpräsentation, welche sich in einem Gefüge aus Zugehörigkeit und Persönlichkeit in einem spezifischen kulturellen Handlungsmuster konstituiert, erzählend dargelegt und reflektiert.

Zum Bildungsverständnis beim Tanz: Eine Lesart im Kontext von Antje Klinge und Anke Abraham

In dem folgenden Abschnitt wird eine Argumentationslinie ausgebreitet, welche die Aussagen der Voguing-Performer*innen mit Annahmen zum Verständnis von Bildung erforscht. Die Aussagen fordern dazu auf, Konzepte von Bildung zu thematisieren und die Potenziale, welche dem Tanz und dem Tanzen zugeschrieben werden, zu klären. Die Rahmung eines Bildungsverständnisses soll dazu beitragen, den Tanz Voguing mit seinen Bildungspotenzialen sichtbar zu machen. Den Körper als Erfahrungsraum zu betrachten, spiegelt sich in den Aussagen der Voguing-Performer*innen wider. Voguing und die Vermittlung von Voguing wird als Etablierung eines Erfahrungsraumes betrachet: „Und hoffentlich kann ich einen Raum schaffen, der diese Lebensbildung auch vermittelt“ (B1). Voguing als einen Ort vielfältiger Möglichkeiten zu bestimmen, kommt auch in der folgenden Aussage zum Ausdruck: „Und ich finde ein Voguing-Workshop oder die Möglichkeit Voguing zu erfahren und zu lernen […], dass es ein Ort ist, wo man auch einmal kennenlernen darf, dass man sich hinterfragen darf“ (B2). Voguing ermöglicht, folgt man den Aussagen der Voguing-Vermittler*innen, die Generierung von Räumen, welche Erfahrungsmöglichkeiten schaffen. Dabei zeigt sich, dass der Ort der Erfahrung der Körper ist, in dem Sinne, „dass ich meinen Körper erfahren musste und wollte“ (B5). Die Auseinandersetzungen mit dem Körper verweisen auf zwei Ebenen: Nämlich auf die, dass der Körper beim Voguing erfahren werden soll und gleichzeitig auf die, dass der Körper Erfahrungen ermöglicht. Damit wird gleichzeitig auf das Material und die Materialisierungsprozesse von Körpern verwiesen. In dem Sinne, dass der Körper als Material erfahrbar ist und dass mit diesem Material Prozesse erzeugt werden können. Die beiden Ebenen beziehen sich jedoch nicht nur auf Material und Materialisierung, sondern auch auf Emotion und Motion. Dabei stehen Befindlichkeit und Bewegung in einem Beziehungsgefüge, welches darauf abzielt, mit und im Körper Erfahrungen zu sammeln. Den Körper als für sich stimmiges Instrument seines eigenen Ausdrucks und als Erfahrungsraum wahrnehmen zu können, kommt in folgender Aussage einer Voguing-Performer*in zum Ausdruck, nämlich „dass sich jeder am Ende wohl fühlt in seinem eigenen Körper, weil das ist das, weshalb ich so einen Klick, so einen magischen Moment mit Voguing hatte, weil ich mich selten so gut in meinem eigenen Körper“ (B5) fühlte. Diese Erfahrungsräume bindet Klinge in ihrer Argumentationskette im Kontext zur Tanzvermittlung an den Körper und Leib: „Der Körper oder Leib ist als sinnlicher Körper (Leib) immer das Fundament von Erfahrung. Über den Körper und die sinnliche Wahrnehmung bauen sich die Strukturen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns auf“ (Klinge 2014:64). Die „Bedeutung des Körpers“ (Klinge 2010:90) betrachtet sie als „konstitutives Element von Tanz und Bildung“ (ebd.). Klinge konstatiert die zentrale Bedeutung des Körpers im Bildungsprozess folgendermaßen: „Der Körper ist der Ort, an dem sich lebensweltliche Erfahrungen niederschlagen; er liefert die sinnliche Basis, von der Widerstands-, Differenz- und Lernerfahrungen ausgehen und ist schließlich das Handlungszentrum, das Erfahrungen, Ideen, Pläne oder auch Einsichten umsetzt“ (ebd.). Vom Körper ausgehend bestimmt sie den Tanz als Erfahrungsfeld: „Der Tanz stellt dieses ästhetische Übungsfeld für die Erprobungen des Selbst und der Welt, für Umdeutungen und Neuordnungen zur Verfügung“ (Klinge 2014:65). Ihre Argumentationslinie bezieht sich auf zwei Dimensionen von Bildung: Selbstbildung und Soziabilität. In dieser doppelten Auffassung von Bildung verschränken sich Auseinandersetzungen des Selbst mit Beziehungen zur Welt. In den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt sie „die Auseinandersetzung des Selbst mit der Welt“ (Klinge 2015:30), welche „die Selbstbestimmung, Teilhabe sowie Urteilsfähigkeit des Einzelnen“ (ebd.) fördert. Dabei geht sie davon aus, dass der Tanz ein „Übungsfeld für solche Selbst- und Welterprobungen liefert“ (Klinge 2015:31) und Reflexionen mit und über den Körper ermöglicht. Um sich selbst bilden zu können, bedarf es neuer Erfahrungen (Klinge 2014:63).

