Frühe musikalische Bildung (2024)
Aktualisierung des gleichnamigen kubi-online Beitrags aus dem Jahre 2019
Abstract
Kinder sind sehr früh für Musik empfänglich, und schon junge Kinder sollten vielfältig mit Musik in Berührung kommen. Im Sinne eines Grundlagenbeitrags wird das Feld der frühen musikalischen Bildung untersucht: die Bedeutung der Musik in Familien mit Kindern unter 6 Jahren, das Singen und Musizieren in Tageseinrichtungen für Kinder, die Nutzung von Angeboten frühkindlicher Musikerziehung und die Rolle öffentlicher Musikschulen als zentraler Orte früher musikalischer Bildung. Vorgestellt werden impulsgebende Fördermaßnahmen, Projekte und Angebote privater und kirchlicher Träger für eine reichhaltige Elementare Musikpraxis. Erörtert werden Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Erzieher*innen sowie die Situation von Studium und Ausbildung im Bereich der frühen musikalischen Bildung. Diese Feldvermessung verdeutlicht die große Bedeutung früher musikalischer Bildung und unterstreicht die Relevanz fundierter Kooperationen zwischen Kindertageseinrichtungen und Musikschulen bzw. musikpädagogischen Fachkräften. Die Förderung des Umgangs mit Musik in Tageseinrichtungen für Kinder wird als wichtiges musikpädagogisches sowie kultur- und sozialpolitisches Ziel ausgewiesen.
Von Geburt an sind Kinder für Musik empfänglich. Schon in der Schwangerschaft dringt Musik an ihr Ohr. Untersuchungsergebnisse sprechen dafür, dass Kinder Musik ebenso wiedererkennen wie die Stimme ihrer Mutter, die ihnen besondere Geborgenheit vermittelt (Feijoo 2009 :100ff). Die frühe Kommunikation zwischen Bezugsperson und Kind gründet auf den musikalischen Qualitäten des Sprechens, auf Tonhöhe und Sprechmelodie, auf Klangfarbe, dynamischen Nuancen, Rhythmus und Tempo; die zuletzt genannten Qualitäten kommen auch der Bewegung bzw. dem Bewegtwerden zu. Mit diesen musikalischen Qualitäten können Eltern ihre Kinder beruhigen und trösten, aber auch stimulieren sowie zu Interaktion und Spiel anregen. Seinerseits drückt sich das Kind auf solche musikalische Weise aus, wenn es lautiert oder sich bewegt. Schon bevor es sich mit Worten mitteilen kann, ist es selbstverständlich für das Kind, seine Verfassung in musikalische Parameter einfließen zu lassen. Wenn es später für sich selbst Spontangesänge produziert, wirken diese wiederum auf es zurück, so wie Musik ganz allgemein auch zur Beeinflussung der eigenen Gestimmtheit eingesetzt wird. Darüber hinaus stellt Musik ein Stück Welt – genauer: ein Stück Kultur – dar, die das Kind entdecken und sich im Spiel aneignen kann. Dabei ist es zunächst noch ganz offen und lässt jegliche Musik ohne Vorurteile auf sich wirken.
Die Forschung hat sich insbesondere in den letzten Jahren immer wieder mit den Auswirkungen des Umgangs mit Musik auf verschiedene Fertigkeiten und Merkmale bei Kindern und Jugendlichen – etwa auf Gedächtnis, Intelligenz und Sozialverhalten – beschäftigt. Die Ergebnisse lassen allerdings kaum Verallgemeinerungen zu. Einerseits ist davon auszugehen, dass das Setting der Beschäftigung mit Musik eine große Rolle spielt, andererseits dürften die Auswirkungen im Einzelfall unterschiedlich intensiv ausfallen (vgl. Dartsch 2016:17ff.). Heute herrscht in der Gesellschaft weitgehend Konsens darüber, dass schon junge Kinder mit Musik in Berührung kommen sollten. Dies kann innerhalb und außerhalb der Familie, an verschiedensten Orten geschehen.
