Ganzheitliche Kunstpädagogik – Auf der Suche nach einer verbindenden Methodologie innerhalb eines heterogenen Systems
Abstract
Die Fachdidaktik der Kunstpädagogik ist seit ihrer Entstehung im frühen 20. Jahrhundert gekennzeichnet vom Zustand einer methodischen Pluralität. Von den grundlegenden Bildungszielen des Fachs über die Fachbezeichnung bis hin zu den entwickelten Lehr- und Lernmethoden herrscht innerhalb der Fachgemeinschaft keine Einigkeit. Die Integrale (= ganzheitliche) Kunstpädagogik entwickelt seit einem Jahrzehnt eine übergreifende Methodologie, die ausgehend von grundlegenden didaktischen Funktionen allen heterogenen Lehrkonzepten einen gemeinsamen Rahmen bietet. Leitender Gedanke ist dabei eine synergetisch-kooperative Fachkultur, bei der die einzelnen Methoden nicht mehr als konkurrierende Konzepte aufgefasst werden, sondern sich funktional zum System einer ganzheitlichen fachlichen Persönlichkeitsbildung ergänzen. Der Artikel bietet einen Überblick über den Stand der Methodenentwicklung, stellt ein bildungswissenschaftlich fundiertes Kompetenzmodell für das Fach Kunst vor und entwirft eine systematische Methodologie mit vier funktionalen Methodenbereichen – Konzeptions-, Rezeptions-, Produktions- und Unterrichtsmethoden.
1) Vielfalt als Herausforderung
Partikularismen mit generalistischem Anspruch: Innerhalb der immens produktiven Forschung und Publizistik der Kunstpädagogik im deutschsprachigen Raum sind in den letzten 20 Jahren verschiedene Einführungen und Kompendien erschienen, die jeweils für sich beanspruchen, die theoretisch-methodischen Grundlagen des Fachs darzustellen und eine Transformation in die Schulpraxis zu leisten (Peez 2002; Bering u.a. 2006; Kirchner 2013; Kirchner/Kirschenmann 2015; Buschkühle 2017; Krautz 2020; Ide 2021; Berner 2022; Billmayer u.a. 2022; Glas u.a. 2023; Marr 2023; Kettel 2024; Penzel 2025). Die jährlich wachsende Zahl dieser Generaldidaktiken ist jedoch der publizistische Beleg dafür, dass es innerhalb des Fachs offenbar keinen Konsens über die zentralen Bildungsfragen, die theoretischen Grundlagen und die spezifischen methodischen Herangehensweisen gibt.
Fachdidaktik als subjektives System: Dieses Aufgehen der gegenwärtigen Kunstdidaktik in einem Zustand der Pluralität kann man grundsätzlich positiv bewerten, denn er entspricht dem heutigen Heterogenitätsprinzip universitärer und schulischer Bildung. Diese individuell ausgearbeiteten Didaktiken und jene in ebenso großer Zahl erschienenen Kompendien von Einzelbeiträgen zur Methodologie der Kunstdidaktik verdanken die Impulse zur subjektiven Auslegung der pädagogischen Grundlagen des Kunstunterricht und der bildnerischen Gestaltung zweifellos ihrem Fachgegenstand, der Kunst als jener gesellschaftlichen Institution, in der individuelle Kreativität eine systemische Basis besitzt. Das heißt, das Subjektivitätsprinzip der Kunst schlägt sich mit geradezu logischer Konsequenz auch in ihrer Fachdidaktik als der Lehre vom Lehren und Lernen nieder. Daraus erwächst ein Zustand kaum noch erfassbarer methodischer Heterogenität, den man im Vergleich mit anderen Fachdidaktiken als ein Alleinstellungsmerkmal der Kunstpädagogik betrachten kann.
Verlust der fachlichen Orientierung: Aus Sicht der Studierenden und der Lehrkräfte in den Schulen erleidet die Kunstdidaktik dadurch allerdings einen gravierenden Orientierungsverlust hinsichtlich der Fachzielbestimmung und der theoretisch-methodischen Fundierung, auch wenn einzelne Publikationen dies immer wieder versprechen (bspw. Bering u.a. 2010). So driften in beschleunigter Geschwindigkeit fachdidaktische Forschung und Schulpraxis auseinander. Je höher der Output der theoretischen Zunft ausfällt, desto größer erscheint die Unmöglichkeit, dem Forschungsdiskurs zu folgen und umsetzbare Lösungen im Schulalltag zu entwickeln. So herrscht auch in der Unterrichtspraxis mehr oder weniger das Individualitätsprinzip vor. Der Fachunterricht wird zum willkürlichen Sammelsurium jener Bildungskonzepte, Lehrmethoden, technischen Verfahren und Gestaltungsthemen, die im berufsbiografischen Prozess der Lehrkräfte akkumuliert wurden und die ihrer persönlichen Neigung entsprechen. Diese Abhängigkeit der Unterrichtsumsetzung von der Berufsbiografie der Lehrenden wird innerhalb der empirischen Professionalisierungsforschung schon seit längerem beschrieben (Dreyer 2005; Peez 2009).
Auf der Suche nach einem Standardmodell der Fachdidaktik: Die Frage ist, ob man diesen Zustand fachlicher Methodenheterogenität als den einzig möglichen Entwicklungsweg der Kunstdidaktik akzeptiert und dabei in Kauf nimmt, dass sich die üppige Blumenwiese des Fachs um wenige methodische Inseln formiert (bspw. die Künstlerische Kunstpädagogik, die Bild-/Kunst-Pädagogik, den Bildunterricht, die Bildung der Imagination, die postdigitale Kunstpädagogik, die interkulturelle Kunstpädagogik, die empirischen Kunstpädagogik etc.). Abgesehen von temporären Berührungspunkten anlässlich von Tagungen und Sammelband-Publikationen erscheinen diese Ansätze sowohl in der Forschung als auch in der Vermittlung von universitärer Lehre und Schulpraxis als mehr oder weniger isoliert agierende Soziotope. Zu fragen wäre tatsächlich, ob es gemeinsame Schnittmengen dieser verschiedenen Fachdidaktiken gibt, um Studierenden und Lehrenden Orientierung zu bieten. Zu fragen wäre ebenso, ob heute eine übergreifende Methodologie des Kunstunterrichts konzipiert werden könnte, der es gelingt, in einer Art Standardmodell die immense methodische Komplexität zu reduzieren, ohne dabei die Heterogenität der einzelnen Ansätze aufzuheben?