Die Analyse der Interviewaussagen zeigt, dass beim Vermitteln und Tanzen von Voguing die Entwicklung der Persönlichkeit als ein zentrales Anliegen betrachtet wird, welches sich im Sinne des oben dargelegten Bildungsbegriffes fassen lässt. Erfahrungen, welche an den Körper gebunden sind, bestimmen maßgeblich das Verständnis von Bildung im Sinne von Selbstbildung und Persönlichkeitsentwicklung: „Dass eine Stärkung des Selbstbewusstseins, eine Selbstbejahung da ist, dass ein Annehmen des persönlichen Struggles eigentlich im Mittelpunkt vom Voguing steht“ (B1). Die Selbstbildung wird zum zentralen Bildungspotenzial, um Voguing zu vermitteln: „Ich hoffe, dass ich Leute ermutigen kann, damit weiter zu machen und sich selber in Voguing zu finden, weil es einen persönlich weiterentwickeln kann.“ (B4). Bildung ereignet sich im Wechselspiel des Selbst mit der Welt. Die Entwicklungsmöglichkeiten des Selbst mit der Welt werden dabei eng an die Förderung der Urteilsfähigkeit und die Möglichkeit zur Teilhabe gekoppelt. Dabei ermöglichen die Auseinandersetzungen, welche sich in einem tänzerischen Ereignis vollziehen, Reflexionen über und mit dem Körper sowie Prozesse der Selbstwerdung und Selbstbestimmung durch sinnliche und sinngenerierende Erfahrungen. Dies führt dazu, dass der Körper – und die Körperlichkeit, nämlich der Köper im Vollzug – zum Aushandlungsort vielfältiger Dimensionen wird.