Zur Bedeutung der Musik in der Familie
In aller Regel kommen Kinder zunächst in ihrer Herkunftsfamilie mit Musik in Kontakt. Vor allem geschieht dies dadurch, dass Musik im Alltag der Familie präsent ist. Eine bewusste Vermittlungsabsicht muss dabei nicht gegeben sein. Im Durchschnitt wird mit Neugeborenen an zwei von drei Tagen gesungen oder musiziert, mit Einjährigen fast jeden Tag. Von da an sinkt die Häufigkeit bis zum Alter von fünf Jahren auf jeden zweiten Tag ab. Einen Einfluss auf die Häufigkeit haben dabei sowohl die materielle Situation der Familie als auch der Bildungshintergrund und der Migrationshintergrund. Je besser es in Bezug auf die materielle Ausstattung und den Bildungshintergrund aussieht, umso mehr wird insbesondere mit Babys und Kleinkindern gesungen und musiziert; außerdem singen und musizieren Eltern mit Migrationshintergrund eher weniger mit Kindern dieses Alters als andere Eltern (vgl. Linberg/Maly-Motta 2021: 45ff.).
Die Erwachsenen in der Familie entscheiden nicht zuletzt darüber, ob die Kinder bereits an besonderen musikbezogenen Angeboten teilnehmen. Allgemein steigt der Anteil der Kinder, die bereits organisierte, musikpädagogisch konzipierte Angebote besuchen, mit dem Alter kontinuierlich an: Bei den Zweijährigen traf dies 2019 auf 10 Prozent der Kinder zu, bei den Dreijährigen auf 17, bei den Vierjährigen auf 23 und bei den Fünfjährigen bereits auf 26 Prozent der Kinder (vgl. Abbildung 2). Insgesamt fällt der Anteil bei den Mädchen mit 22 Prozent höher aus als bei den Jungen mit 16 Prozent. Als weitere Einflussfaktoren fallen der höchste Bildungsabschluss der Eltern und die Erwerbstätigkeit der Mutter auf: Kinder von Eltern mit Hochschulreife und Kinder voll erwerbstätiger Mütter besuchen etwa zweieinhalbmal so häufig außerfamiliäre musikalische Bildungsangebote wie Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss bzw. Kinder von nicht erwerbstätigen Müttern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020:C1-8web).
Singen und Musizieren in Tageseinrichtungen für Kinder
Eine wichtige Bedeutung kommt den Tageseinrichtungen für Kinder zu. „Musische Bildung“ – so der Wortlaut in einem gemeinsamen Beschluss der Jugendministerkonferenz und der Kultusministerkonferenz – ist als obligatorischer Bildungsbereich mittlerweile in den Bildungs- und Erziehungsplänen aller Bundesländer verankert. Nach dem Beschluss sollen damit Sinne und Emotionen der Kinder angesprochen sowie ihre Fantasie und Kreativität, aber allgemein auch die personale, soziale, motorische und kognitive Entwicklung gefördert werden (Ständige Konferenz der Kultusminister 2004). So werden denn auch die ästhetische Erziehung und speziell die Musik in den jüngsten Bildungsplänen der Länder jeweils in eigenen Kapiteln behandelt. Eine Ausnahme bildet hier lediglich Baden-Württemberg, wo Musik im Sinne einer Querschnittsaufgabe, die alle anderen Bildungsbereiche berührt, betrachtet wird.
2022 gab es in Deutschland rund 59.300 Tageseinrichtungen für Kinder (vgl. Statistisches Bundesamt 2022); etwa jede zwölfte davon kooperiert mit einer öffentlichen Musikschule; die Zahl der kooperierenden Kindergärten und -horte hat sich dabei zwischen den Kalenderjahren 2013 und 2019 kontinuierlich erhöht, um dann mit der Corona-Pandemie zum Jahr 2021 hin um ca. 7 Prozent abzufallen (vgl. Abbildung 3). Auf der Grundlage der jeweiligen Kooperationsvereinbarungen kommt eine Lehrkraft der öffentlichen Musikschule zum Unterrichten in die Einrichtung. Modelle dieser Art werden traditionell über Elternbeiträge finanziert; da in diesem Fall in der Regel nicht alle Kinder teilnehmen, werden die Angebote manchmal in Randstunden gelegt. In den letzten Jahren wird jedoch vermehrt auf pauschale Institutionsgebühren umgestellt, die auch durch Fördervereine und andere Drittmittel gedeckt werden. So kann dem Wunsch entsprochen werden, alle Kinder einer Einrichtung zu erreichen und Selektion zu vermeiden. Teilweise möchten Einrichtungen und Träger keine externen Angebote. Allerdings sind in der jüngeren Vergangenheit Modelle entstanden, die ein Zusammenwirken von Lehrkräften der Elementaren Musikpraxis mit Erzieher:innen bis hin zur Gestaltung von Angeboten in Tandems beinhalten. In einigen Bundesländern wurden spezielle Programme für die musikpädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen aufgelegt:
- In Baden-Württemberg wird das Programm „Singen – Bewegen – Sprechen“ nach Landesrecht als Sprachfördermaßnahme für Kindertageseinrichtungen anerkannt. Es handelt sich um ein flächendeckendes Förderprogramm, bei dem die musikpädagogischen Fachkräfte durch das Land finanziert werden (vgl. Arbeitsgemeinschaft des Landesverbandes der Musikschulen und Landesmusikverbandes Baden-Württemberg).
