„Hello, we’re from the internet“ – Zur digitalen Transformation des Kulturbetriebs
Abstract
Theorie und Praxis des Kulturmanagements zeichnen sich durch angebotsorientiertes Denken aus. Möglich ist dies durch eine weitreichende öffentliche Finanzierung der Kulturbetriebe, die sie vor den Dynamiken des Marktes schützt. Sie schützt jedoch nicht vor den Dynamiken der Digitalisierung, durch die immer mehr Menschen zu kulturellen Akteuren und Multiplikator*innen werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung müssen Kultureinrichtungen ihre Rolle als Kulturproduzent*innen erweitern und zu Knotenpunkten in der Auseinandersetzung mit kulturellen Themen werden. Die Digitalisierung bedeutet somit einerseits eine existenzielle Herausforderung für die Kulturbetriebe, bietet zugleich aber auch Anlass und Möglichkeiten, das eigene Selbstverständnis neu zu denken und weiter zu entwickeln.
Verlust der Deutungshoheit
Am 2. März 2018 wurde der Jackson Pollock-Room des Museums of Modern Art (MoMA) in New York von einem Künstlerkollektiv gekapert: Mit Hilfe einer Augmented-Reality-App wurden Pollocks Bilder mit digitalen Kunstwerken überlagert. Besucher*innen vor Ort konnten die App entweder auf ihr Smartphone laden oder ein Gerät ausleihen: Wenn sie bei aktivierter App das Smartphone auf ein Pollock-Werk richteten, erschien auf dem Bildschirm ein anderes, digitales Kunstwerk. Der Raum wurde somit in die Galerie des Künstlerkollektivs umgewandelt, ohne dass die Originalbilder Schaden genommen hätten, aber auch ohne dass das MoMA davon gewusst, geschweige denn es erlaubt hätte (DeGeurin 2018). Die Irritationen zeigt der Trailer zum MoMA-Hack Hello, we’re from the internet.
Aktionen wie diese können immer öfter auch im klassischen Kultursektor beobachtet werden. Ein anderes, in Deutschland überregional beachtetes Beispiel war der Twitter-Account @BayreuthFest, der im Sommer 2015 zwei Tage vor der Eröffnung der Bayreuther Festspiele gestartet wurde. Sechs Wochen lang wurde dort getwittert, was Kultureinrichtungen typischerweise twittern: Es gab Berichte über die Festspiele und die Künstler*innen, Hinweise auf Berichterstattungen in den anderen Medien sowie auf Radioübertragungen der Aufführungen und es wurden Hashtag-Aktionen wie #WhyILoveWagner angestoßen usw. Der Account erreichte in kurzer Zeit 1.500 Follower*innen und wurde von zahlreichen Opernhäusern, Sänger*innen und Medien erwähnt. Erst am Ende des Festivals stellte sich heraus, dass es sich bei dem Account um einen Fake-Account handelte, der nicht von den Bayreuther Festspielen, sondern von einer Musikstudentin aus München betrieben worden war (Merkur 2015).
Diese Beispiele machen deutlich, dass die Deutungshoheit über das kulturelle Erbe nicht mehr allein bei den Kulturinstitutionen liegt. Dank der digitalen Medien werden mehr Menschen zu kulturellen Akteuren und bringen sich in Debatten zu kulturellen Themen ein, beteiligen sich an der Kulturproduktion und beeinflussen damit auch die allgemeine Vorstellung davon, was Kultur ist und leisten soll. Das ist nicht mehr allein den Kultureinrichtungen vorbehalten. „Everyone is a media outlet” heißt es bei Clay Shirky (2008:55) – jede*r ist ein*e Medienherausgeber*in und kann als solche*r eine potenziell globale Öffentlichkeit erreichen und damit auch Themen beeinflussen, die in der Öffentlichkeit verhandelt werden.