Die Nutzung von leiblich-sinnlichen Erkenntnispotenzialen für eine Zugangsweise zur Welt, spiegelt sich in den Aussagen der Performer*innen wider: „Da fließen jetzt akademische Bildung mit Straßenbildung in dem Sinne als Lebensbilder und Bewegungsbildung zusammen, und kreieren ein Bild, das weder von Praxis auf Theorie schließt, noch von Theorie auf Praxis, sondern sich dort befindet, wo all diese Dinge nebeneinander existieren können“ (B1). Dabei zeigt sich die Vernetzung von akademischen Themen mit dem Körper, indem „ich durch Voguing auch an akademische Themen herangeführt worden bin, aber über einen anderen Weg. Also es war nicht der wissenschaftliche Weg, sondern der Weg über Körpererfahrung und in dem Space sein: Was macht das mit mir selber?“ (B5). Der tanzende Körper wird dabei als Erfahrungsraum und Erkenntnisquelle betrachtet. Voguing ermöglicht somit durch und mit körperlichem Handeln Einsichten in vielfältige soziale, gesellschaftliche und kulturelle Handlungsfelder. Folglich werden in einem künstlerischen Gestaltungsprozess vielfältige soziokulturelle Themen verhandelt: „Everything in voguing you find in the real life“ (B3). Voguing wird als „school of life“ (B5) betrachtet. In künstlerischen Haltungen und Verfahrensweisen sieht Anke Abraham ein besonderes Potenzial (2016:20). Zentral für ihre Annahme ist, dass künstlerisches Forschen „ein Wissen generiert, das bisher nicht existiert hat“ (ebd.), dass dieses „künstlerische[s] Wissen sich von einem kognitiv erworbenen und verbal kommunizierten Wissen deutlich unterscheidet“ (Abraham 2016:21) und der Körper als Erkenntnisquelle gedacht werden kann. In ihrer Argumentation wird das Erleben und Erfahren zur zentralen Kategorie von Wissen und Erkenntnis: „Künstlerisches Wissen ist ein Wissen, das sich zentral unserer leiblich-sinnlich-affektiven Vermögen und Resonanzen verdankt“ (ebd.). Mit dieser Prämisse berührt sie die Frage, welche Wissensformen eine Ansprache an den und mit dem Körper richten. Damit fokussiert Abraham den Körper als Erkenntnisquelle. Auch wenn Abraham das künstlerische Forschen in das Zentrum ihres Beitrages stellt, wird hier davon ausgegangen, dass sich künstlerisches Forschen im Vermittlungsprozess abbildet und in einem tänzerischen Raum erfahrbar wird. Abraham wird hier aufgeführt, um den Körper als Subjekt und Objekt von Erfahrungen und Quelle von Erkenntnissen zu adressieren. Als Erkenntnispotenziale des Körpers betrachtet sie die Möglichkeiten der Reaktion und Aktion und als Erkenntnisgewinne des Körpers systematische und selbstreflexive Einsichten (Abraham 2016:24). Die Verbundenheit von emotionalen und kognitiven Fähigkeiten als auch von Haltungen der Kunst und Generierung von Wissen sowie von Reaktion/Aktion und Einsichten spiegeln sich – wie mittels der obigen Aussagen dargelegt wurde –  im tänzerischen Ereignis und Vermittlungsgeschehen des Voguing wider: Indem künstlerische Prozesse und tänzerische Ereignisse mit Bildungsprozessen gleichgesetzt werden, wird „das reflexive, das kritische Moment von Bildung, nämlich das Ungeordnete neu oder anders zu deuten, neu oder anders zu ordnen“ (Klinge 2014:67), entfaltet. Umdeutungen und Neuordnungen bezogen auf das Selbst und die Welt werden beim Tanzen und Vermitteln von Voguing ermöglicht. Zentral dafür sind Verfremdungsprozesse, Infragestellungen oder Irritationen, um Selbstverständliches und Gewohntes zu hinterfragen und neue Ordnungen zu thematisieren. Dabei ist für die Vermittlung das Wie von zentraler Bedeutung: nämlich „wie Bildungsprozesse im Tanz initiiert, gestaltet und reflektiert werden können, wie Erfahrungen gemacht, reflektiert und umgesetzt werden können“ (Klinge 2010: 88). Wie diese Vermittlungs- und Bildungsprozesse beim Voguing initiiert werden, zeigen die nachstehenden Befunde. 

Vermittlungskonzepte beim Voguing: Was und wie wird vermittelt?

Die vielfältigen Vermittlungssituationen, welche von Voguing-Performer*innen erwähnt werden, fordern dazu auf, die Praxis und das Verständnis von Praxis, zu beobachten, zu definieren und zu analysieren. Damit würde der „praktische Vollzug als Ort der Reflexion und Entwicklung“ (Hardt 2016:157) in den Fokus der Betrachtungen rücken, welcher in dieser Analyse keinen Raum erhält. Die Erfassung aller Elemente, die die spezifische Vermittlungssituation beim Voguing konstituiert, erfährt hier eine räumliche Zergliederung, so dass der Ort der Betrachtung nicht der Vollzug ist, sondern in verbalen Rahmungen verortet ist. Aussagen und Analyse sind dabei als doppelte Rekonstruktionen zu verstehen, nämlich indem die Performer*innen im Akt der Verbalisierung ihre Konzepte rekonstruieren und die Forscher*in während der Analysepraxis deren Konzepte wiederum rekonstruiert.