Mit diesen immensen Herausforderungen beschäftigt sich die Integrale Kunstpädagogik seit einem Jahrzehnt (dazu die Webseite „Kunstpädagogik kompakt“ unter www.integrale-kunstpaedagogik.de). In einer Art Skizze werden im Folgenden einige zentrale Problemfelder vorgestellt und mögliche Lösungsperspektiven aufgezeigt. Dabei soll die Beschränkung auf ausgewählte Schwerpunktprobleme eine grobe Orientierung bieten:
- Fachgegenstandsbestimmung
- Kompetenzmodell
- Funktionale Methodologie
- Integraler methodologischer Pluralismus
2) Fachgegenstandsbestimmung
Ein Fach mit vier Identitäten: Überblickt man die Lehrpläne der einzelnen Bundesländer in Deutschland und Österreich sowie der Kantone der Schweiz wird deutlich, dass es keine einheitliche Bezeichnung für das Fach gibt. Kunst, Kunstunterricht oder Kunsterziehung, ästhetisches und bildnerisches sowie textiles und technisches Gestalten oder Design und Technik verweisen sowohl auf die Heterogenität der fachspezifischen Gegenstände als auch auf die fundamentale Schwierigkeit, eine Einigung über die grundlegenden Fachinhalte zu erzielen. Diese Heterogenität der Fachbezeichnung ist ein Hinweis, dass sich die Gestaltungsfächer im deutschsprachigen Raum in einer seit ca. 20 Jahren anhaltenden Phase der Neukonsolidierung befinden. Die Richtungsentscheidung über Fachgegenstände und relevante Bildungsziele gruppieren sich um vier zentrale Begriffe – Kunst, Bild, Gestaltung und kulturelle Bildung. Diese bieten eine jeweils spezifische Fachorientierung, verbunden mit eigenen theoretisch-methodischen Fundierungen und entsprechenden didaktischen Konzepten.
a) Kunst
Ausgangspunkt: Kreatives Subjekt: Kunstgeschichte und Gegenwartskunst lassen sich als ein gewaltiges Reservoir an ästhetischen Erfahrungen beschreiben, mit denen Künstler*innen einen Zugang zu ihrer jeweiligen Lebenswelt gestalteten. Um es pointiert zu formulieren: Kunst entspricht einer hochindividualisierten Form der Weltwahrnehmung und Weltgestaltung. Während bis in die 1970er-Jahre hinein noch eine Lehrbarkeit künstlerischer Techniken und formaler Gestaltungsmittel im Zentrum der kunstpädagogischen Fachdidaktik stand, hat sich der Bezug auf die Kunst, insbesondere auf die der Gegenwart, in den letzten drei Jahrzehnten hin zur ästhetischen Erfahrung verschoben, die in der produktiven Auseinandersetzung des gestaltenden Subjekts mit seiner Umwelt entsteht. Der Begriff der ästhetischen bzw. der künstlerischen Erfahrung beschreibt einen systemischen Zusammenhang zwischen Subjekt und Umwelt. Selbst- und Weltwahrnehmung sowie Selbst- und Weltgestaltung werden jeweils als dialogische Prozesse der ästhetischen Entwicklung verstanden. In diesem Sinne sollte der Kunstunterricht nicht in erster Linie formale und handwerkliche Gestaltungstechniken vermitteln. Angesichts der Fülle heute verfügbarere Techniken können diese als austauschbar betrachtet werden. Vielmehr geht es darum, ein ästhetisches Verhältnis zur Lebenswelt (Bering u.a. 2006; Kirchner 2013; Kirchner/Kirschenmann 2015; Krautz 2020) bzw. eine künstlerische Einstellung, gekennzeichnet von spezifischen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen, bei den Heranwachsenden zu fördern (Buschkühle 2017; Krautz/Glas/Sowa 2023, Kettel 2024).
b) Bild
Ausgangspunkt: Medienerfahrungen Heranwachsender: In einer von Massenmedien bestimmten Gesellschaft, in der nahezu alle Menschen permanent mit digitaler Technik verbunden sind, besitzen Bilder mittlerweile eine wichtigere Funktion im Kommunikationsprozess als Sprache. Daher gehört es zu den zentralen Kompetenzen, die Heranwachsenden im biografischen Entwicklungsprozess vermittelt werden sollten, einerseits Bilder im eigenen medialen Kontakt souverän als Ausdrucksmittel einzusetzen und andererseits in einem Konzept autonomer Selbstsorge kritisch mit der alltäglichen Bilderflut umgehen zu lernen. Der Bildbegriff ist viel weiter gefasst als der Kunstbegriff, denn er schließt alle Formen visueller Gestaltung sowohl analoger als auch digitaler Bilder sowie zwei- und dreidimensionale Gestaltungen wie Designobjekte und Architektur ein. Der Bildbegriff ist, anders als der Kunstbegriff, an der unmittelbaren alltäglichen Welterfahrung von Kindern und Jugendlichen orientiert – nämlich an der selbstbestimmten Teilhabe an der Bilder-Weltgesellschaft, die man als Manifestation einer transkulturellen globalen Gemeinschaft verstehen muss, die sich vorrangig über Bilder konstituiert (Billmayer 2019). Bildkompetenzen werden vor allem durch den didaktischen Zirkel der Bereiche Produktion, Rezeption und Reflexion gefördert; Bildwissen und Bildgedächtnis werden durch die Auseinandersetzung mit Kunst- und Kulturgeschichte fundiert (Bering 2016). Die Ausbildung visueller Kompetenzen fördert das komplexe Zusammenwirken von Imaginationsfähigkeit, Bild- und Raumwahrnehmung, die technische und formale Handhabung der Gestaltungswerkzeuge und der Kommunikationsmedien sowie die Beherrschung kultureller Symboltechniken (Billmayer o.J.; Bering/Niehoff 2008; Bering/Niehoff 2013; Lieber 2008; Lieber u.a. 2009; Grünewald 2010; Sowa u.a. 2012-2018; Rückert 2018; Wagner 2018).
