Formen der Selbst- und Weltbeziehungen im Theater
Abstract
Angesichts der Komplexität und Dynamik globaler, sozialer und ökologischer Zukunftsentwicklungen sowie zunehmender Polarisierungs- bzw. Abgrenzungstendenzen scheint es umso bedeutsamer zu sein, zukunftsfähige Ansätze, neue Denkgewohnheiten und alternative Lebensweisen für eine offene, pluralistische Gesellschaft zu entwickeln. Zudem rücken Prozesse der Entdifferenzierung die Frage nach einer „differenzsensiblen Umgangskultur“ verstärkt in den Fokus gegenwärtiger Gesellschaftsordnungen. Der in der Theaterwerkstatt Bethel entstandene künstlerische Ansatz der Volxkultur stellt einen solchen Impuls für die Etablierung von Möglichkeitsräumen und die Entfaltung wertschätzender Formen des sozialen Miteinanders dar. Für den auf Offenheit, Individuation und Heterogenität basierenden Ansatz birgt das Leben und Arbeiten in und mit vielfältig zusammengesetzten Gruppen ein großes Potenzial für gegenseitige Anregungen und künstlerisches Schaffen sowie gesellschaftliches Engagement. Unter Volxkultur wird daher eine Kultur gemeinsamer Sozialität verstanden, die die Kunst des Zusammenlebens und -wirkens stetig praktiziert, vorantreibt und hinterfragt. Seinen Ursprung hat dieser Ansatz in der ästhetischen Praxis des Volxtheaters, das sich besonders als Erfahrungs- bzw. Spielfeld und Diskursort für gesellschaftliche Fragestellungen eignet. Dieser Beitrag führt anhand des Volxtheaters der Theaterwerkstatt Bethel aus, wie die ästhetische Praxis des Theaters als Möglichkeitsraum zur Entwicklung und Erprobung von Selbst- und Weltbeziehungen dient, die im gesellschaftlichen Zusammenleben gefährdet beziehungsweise (noch) nicht realisiert sind.
Theater als Praxis des Zusammenlebens
Nach Ingrid Hentschel fungiert gerade das Theater als institutionelle, ästhetische und soziale Praxis über weite Strecken als Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens (vgl. Hentschel 2019:51). Es ermöglicht Selbst- und Fremderfahrungen, stößt Lern- und Bildungsprozesse an und motiviert zu Selbst-Bildungsbewegungen. Außerdem ist es ein Erfahrungs- und Resonanzraum, in dem der Mensch auf eine spezifische Art und Weise mit der Welt in Beziehung treten kann. In der ästhetischen Praxis des Theaters lassen sich gesellschaftliche Missstände vergegenwärtigen und Formen einer neuen alternativen sozialen Organisation erproben und gestalten. Im ästhetischen Prozess ergeben sich für die Akteur*innen Gelegenheiten, eigene Bewertungs- und Kategorisierungsmechanismen reflexiv zugänglich zu machen, sich etablierter Exklusionsmechanismen bewusst zu werden und somit ihre Differenzsensibilität auszubauen. So können Kollisionen und Krisensituationen aufgrund unterschiedlicher Konventionen und Eigenlogiken zu einer positiven Form der Selbst- und Weltbeziehung führen, wenn das soziale Miteinander reflexiv bearbeitet wird und die inkorporierten Handlungs- und Denkmuster stetig hinterfragt werden (vgl. Kreutz 2019: 201).
Demzufolge ist Theater immer auch sozial und politisch. Durch das gemeinsame Erleben und Gestalten künstlerischer Prozesse kann es als Versuchsanordnung betrachtet werden, das der Selbsterforschung, aber auch der experimentierenden Erkundung von Verhaltens- und Denkweisen, Haltungen, Gefühlen und Kommunikationsstrukturen dient (vgl. Hentschel 2019:53). Aus diesem Grund beschreibt Juliane Gerland „Prozesse künstlerischer Gestaltung als ein Möglichkeitsraum für ein acting outside the box“ (Gerland 2019:42), indem gesellschaftliche Visionen, Konzepte des Zusammenlebens und alternative Lebensweisen ‚spielerisch‘ erkundet werden können, ohne dass Stereotypisierungen, Konventionen und gesellschaftlich etablierte Ordnungsprinzipien einschränkend wirksam werden.