Mittels vier Subkategorien, welche bei der Inhaltsanalyse empirisch gewonnen wurden, lassen sich die Vermittlungskonzepte beim Voguing betrachten:

Situationsspezifische Vermittlung

Die Vermittlung von Voguing vollzieht sich immer in Abhängigkeit von Ort, Gruppe, Format und Person. Damit werden die unterschiedlichen und vielfältigen Konstellationen, in welchen sich das Vermittlungsgeschehen ereignet, in den Blick genommen. Exemplarisch wird dies mit folgender Aussage verdeutlicht: „Wer ist die Gruppe, die ich unterrichte? Sind das Anfänger, sind das Fortgeschrittene, haben die schon einmal in irgendeiner Form Körperarbeit gemacht?“ (B5). Zu bedenken ist dabei, dass künstlerische Vermittlungsverfahren differenten Bildungskonstellationen unterliegen. Gitta Barthel weist auf die komplexen Bedingungsgefüge, die vielschichtigen Komponenten und Dimensionen hin, um das Zusammenwirken verschiedener Personen und heterogener Aktionsfelder im Kontext von Tanzprojekten aufzufächern (2017:80).

Das kommunikative Verhältnis in Vermittlungssituationen

Das kommunikative Verhältnis spielt bei der Vermittlung eine zentrale Rolle. Es wird ein Bogen von „viel erklären, viele Fragen stellen“ (B4), „dass man halt Feedback gibt“ (B4) bis hin zu „vormachen und nachmachen und Korrekturen geben“ (B2) gespannt. Dabei zeigt sich, dass die Kommunikation sowohl auf der verbalen als auch auf der körperlichen Ebene verläuft.

Vermittlung des Voguing-Vokabulars

Zentral für die Vermittlung des Voguing sind Bewegungen, welche sich im Sinne eines kodifizierten Vokabulars beschreiben lassen. Durch folgende Aussagen soll dies verdeutlicht werden: „Kodifizierte Bewegungen sind in dem Sinne vor allem die Basics, die man dann um die Five Elements lernt: Catwalk, Duckwalk, Hand-Performances, Floor-Performances und Spins und Dips“ (B1) und es gibt „grundlegende ABC-Vokabularregeln“ (B5). Die angeführten Aussagen sind exemplarisch zu verstehen. Eine detaillierte Ausführung würde es ermöglichen, die zentralen Bewegungsprinzipien des Voguing zu veranschaulichen. Die Tanzsprache Voguing würde dann plastisch vor den Augen der Leser*innen erscheinen. Denn Stile, Elemente und Categories des Voguing können durch Begriffe detailliert beschrieben werden. Doch mittels des Voguing-Vokabulars werden nicht nur spezifische Bewegungsmuster beschreibbar, sondern auch deren Qualitäten und soziokulturelle Implikationen. Die Interviewaussagen nehmen die Funktion ein, darzustellen, dass es ein spezifisches Voguing-Vokabular gibt. Nicht zum Ausdruck kommen in dieser Darstellung, die mit den Bewegungsprinzipien verbundenen spezifischen Ausdrucksweisen und Ausdrucksmöglichkeiten, obwohl diese beim Vermittlungsprozess und den Aussagen der Performer*innen von großer Bedeutung sind. 

Vermittlung von Verkörperungen zwischen Training und Battle sowie Freestyle und Technik

Die Vermittlung der Tanzpraxis Voguing oszilliert, betrachtet man Verkörperungsprozesse und Aufführungsmodi, zwischen Freestyle und Technik sowie zwischen Selbstpräsentation und Leistung. Damit rücken zum einen die Differenzen zwischen dem eigenen Ausdruck und der kodifizierten Bewegung und zum anderen Unterschiede zwischen ortspezifischen Verkörperungen beim Training oder einem Battle auf der Bühne in den Fokus. Mit der folgenden Zitatcollage soll dies verdeutlicht werden: „Im Training […], dass man die Basics durchgeht […] und auch deinen eigenen Style respektiv Qualität im Ganzen aufbauen kannst“ (B2). „Style, Grace und Individuality oder Character, das sind auf jeden Fall auch die Sachen, die wir in einer Performance erwarten, die eher die Qualität der Performance beschreiben, die dann übersetzt werden muss, durch die eigenen Bewegungselemente“ (B4). „Die Essenz von Ballroom und vom Voguing ist eigentlich Freestyle. Du kriegst die Tools und dann arbeitest du selber damit und kreierst deinen eigenen Charakter“ (B5). In diesen Aussagen spiegeln sich die Bewegungen zwischen Form und Freiheit wider. So zeigt sich der Tanz in seinem spezifischen Vollzug sowohl in Köperformierungen als auch in der Freiheit von Verkörperungen. Die Aufführungen pendeln zwischen festgelegten Formen des kollektiven Voguing-Vokabulars und Freiheiten des persönlichen Verkörperns.