c) Gestaltung
Ausgangspunkt: Das Leben als Gestaltung: Das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt lässt sich als ein gestaltendes beschreiben. Der Begriff des Anthropozäns für das gegenwärtige Erdzeitalter verdeutlicht, dass die menschliche Gestaltungsmacht das gesamte Erscheinungsbild der Erde in den letzten zweihundert Jahren nicht nur grundsätzlich verändert hat, sondern dass die Wirkung der Zivilisation auf die planetarischen Ökosysteme mittlerweile einer Naturgewalt entspricht. Wir leben heute folglich in einer in allen Lebensbereichen komplett durchgestalteten Welt. Dementsprechend gilt es, Heranwachsende im Bildungsprozess dafür zu sensibilisieren, dass ihr gesamtes Denken, Handeln und Empfinden einerseits von Gestaltungsprozessen bestimmt ist und andererseits auf die Gestaltung der natürlichen und kulturellen Umwelt unmittelbar zurückwirkt. Gestaltung kennzeichnet also die grundsätzliche Daseinsbestimmung des Menschen und daher sollte ein komplex gefasster Gestaltungsbegriff, der alle Dimensionen des individuellen und kollektiven Lebens erfasst, im Zentrum einer nachhaltig orientierten Fachdidaktik stehen (Penzel 2019; ders. 2023). Durch verschiedene Gestaltungsanlässe gilt es im pädagogischen Prozess das dialektische Verhältnis von Selbst und Umwelt mitzugestalten. Gestaltungsarbeit ist in ihren materiell-formenden, kommunikativ-symbolischen und emotional-verbindenden Dimensionen eine komplexe Weltbeziehungsgestaltung, die im günstigen Fall ökologisch verträglich und nachhaltig wirksam ist. Ein zeitgemäßer Gestaltungsunterricht nutzt die evolutionären Erfahrungen, um in der von multiplen Krisen geprägten Gegenwart alternative Handlungsmodelle für Lebensalltag und künftige Berufswelt zu erkunden (Godau/Remmers 2007; Stuber 2018; ders. 2019).
d) Kulturelle Bildung
Ausgangspunkt: Soziale Teilhabe durch Gestaltung: Kultur entspricht einem Setting materieller und immaterieller Praktiken, mit denen verschiedene Kollektive ihre Um- und Mitwelt deuten und dadurch Gemeinschaft herstellen. Es handelt sich um ein Teilhabekonzept, das auf die Verbundenheit von Menschen durch den Austausch einer gemeinsamen Weltanschauung und damit in Verbindung stehender Werte und Lebensgrundsätze zielt. Kultur entsteht im Handlungsvollzug aller Beteiligten; es handelt sich dabei nicht um ein statisches Gefüge, sondern einen Prozess, in dem Weltdeutungen und Werturteile mit verschiedensten kommunikativen Praktiken erarbeitet, ausgetauscht, kritisiert und verändert werden. Jeder einzelne Mensch partizipiert zugleich an verschiedenen kulturellen Systemen bzw. Gruppen und erhält somit vielfältige und auch widersprüchliche Angebote der Weltdeutung. Kulturelle Bildung befähigt Heranwachsende zur Teilhabe an sowie dem kritischen Verständnis von kulturellen Systemen – dazu gehören u.a. traditionelle Repräsentativkultur, verschiedene popkulturelle Subsysteme, diverse globale Kulturen sowie inter- und transkulturelle Mischformen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen von Literatur, Musik, bildender Kunst, aber auch massenmedialer und urbaner Kultur. Kulturelle Bildung fördert folglich die Weltdeutung und Weltgestaltung mit ästhetischen Mitteln. Es handelt sich um ein übergreifendes Bildungskonzept, das weniger auf die einzelne kreative bzw. künstlerische Ausdrucksform, sondern stärker auf die daraus resultierenden Effekte für die Persönlichkeitsbildung Heranwachsender und deren aktive Teilhabe an der Gesellschaftsentwicklung ausgerichtet ist. Kulturelle Bildung ist kein Schulfach, sondern ein gemeinsames Handlungsfeld inner- und außerschulischer Akteure verschiedener Fächer und Künste, die an der Stärkung der Bindekräfte der Gesellschaft, insbesondere an der Kooperations- und Toleranzfähigkeit ihrer Mitglieder arbeiten (Fuchs 2008). Als solche hat sie sich in den letzten 20 Jahren als ein Rahmensystem verschiedener künstlerischer Bildungsbemühungen etabliert (dazu die Webseite www.kubionlinde.de).