Eine Theaterarbeit, die sich diesem Verständnis verpflichtet weiß und das Gesellschaftliche mit dem Ästhetischen verbindet, findet in der Theaterwerkstatt Bethel in unterschiedlichen Formaten (u.a. Theaterproduktionen, Workshops, Seminare, Kolloquien, Fachtagungen) und sozialen Experimenten statt.
Die ästhetische Praxis des Volxtheaters als Erfahrungs- und Gestaltungsraum
In der Theaterwerkstatt Bethel entwickeln seit 1983 viele sehr verschiedene Menschen aus Bielefeld und Umgebung ihr eigenes Theater. Gespielt wird, was die Mitwirkenden interessiert und sie für wichtig erachten. In offenen Werkstätten und Workshops tauschen sie sich mit künstlerischen Mitteln über für sie wichtige Lebensfragen aus und bringen ihre Ideen in Inszenierungen und Performances zum Ausdruck. Seit 2005 findet diese Arbeit unter dem Namen Volxtheater statt. Das Volxtheater der Theaterwerkstatt Bethel vereint Künstler*innen verschiedenster Lebensbereiche der Gesellschaft. Es stiftet auf künstlerischem Wege Dialoge zwischen Menschen verschiedener Lebenswelten an. Das Spiel der Mitwirkenden speist sich aus dem Potenzial der großen Vielfalt ihrer Lebenserfahrungen und Denkweisen.
Für diese diversen Weltsichten und Ideen steht auch das ‚x‘ in der Bezeichnung der ästhetischen Praxis der Theaterwerkstatt Bethel. Als symbolhafte Initiale verweist es auf die menschliche Begegnung und das Aufeinandertreffen biografischer Bezüge, Herkünfte, Absichten und Interessen. Zudem markiert es einen besonderen Ort, Treffpunkt oder Standpunkt und gibt Orientierung. Das ‚x‘ verweist auf den Freiraum, den lebendige Entwicklung benötigt und durchkreuzt überkommene Vorstellungen von völkischen Gemeinschaftsbegriffen. In freiheitlicher und demokratischer Hinsicht regt es jede*n zur Übernahme von Verantwortung, zum ‚selbst denken‘ und zur Eigenaktivität an (vgl. Gräßlin 2019:21f.).
Das künstlerische Tun im Volxtheater ist somit von gesellschaftlichen Prozessen durchdrungen, wirkt aber andererseits immer wieder in diese zurück. Indem sich nämlich die Akteur*innen als Künstler*innen begreifen und ihr eigenes Theater, ihren eigenen Ausdruck und ihre eigenen Themen finden und weiterentwickeln, bringen sie sich auf diese Weise wiederum in die Gesellschaft ein. Gerade der themenzentrierte künstlerische Ansatz und die verschiedenen neu entwickelten soziokulturellen Formate ermöglichen eine kulturelle Teilhabe für Personen aus allen Teilen der Gesellschaft.
„Die Grundidee ist, eine Art offenes künstlerisches Zentrum zu sein, in dem Menschen empfangen werden, die selbst ästhetisch aktiv werden möchten. Denn wenn Menschen zusammenkommen, die etwas machen wollen, dann stehen sofort interessante Themen im Raum. Es entsteht ein Wechselspiel aus Gedanken, Ideen, Befürchtungen, Behauptungen, die dann fließend in den künstlerischen Prozess eingehen. Wir initiieren Prozesse, um im Wechselspiel mit anderen Neues zu lernen und entstehen zu lassen. Hierin liegt für alle Beteiligten eine große Bereicherung.“ (Auszug aus einem Interview mit dem Leiter der Theaterwerkstatt Bethel Matthias Gräßlin, 2013)
Die Angebote und Aktionen dieser ästhetischen Praxis finden überwiegend in Kooperationen mit zahlreichen Institutionen (u.a. Museen, Bildungseinrichtungen, Gemeinden, soziokulturellen Zentren, Projektinitiativen, Vereinen, Fachhochschulen, Universitäten, Schulen, Kindertagesstätten, Theatern, Selbsthilfevertretungen, Pflegeeinrichtungen) und auch anderen Lebensfeldern (Schule, Kirche, Wissenschaft, Politik, Gesundheit, Wirtschaft, Religion oder anderen Künsten) statt.