Zum Verständnis von Kunst und Kultur

Voguing ist Kunst und Kultur in dem Sinne, dass die Voguing-Kunst Teil der Ballroom-Kultur ist. Voguing als Bewegungssprache zu betrachten, bedeutet die in Tanz transformierten Posen und Catwalks im Kontext seiner Entstehungsgeschichte zu verstehen. Denn die soziokulturell geprägte Tanzpraxis Voguing entstammt einem gesellschaftlichen Erfahrungsraum der LGBTQ*-Community aus Harlem in New York City der 1960er Jahre und ist geprägt von Marginalisierung und den Strukturkategorien race, class und gender. Das tänzerische Verhalten von Voguing-Performer*innen im Ballroom wird von der gesellschaftlichen Situation der 1960er Jahre in New York City und der Notwendigkeit „for black and Latino gays to have a safe space to express themselvse“ (Gaskin 2013:o.S.) bestimmt. Dabei befragen die Protagonist*innen der Ballroom-Szene „gender and sexual identity through an extravagant fashion masquerade“ (ebd.). Sie loten in kompetitiven Battles Aspekte von Geschlecht aus und zelebrieren Formen der Selbstdarstellung. Somit werden soziale Erfahrungen aus dem damaligen gesellschaftlichen Raum in ästhetische Handlungsweisen des Ballrooms transformiert. „Die Praktiken des Sich-Kleidens, die Pose als Moment der Selbstpräsentation, das Gehen auf dem Catwalk kann als eine Form der Freiheit interpretiert werden“ (Krauß 2020:75). Denn Voguing-Performer*innen etablieren einen kulturellen Raum, in dem vielfältige vergeschlechtlichte Verkörperungsprozesse ermöglicht werden. Dabei wird Voguing zum einen als eine Bewegungssprache verstanden, bei der Posen und Catwalks auf einer laufstegähnlichen Bühnenfläche tänzerisch eine spezifische Attitude und die Darstellung des Selbst zum Ausdruck bringen, und zum anderen wird Voguing im Kontext eines spezifischen kulturellen Entstehungsraumes betrachtet.

Bei der Analyse der Interviewaussagen zum Verständnis von Kunst und Kultur zeigt sich, dass Ästhetikkonzepte mit historischen, geschichtlichen und kulturellen Konstruktionen eng verwoben gedacht und gelebt werden. Es besteht eine untrennbare Nähe zwischen dem Verständnis von Kunst und Kultur in der Ballroom Culture, denn die Geschichte des Ballrooms prägt die Ästhetik des Voguing.

Die Tanzkunst wird von einer spezifischen Ästhetik, welche sich in den Stilen, Elementen und Categories des Voguing sowie in kulturellen Handlungsfeldern des Ballrooms wie den sogenannten Houses niederschlägt, zum Ausdruck gebracht. Bezogen auf die Bewegungen heißt es, dass es nicht nur um die Elemente, sondern „um ein ästhetisches Verständnis von dem, was das Element ist“ (B1), geht. Ästhetik kann somit als sinnliche Aufladung von Bewegungselementen betrachtet werden. In dem Sinne, dass Bewegungen mit Bedeutungen verbunden werden, welche erfahrbar sind: „Damit man Kunst verstehen kann als Voguing, muss man die Kultur genauso gut kennen. […], weil jede Bewegung hat ja eine Bedeutung, jede Attitude übermittelt etwas“ (B2). Dabei basieren Bedeutungszuschreibungen auf der Verwobenheit von Kunst und Kultur: „Das ist eine Kunst, das ist eine Kultur“ (B4). Bewegungen sind an Bedeutungen gebunden und diese wiederum wurzeln in der Geschichte des Ballrooms. Die Entstehungsgeschichte prägt sowohl die Kunst als auch die Kultur.

