Flucht, Zuflucht und Kulturelle Bildung - Anmerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Praxis

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von Max Fuchs

Erscheinungsjahr: 2016

Abstract

Die aktuellen Fluchtbewegungen stellen die Organisationen im Kulturbereich vor neue Herausforderungen und eine pädagogische wie politische Verantwortung. Entsprechend erinnert der Beitrag die rechtlichen Grundlagen im Umgang mit Geflüchteten, setzt sich kritisch mit Werthaltungen und der Forderung nach einer Leitkultur auseinander und benennt bildungs- und kulturtheoretische Aspekte der Herausforderungen von Flucht, Zuflucht und Kultureller Bildung sowie Stolpersteine und Ambivalenzen bei der Organisation einer ästhetischen Praxis mit geflüchteten Menschen.

1. Vorbemerkung

Die Kriege und Bürgerkriege in Nordafrika, in Syrien, im Libanon, im Irak und in Afghanistan haben zu der größten Fluchtbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg geführt. Millionen von Menschen ergriffen die Flucht, weil in ihrer Heimat massiv gegen ein zentrales Menschenrecht, nämlich das Recht auf körperliche Unverletzlichkeit und Integrität, verstoßen wird: Sie waren sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Mit ihrer Flucht haben sie nicht nur ihre Heimat aufgegeben: Sie gingen wegen der Unsicherheit der Fluchtwege ein sehr hohes Risiko ein, für das sie zudem kriminellen Schlepperbanden enorme Summen bezahlen mussten. Ihr Ziel waren europäische Länder, vor allem Mitgliedsländer der Europäischen Union, von denen sie glaubten, dort sicher und mit einem gewissen Auskommen leben zu können. Womit sie nicht rechneten, war, dass die Länder der Europäischen Union und die Europäische Union selbst nicht so human reagierten, wie es etwa in Sonntagsreden über eine „europäische Wertegemeinschaft“ oder wie es in der Europäischen Grundrechtecharta formuliert wird. Es formierte sich vielmehr ein erheblicher Widerstand gegen Geflüchtete und Asylsuchende in allen betroffenen Ländern, der quer durch alle sozialen Schichten ging. In vielen Ländern erhielten rechtspopulistische Parteien, deren einziges politisches Ziel die Abwehr von Zuwanderung war, bei Wahlen bzw. bei Umfragen ausgesprochen hohe Zustimmungswerte. Die große Zahl der aufzunehmenden Geflüchteten stellte zudem auch insofern ein Problem dar, als es zunächst keine geeigneten Infrastrukturen – vor allem auf kommunaler Ebene – gab. Trotz erheblicher Widerstände öffnete die deutsche Bundesregierung die Grenzen (Angela Merkel: „Wir schaffen das!“). Viele Fachkräfte sowie Träger und ihre Organisationen im Bereich der Jugend-, Bildungs- und Kulturpolitik reagierten schnell auf diese Herausforderung mit entsprechenden Angeboten und einem enormen Engagement.

Allerdings erfuhr diese anfängliche Offenheit aufgrund eines erheblichen Gegendrucks sowohl auf nationaler Ebene als auch im europäischen Kontext durch andere Mitgliedsländer der EU nach und nach deutliche Restriktionen. Dabei hätte man gerade in Deutschland aufgrund seiner Geschichte ein größeres Verständnis für Geflüchtete erwarten können (Aust/Burgdorf 2003). Die Schließung der Balkanroute, über die die meisten Geflüchteten nach Mitteleuropa kommen wollten, war die drastischste Reaktion der Europäischen Union. Dies führte zu der aktuellen Situation, dass mittlerweile die ersten ausgebauten kommunalen Notunterkünfte wieder geschlossen werden und der Innenminister mit wahrnehmbarer Zufriedenheit von einem dramatischen Absinken der Flüchtlingszahlen spricht. Dies wäre in der Tat ein zu feiernder Erfolg, wenn der Rückgang der Zahlen darauf zurückzuführen wäre, dass sich die Situation in den Heimatländern der Geflüchteten erheblich verbessert hätte. Da dies definitiv nicht der Fall ist und weiterhin eine große Zahl Geflüchteter unterwegs ist und sich vermutlich gefährlichere Fluchtwege sucht, allerdings nunmehr ohne in Deutschland Aufnahme zu finden, besteht überhaupt kein Anlass zur Zufriedenheit oder sogar zur Freude über die reduzierten Aufnahmezahlen.

Im Folgenden will ich an die rechtlichen Grundlagen im Umgang mit Geflüchteten erinnern, ich werde auf einige relevante Diskurse eingehen und insbesondere die Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Praxis beschreiben.