- In Bayern hat das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst im Februar 2020 Förderrichtlinien bekannt gemacht, nach denen bis zu 50 Prozent der Lehrpersonalausgaben in Kooperationen von Musikschulen und Kindertageseinrichtungen übernommen werden, sofern es sich dabei um angestellte Lehrkräfte handelt (vgl. Bayerische Staatskanzlei 2020).
- Das Land Brandenburg fördert im Rahmen des Programms „Klingende Kita“ Kooperationen, in denen Musikschullehrkräfte gemeinsam mit Erzieher:innen musikalische Bewegungsspiele entwickeln und die Kitas in regelmäßigen Abständen besuchen (vgl. Verband der Musik- und Kunstschulen Brandenburg).
- In Mecklenburg-Vorpommern initiierte und finanzierte das Land das Projekt „Musik im Kinderalltag – ein Handbuch als Impulsgeber für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Tagespflegepersonen und Familien“. Ziel war es, im Rahmen einer in Tandems durchgeführten Erprobungsphase eine Sammlung von Materialien für den Alltag der Einrichtungen sowie Handlungsanleitungen für deren Personal zu erstellen. Diese steht seit 2021 als Druckversion zur Verfügung (vgl. Landesverband der Musikschulen in Mecklenburg-Vorpommern).
- Land und Kommunen in Niedersachsen fördern das Programm „Wir machen die Musik“. Dessen verbindliche Fördergrundsätze schreiben für die Kooperationen den Einbezug des Personals der Einrichtungen und die Unterstützung von deren Bildungszielen durch die Musikschulen sowie die fachliche Qualifikation der Lehrkräfte vor (vgl. Wir machen die Musik! 2022/23).
- In Nordrhein-Westfalen wurde vom Landesverband der Musikschulen das Programm „Kita und Musikschule“ entwickelt, das ein breites Spektrum an Maßnahmen einschließt, darunter auch die gegenseitige Qualifizierung von Erziehungs- und Musikschulpersonal sowie spezielle Angebote für Familien, für Teams und für Kinder „für die Musik noch mehr ist: Eine Ausdrucksform, die sie besonders interessiert, ein Zugang zu anderen Bildungsbereichen (z. B. Sprache), ein unterstützendes Ritual in der Eingewöhnungsphase oder ein Erfahrungsfeld im Übergang zur Grundschule“ (Landesverband der Musikschulen in NRW).
Länderübergreifend können Kooperationen mindestens dreier Akteure im Rahmen des Bundesprogramms „Bündnisse für Bildung. Kultur macht stark“ gefördert werden, das bildungsbenachteiligten Kindern einen ersten Zugang zu kultureller Bildung ermöglichen soll. Im Falle von Kindertageseinrichtungen muss es dabei um zusätzlich zum Regelbetrieb angebotene Maßnahmen gehen, die verantwortlich von externen Personen geplant und durchgeführt werden, wobei eine Begleitung durch das Personal der Einrichtungen möglich ist. Die Entscheidung zur Teilnahme soll dabei individuell vom einzelnen Kind oder für es getroffen werden (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2021). Vereinzelt legen auch Kommunen Programme zur Förderung von Kooperationen von Musikschulen und Kindertageseinrichtungen auf.