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, mit den Aussagen der Voguing-Performer*innen eine Geschichte des Ballrooms zu er-schreiben. Dabei basiert dieses Vorgehen auf dem Anliegen der Oral History. Die Aussagen werden dabei als Quellenmaterial im Sinne einer oralen Überlieferungskultur betrachtet. Im Sinne der Oral History ist es möglich, die Aussagen der Voguing-Performer*innen als „Gewinnung von Informationen“ (Wehren 2020:33) zu nutzen und die „Selbstzeugnisse“ (ebd.) im Kontext der „Selbstermächtigung“ (ebd.) zu betrachten. „Eine Stimme zu haben, an der Geschichte mitzuschreiben, sich selbst darin zu positionieren“ (ebd.), wird dabei zum zentralen Aspekt.

„Wurzeln sind […] schon in den [19]20er Jahren, zur Zeit der Harlem Renaissance und weil da die Drag- und Ballroom-Community entstanden ist. Aber auch da selbst innerhalb der LGBTQ-Community natürlich Rassismen präsent waren und deswegen […] POC, Black, Latino in diesem Wettkampf keine Möglichkeit hatten, Anerkennung zu bekommen und zu gewinnen. Und daraus dieser Wunsch nach einem eigenen Space entstanden ist und dafür im Endeffekt der erste Stein für die Voguing-Kultur oder Ballroom-Kultur gelegt wurde“ (B5). „Ich glaube, die Leute, die das eigentlich angefangen haben, sind Drag Queens, Transgender, Gay-People“ (B2). „Wie viele amerikanische, urbane Kulturen stammt das aus der überwiegend Schwarzen und Latino Gesellschaft. […]. Und das ist natürlich eine Minderheit, die sehr viel mit Rassismus, mit Ungleichheit zu tun hatte im sozialen System. Die keinen Zugang hatten, oder vielleicht schlechteren Zugang, zu Sachen wie Education, also allein Schule, Bildung, Arbeitsplätze […]. Von daher ist erstmal zu verstehen, was diese Community geschaffen hat, weil es keine Orte gab für sie. Also ganz essentiell zu verstehen, ein Kampf war, um sich einen Freiraum zu schaffen, in dem man auch akzeptiert war und natürlich dann auch einfach über die künstlerische Art oder über Tanzen oder über Musik, was sehr tief verwurzelt ist in generell Schwarzer Kultur, sich auszudrücken“ (B4). Bedeutsam bei der Entstehung und Entwicklung des Ballrooms „ist dieser Empowerment-Faktor von People of Color und Leuten, bei denen man sieht, dein Körper wird nicht repräsentiert in der normalen Gesellschaft und du bist marginalisiert und deswegen wirst du bei uns zelebriert“ (B5). Das bedeutet, dass Voguing „aus so einer Opression und aus einem Struggle und aus einem Wunsch heraus entstanden ist“ (B5). Daraus resultiert der Wunsch, dass „Ballroom als Sprache […] einmal erkannt wird als Kultur, aber auch als Kunstform, aber auch als politische Aussage“ (B4).

Es zeigt sich, dass die Erzählungen über die Geschichte(n) des Voguing sich aus demselben Bestand eines Narrativs speisen. Es handelt sich um ein immer wieder aufgerufenes und wiederholtes Narrativ, das als „komprimierter Erzählkern“ (Müller-Funk 2019) verstanden werden kann. Es handelt sich hier um ein Erzählmuster, das „aus dem Gegenwartshorizont heraus“ (Müller-Funk 2008:VIII) eine Kultur mit „kollektiven Erinnerungsbeständen, die zu einem festgesetzten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort aktualisiert und manifestiert“ (Müller-Funke 2008:8) wird, um die Voguing-Geschichte(n) festzuhalten und fortzuschreiben. Auch wenn „der Akt des Erzählens selbst immer zeitgenössisch“ (Müller-Funk 2008:67) ist –  und die Form und die Formen des Erzählens in dieser Untersuchung nicht bedacht werden – werden die Erzählungen hier als konstitutiv für die Verwobenheit von Kultur und Kunst betrachtet. Das Erzählen gleicht einer Handlung, welche stets den Sinn einer Kultur und Gemeinschaft konstituiert. Die aufgeführten Erzählkerne werden als „die wichtigsten Narrative, die eine Kultur bestimmen und in ihr bestimmend sind“ (Müller-Funk 2008:311) vorgeführt, um sie als „die sichtbaren und expliziten Formationen einer Kultur“ (ebd.) zu begreifen.