2. Rechtliche Grundlagen

Die zentrale Grundlage dafür, wie Menschen mit sich umgehen sollen, ist das System der Menschenrechte. Diese wurden in zum Teil jahrhundertelangen Kämpfen gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt und sind inzwischen in zahlreichen Pakten und Konventionen niedergelegt. Eine entsprechende Sammlung solcher Regelungen und Vorgaben (Bundeszentrale 2004) enthält 54 einschlägige Dokumente. Das erste dieser Dokumente ist die Charta der Vereinten Nationen, die am 26.6.1945 in San Francisco verabschiedet wurde. Im ersten grundlegenden Satz dieses Dokumentes ist von Grundrechten des Menschen die Rede, von der Würde und dem Wert der menschlichen Persönlichkeit, der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen. Es ist von Gerechtigkeit, von sozialem Fortschritt und einem besseren Lebensstandard die Rede. Später (Art. 55) verpflichtet man sich auf die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion. Diese erwähnten Menschen- und Grundrechte wurden in der am 10.12.1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte präzisiert. Es geht um das Recht auf körperliche Integrität, es geht um das Recht auf Gesundheit, Kultur, Bildung, Wohnung, Arbeit und vor allen Dingen um Selbstbestimmung.

Diese rechtlich unverbindliche Erklärung wurde insbesondere aufgrund des großen Engagements von Eleonore Roosevelt in zwei Pakten, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte in verbindliches Völkerrecht überführt. Es dauerte allerdings bis 1976, bis eine hinreichend große Zahl von Mitgliedsstaaten erreicht wurde, damit diese Pakte in Kraft gesetzt werden konnten. Neuere Menschenrechtspakte sind etwa die Kinderrechtskonvention oder die Behindertenrechtskonvention. Wer diese Pakte durchliest, stellt zum einen fest, dass der Kernbegriff in allen Pakten der Begriff der Teilhabe ist: Es geht um soziale, ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe. Man kann außerdem feststellen, dass es eine erhebliche Redundanz gibt. Denn im Kern sagen alle Pakte dasselbe aus.

Der Grund für diese Redundanz besteht darin, dass der Mensch offenbar Schwierigkeiten hat, die allgemeinen Menschenrechte wirklich auch als allgemeingültige Regelungen, die für alle Menschen gelten, zu akzeptieren. Es gibt offensichtlich eine Neigung zu Ausnahmen, weswegen immer wieder explizit festgestellt werden muss, dass auch Menschen mit Behinderung oder auch Kinder ebenfalls einen vollen Anspruch auf die formulierten Menschenrechte haben. Es gehört nämlich zur Logik der Menschenrechte, dass sie ohne Ausnahme immer und jederzeit gelten, dass sie für alle Menschen gelten und dass sie überall auf der Welt gelten.

Menschenrechte haben allerdings das Problem, dass sie nur schwer einklagbar sind. Man erinnere sich nur an die Probleme mit dem Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag, bei dem bislang jeder, der wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt worden ist, die Legitimität dieses Gerichtshofs bestritten hat. Daher ist es wichtig, dass diese Menschenrechte explizit die Basis für die jeweils nationalen Rechtssysteme sind.

So beziehen sich sowohl das Grundgesetz als auch die Verfassungen der Länder auf den Katalog der Menschenrechte. Auch wichtige Einzelgesetze wie etwa die Schulgesetze der Länder oder das Kinder- und Jugendhilfegesetz haben ihr Fundament in den Menschenrechten. Im Bereich der Schule kommt dies darin zum Ausdruck, dass davon die Rede ist, dass alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland – und nicht bloß deutsche Kinder und Jugendliche – ein Recht auf Bildung haben. Konkret bedeutete das in den letzten Monaten, dass sehr viele Schulen sogenannte Seiteneinsteigerklassen für geflüchtete Kinder und Jugendliche eingerichtet haben. Auch das Kinder- und Jugendhilfegesetz gilt für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Im Kulturbereich gibt es allerdings keine analogen Gesetze. Auf internationaler Ebene kann man die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt zumindest als argumentatives Referenzdokument nutzen. Diese Konvention hat inzwischen ihren zehnten Geburtstag gefeiert und ist auch in Deutschland und in der Europäischen Union geltendes Recht. Alle wichtigen Einsichten sowohl aus der Kulturtheorie als auch aus der Praxis eines nicht diskriminierenden Verhältnisses zwischen unterschiedlichen Kulturen sind in diesem Rechtsdokument erfasst. Das Problem bei dieser Konvention besteht allerdings darin, dass sie zum einen nach wie vor keine Leitlinie für das Handeln politischer und administrativer Instanzen auf nationaler und internationaler Ebene ist und dass zudem kaum eine Möglichkeit besteht, die Umsetzung der guten und sinnvollen Ziele in dieser Konvention zu erzwingen oder einzuklagen. Trotzdem sollte man sie in der politischen Argumentation nutzen, da es bei ihrer Verabschiedung einen großen Konsens aller Parteien gegeben hat.