Begriffe wie Prosumer (Toffler 1980), Co-Creation (Prahalad/Ramaswamy 2004), Groundswell (Li/Bernoff 2011), Hybridisierung als Merkmal der Kultur der Digitalität (Stalder 2017:53ff.) oder Mitmachweb zielen auf das gleiche Phänomen: Dass viel mehr Menschen kulturelle und kommunikative Akteure sind, die gehört und wahrgenommen werden wollen und die mitgestalten, mitreden, mitbestimmen wollen. Unabhängig davon, wie dieses Phänomen bezeichnet wird, steht es im Widerspruch zu der angebotsorientierten Denkweise, die in den öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen und in der Kulturmanagementlehre vorherrscht. Peter Bendixen schreibt in seiner „Einführung in das Kunst- und Kulturmanagement“, dass der Publikationsprozess im Kulturbereich vom vorhandenen Kunstwerk ausgeht und dann der „Markt nach Möglichkeiten ab[getastet wird], dieses kulturell und gegebenenfalls auch kommerziell erfolgreich in die Öffentlichkeit zu bringen. Das dominierende Maß ist hier die Kunst, und ihre Publikation schließt für die Öffentlichkeit Zumutungen, Irritationen, Unverständnis und Provokationen nicht nur nicht aus, sondern intendiert sie nicht selten” (Bendixen 2011:199).
Für diese Inside-Out-Orientierung bei der Entwicklung von kulturellen Angeboten ist Bendixens Aussage nur ein stellvertretendes Beispiel. Sie lässt sich ebenso gut in vielen anderen einschlägigen Werken des Kulturmanagements finden (Tröndle 2006, Heinrichs 2012, Klein 2011), bei vereinzelter Kritik dieser Sichtweise (van den Berg 2009). Ihr zugrunde liegt die Überzeugung,
- dass im Kulturbetrieb alles von der Kunst hergedacht werden muss,
- dass das Management der Kunst dienen soll, diese aber keinesfalls irgendwie beeinflussen oder gar beschränken dürfe,
- dass sich Kultur nicht an den Bedürfnissen und Ansprüchen orientieren dürfe, die außerhalb ihrer selbst liegen.
Diese Überzeugung ist ein wichtiges Argument für die öffentliche Finanzierung von Kunst. Sie soll helfen, das Kulturangebot vor der Dynamik und den Anforderungen des Marktes zu schützen, um kreative Offenheit und Experimentierfreude zu gewährleisten. Externe Entwicklungen und Anforderungen, die von außen an die Kultureinrichtungen herangetragen werden, konnten dadurch weitgehend ferngehalten werden. In einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder 2017) ist das kaum noch möglich, weil immer mehr Menschen zu kulturellen Akteuren werden und den Anspruch, die kommunikativen und technischen Mittel haben sich einzubringen. Das entzieht sich der Kontrolle der Kultureinrichtungen und eine reine Inside-Out-Perspektive führt nur zu einem größer werdenden blinden Fleck im Gesichtsfeld der Kultureinrichtungen – wie diesdie anfänglichen Beispiele zeigten.
Norbert Sievers schrieb bereits 2011 im Jahrbuch der Kulturpolitischen Gesellschaft zum Thema Digitalisierung und Internet:
„Theater, Museen, Bibliotheken, Soziokulturelle Zentren und andere Kultureinrichtungen werden als wichtige Orte kultureller Öffentlichkeit öffentlich gefördert. Durch die neuen interaktiven Medien und das Internet verändert sich ihre Funktion und Relevanz” (Sievers 2011:18).