Die Lücke zwischen der erzählten und gelebten Geschichte kann im Kontext zwischen Beschreibung und Selbstpositionierung sowie zwischen Archiv und Bewegung betrachtet werden. Eine kritische Sichtweise auf die eigene Kultur und ihre Erzählweisen werfen die Voguing-Performer*innen selbst auf: „Wir müssen jetzt schauen, wie wir die Geschichte lenken. Und was machen wir mit diesem Wissen?“ (B1).

Voguing-Vermittlung: Die Weitergabe und Übersetzung einer Kultur

In den Aussagen der Voguing-Performer*innen zeigt sich deren selbstreflexives Potenzial. Sie fordern eine verantwortungsvolle Weitergabe der Ballroom Culture: „Ich muss das weitergeben können, ohne Scham, sondern mit einer Verantwortung“ (B1).

Die befragten Voguing-Performer*innen übersetzen in einem kommunikativen Verhältnis einer Vermittlungssituation zwischen dem Gesprochenen und dem Getanzten, zwischen der Raumbewegung von Choreographie und der Zeichenhaftigkeit von Bewegungsabläufen, zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen sowie zwischen der in Medien gespeicherten Materialien und der Materialität des Körpers, als auch zwischen dem im und durch den Körper gespeicherten und generierten Wissen und dessen Wahrnehmung. Die Weitergabe einer Kultur lässt sich mit Prozessen des Übersetzens vergleichen. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein betrachtet Übersetzungen „als eine zentrale Praxis (tanz-)künstlerischer Arbeit einerseits und als grundlegendes Konzept tanzwissenschaftlicher Forschung andererseits“ (Klein 2019:13). Sie verweist auf vielschichtige Übersetzungsprozesse im Kontext von Tanzpraxis und Tanzwissenschaft: „Zwischen Sprechen und Bewegen, Bewegung und Schrift, zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen, zwischen unterschiedlichen Medien und Materialitäten, zwischen Wissen und Wahrnehmung, […]“ (Klein 2019:13-14). Es wird davon ausgegangen, dass „Übersetzung niemals ‚eins zu eins‘ sein kann, niemals identisch sein kann mit ihrem Ausgangspunkt“ (Klein 2019:348). Die Performer*innen befragen genau diesen Moment, wie das Übersetzte in Verbindung mit dem Ausgangspunkt steht. Dabei weisen sie daraufhin, dass die Bewegungen des Voguing nicht ohne deren Kulturraum zu verstehen sind. Zentral für die Weitergabe der Ballroom Culture wird somit der Aspekt der Verantwortung. Die Herausforderung besteht darin, gegen Cultural Appropriation zu intervenieren, die Ballroom Culture zu respektieren und die Einschreibung des queeren Lebens in diese Kultur zu beachten. Die Weitergabe bedarf eines Ethos: „Das Einwirken auf die Gegenwart ist somit von der Analyse des Jetzt und der Vergangenheit bestimmt, während das Ziel offenbleibt“ (Castro Varela/Dhawan 2020:9-10).

Voguing im Kontext von Kultureller Bildung

Voguing im Kontext von Kultureller Bildung zu betrachten, geschieht im Anschluss an Jörg Zirfas‘ Beitrag „Die Arena der Kulturellen Bildung. Ein analytisches Modell“ (2015/2016). Bezugnehmend auf die Arenen der Kulturellen Bildung werden die Dimensionen performativ und kritisch herausgegriffen. Diese eröffnen die Diskussion bezogen auf Inszenierungsformen und Auseinandersetzungen. Bei der ersten Dimension steht die „konkrete körperliche und soziale Praxis in den Arenen Kultureller Bildung im Mittelpunkt“ (Zirfas 2015/2016). „Performativitäten und Inszenierungen“ (ebd.) werden bedeutsam, wenn es gilt „ganzheitliche Erfahrungsräume“ (ebd.) und ein „kulturelles Vollzugsgeschehen“ (ebd.) zu ermöglichen. Die Betrachtung der performativen Dimension im Kontext von Kultureller Bildung ermöglicht im Sinne Zirfas „einen Wechselprozess zwischen sinnlicher Wahrnehmung, rationaler Auseinandersetzung und praktischem künstlerischen Handeln“ (ebd.). Was bedeutet dies für die Vermittlung von Voguing? Zentral für die Vermittlung von Voguing ist der Vollzug. Körperliche Praktiken und Erfahrungsräume mit dem Körper prägen die Vermittlungssituation. Die Suche nach Verkörperungen des Selbst und die Zugangsweisen zum Ballroom deuten darauf hin, dass Voguing als körperliche Darstellungsform betrachtet wird, welche Umdeutungen von heteronormativen Mustern und Machtverhältnissen sinnlich, rational und künstlerisch ermöglicht. Dabei wird der Körper zum Fundament der Erfahrung. Dem Tanzen von Voguing werden Erkenntnispotenziale und Erfahrungsgewinne zugeschrieben, in welchen akademische Themen mit dem Körper und seiner Körperlichkeit verhandelt werden.