Insgesamt fällt also eine Überprüfung der Realisierung der Menschenrechte und der völkerrechtlich relevanten Konventionen und Pakte ambivalent aus. Man muss zwar zugestehen, dass in einzelnen Politikfeldern wie etwa der Bildungs- und Schulpolitik die Werte und Leitlinien dieses Völkerrechts bis hin in detaillierte Verpflichtungen - wie etwa die Durchsetzung eines Rechts auf Bildung in der Schule für geflüchtete Kinder und Jugendliche - realisiert werden. Doch muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass etwa die Realisierung der Integrationskure mit Lehrangeboten zur Erlernen der deutschen Sprache in ihrem Mittelpunkt von 16.000 schlecht bezahlten Hilfskräften in prekären Arbeitsverhältnissen realisiert wird. Die gesetzliche Schulpflicht endet zudem (meist) mit 16 Jahren, so dass ein großer Teil der jugendlichen Geflüchteten kein derartiges Pflichtangebot erhält.

Allerdings zeigt sich hier, dass der pragmatische, nutzenorientierte Ansatz der Wirtschaft auch humanitären Nutzen bringt: Denn es sind die großen Wirtschaftsverbände, die nicht nur die Öffnung der Grenzen unterstützen, sondern die auch fordern, dass sie die begonnene Ausbildung geflüchteter Jugendlicher unabhängig von ihrem Anerkennungsstatus auch beenden und diese auch weiter beschäftigen können dürfen.

Im Hinblick auf die Universitäten wird beklagt, dass es zu wenig englischsprachige Studiengänge in Deutschland gibt und dass – auch in entsprechenden Beschlüssen der Kultusministerkonferenz - ein deutlicher Unterschied zwischen Geflüchteten mit und ohne Bleibeperspektive gemacht wird. Zudem wird kritisch diskutiert, dass durch eine Integration der Geflüchteten ein „Braindrain“ von ihren Herkunftsländern in die westlichen Staaten erfolgt. So spricht man etwa davon, dass es inzwischen keine Zahnärzte mehr in Damaskus gibt.

Insgesamt muss man sehen, dass es auch unabhängig von der Berücksichtigung der aktuellen Probleme, die die Fluchtbewegungen für die nationale Politik mit sich bringen, erhebliche Probleme mit der Durchsetzung der in den Menschenrechten niedergelegten Rechte auf soziale, politische, ökonomische und kulturelle Teilhabe gibt. Im Hinblick auf die politische Teilhabe muss man nur daran erinnern, wie schlecht es um das Wahlrecht von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bestellt ist, wenn diese noch keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, allerdings schon seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland leben. Hinsichtlich der ökonomischen Teilhabe ist der Anteil dieser Bevölkerungsgruppe im Bereich der Sozialhilfe überdurchschnittlich groß. Auf der anderen Seite ist der Anteil etwa unter den Besuchern öffentlich geförderter Kultureinrichtungen sehr klein. Auf der Basis der Überlegungen des Sozialpolitikforschers Franz Xaver Kaufmann (1997) kann man einige Stellschrauben zur Verbesserung der Teilhabe identifizieren: in rechtlicher Hinsicht etwa eine Verbesserung der politischen Partizipationsmöglichkeiten, z. B. durch Änderung des Wahlrechts; in ökonomischer Hinsicht die Sicherstellung einer Grundversorgung (wobei die bei Geflüchteten praktizierte Ausgabe von Gutscheinen wiederum erheblich die Teilhabemöglichkeiten einschränkt); hinsichtlich der sozialen und kulturellen Teilhabe sind sowohl die Aspekte der Erreichbarkeit entsprechender Ereignisse und Institutionen zu berücksichtigen (man denke hierbei an die Einschränkung der Mobilität der Geflüchteten) als auch die Höhe der Eintrittskosten.