Das Zitat zeigt, dass Digitalisierung nicht nur eine Frage arbeitserleichternder Technologie oder der richtigen kommunikativen Technik ist, sondern das Rollenverständnis der Kultureinrichtungen in der Gesellschaft in Frage stellt. Anders als die Dynamiken des Marktes, die durch öffentliche Finanzierung abgefedert werden können, ist die Digitalisierung eine externe Entwicklung, vor deren Wirkungen Kultureinrichtungen sich nicht schützen oder abschirmen können. Den Irritationen, Zumutungen und Provokationen, die Kunst laut Bendixen eigentlich in der Öffentlichkeit auslösen soll, wird die Kunst nun auch selbst ausgesetzt, wie die Eingangsbeispiele ebenfalls gezeigt haben. Es reicht nicht mehr aus, die Öffentlichkeit nach Möglichkeiten abzutasten, wie man das, was man hinter verschlossenen Türen entwickelt hat – möglichst frei von Störungen und Irritationen durch außen – kulturell und kommerziell erfolgreich vermitteln kann. Die Kulturproduktion kann durch die bisherigen Rezipient*innen vereinnahmt werden. Die lang einstudierte angebotsorientierte Denkweise stößt hier an ihre Grenzen. Die Digitalisierung zwingt die Kultureinrichtungen daher, ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit und ihre Bedeutung für die Öffentlichkeit zu überdenken und neu zu definieren.
„Eine mögliche kulturpolitische Konsequenz ist ein Perspektivenwechsel: von der Angebots- hin zur Nachfrageorientierung, von der Push- zur Pull-Kultur” (Sievers 2011:19), schlägt Sievers vor. Die Forderung nach einem Perspektivenwechsel muss sich dabei nicht auf die Kulturpolitik beschränken, sondern kann für den gesamten Kulturbetrieb gelten. Der Perspektivenwechsel muss nicht auf ein Entweder-Oder zwischen Angebots- oder Nachfrageorientierung hinauslaufen. Es geht vielmehr darum, die beiden Perspektiven in ein neues Verhältnis zueinander zu setzen und besser auszubalancieren. Der durch die Digitalisierung nötig gewordene Perspektivenwechsel lässt sich anhand der Aspekte Interaktion und Reichweite beschreiben. An diesen Aspekten werden die Auswirkungen besonders deutlich, die die Digitalisierung auf die Arbeit von Kultureinrichtungen hat. Visser und Richardson (2013) stellen sie daher ins Zentrum der Überlegungen, wie sich die Beziehung zwischen Einrichtung und Publikum oder Öffentlichkeit in Zeiten und unter den Bedingungen der Digitalisierung gestalten lässt.
Interaktion
Die zunehmende Interaktion wurde bereits in dem Eingangsbeispiel angesprochen. Sie führt dazu, dass die Besucher*innen mehr und mehr zu Ko-Kreateur*innen der kulturellen Erlebnisse werden und selbst Einfluss auf das allgemeine Verständnis und die Wahrnehmung von Kultur nehmen (Holst 2019). Kultureinrichtungen können diesen Aspekt produktiv nutzen, wenn es ihnen gelingt, ihr Netzwerk aus Anspruchsgruppen als „erweitertes Unternehmen“ im Sinne einer Ressource zu verstehen. Dazu müssen sie ihre bisherige – auf dem Inside-Out-Verständnis basierende – Produzent*innenrolle um eine Moderator*innenrolle erweitern und zu Knotenpunkten oder Drehkreuzen der Auseinandersetzung mit kulturellen Themen werden. Das bedeutet, Debatten nicht nur durch Inhalte und Haltung zu initiieren und zu stimulieren, sondern sie auch aufzuspüren, zu strukturieren und zu vermitteln, Zumutungen und Irritationen nicht nur selbst auszulösen, sondern sich auch selbst irritieren lassen, von dem, was außerhalb und jenseits der bewährten Routinen stattfindet. Für Kultureinrichtungen geht es dabei darum, die ko-kreative Kulturproduktion nicht nur ohne Reputationsschaden