Die Idee, die dieser Arbeitsweise zugrunde liegt, ist, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen, die sich erst einmal fremd erscheinen, sich auszutauschen und zusammenzuarbeiten. Zudem erhalten die Akteur*innen, durch die Kooperationen und Netzwerke, Zugang zu Orten, die zunächst unzugänglich schienen. 2016 hat sich aus dieser Arbeits- und Herangehensweise des Volxtheaters die Volxakademie als Zentrum für inklusive Kultur entwickelt.
Sie lädt jede*n mit den jeweils eigenen Begabungen dazu ein, sich in kulturellen Projekten selbstständig einzubringen, zu lernen und gemeinsam Ideen für das Engagement in anderen Lebensbereichen zu entwickeln. Die Volxakademie greift dabei fortwährend aktuelle gesellschaftliche Themen auf und führt sie über künstlerische, kooperative und kreative Kommunikationsformen in die Öffentlichkeit. Durch ihre flexible und themenorientierte Organisation schafft sie ständig möglichst heterogene Begegnungs-, Lern- und Arbeitsräume und ermöglicht so die kulturelle Teilnahme unabhängig von persönlichen oder strukturell bedingten Barrieren (körperliche oder geistige Behinderung, Sprache, Armut, Geschlecht, Fremdheit o.a. Status). Ausgangspunkt stellt die künstlerische Erfahrung beziehungsweise das eigene Spiel dar. Daraus werden neue innovative Konzepte entwickelt und in verschiedensten gesellschaftspolitischen und kulturellen Zusammenhängen zur Anwendung gebracht. Davon ausgehend versteht sich die offene, kooperative und auf Heterogenität basierende ästhetische Praxis des Volxtheaters als „Theater aus der Bevölkerung für die Bevölkerung“ (Gräßlin 2019:23).
Theater aus der Bevölkerung für die Bevölkerung
Das Volxtheater wird als kollektive Erfahrung verstanden, indem unterschiedliche Menschen mit zum Teil gegensätzlichen Interessen zusammengebracht werden, um gemeinsam ein künstlerisches Ergebnis zu entwickeln. „Seine besondere Qualität erhält das Volxtheater durch den gemeinschaftlichen Metalog der gestaltenden Gruppe.“ (Gräßlin 2008:12) In diesem künstlerisch-kooperativen Prozess finden die Mitwirkenden wichtige, aussagekräftige Eigenheiten heraus, die wiederum auf die Qualität dieses Prozesses, die Entwicklung von Theaterproduktionen und auch die Zusammenarbeit im Allgemeinen zurückwirken.
Diese Arbeitsweise basiert auf anspruchsvollen Formen der Kooperation und Kommunikation, die situations- bzw. projektbezogen (weiter-)entwickelt werden und in denen „die Beteiligten [zunächst einmal] wichtige, aussagekräftige Eigenheiten finden und herausarbeiten müssen“ (Sennett 2012:32). Dabei geht es weniger darum, die Interessen und Ideen der Mitwirkenden zu vereinheitlichen, sondern vielmehr um die Zusammenarbeit an einer gemeinsamen Aufgabe. Zentrales Moment ist die Orientierung an der Sache beziehungsweise Aufgabe statt an eigenen Vorstellungen und Befindlichkeiten. Erst durch die Transformation des Eigenen zum gemeinsamen Material werden Übergänge zwischen Erfahrungs- und Lebenswelten geschaffen. Dazu bedarf es der Fähig- und Fertigkeiten, viel Eigenes zurückzustellen, um an bestimmten Problempunkten des Alltags einen gemeinsamen Interaktionsraum zu öffnen, zu dem alle einen Zugang haben können beziehungsweise der verschiedene Akteur*innen miteinander verbindet.