e) Bildungsstandards des Fachs
Widerspruch zwischen administrativer Forderung und fachlichem Ist-Zustand: Nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Fachentwicklung der letzten 100 Jahre ist begleitet von wechselnden Fachbezeichnungen und didaktischen Zielbestimmungen. Die Bezeichnungen Zeichenunterricht, Kunstunterricht, Visuelle Kommunikation, Ästhetische Erziehung/Bildung, bildnerisches Gestalten/Erziehung, Kultur und Künste, kulturelle Bildung oder einfach nur Gestalten verweisen auf einen dynamischen Entwicklungsprozess, wie er anderen Fächern nicht eigen ist. Mathematik- und Deutschunterricht haben derlei Grundsatzdiskussionen über die Fachidentität nie erlebt, was man durchaus als Nachteil beschreiben kann. Aus dieser Entwicklungsdynamik erwächst aber auch ein aktuell gewichtiger Widerspruch, der den Stand des Fachs innerhalb des Bildungssystems enorm erschwert. Denn in den meisten Bundesländern in der BRD hat man sich gegenwärtig darauf verständigt, die traditionelle Fachbezeichnung Kunst bzw. Kunstunterricht oder Kunsterziehung beizubehalten. Das impliziert, dass der Bildungsgegenstand die Kunst ist und daher die fachliche Bildung auf eine Förderung künstlerischer Kompetenzen hinausläuft. Damit wird eine Erwartungshaltung begründet, die von keinem der aktuellen Lehrpläne der deutschen Bundesländer eingelöst wird. Denn diese orientieren sich an der Fachzielbestimmung der Kultusministerkonferenz, die in der EPA (den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Erreichen der Abiturprüfung, 2005) festgelegt sind, sowie den Bildungsstandards des BDK-Fachverbandes für Kunstpädagogik (2008) und dem Europäischen Referenzrahmen für visuelle Bildung. In allen drei Gremienkonzeptionen heißt es so ziemlich übereinstimmend, dass das Fach Bildkompetenzen bzw. visuelle Kompetenzen fundiert, die es Heranwachsenden ermöglichen, sowohl produktiv (= gestaltungspraktisch) als auch rezeptiv (= betrachtend und deutend) an den heterogenen Bildwelten der massenmedialen Gegenwartsgesellschaft teilzuhaben. Von der allgemeinen Fachzielbestimmung ausgehend haben wir es also mit einem ziemlich zeitgemäßen Fach zu tun, denn Bildern kommt in der alltäglichen Kommunikationswelt mittlerweile eine vergleichbare Funktion und Bedeutung zu wie Sprache und Texten. Daher erscheinen Bildkompetenzen und Bildbewusstsein als grundlegende kulturelle Kompetenzen, die zurecht neben Lesen, Schreiben und Rechnen als vierte basale Kulturtechnik bezeichnet werden.
3) Kompetenzmodell
Willkürliche Kompetenzmodelle: Es ist ein grundlegendes Defizit des Fachs, dass die Heterogenität seiner Fachgegenstände (Kunst, Bild, Gestaltung, kulturelle Bildung) und die damit verbundene Pluralität didaktischer Konzepte bislang nicht in einem theoretisch fundierten Überblickmodell zusammengefasst und entsprechende übergreifende Bildungsziele/Kompetenzen beschrieben wurden. Für Lehrende und Studierende der Gestaltungsfächer bedingt die beschriebene Heterogenität eine gewisse Orientierungslosigkeit im Professionalisierungsprozess und der Berufspraxis. Die BDK-Bildungsstandards weisen lediglich die drei Handlungsfelder Produktion, Rezeption und Reflexion als grundlegende Kompetenzbereiche visueller Bildung aus, für die in summarischen Listen einzelne Fachkompetenzen katalogisiert werden (BDK 2008). Genaugenommen handelt es sich hierbei um kein wirkliches Kompetenzmodell, sondern um eine willkürliche Auflistung fachlicher Einzelqualifikationen im Rahmen eines dreigliedrigen Schubkastensystems. Auch die in den einzelnen didaktischen Ansätzen bislang ausgearbeiteten individuellen Kompetenzmodelle sind von einem grundlegenden Problem durchdrungen. Sie definieren, ähnlich wie die BDK-Bildungsstandards, Fachkompetenzen hauptsächlich ausgehend von den Fachgegenständen, also nicht ausgehend von der Subjekt- sondern von der Sachdimension des Kunstunterrichts her. Damit fehlt all diesen Modellen letztlich die bildungswissenschaftliche Basis und in der Folge wird die Chance vertan, ein fachlich übergreifendes Standardmodell, das über einen individuellen Methodenansatz hinausreicht, zu entwickeln.
Ganzheitliches Persönlichkeitsmodell: Der Begriff Kompetenz wird in seiner bildungswissenschaftlich anerkannten Definition als „bei Individuen verfügbare oder durch sie erlernbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen“ (Weinert 2001, 27 f), beschrieben. Diese Formulierung macht deutlich, dass nicht die Fachlichkeit, sondern das Individuum im Zentrum kompetenzorientierter Bildung stehen sollte. Das setzt also zunächst eine allgemeine bildungsperspektivische Konzeption des Subjektbegriffs voraus, von dem ausgehend erst in einem zweiten Schritt Fachlichkeit bestimmt werden kann. Aber ein solches übergeordnetes, bildungswissenschaftlich fundiertes Subjektmodell existiert innerhalb der Kunstdidaktik bislang nicht. Allein von der Integralen (ganzheitlichen) Kunstpädagogik wurde in den letzten Jahren ein solches überfachliches Persönlichkeitsmodell ausgearbeitet, das sowohl Anschlüsse zu Bildungswissenschaft und Allgemeinbildung als auch zur fachlichen Kompetenzbestimmung bietet. Auf die komplexe theoretische und historisch fundierte Herleitung dieses Modells kann hier nicht eingegangen werden (dazu Penzel 2023, Kap. 3 c; ders. 2025, Kap. 4). Individualität wird in diesem ganzheitlichen Modell als komplexes Zusammenwirken von vier grundlegenden Sphären verstanden – der Psychosphäre, die alle Aspekte der subjektiven Innendimension umfasst, die Biossphäre mit den Aspekten der körperlichen und natürlichen Außendimension eines Menschen, der Cultussphäre, die Aspekte der kollektiven Innendimension einer Person beschreibt und die Sozio-/Technosphäre, mit der alle Aspekte der materiell-gesellschaftlichen Außenseite des Subjekts erfasst werden. Diese vier grundlegenden Subjektbereiche korrelieren mit vier elementaren Bildungsbegriffen (Erfahrung, Wahrnehmung/Bewegung, Vernunft, Verstand) und entsprechenden humanen Basiskompetenzen. Dieser theoretisch komplexe Zusammenhang, in den Forschungen der Entwicklungspsychologie, der Evolutionstheorie, der Soziologie und der Anthropologie eingegangen sind, wird in folgender Grafik stichwortartig im Sinne einer Concept Map zusammengefasst:

Überfachliches Kompetenzmodell: Diese vier Quadranten sind nicht als isolierte Persönlichkeitsbereiche zu betrachten. In der Lebenswirklichkeit beeinflussen sie sich wechselseitig und bringen in der Folge die vielfältigsten Erscheinungsformen menschlicher Individualität hervor, denn jeder Mensch hat in den einzelnen Quadranten zumeist besondere Stärken und zahlreiche bislang ungenutzte Potentiale. Dieses ganzheitliche Subjektmodell ermöglicht in einem zweiten Schritt allgemeine Kompetenzen detailliert zu bestimmen. So entsteht ein überfachliches Kompetenzmodell, das sowohl bildungswissenschaftlich als auch für alle einzelnen Schulfächer anschlussfähig ist (ebenda):

Ganzheitliches Kompetenzmodell für das Fach Kunst: Innerhalb der Humanwissenschaften der letzten 20 Jahre gibt es eine umfassende Diskussion darüber, wie jener europäische Anthropozentrismus, der maßgeblich für die globale Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen verantwortlich ist, überwunden werden kann (Welsch 2015). In den verschiedenen Ansätzen der Philosophie, der Kulturwissenschaften und der Soziologie wird dabei als weltanschauliche Grundlage der Menschzentrierung die Dichotomie von Subjekt und Objekt herausgearbeitet, bei der das Subjekt sich willkürlich alle objektiven Bedingungen des planetarischen Lebens unterwirft (Zusammenfassung: Penzel 2019, Kap. 2). Eine Fachdidaktik, die nach wie vor Subjekt- und Sachdimension unterscheidet, hält folglich am Paradigma einer anthropozentrisch ausgerichteten Bildung fest. Das ganzheitliche Subjektmodell dagegen bietet die Möglichkeit, Subjekt- und Sachdimension des Fachs zu einem relationalen Beziehungsgefüge zu verbinden und dies bedeutet, Subjekt und Objekt der Bildung als unauflösbaren Zusammenhang zu beschreiben. Wie das folgende ganzheitliche Überblicksmodell der Integralen Kunstpädagogik verdeutlicht, gelingt es damit die vielfältigsten Aspekte der Fachlichkeit mit den unterschiedlichen Details der Persönlichkeitsdimensionen zu verbinden. Damit wird erstmals in der Geschichte der Kunstpädagogik ein von der Bildungstheorie her begründetes Kompetenzmodell vorgelegt.

Ganzheitliches Modell als Standard-Kompetenzmodell: Dieses fachliche Kompetenzraster hat den Vorteil, dass es unabhängig von einer variablen Fachgegenstandsbestimmung (Kunst, Bild, Gestaltung, kulturelle Bildung) ist und zugleich Anschlüsse an diverse fachliche Unter- und Teilkompetenzen der jeweiligen Fachgegenstandsbestimmung bietet. Das Modell vereint Komplexität und Allgemeingültigkeit und könnte somit als ein bildungswissenschaftlich fundiertes Standardmodell fachlicher Kompetenz fungieren, das unabhängig von der individuellen Methodik für Studierende, Lehrende und Forschende Orientierung und Anschlüsse bietet. Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dass es in der Schulpraxis ermöglicht, curriculare Pläne und Unterrichtsentwürfe, Diagnostik und Leistungsbewertung auf derselben methodischen Grundlage durchzuführen (dazu Penzel 2025). Außerdem lässt sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, ein weiteres Problem der aktuellen Kunstpädagogik lösen, nämlich die Ausarbeitung einer gemeinsamen Methodologie, die jene eingangs erwähnte Methodenpluralität integriert.
4) Funktionale Methodologie
Methodologie als Systematik fachlicher Methoden: Innerhalb der einzelnen Fachdidaktiken dienen Methoden der Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht. Dennoch werden mit dem Begriff der fachdidaktischen Methoden zumeist sehr unterschiedliche Verfahrenswerkzeuge bezeichnet. Es bedarf daher einer Methodologie, also einer Methodenlehre, mit der die Funktionalität einzelner Methodenbereiche und verschiedener methodischer Ansätze greifbar wird. Innerhalb der Kunstdidaktik können vier unterschiedliche Methodenbereiche differenziert werden – fachdidaktische, fachwissenschaftliche, handwerklich-technische Methoden und Unterrichtsmethoden. Aus Sicht der Lehrkräfte gilt es, diese Methodenbereiche streng zu differenzieren, um eine solide fachliche Planungsarbeit durchführen zu können. Jeder Methodenbereich besitzt eine spezifische Funktion im Organisations- und Durchführungsprozess von Unterricht.
Methodenbereich 1: Fachdidaktische Methoden (= Konzeptionsmethoden)
Vom Unterrichtsziel zur Methodenauswahl – Orientierung für Lehrkräfte beim Planen: Diese haben in erster Linie eine konzeptionalisierende Funktion für den Lernbereich der gestalterischen Produktion. Sie dienen der Bestimmung des jeweiligen Fachgegenstandes und der konkreten fachlichen Bildungsziele. Wie oben bereits erläutert wurde, existieren seit 100 Jahren sehr unterschiedliche Ansätze, den Fachgegenstand des Kunstunterrichtes zu definieren (Selle 1981; Richter 2003). Und selbst im gegenwärtigen Augenblick herrscht dazu keine Einigkeit unter den Fachdidaktiker*innen. Daher ist es für Lehrende in der Schule und für Lehramtsstudierende wichtig, bei der Orientierung nicht von einer allgemeinen Fachdefinition auszugehen, sondern sich am konkreten Bedarf einer anstehenden Unterrichtseinheit (UE) zu orientieren. Soll die UE vorrangig formale und technische Kompetenzen, den Gebrauch von Bildsymbolen oder eine funktionale Gestaltung vermitteln? Soll die UE ein Kunstwerk als Gestaltungsimpuls nutzen oder von einem alltagsweltlichen Problem ausgehen? Ist eine offene oder geschlossene Aufgabenstellung geplant? Soll am Ende ein Werk entstehen oder stehen das Lernen und die ästhetische Erkenntnisgewinnung im Arbeitsprozess im Vordergrund? Diese und andere grundsätzlichen Fragen sind zunächst zu klären und danach kann die passende fachdidaktische Methode für die konkrete Unterrichtsplanung ausgewählt werden – bspw. Bauhaus- und Designpädagogik, Ästhetische Forschung und Ästhetische Bildung, kunstanaloge Kunstpädagogik und künstlerische Bildung, Bild-/Kunstunterricht und Bildunterricht, musische Erziehung und Leibpädagogik usw. (dazu ausführlicher unten). Jede Methode hilft, die Lernziele (Kompetenzen) einer UE genau zu bestimmen und bietet zumeist zentrale Planungsschritte für den Unterrichtsablauf. Die Orientierung an bewährten fachdidaktischen Methoden sichert eine professionelle Unterrichtsplanung und dadurch können rein willkürliche, den individuellen Vorlieben der Lehrkraft folgende Entscheidungen vermieden werden.