zu überstehen, sondern sie im Idealfall im Sinne der eigenen Mission, Ziele und Werte stimulieren und gestalten zu können. Die folgenden Beispiele sollen diesen abstrakten Gedanken veranschaulichen. Viele Museen haben das „Problem", dass sie mehr Ausstellungsstücke haben, als sie zeigen können: Mit der Folge, dass viele Werke und Artefakte einfach im Archiv verstauben. Alte Ausstellungsstücke, für die kein Urheberrecht mehr gilt, können als Digitalisat jedoch gemeinfrei und open access zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel über die virtuelle Bibliothek Europeana. In sogenannten Labs und Hackathons können kreative Ideen auf Basis dieser Daten realisiert werden. Hackathons sind Veranstaltungen bei denen Informatiker*innen, Designer*innen, Kreative und Interessierte gemeinsam digitale Projekte und Anwendungen entwickeln können. Beim Kulturhackathon Coding da Vinci werden Ideen auf Basis von Digitalisdaten aus Bibliotheken und Museen realisiert, beispielsweise die App Zeitblick. Die App matcht Selfies der Nutzer*innen mit Gemälden aus dem Bestand des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, in dem die App aus dem Sammlungsbestand ein Portrait aussucht, das mit dem Gesichtsausdruck und der Anmutung des Selfies korrespondiert. Auf diese Weise werden Kunstwerke auf spielerische Art zugänglich gemacht, die für eine Ausstellung in der Regel nicht in Frage kommen und es wird zu einer Auseinandersetzung mit Kulturgütern jenseits der ausgetrampelten Pfade angeregt.
Projekte wie diese sind ein Weg für Museen und Bibliotheken, deren Kunstwerke und Artefakte sich digitalisieren lassen. Das ist in den Performing Arts nicht so leicht. Das Oldenburgische Staatstheater hat in der Saison 2018/19 gezeigt, wie Ko-Kreation in diesem Bereich aussehen kann: Unter dem Titel O. - Eine Stadt sucht ein Drama führte es eine Spielplan-Wahl mit Zuschauer*innenbeteiligung durch. Das Thalia-Theater, war vor einigen Jahren bei einem ähnlichen Versuch gescheitert, weil der Abstimmungsprozess von gut organisierten Online-Communities gekapert wurde. Intendant Joachim Lux kam zu der ernüchterten Erkenntnis, dass Kunst und Demokratie einfach nicht zusammenpassten (Deutschlandfunk 2013). Das Oldenburgische Staatstheater zeigte jedoch, dass diese Schlussfolgerung nicht stimmt. Es hatte aus den Erfahrungen des Thalia-Theaters gelernt und die Abstimmung als strukturierten, kuratorisch und inhaltlich begleiteten Prozess angelegt. Am 1. Dezember 2018 wurde in einer Publikumskonferenz das Stück „Über meine Leiche” von Stefan Hornbach ausgewählt. Abgestimmt werden konnte über eine vom Theater festgelegte Vorauswahl an Stücken. Zu jedem Stück gab es einen Informationsabend mit Informationen zum und Lesung aus dem Stück sowie Diskussion. Am Schluss des Prozesses stand eine Abstimmung, bei der Online-Stimmen weniger stark gewichtet wurden als Stimmen, die vor Ort abgegeben wurden (Oldenburgisches Staatstheater 2018). Der Vorgang ist ein Beispiel dafür, dass Projekte, die der Kultur der Digitalität Rechnung tragen und entsprechen, nicht zwingend an digitale Medien gebunden sein müssen und die Sinnhaftigkeit zwischen On- und Offline zu unterscheiden ohnehin hinfällig wird, da beides zunehmend ineinandergreift.
An diesen Beispielen lässt sich die Moderator*innenrolle erahnen, die Kultureinrichtungen in einer Kultur der Digitalität verstärkt einnehmen können. Aber auch für die Kulturproduktion selbst und die Vermittlung ergeben sich neue, partizipative, ko-kreative Formen und Optionen.