Auch die persönliche Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Realisierung von Teilhabe. Auf die entsprechenden schulgesetzlichen Regelungen habe ich bereits hingewiesen. Doch auch im außerschulischen Bereich gibt es sehr viele Organisationen und Kultureinrichtungen, die sich im Rahmen einer Selbstverpflichtung geöffnet haben. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass sich die entsprechende Enquetekommission des Deutschen Bundestages sieben Jahre lang nicht mit „deutscher Kultur“, sondern mit „Kultur in Deutschland“ befasst hat (Deutscher Bundestag 2008). Dies ist unter anderem deshalb bedeutungsvoll, weil es im Rahmen einer problematischen Debatte über den Umgang mit Geflüchteten erneut zu einer Thematisierung des Begriffs der „Leitkultur“ gekommen ist und man wieder davon spricht, dass „der Islam“ nicht zu Deutschland gehöre.

3. Werte, Kultur und Leitkultur

Am 14.4.2016 stürmten 30 bis 40 sogenannte „Identitäre“ die Bühne des Audimax der Universität Wien. Dort führte gerade eine Gruppe von 40 Geflüchteten und Asylbewerbern das Stück „Die Schutzbefohlenen“ von Elfriede Jelinek auf. Die Rechtsextremen wollten dabei nicht bloß das Stück stören, sie verteilten auch ein Manifest mit dem Titel „Multikulti tötet – und ihr seid schuld. Wir wissen, was ihr letzten Sommer getan hat!“.

Ich zitiere einige Sätze aus diesem Pamphlet: „Dieser Protest richtet sich nicht gegen eure „Schutzbefohlenen“ auf der Bühne, sondern gegen EUCH! Wir sind die Jugend ohne Migrationshintergrund, „Die Vergessenen“. Während Europa durch euren refugees-welcome Wahn ins Chaos gestürzt wurde und nun von Vergewaltigungen überzogen und Terroranschlägen erschüttert wird, macht ihr es euch in eurer Parallelwelt bequem.“ Weiter unten heißt es: „In Wahrheit sind euch die Wünsche der Asylanten egal. Ihr Heuchler missbraucht sie als Projektionsflächen für euren Paternalismus und eure No Border-Ideologie.“ Der Text endet mit dem Satz: „Es gibt in Österreich kein „sicheres Hinterland“ für Antidemokraten, Heimathasser und Multikultis.“

Dieser Text ist aus verschiedenen Gründen interessant. Denn er enthält auch eine Kapitalismuskritik von rechts, wenn er schreibt, dass die Massenmigration Teil der neoliberalen Globalisierung sei, und er wirft den Akteuren vor, ihre „Heimat“ zu hassen.

Ohne dass dieses Wort explizit gebraucht wird, ist ein roter Faden die Forderung nach einer „Leitkultur“. Dieser Begriff wird alle Jahre erneut in die politische Diskussion gebracht, wenn es um Fragen der Integration geht. Er kann sich dabei durchaus auf beachtliche Traditionen stützen. So war etwa in der Weimarer Zeit bei Bemühungen um eine Bildungsreform das dahinter stehende Kulturverständnis ein solches, das genau wusste, was unter „Kultur“ verstanden werden sollte: Es ging insbesondere um die Größen der Weimarer Klassik (Fuchs 2014: 51ff.). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte man den Begriff einer Leitkultur nicht, weil der verwendete Kulturbegriff genau dies ohnehin schon aussagte: Man sprach von Kulturpflege als zentraler bildungs- und kulturpolitischer Aufgabe. Das bedeutet, dass man sehr präzise einen Kanon relevanter Kulturgüter benennen konnte, die in der Schule zu vermitteln und die durch die Kulturpolitik zu „pflegen“ waren. Erst in den späten 1960er Jahren hat sich dies durch Diskussionen des Europarates und der UNESCO – unter dem Einfluss prominenter Ethnologen – verändert. Nunmehr nahm man zur Kenntnis, dass man von einer Vielzahl von Kulturen sprechen muss, die sich zudem alle in Bewegung und einem permanenten Austausch befinden (Fuchs 2008b; 2008i).

Dies hinderte allerdings Politiker nicht daran, in den letzten 15 Jahren immer wieder den Begriff der Leitkultur ins Spiel zu bringen (Lammert 2006). Der Hintergrund dafür dürfte sein, dass dieser Begriff durchaus eine gewisse Attraktivität hat: Er suggeriert, dass man sehr genau weiß, was zur Kultur gehört und was nicht. Er unterstellt, dass dieses gemeinsame kulturelle Wissen für eine gesellschaftliche harmonische Integration sorgt, und wenn Zuwanderer sich diese Leitkultur aneignen, dann gibt es überhaupt kein Integrationsproblem.