Eine wachsende Zahl von Tageseinrichtungen für Kinder hat inzwischen ein spezielles Musikprofil ausgebildet. Unterscheiden lassen sich
- Musikkindergärten, die studierte Musikpädagog:innen im Team beschäftigen,
- Kindertageseinrichtungen, an denen ein- bis zweimal pro Woche eine Musikpädagogin / ein Musikpädagoge in Anbindung an die Themen und Projekte der Einrichtung arbeitet, und
- musikbetonte Kindertageseinrichtungen, an denen die musikpädagogische Arbeit allein von den Erzieher:innen getragen wird (vgl. Schmidt 2014:48ff.).
Teilweise wurde die Etablierung einzelner Musikkindergärten mit Forschungen oder Konzeptentwicklungsprozessen begleitet, dies trifft etwa auf den KISUM-Musikkindergarten Weimar Niedergrunstedt und den von Daniel Barenboim initiierten Musikkindergarten in Berlin zu, an dem die Kinder regelmäßig Besuch von Orchestermusiker:innen erhalten.
Fördermaßnahmen für Kindertageseinrichtungen sowie für Erzieher:innen
2010 zeigten die Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann Stiftung, dass sich mehr als 60 Prozent der Erzieher:innen in nordrhein-westfälischen Kindergärten im Bereich der musikalischen Bildung nur mittelmäßig bis schlecht ausgebildet fühlten und entsprechend großen Fortbildungsbedarf sahen (vgl. Kompetenzzentrum Frühe Kindheit 2010). Im Folgejahr verabschiedete der Deutsche Musikrat eine Resolution zur Vorschulischen Musikalischen Bildung, in der eine breite musikalische Bildung für alle Kinder ebenso gefordert wird wie Qualität in der Ausbildung von Erzieher:innen und Kooperationen von Tageseinrichtungen für Kinder mit qualifizierten Lehrkräften für Musik (vgl. Deutscher Musikrat 2011). In jüngerer Zeit hat die Föderation musikpädagogischer Verbände das Thema in einem Positionspapier zur musikalischen Bildung von 2021 ebenfalls aufgegriffen (vgl. Föderation musikpädagogischer Verbände Deutschlands 2021). Parallel dazu haben verschiedene Träger in den letzten Jahren Projekte, Fort- und Weiterbildungsprogramme aufgelegt, die die Qualität und Reichhaltigkeit musikalischer Anregungen in Tageseinrichtungen für Kinder steigern sollen (vgl. dazu auch die Musikalisierungs- und Musikvermittlungsprojekte im Informationsangebot des Deutschen Musikinformationszentrums)
- Die Initiative YUNIK der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der Länder verfolgt das Anliegen, Austausch und Vernetzung von Akteuren der kulturellen Bildung, aus Bildungseinrichtungen und aus anderen Bereichen der Gesellschaft anzuregen; sie schließt an die Initiative „Kinder zum Olymp“ an.
- Das Programm „Canto elementar“ innerhalb des deutschlandweiten Netzwerks „Il canto del mondo“ setzt auf ehrenamtliche Singpaten aus der Nachbarschaft der Einrichtungen.
- Der Deutsche Chorverband vergibt die Auszeichnung „Die Carusos“ an Tageseinrichtungen, die gewisse Kriterien in der musikalischen Arbeit mit den Kindern – insbesondere beim Singen – erfüllen; in diesem Zuge werden auch Fortbildungen für Erzieher:innen angeboten.
- Fortbildungen für Erzieher:innen bilden zusammen mit eigens entwickelten Materialien auch den Kern des Programms „Toni singt“ des Chorverbands Nordrhein-Westfalen.
- Im Jahr 2012 startete die Bertelsmann Stiftung das Modellprojekt „MIKA – Musik im Kita-Alltag“ mit verschiedenen Akteuren der Aus- und Weiterbildung sowie der Kita-Praxis. Nach Abschluss der Konzeptentwicklung wurde Anfang 2017 das „Netzwerk Kitamusik NRW“ gegründet, das Austausch und Weiterbildung befördern soll; die Trägerschaft liegt bei der Landesmusikakademie Nordrhein-Westfalen. Das MIKA-Projekt selbst wurde 2020 von der gemeinnützigen „Initiative für frühe Bildung“ übernommen.
- Kostenlose Weiterbildungsprogramme für Erzieher:innen in mehreren deutschen Städten fördert der dm-Drogeriemarkt im Rahmen des Projekts „Singende Kindergärten“.