Ein Beispiel hierfür ist der interaktive Theaterabend To Like or not to Like von der Theatergruppe Interrobang Performance. Bei diesem Abend werden die Zuschauer*innen zu verschiedenen Abstimmungen aufgefordert, so dass innerhalb von kurzer Zeit ein spezifisches Datenset – die Macher*innen nennen es „Little Big Data Set" – über das Publikum generiert wird. Die Abbildung zeigt ein Beispiel für solch eine Abstimmungsfrage. Bei den Fotos handelt es sich um Fotos von Zuschauer*innen, die live im Saal sitzen. Das heißt, jede*r Zuschauer*in wurde am Eingang fotografiert und das Foto jeweils einem bestimmten Abstimmungsgerät zugewiesen. Am Schluss wird das generierte Datenset ausgewertet. Es wird zum Beispiel ermittelt, wer die durchschnittlichsten oder extremsten Antworten gegeben hat. Der Abend führt dem Publikum auf diese Weise vor Augen, mit wie wenig Daten und unpersönlichen Fragen Profile erzeugt werden, die kommerziell ausgeschlachtet werden können.
Reichweite
Neben der Interaktivität bringt die Digitalisierung auch neue Möglichkeiten für Kultureinrichtungen, ihre Reichweiten und ihren Wirkungskreis auszudehnen und sogar ein globales Publikum erreichen. Bislang waren die meisten Kultureinrichtungen für die kulturelle Grundversorgung an ihrem Standort zuständig und hatten einen begrenzten Wirkungsradius. Durch die Digitalisierung ist diese Begrenzung aufgehoben. Clay Shirky (2008:55ff.) beschreibt in „Here Comes Everybody", wie die Digitalisierung die limitierenden Faktoren für Medienherausgeberschaft aufgehoben hat und sich im Zuge einer Mass Amateurization jeder als Medienherausgeber*in betätigen kann, so freilich auch die Kultureinrichtungen. Zudem steht im Rahmen der Distribution Speicherplatz für Tonträger, Filme, Texte etc. zu Kosten nahe Null zur Verfügung (vgl. Hopf 2011:383). Dank der Digitalisierung können einerseits rapide gesunkenen Produktions- und Distributionskosten und andererseits der globalen Verfügbarkeit, profitabel Nischenangebote verbreitet werden. Zu den bekanntesten Beispielen aus dem Kulturbereich für dieses Phänomen – Chris Anderson nennt es „Long Tail“ (Anderson 2008) – gehören die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker und das Streaming-Angebot der Wiener Staatsoper. Anders als viele andere Kultureinrichtungen, nutzen beide Einrichtungen die digitalen Medien nicht nur, um Werbung für ihr Programm zu machen, sondern transferieren dieses in den digitalen Raum.
Dass diese Möglichkeiten nicht nur den großen Akteuren der Kulturwelt vorbehalten sind, hat das Fotomuseum Winterthur mit seinem Blog Still Searching gezeigt. In Beiträgen von international renommierten Expert*innen beschäftigt sich der Blog mit den Entwicklungen in der zeitgenössischen, digitalen Fotografie. Mit diesem Blog ist es dem Museum gelungen, zu einer wichtigen Stimme im internationalen Diskurs um zeitgenössische Fotografie zu werden (Vogelsang et al. 2016:21). Dieses Beispiel zeigt, dass Besucher*innen und Stakeholder*innen nicht nur diejenigen Personen sind, die vor Ort vorbeikommen, sondern auch Menschen, die sich online Digitalisate anschauen, zu bestimmten Spezialthemen recherchieren oder lernen oder sich in irgendeiner anderen Art und Weise mit dem Thema auseinandersetzen, in dem das Museum seine Expertise hat.