Für die Akteur*innen ist die Erfahrung der Verschiedenartigkeit ihrer Lebenserfahrungen und Kompetenzen, der Wirkungsfelder und Sichtweisen eine wichtige Ressource für innovative Ideen, Entwicklungsfragen und (Selbst-)Bildungsprozesse. Im Volxtheater erfahren sie die Notwendigkeit, immer wieder wechselseitige Bezugspunkte zu (er-)finden beziehungsweise zu erspielen, um sich dadurch vom Wissen und den Erfahrungen der anderen Akteur*innen inspirieren lassen zu können. Das gemeinsame Spiel entsteht somit in einem komplexen Wechselspiel zwischen eigenen Formideen und denen anderer Spieler*innen sowie den visuellen, textuellen und auditiven Impulsen der Künstlerischen Leitung und Dramaturgischen Assistenz aus unterschiedlichsten Lebensbereichen (Kunst, Theater, Film, Fernsehen, Politik, populäre Kultur, Wissenschaft).
Bedeutsam für die ästhetische Praxis des Volxtheaters ist der wechselseitige Dialog, der einer „Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen“ (Sennett 2012:29) bedarf, die verschiedenen gesellschaftlichen Erfahrungen zelebriert und die Akteur*innen dazu veranlasst, die eigene Realität stetig mit der Wirklichkeit anderer zu konfrontieren und ihre gewohnten Handlungsschemata zu verlassen. „Komplexität [und Heterogenität sowie das Interesse und die Neugierde am anderen Menschen] bereichern Erleben und Erfahrung.“ (Sennett 2018:15) Im ästhetischen gemeinsamen Tun geht es dementsprechend nicht darum, Unterschiede deutlich zu machen, sondern der*dem anderen ihre*seine Eigenheiten zu lassen, sich einer gemeinsamen Aufgabe zu widmen, sich zuzuhören, sich durch themenzentrierte Impulse, Ideen und Vorstellungen wechselseitig anzuregen und mit diesen Anregungen weiterzuarbeiten. Daher wird in der ästhetischen Praxis des Volxtheaters die Vielfalt der Bedeutung ihrer Klarheit vorangestellt (vgl. Sennett 2018:15).
Diesem Prozess immanent ist das wechselseitige ‚Sich-Einlassen‘, denn „erst durch das Sich-Einlassen auf das Fremde, dem Einlassgewähren des Widerfahrenen wird mit dem Vertrauten gebrochen und damit ein Weg zu einem neuen Hinsehen und Hinhören, Erkennen, Begreifen und Tun eröffnet“ (Eckart/Mian 2015:187f.). Dabei liegt die Betonung auf dem wechselseitigen Engagement – bei der Konstitution eines künstlerischen Gestaltungsprozesses geht es weder um eine Aktion im Sinne eines rein aktiven Tuns noch um ein bloßes Ausgeliefertsein, sondern um ein Ineinandergreifen von Eigenem und Fremdem. Es geht um die „Bereitschaft zur Verunsicherung, die Öffnung zur Irritation und Empfänglichkeit für das Rätselhafte“ (Meyer-Drawe 2013:89–97; zitiert nach Eckart/ Mian 2015:188).
Diese Bereitschaft wird durch die radikale Orientierung am Prozess und die Offenheit der ästhetischen Praxis auch hinsichtlich ihrer Ergebnisse unterstützt. Der Prozess ist das Ergebnis! Dadurch wird ein künstlerisch-ästhetischer Gestaltungs- und Erlebnisraum eröffnet beziehungsweise hergestellt, der im besten Falle Variation und Innovation fördert und zulässt (vgl. Sennett 2018:294). Lassen sich die Akteur*innen auf diese anderen Verweisungs-, Deutungs- bzw. Sinnhorizonte ein, können sie Fähigkeiten im Umgang mit Widersprüchen und Unsicherheiten entwickeln.
Herausgefordert durch die Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen, zeigt sich eine Selbst-Bildungsbewegung, in der die Akteur*innen nicht auf ihren Verweisungshorizonten beharren, sondern offen bleiben für neue (Selbst-)Erfahrungen (vgl. Eckart/Mian 2015:189).