Erzieher:innen, die sich über einen bestimmten Zeitraum hinweg im Bereich der Musik weiterqualifizieren möchten, können darüber hinaus Angebote verschiedener Träger wahrnehmen: Bei musikalischer Vorbildung kann der „Zertifikatskurs Elementare Musikpraxis für vier- bis achtjährige Kinder“ besucht werden, den der Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen in Kooperation mit der Hochschule für Musik Nürnberg anbietet. Auch im Rahmen der zweijährigen Weiterbildung für Erzieher:innen in Elementarer Musikpraxis an der Landesakademie für musisch-kulturelle Bildung im saarländischen Ottweiler können Erzieher:innen ein entsprechendes Zertifikat erwerben. Darüber hinaus bestehen Fortbildungsangebote zu bestimmten Themen etwa an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid.
Öffentliche Musikschulen als zentrale Orte früher musikalischer Bildung
In den Jahrzehnten seines Bestehens hat sich auch der Verband deutscher Musikschulen als Trägerverband öffentlicher Musikschulen verstärkt der Arbeit mit jungen Kindern zugewandt: Ende der 1960er-Jahre wurde hier ein Curriculum für die Musikalische Früherziehung mit vier- bis sechsjährigen Kindern entwickelt, dem 1980 ein Lehrplan für das Fach folgte. Der aktuelle Strukturplan sowie der neue Bildungsplan für die Elementarstufe/Grundstufe aus dem Jahr 2010 – letzterer umfasst die Altersspanne von der Geburt bis zum Alter von zehn Jahren – sehen schließlich auch Elementare Musikpraxis in Eltern-Kind-Gruppen mit Kindern von der Geburt bis zum Alter von drei oder vier Jahren vor. Kinder im Alter von bis zu fünf Jahren machten im Kalenderjahr 2021 knapp 16 Prozent der rund 1,4 Millionen Schüler:innen aus, die in öffentlichen Musikschulen aktiv waren. Die Musikschulen des Verbands haben damit 4,5 Prozent der Kinder unter sechs Jahren erreicht. Der leichte Rückgang gegenüber dem Vorjahr ist durch die Corona-Pandemie erklärbar, die durch die Gefahren, die dem Unterrichten größerer Gruppen, dem Singen und dem Tanzen zugeschrieben wurden, besonders auch den Unterricht in der Elementarstufe/Grundstufe der Musikschulen eingeschränkt hat. (Anm.: Die Zahlen im Abschnitt „Öffentliche Musikschulen als zentrale Orte früher musikalischer Bildung“ sind den Statistiken des VdM entnommen, die dieser regelmäßig aktualisiert und veröffentlicht; zur aktuellen Ausgabe vgl. Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): VdM-Jahresbericht 2022, Bonn 2023 sowie Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch der Musikschulen 2021, Bonn 2023. Die Errechnung des Anteils von Musikschülern in der Bevölkerung bis einschließlich fünf Jahre basiert auf folgenden Quellen: Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): VdM-Jahresbericht 2022, Bonn 2023:166 sowie Statistisches Bundesamt: Bevölkerungsfortschreibung auf Grundlage des Zensus 2011, Wiesbaden 2022. Zum erreichten Anteil der Bevölkerung vgl. auch: Deutsches Musikinformationszentrum: Öffentliche Musikschulen in Deutschland. Infrastruktur und Nutzung öffentlicher Musikschulen im Verband deutscher Musikschulen, Bonn 2022:5)
Inhalt des Unterrichts in der Elementarstufe/Grundstufe ist eine grundlegende, noch nicht spezialisierte sogenannte „Elementare Musikpraxis“, die für sich genommen schon ein sinnvolles Bildungsangebot, gleichzeitig aber auch die Basis einer möglichen späteren Spezialisierung – etwa auf ein bestimmtes Instrument – darstellt. Eltern-Kind-Gruppen werden von Kindern unter drei oder vier Jahren – je nach Gruppe bereits vom ersten Lebensjahr an – in Begleitung einer Bezugsperson besucht. Neben den Kindern erhalten hier auch die Eltern musikbezogene Anregungen; schließlich zielt der Unterricht auch auf die musikalische Kommunikation der Eltern mit ihren Kindern ab. Eine Elementare Musikpraxis für Kinder im Alter von drei oder vier bis sechs Jahren stellt die Musikalische Früherziehung dar, die seit den 1970er-Jahren einen Kern der Musikschularbeit darstellt. Immer größere Bedeutung kommt den Kooperationen mit Kindertagesstätten zu, in deren Rahmen die meisten Musikschulen Angebote der Elementaren Musikpraxis bereitstellen (s. auch Abschnitt Tageseinrichtungen für Kinder). Die Angebote der Musikalischen Grundausbildung und Orientierungsangebote, bei denen die Kinder verschiedene Instrumente nacheinander ausprobieren, sowie Kooperationen mit Grundschulen sind ebenfalls Bestandteil der Elementarstufe/Grundstufe, richten sich aber an Kinder im Grundschulalter (s. dazu auch den Beitrag „Außerschulische musikalische Bildung“ von Michael Dartsch).