Methodenbereich 2: Fachwissenschaftliche Methoden (= Rezeptionsmethoden)
Orientierung für den Lernbereich Beschreiben, Analysieren, Interpretieren: Diese bieten vor allem für die Lernbereiche der Kunst- und Bildrezeption sowie der Reflexion wichtige Hilfestellungen. Im Gegensatz zu den fachdidaktischen Methoden, die die Lehrkräfte bei der Unterrichtsplanung unterstützen, gehören Kenntnis und Anwendung der verschiedenen fachwissenschaftlichen Methoden zu den spezifischen Kompetenzen, die Kinder und Jugendliche in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken und Bildern erwerben. Die Kunst- und die Bildwissenschaft als Bezugswissenschaften der Kunstdidaktik stellen eine Reihe sehr unterschiedlicher Verfahren bereit, die eine methodische Leitung bei der Beschreibung, Deutung und soziokulturellen Kontextualisierung von Bildern/Kunstwerken ermöglichen – bspw. Assoziationsmethode, Ikonografie und Ikonologie, Rezeptionsästhetik, kulturgeschichtliche Methode, Bildanthropologie, Form- und Stilanalyse usw. (Busse 2002; Kirschenmann/Schulz 2003; Klant/Walch 2014, Kap. II; Penzel 2017). Je nach Altersgruppe erschließen sich Kinder und Jugendliche geeignete Methoden, um Bilder bzw. Kunstwerke zunehmend umfassender zu interpretieren. Der fachliche Bildungsprozess im Lernbereich Rezeption läuft schließlich auf die souveräne mehrperspektivische Werk- und Weltbetrachtung hinaus, in denen die Jugendlichen in der Abiturstufe selbständig angemessene Interpretationsverfahren auswählen und anwenden.
Verbindung der Lernbereiche Rezeption und Produktion: Im heutigen Fachverständnis werden die Lernbereiche Produktion und Rezeption miteinander vernetzt. So kann nach dem Prinzip „Mit Kunst zur Kunst“ das Verständnis eines Werkes einen kreativen Impuls für das eigene Schaffen der Schüler*innen darstellen (Kirchner 1999, Uhlig 2005, Kirchner/Kirschenmann 2004). Nach dem Motto „Hands on: Kunstgeschichte“ können Gestaltungstechniken als Werkzeuge im Deutungsprozess von Kunst- und Bildwerken eingesetzt werden (Penzel 2017). Oder ausgehend von einem Bild aus den aktuellen Medien wird die Herkunft von dessen Form- und Symbolmotiven in historischen Bildwerken nach dem Prinzip einer „Kunstgeschichte rückwärts“ untersucht (Niehoff 2018). In dieser Weise kann es gelingen, die unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Interpretationsmethoden in die Gestaltung eigener komplexer Bildbotschaften einzubeziehen.
Methodenbereich 3: Künstlerische Methoden /Gestaltungsverfahren (= Produktionsmethoden)
Gestaltungsverfahren als komplexe Methoden: Zumeist werden im schulischen Kontext die verschiedenen Gestaltungstechniken auf ihre Handwerklichkeit, insbesondere auf den Einsatz spezifischer Werkzeuge reduziert. Der aus der Antike stammende Begriff der techne kennzeichnet ursprünglich allerdings ein viel komplexeres Sinngefüge (Sowa 2019). Denn zu jeder Technik gehören:
Materialien und Werkzeuge (Sachdimension),
ein spezifisches Verfahrenswissen (Prozessdimension) und
eine Kenntnis der adäquaten formal-kompositorischen Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Technik (ästhetische Dimension);
ein Bezugswissen über spezifische symbolische und funktionale Anwendungsbereiche (pragmatische Dimension).
Egal welche analogen oder digitalen Gestaltungsverfahren im Unterricht angewendet werden, diese komplexen technischen Grundlagen gilt es jeweils altersgemäß zu vermitteln (Kirchner 2007). Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die einzelnen Medien einen erheblichen Einfluss auf die formale Ästhetik, die Bildbotschaft und die sozialen Kommunikationskontexte haben (Kittler 1985), kann der Kunstunterricht heute keinesfalls auf die Vermittlung eines simplen Material- und Verfahrenswissens beschränkt bleiben.
Heterogenität und Fülle der Gestaltungstechniken: Durch das immense Anwachsen potentieller Gestaltungstechniken, das sowohl durch die verfahrenstechnische Heterogenität der Gegenwartskunst als auch durch technische Innovationen der Bereiche Design, Computergrafik, Film oder KI bedingt ist, steht die Kunstpädagogik seit drei Jahrzehnten unter dem Druck der Beschränkung zu vermittelnder Gestaltungstechniken und zugleich der Entwicklung einer Systematik, die die eine exemplarische Auswahl rechtfertigt.