Die Kraft der ästhetischen Praxis
Es ist unverkennbar, dass den Prozessen des Zusammenwirkens, der Kooperation, des ‚Sich-Einlassens‘ sowie der leiblichen Performanz eine emanzipatorische Kraft innewohnt, Grenzen auszutesten und über alltägliche Erfahrungen hinauszugehen, indem Alltagssymboliken dechiffriert oder ungleiche Machtverhältnisse und ihre Reproduktionen reflektiert werden. Dementsprechend versteht Carolin Länger das Volxtheater z.B. auch als Grundlagenforschung, in dem persönliche und kulturelle Erwartungen bewusst und absichtlich demontiert, dekonstruiert und neukonstituiert werden und Fragmente anderer Sicht- und Lebensweisen ins eigene Bezugsfeld rücken (vgl. Länger 2008:144). Die künstlerischen Praktiken des Theaters bieten die Gelegenheit, sich über Konventionen, soziale Erwartungen und Adressierungen bestimmter sonstiger Handlungsfelder hinwegzusetzen. In der ästhetischen Freiheit des Theaterspielens können die Zwänge, Regeln und Notwendigkeiten des ‚everyday life‘ für eine begrenzte Zeit weitestgehend außer Kraft gesetzt, bestehende Gesellschaftsordnungen überwunden und Möglichkeits- und Resonanzräume für widerständige und eigensinnige Praktiken der Lebensgestaltung erfahren werden.
Im Vollzug ästhetischer Praktiken realisiert sich Resonanz als identitätskonstituierende Erfahrung des Berührt- und Ergriffenseins und der wechselseitigen Durchdringung. In Anlehnung an die Arbeiten Hartmut Rosas‘ (vgl. Rosa 2017, 2016) ist Resonanz als Selbst- und Weltbeziehungen zu begreifen, die sowohl positive als auch negative Formen evozieren können. Selbst- und Weltbeziehung beschreibt den Zustand, wie der Mensch sich selbst und die Welt erfährt, wie er in der Welt positioniert ist und sich diese aneignet. Rosas‘ Leitidee ist dabei die „Vorstellung einer gelingenden ‚Wiederaneignung‘ oder ‚Anverwandlung‘ von Welt – einerseits, kollektiv, im Modus demokratischer Politik […] und andererseits, individuell, durch den Entwurf einer veränderten Konzeption gelingenden Lebens“ (Rosa 2016:16).
Gerade in der ästhetischen Praxis des Theaters lassen sich in einer auf Beschleunigung, Wachstumssteigerung und Homogenisierung gründenden Gesellschaft einerseits alternative Formen resonanter Weltbeziehungen erfahren. Andererseits eignet sich das Theater aber auch als Experimentierfeld für die Auslotung, Modulation und Exploration von Weltbeziehungen. Resonanzerfahrungen stellen sich z.B. ein durch die körperlich-leibliche Ko-Präsenz in Probenprozessen, die Gefühle, Stimmungen und Atmosphären hervorruft, oder wenn das Publikum gespannt mit den Spieler*innen lacht, weint, sich mit ihnen ärgert, sich von der Energie ihres Spiel ergreifen und berühren lässt. Nicht nur die Spieler*innen sind aktiv, sondern auch die Zuschauer*innen „müssen hinsehen, hinfühlen, hindenken und […] selbstdenken. […] Indem man zusieht, handelt man selbst“ (Sturzenhecker 2019:110). Im Theaterspiel konstatiert sich ein Gefühl der gegenseitigen Bezogenheit und eine Form des sozialen Miteinanders, in der sich Resonanz als „magischer Moment“ (Ringhoff 2019:263) der ästhetischen Praxis des Theaters vollends entfalten kann.
Theater als Laboratorium der Selbst- und Weltbeziehungen
In Zeiten von Separation, Rassismus, Nationalismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit brauchen wir gelebte Modelle und Experimente, die gesellschaftlich etablierte Strukturen und Homogenisierungstendenzen hinterfragen und überschreiten und Visionen für ein anderes Zusammenleben (vgl. Adloff/Leggewie 2014) entwickeln, erproben und vermitteln.
Spiel und Theater können als Laboratorien der Vergegenwärtigung, Bewusstmachung, Modulation, Dekonstruktion und Konstitution von Gesellschaftsordnungen dienen. Denn „im ästhetischen, zweckfreien Spiel kommt das Soziale zu sich und seinem eigentlichen Wert - indem wir miteinander spielen, handeln wir, wir entwerfen uns selbst als Gemeinwesen, mit allen Potenzialitäten“ (Hentschel 2019:58-59).