Das Spezifikum der Elementarstufe/Grundstufe ist die breite Fächerung der Inhalte: Lieder und Stimmimprovisationen decken den Bereich des Singens ab; freies und gebundenes Spiel auf verschiedensten Instrumenten, zumeist kleinem Schlagwerk bzw. dem sogenannten „Orff-Instrumentarium“, repräsentiert die Kategorie des Instrumentalspiels. Der Bereich der Bewegung beinhaltet Tänze, freies Bewegen und Körperperkussion. Eng verwoben mit den genannten Bereichen ist das Wahrnehmen und Erleben, das von sensorischer Sensibilisierung über das Hören verschiedenster Musikstücke bis zum Erleben von Instrumenten reicht, die die Kinder später erlernen könnten. Auch das musikbezogene Denken hat seinen Platz, wenn etwa über musikalische Eindrücke gesprochen wird oder wenn Strukturen und Notationsformen thematisiert werden. Schließlich wird Musik auch mit anderen Ausdrucksformen verbunden, so im Szenischen Spiel, im rhythmischen Sprechen, in der Visualisierung von Musik durch Bilder und im Instrumentenbau. Der Unterricht der Elementaren Musikpraxis berührt implizit auch andere Entwicklungsbereiche; so betreffen musikspezifische Anforderungen auch Kognition, speziell Sprache, sowie Wahrnehmung, Emotion, Motorik und Sozialverhalten.
Kinder, die bereits im Vorschulalter ein Instrument erlernen wollen, können dies an öffentlichen Musikschulen ebenfalls tun, wenngleich dies die Ausnahme darstellt.
Studium und Ausbildung im Bereich der Frühen musikalischen Bildung
Sowohl an den Fachschulen, an denen die Erzieher:innenausbildung angesiedelt ist, als auch an Fachhochschulen, die mittlerweile erste einschlägige Studiengänge anbieten, spielt auch die Musik eine Rolle. Pflichtanteile werden mancherorts von Zusatzangeboten flankiert (vgl. Rohlfs 2014:69ff.).
Derzeit bietet lediglich die Fachschule für Sozialpädagogik Neumünster eine Musikklasse und damit eine Erzieher:innenausbildung mit musikpädagogischen Ausbildungsinhalten an. An der Fachhochschule Bielefeld ist im Rahmen des Studiengangs „Pädagogik der Kindheit“ eine Studienvertiefung in zusätzlichen Qualifizierungsbereichen vorgesehen, von denen eine „Musikalische Bildung“ heißt (vgl. Hochschule Bielefeld).
Nach der Einrichtung der Musikalischen Früherziehung folgten in Deutschland ab 1976 einschlägige musikpädagogische Studiengänge an Musikhochschulen und Konservatorien, für die sich heute die Bezeichnung „Elementare Musikpädagogik“ durchgesetzt hat. Auch Absolvent:innen des schon länger existierenden Studiengangs „Rhythmik“ werden in der Elementarstufe/Grundstufe eingesetzt; ihrem Studium gemäß legen sie einen besonderen inhaltlichen und methodischen Schwerpunkt auf den wechselseitigen Bezug von Musik und Bewegung und zielen dabei auch auf eine breite Förderung der Persönlichkeit.