Vom einzelnen Gestaltungsverfahren zum methodischen Verbund von Gestaltungsbereichen: So findet sich bereits in einigen Rahmenrichtlinien der 1990er Jahre und vermehrt in den neuen kompetenzorientierten Lehrplänen ab 2004 drei grundlegende Gestaltungsbereiche ausgewiesen, in denen verschiedene Verfahrenstechniken eingesetzt und im curricularen Prozess miteinander zu verbinden sind:
Fläche: Zeichnung, Malerei, Druckgrafik, Collage, Fotografie, Computergrafik
Raum: Plastik, Skulptur, Objektkunst/Montage/Assemblage, Rauminstallation, Design von Gebrauchsobjekten, Architektur/Modellbau
Zeit: Film, Trickfilm, Performance/Aktion sowie konzeptuelle Handlungen
Orientierung in drei technischen Lernbereichen: Der Vorteil dieser Trias ist, dass keine der Verfahren mehr systematisch im Sinne von curricular gelehrt werden müssen, sondern dass in den drei Gestaltungsbereichen die verschiedenen Techniken als ein gemeinsames Feld von formalgestalterischen Problemen zu behandeln ist (Penzel 2025, Kap. 6.3). So haben beispielsweise in der Fläche alle Gestaltungstechniken dieselben Anforderungen der Komposition (des Bildaufbaus), der Kontrastbildung, des Figur-Grund-Verhältnisses, der Raumgliederung, der Lichtführung, der realistischen Darstellung oder der Abstraktion, der Festlegung des Bildausschnittes und der Betrachtungsperspektive, der sinnsetzenden Symbolisierung und des soziokulturellen Kontextbezuges zu leisten. Die jeweiligen Handwerkzeuge und Materialien (bspw. Bleistifte, Kohle, Pinsel, Hochdruckpresse etc.) bedürfen einer gesonderten Einführung in grundsätzliche technische Eigenheiten, allerdings sind diese weniger als objektive Verfahren, sondern als im Lernprozess individuell erfahrbare und variierbare Handlungen aufzufassen. Die eine gültige Art zu zeichnen, mit Aquarell- oder Acrylfarben zu malen oder zu fotografieren, gibt es nicht.
Im Spannungsfeld objektiver technischer Anforderungen und künstlerischer Subjektivität: Das Handhaben der Technik ist eine Anwendungspraxis, die auf wenigen grundlegenden Arbeitsschritten beruht und die unendlich viele Variationsmöglichkeiten besitzt. Das heißt, die Objektivität der Verfahrensschritte ist begrenzt, die Potentiale der ästhetischen Anwendung sind unbegrenzt. In diesem Spannungsfeld weniger handwerklicher Basics und deren individueller Umsetzung erfolgt heute die Vermittlung künstlerischer Arbeitstechniken.
Methodenbereich 4: Unterrichtsmethoden (= Planungsmethoden)
Komplexe Lernprozesse brauchen vielfältige Unterrichtsmethoden: Dabei handelt es sich um didaktische Verfahrenswerkzeuge, die unabhängig von den übergreifend angelegten kunstpädagogischen Methoden, ja manchmal auch unabhängig vom Unterrichtsfach sind. Sie dienen der konkreten Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht. Angesichts der Komplexität heutiger Anforderungen an das Lehren und Lernen gehören folgende Verfahren in diesen Methodenbereich (Wirth 2009):
diverse sozial Formen des Lernens (Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit),
Organisationsformen des Lernprozesses wie Werkstatt- und Stationenarbeit in Lernstraßen und -zirkeln, Projektmethode, Frontalunterricht, Arbeit in Stamm- und Expertengruppen usw. Diese werden beeinflusst durch spezifische Formen der Raum- und Arbeitsplatzorganisation.
Für den Kunstunterricht spielen verschiedene Formen der Initiation kreativer Prozesse eine zentrale Rolle bspw. durch ausgewählte Kunstwerke, Modelle, Geschichten, durch funktionale Problem- und Fragestellungen, durch Wettbewerbe usw.
drei grundlegende Formen der Aufgabenstellung, nämlich offene, halboffene und geschlossene Aufgaben mit jeweils eigener Methodik wie Brainstorming und Concept Mapping, Problemfokussierung und didaktischen Reihen (Schrittfolgen),
verschiedene Präsentations- und Reflexionsformate von Arbeits- und Prozessergebnissen,
Methoden der Lerndifferenzierung und der Organisation von inklusivem Fachunterricht,
Methoden für die Implementierung sprachsensibler Cluster in die Lernbereiche Produktion und Rezeption,
Verfahren einer fachspezifischen Entwicklungsdiagnostik sowie Methoden der Leistungsbemessung und -bewertung.
Für jede dieser vier Methodengruppen existiert eine eigene Methodologie, also ein theoretisch fundiertes Bezugssystem, das die Heterogenität der einzelnen Methoden in einem pädagogischen Zusammenhang betrachtet (Penzel 2025, Kap 6.4).
5) Integraler methodologischer Pluralismus
Methodenpluralität als Methodenkonkurrenz: Im Folgenden werden die fachdidaktischen Methoden (= Konzeptionsmethoden), näher betrachtet, da sich in diesem Bereich die größte Vielfalt unterschiedlicher Ansätze entwickelt hat und damit der Druck zur Entwicklung einer übergreifenden Methodologie am stärksten ist. Die Kunstpädagogik ist seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert von einer erstaunlichen Dynamik geprägt – auf der Grundlage unterschiedlicher Methodenkonzepte werden die Bildungsziele und die Unterrichtspraxis immer wieder neu bestimmt. Insbesondere seit den 1960er Jahren erfolgt eine methodische Reflexion der Fachinhalte und der spezifischen Lehrkonzepte in Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst und ihrer Theorie einerseits und bildungswissenschaftlichen Entwicklungen andererseits. Ausgangspunkt hierfür war der von Gunter Otto entwickelte formale bzw. wissenschaftliche Kunstunterricht (Kirschenmann/Seydel, 2017). Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine regelrechte Explosion der Methodenentwicklung zu verzeichnen, die durch eine starke Rezeption aktueller Kunstkonzepte zu erklären ist. Die fachdidaktische Gesamtsituation stellt sich gegenwärtig sehr heterogen dar. Allerdings bildet sich nur langsam die Vorstellung eines produktiven und demokratischen Methodenpluralismus aus, der den Zustand der Methodenkonkurrenz mit all ihren negativen Auswirkungen auf die kommunikative Fachkultur und die schulische Umsetzung allmählich beseitigt. Inwieweit aber die derzeitige konzeptionelle Heterogenität auch eine gemeinsame fachdidaktische Zielrichtung möglich macht, bleibt trotz der Diskussion um Bildungsstandards offen (Penzel, 2015).