Kultureinrichtungen erhalten durch digitale Medien somit die Möglichkeit, ihren angestammten Wirkungsraum digital zu erweitern und auf diese Weise zu vergrößern. Neben der Tatsache, dass sich daraus ein neues Selbstverständnis und zudem neue Aufgaben ergeben, konvergieren künstlerische (kuratorische und dramaturgische) und kommunikative Aufgaben, denn die virtuelle Erweiterung der Kultureinrichtung existiert nur als kommunikativer Raum. Künstlerische Produktion und Kommunikation oder Vermittlung sind somit nicht mehr zwei getrennte Arbeitsfelder, sondern verschmelzen zu einem (Vogelsang et al. 2016:12).
Ausblick
Bei allen kritischen Aspekten, die im Rahmen der Digitalisierung zu bedenken sind (Stalder 2017:203-281; Zuboff 2018), zeigen die gezeigten Beispiele, dass die Digitalisierung nicht per se eine Bedrohung für Kultureinrichtungen ist, wie man vielleicht aus den Eingangsbeispielen ableiten könnte. Sie bietet Chancen, die eigene Rolle und die Mission neu zu definieren, neue ästhetische Formate zu finden und den eigenen Wirkungsradius und die öffentliche Wahrnehmung zu vergrößern. Das heißt, die Digitalisierung – oder genauer: die Kultur der Digitalität – kann ein Katalysator sein für den Anspruch, „für alle” da und offen sein zu wollen. Sie vereinfacht es, Menschen mit in die Arbeit einer Kultureinrichtung einzubeziehen ebenso wie sie es vereinfacht, den eigenen Radius zu vergrößern und zu erweitern.
Es geht in diesem Zusammenhang nicht darum, die traditionelle Angebotsorientierung durch Nachfrageorientierung zu ersetzen. Allerdings setzt ein erfolgreiches Agieren in der Kultur der Digitalität voraus, dass Kultureinrichtungen offener werden für Impulse von außen und lernen, diese aufzunehmen, darauf zu reagieren, sie zu vernetzen und mit ihnen zu arbeiten. Gleichzeitig bleibt natürlich die Erwartung an die Kultureinrichtungen, dass sie auch imstande sind, selbst Impulse in die Öffentlichkeit zu geben.
Diese neue Rolle wird deutlich in einem Zitat von Richard Münch von Anfang der 1990er Jahre.
„Die Kultur verliert in der Tat ihren sakralen Charakter, und sie wird der festen Verwaltung durch ihre traditionellen Oberpriester entrissen. Sie kommt in die Hände immer breiterer Schichten der Bevölkerung, sie wird profanisiert und zu einem alltäglichen Konsumgegenstand gemacht. Das ist eine Seite. Auf der anderen Seite wachsen ihr aber auch Chancen zu, die ganze Gesellschaft zu durchdringen. Je mehr kulturelle Angebote auf den Markt drängen, umso mehr wird durch die Belebung des Kulturmarktes das Interesse an Kultur überhaupt geweckt.” (Münch 1991:153)
Zwar bezieht sich Münch in diesem Zitat nicht auf die Digitalisierung, er beschreibt jedoch eine Entwicklung, die durch die Digitalisierung in ungeheurem Maße befeuert wird. Die Digitalisierung erleichtert die "Vergesellschaftung" der Kulturproduktion und ändert damit die gesellschaftliche Stellung und Funktion der etablierten Kulturproduzent*innen. Kulturproduzent*innen, die keine oder nur geringe öffentliche Finanzierung erhalten, haben das durch die Erosion ihrer Geschäftsmodelle erfahren müssen, insbesondere Musikindustrie und Verlagswesen. Öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen erleben das an ihrem Relevanzverlust, sofern sie sich nicht auf die neuen Bedingungen einstellen. Dieser Relevanzverlust ist allerdings kein Schicksal, wenn – wie Münch prognostiziert – das Interesse an Kultur durch das wachsende, omnipräsente Kulturangebot steigt. Im Gegenteil: Vor diesem Hintergrund bietet die Digitalisierung eine vielversprechende Perspektive für Kultureinrichtungen, sich selbst neu zu erfinden.