Angebote von privaten und kirchlichen Trägern sowie von Konzertveranstaltern
Musikbezogene Angebote halten auch verschiedenste private Träger vor. So bieten etwa private Musikschulen Kurse für Vorschulkinder an. Der Bundesverband der freien Musikschulen (bdfm) hat hierfür eine eigene „bdfm-Lehrbefähigung“ geschaffen, die auf der Basis von Bewerbungsunterlagen und Videomitschnitten vergeben wird und die, wenn kein einschlägiges Studium vorliegt, die Voraussetzung zum Unterrichten an den Verbandsschulen darstellt. Daneben sind selbstständige Musiklehrer:innen für Musikalische Früherziehung an Tageseinrichtungen für Kinder tätig, aber auch in privaten Räumlichkeiten. Zahlreiche musikaffine Privatpersonen, die Wochenendseminare des Mainzer Instituts für elementare Musikerziehung zu den Konzeptionen „Musikgarten“ oder „Musikgarten für Babys“ (zwei Wochenenden) belegt und die entsprechende Lizenz erworben haben, halten Eltern-Kind-Kurse in eigener Verantwortung ab, die sie etwa in Hebammenpraxen durchführen. Lieder, Verse, melodische und rhythmische Echospiele, Kniereiter- und Fingerspiele, Bewegungsanregungen, Hören von Klängen und Geräuschen, Spiel mit Instrumenten wie Glöckchen, Rasseln, Klanghölzern und Klangbausteinen sowie Erfahrungen mit Reifen und Tüchern stehen im Zentrum der Unterrichtseinheiten. Wiederholungen und Rituale strukturieren dieselben. Unter dem Namen „BabyBauchTöne“ bietet das Institut für elementare Musikerziehung neuerdings auch Seminare für das Singen mit Schwangeren an. Auch Instrumentalunterricht für Vorschulkinder kann bei privaten Musikschulen oder Lehrkräften besucht werden.
Der ChorVerband Nordrhein-Westfalen bietet im Rahmen der Bildungsinitiative „Toni singt“ auch einmalige Präsenzkurse für Babys und Eltern in verschiedenen Städten an. Eltern-Kind-Gruppen werden zudem von vielen Familienbildungsstätten und Kirchengemeinden angeboten. Hier dürften neben den musikpädagogischen Zielen auch die Stärkung der Familien bzw. pastorale Ausrichtungen leitend sein. Nicht wenige Kirchengemeinden haben darüber hinaus Kurse der Musikalischen Früherziehung im Programm, die von ihnen getragen und in ihren Räumen durchgeführt werden. Schließlich organisieren ebenfalls zahlreiche Musikvereine Eltern-Kind-Gruppen und Musikalische Früherziehung in eigener Regie.
Neben den genannten Gruppen richten sich mittlerweile auch die Angebote zahlreicher Konzertveranstalter, deren Education-Programme in den letzten Jahren zunehmend ausgebaut und für unterschiedliche Altersgruppen geöffnet wurden, speziell auch an Kinder unter sechs Jahren. Dies reicht von der musikpädagogisch gestalteten Kinderbetreuung während des Konzertbesuchs der Eltern bis hin zu Konzerten, die bereits von Kleinkindern oder Vorschulkindern besucht werden können oder speziell auf sie zugeschnitten sind. Daneben finden sich auch Konzerte, die sich an Eltern und Babys richten. Den Babys wird hiermit die Gelegenheit geboten, Live-Musik zu erleben und frei darauf zu reagieren; gleichzeitig eröffnet dies Eltern die Möglichkeit, ein Konzert zu besuchen, ohne sich um eine eigene Betreuung für ihr Kind kümmern zu müssen.
Fazit
Insgesamt findet sich ein reiches Spektrum an musikpädagogischen Angeboten, die von jungen Kindern wahrgenommen werden können. Dass solche Angebote tatsächlich vermehrt vorgehalten und genutzt werden, zeigt deutlich die positive Einschätzung der Bedeutung früher musikalischer Bildung in der Gesellschaft. Da die Initiative für den Besuch von freiwilligen Kursen verschiedener Träger stets vom Interesse der Eltern abhängt und da sich nicht zuletzt auch die Dichte der Angebote je nach Einzugsgebiet unterscheidet, ist die Förderung des Umgangs mit Musik in Tageseinrichtungen für Kinder nach wie vor ein wichtiges musikpädagogisches sowie kultur- und sozialpolitisches Ziel. Vielversprechend erscheinen vor diesem Hintergrund fundierte Kooperationen zwischen Tageseinrichtungen für Kinder und Musikschulen bzw. musikpädagogischen Fachkräften.