Bezogen auf die kritische Dimension können die Arenen der Kulturellen Bildung als „Krisenorte der Infragestellungen und Herausforderungen, in denen sich nichts von selbst versteht und in denen alle Faktizitäten und Geltungsansprüche nach kritischer Auslegung und Umsetzung verlangen“ (Zirfas 2015/2016) verstanden werden. Kritik wird damit als ein artistisches und kulturelles Befragen und in Frage stellen betrachtet (ebd.). Wie zeigt sich die kritische Dimension in Vermittlungskonzepten des Voguing? Sie zeigt sich im Verständnis von Kunst und Kultur und im Befragen des Verhältnisses zueinander. Im Kontext der Voguing-Vermittlung werden kulturelle Fragestellungen künstlerisch gestellt. Künstlerische und körperliche Ausdrucksweisen des Voguing sind eng an kulturelle Handlungsweisen des Ballrooms gebunden, so dass sich Kunst und Kultur gegenseitig beeinflussen und konstituieren. Voguing-Kunst und Voguing-Kultur fordern stets nach einer kritischen Auslegung und Umsetzung, um diese verantwortungsvoll zu vermitteln, zu übersetzen und weiterzugeben.

Konklusion

Mit den Aussagen der Voguing-Performer*innen und deren Analyse zu Vermittlungskonzepten beim Voguing konnte aufgezeigt werden, dass Körper und Körperlichkeit stets die Zugangsweisen zum Ballroom bestimmen, das Verständnis von Bildung im Sinne einer Selbstbildung und Weltbildung prägen, das Verhältnis von Kunst und Kultur zwischen tänzerischem Ereignis und der Weitergabe von Tanz bestimmen und im Zentrum der Vermittlungskonzepte als Erfahrungsraum und Erkenntnisquelle stehen. Dadurch lassen sich Vermittlungskonzepte beim Voguing in der Arena der Kulturellen Bildung verorten, in dem Sinne, dass der Körper zum zentralen Ort eines sinnlichen wie sinngenerierenden Ereignisses wird. Voguing als Erfahrungsraum, Voguing als Selbstermächtigung, Voguing als Vernetzung von Kunst und Kultur ermöglicht, die Körperlichkeit als Ort diskursiver Praktiken zu betrachten.

Verwendete Literatur

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  • Bogerts, Teresa (2018): Wie viel Pädagogik braucht die Kunst? Auf der Suche nach dem Pädagogischen und Bildenden im Künstlerischen. In: Westphal, Kirstin/Bogerts, Teresa/Uhl, Mareike/Sauer, Ilona (Hrsg.): ZWISCHEN KUNST UND BILDUNG. Theorie, Vermittlung, Forschung in der zeitgenössischen Theater-, Tanz- und Performancekunst (377-399). Oberhausen: ATHENA Verlag.
  • Bogerts, Teresa (2018): Kunst- und Bildungsverständnisse von Kunstschaffenden im Spannungsgefüge zwischen Kunst und Bildung. In: Westphal, Kirstin/Bogerts, Teresa/Uhl, Mareike/Sauer, Ilona (Hrsg.): ZWISCHEN KUNST UND BILDUNG. Theorie, Vermittlung, Forschung in der zeitgenössischen Theater-, Tanz- und Performancekunst (401-419). Oberhausen: ATHENA Verlag.
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Jutta Krauß (2020): How we share Voguing? Vermittlungskonzepte beim Voguing zwischen Kunst, Kultur und Kultureller Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/how-we-share-voguing-vermittlungskonzepte-voguing-zwischen-kunst-kultur-kultureller-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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