Vom Methodenrelativismus zum systematischen Methodenpluralismus: Angesichts der zunehmend unüberschaubaren Methodenvielfalt des Fachs müsste es heute darum gehen, den relativistischen Pluralismus der Postmoderne, bei dem einzelne fachdidaktische Ansätze isoliert praktiziert werden, in einen integralen methodologischen Pluralismus der Transmoderne, bei dem die einzelnen Methoden in einem System ganzheitlicher Bildung erfasst werden, weiterzuentwickeln (zum methodologischen Pluralismus: Wilber, 2007, Kap. 1; Latour, 2014, Teil II; Penzel, 2010, 22-33).
Von der Historisierung der Methoden zum methodischen Pragmatismus: Die Integrale Kunstpädagogik verfügt über ein pragmatisches Methodenverständnis, das heißt im Sinne des Pragmatismus des amerikanischen Philosophen Richard Rorty werden diversen (pädagogischen) Methoden keine allgemeine Gültigkeit und auch keine ausschließlich geschichtliche Bedeutung zuerkannt, vielmehr bestimmt sich ihr didaktischer Wert in einem konkreten Gebrauchszusammenhang und in Abhängigkeit von den Intentionen und der Biografie des Lehrenden (Rorty 1994). Daraus folgt u.a., dass die unterschiedlichen didaktischen Methoden der Kunstpädagogik aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und einer neuen Funktion in der Gegenwart überstellt werden. Es interessiert also nicht der ideen- oder diskursgeschichtliche Aspekt von Lehrkonzepten, sondern deren Potentiale im aktuellen Bildungsprozess. Die Frage „Wozu dienten diese Methoden einst?“ wird durch die Frage „Was können wir heute mit diesen Methoden anfangen?“ ersetzt.
Methodische Werkzeugkiste als didaktisches System: Alle didaktischen Methoden werden nun als Werkzeuge mit speziellen immanenten Handlungs- und Denkmustern für aktuelle Lehr- und Lernsituationen im Kunstunterricht betrachtet. Es obliegt der Professionalität der einzelnen Lehrkraft, für das unmittelbare Bildungsziel der anstehenden Unterrichtsstunde das geeignete methodische Werkzeug auszuwählen und bei der Planung und Durchführung der Lerneinheit anzuwenden. In der integralen Methoden-Werkzeugkiste der Kunstpädagogik werden die einzelnen didaktischen Ansätze denjenigen Persönlichkeitsaspekten zugeordnet, in denen ihr hauptsächlicher Arbeits- und Förderschwerpunkt liegt. Zwar werden von den meisten fachdidaktischen Ansätzen alle vier Subjektbereiche (Psyche, Körper, Kultur, Technik) beansprucht, das heißt aber nicht automatisch, dass sie im Sinne eines Bildungszieles tatsächlich auch gefördert werden. So kann beispielsweise eine bestimmte Gestaltungstechnik eingesetzt werden, um die bildnerische Fantasie der Heranwachsenden auszubilden, oder aber ein konkretes Thema ist Anlass für die Umsetzung in einer komplexen Technik (bspw. Drucken). Die Technik hat hier jeweils einen anderen Stellenwert – im ersten Fall ist sie ein Verfahren zur Förderung der Imaginationsfähigkeit; im zweiten Fall ist sie selbst der Fördergegenstand. Wenn diese Ziel-Mittel-Relation beachtet wird, können die zentralen kunstpädagogischen Methodenkonzepte jeweils einem oder mehreren zentralen Kompetenzbereichen des Integralen Persönlichkeitsmodells zugeordnet werden:

In diesem Methodenraster ist der Hinweis zu ergänzen, dass verschiedene neuere und ältere Methoden bereits eine dezidiert ganzheitliche Ausrichtung besitzen und entsprechend Persönlichkeitsaspekte aller vier Entwicklungsbereiche abdecken – dazu gehören: Polyästhetische Erziehung (Roscher 1976), Künstlerische Bildung (Buschkühle 2017), Bildung der Imagination (Sowa, 2012-2018), kompetenzorientierte Kunstpädagogik (Peez 2002; Krautz 2020; Glas/Krautz/Sowa 2023), Bildumgangsspiele (Busse, 2009), kunstanaloge Kunstpädagogik (Kirchner & Kirschenmann, 2004; 2015) und kulturelle Bildung (https://www.kubi-online.de).

6) Perspektive – Synergetisch-kooperative Fachkultur
Von der Methodenkonkurrenz zur Kooperation: Der oben dargestellte Integrale methodologische Pluralismus auf der Basis des ganzheitlichen Bildungsmodells ermöglicht eine leistungsfähige Orientierung innerhalb der Methodenlandschaft der aktuellen Kunstpädagogik. Er erfasst die einzelnen didaktischen Ansätze nicht nur in einem übergeordneten System, sondern bietet die Chance, die einzelnen Methoden auch zielgerichtet innerhalb des Fachunterrichts einzusetzen. Je nachdem in welchem Entwicklungsbereich der fachspezifische Förderschwerpunkt liegt, wird aus der integralen methodologischen Werkzeugkiste der passende didaktische Ansatz ausgewählt, um Unterricht zu planen und durchzuführen (zur integralen Unterrichtsplanung: Penzel 2023, Kap. 4b). Dadurch wird es möglich, die bestehende Konkurrenz der verschiedenen didaktischen Ansätze aufzuheben zugunsten einer synergetischen Kooperation in der realen Unterrichtspraxis des Fachs. Diese pragmatische Bündelung der Kräfte zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich einer nachhaltig wirksamen fachlichen Bildung, lässt Idee und Praxis der kollegialen Verbundenheit als Kern einer neuen Fachkultur erkennbar werden.
Fazit: Mit Anlehnung an die Integrale Theorie kann es folglich gelingen, den methodischen Relativismus des Fachs in einen methodologischen Pluralismus zu transformieren. Mit der ganzheitlichen Kunstpädagogik entsteht erstmals seit den Grundlagenwerken von Gunter Otto in den 1990er-Jahren (Otto 1998) wieder eine systematische, theoriegestützte Fachdidaktik des Kunstunterrichts, die in einem gemeinsamen Begriffs- und Strukturapparat alle methodischen Verfahren der Fachzielbestimmung, der Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht vereint (als kompakter Überblick: Penzel 2025).