Allerdings hat man nicht bedacht, dass – wie ein Blick in die Geschichte zeigt – Kultur nicht so funktioniert. Man kann vielmehr zeigen, dass Migrationsbewegungen der Menschen seit ihrem ersten Auftauchen der zentrale Motor für die kulturelle und menschliche Entwicklung waren. Dies begann schon mit den ersten Wanderbewegungen der Frühmenschen von Zentralafrika aus, der „Wiege der Menschheit“, nach Asien, Europa und Amerika.

Die Forderung nach einer Leitkultur wird sicherlich auch getragen durch Verlustängste, durch die Befürchtung, sich verändern zu müssen, und vielleicht auch durch die Hoffnung, Integration könnte auf diese Weise funktionieren. Insbesondere hofft man, dass sich die Werte, so wie sie in der Charta der Europäischen Union, im Grundgesetz, in den Menschenrechten oder etwa auch in der Charta des Europarates niedergelegt sind, auf diese Weise erhalten und stabilisieren (Joas/Wiegand 2005). Das Problem hierbei besteht allerdings darin, dass Werte sich nicht über Proklamationen verbreiten, sondern dadurch, dass sie im gelebten Leben, im politischen Handeln der Akteure erkennbar werden (Joas 1999). Genau dies ist gerade im Umgang mit den Geflüchteten in den letzten Monaten definitiv nicht der Fall. Man muss sich nur die Flüchtlingslager an den Grenzen anschauen, man muss die Debatten über den Umgang mit Geflüchteten verfolgen, um zu sehen, dass es gerade nicht die humanen Werte sind, die in den genannten Dokumenten beschrieben werden. Selbst die Kanzlerin, die national und international einiges Lob aufgrund ihrer Haltung bekommen hat, war an der Stelle inkonsequent, an der sie versäumt hat, ihrem Finanzminister die Anweisung zur Bereitstellung entsprechender Ressourcen zu geben. Zunächst einmal blieb die ganze finanzielle Last an den Ländern und Kommunen hängen sowie an dem enormen bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement der Helferinnen und Helfer.

4. Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Praxis

Gerade in der deutschen Tradition sind die Erwartungen an die Künste und eine ästhetische Praxis im Hinblick auf die Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Probleme ausgesprochen hoch (Fuchs 2011). Eine wichtige Quelle für solche Hoffnungen findet man etwa in Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung (1959), in denen er eine bis heute attraktive gesellschaftliche Utopie formuliert hat: In einer von der Gesellschaft abgeschotteten Oase erlebt der Mensch im Umgang mit den Künsten die Freude an einer freiheitlichen Gestaltung. Die Vision von Schiller war, dass diese Lust auf Freiheit von dem abgegrenzten Bereich überspringt auf die Gesellschaft. Eine solche Vision findet sich etwa in den Gründungsdokumenten der neuen Kulturpolitik, etwa bei Hermann Glaser (Vgl. Glaser/Stahl 1983), der sich umfänglich in Zitaten auf Schiller bezieht. Diese große gesellschaftspolitische Bedeutung, die man den Künsten zumisst, verstärkt sich noch im Laufe des 19. Jahrhunderts. Man spricht davon, dass die Künste zu einem „funktionalen Äquivalent“ der Religion werden.

Diese überbordenden Wirkungsbehauptungen veranlassten etwa die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Ehrenspeck (1998) zu ihrem kritischen Buch „Versprechungen des Ästhetischen“. Inzwischen dürfte man – etwa aufgrund der umfangreichen Studien von Pierre Bourdieu (1987) – wissen, dass die Künste kein Mittel der gesellschaftlichen Integration, sondern vielmehr sehr effektive Mittel der Unterscheidung sind. Dabei ist das Faktum der Unterscheidungen nicht das Problem, zu einem Problem wird dies vielmehr dann, wenn ästhetische Differenzen zu politischen, sozialen und ökonomischen Differenzen werden.

Unterhalb dieser allzu großen Hoffnungen in die Wirksamkeit der Künste gibt es allerdings gute Gründe, Möglichkeiten einer ästhetischen Praxis gerade für Geflüchtete anzubieten. Denn inzwischen gibt es belastbare Studien darüber, dass wichtige Aspekte einer Stärkung des Subjekts bei seiner Lebensbewältigung in einer solchen Praxis entwickelt werden können (Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung, Kompetenzentwicklung, Entwicklung eines positiven Selbstbildes usw.). Etwas pauschal formuliert lassen sich auch bei einer Zusammenarbeit mit Geflüchteten zunächst einmal Erfahrungen mit interkultureller Pädagogik nutzen. Hierzu liegen zahlreiche Arbeitshilfen, Reflexionen und Texte – auch auf kubi-online – vor (Terkessidis 2010). Gerade bei den z. T. furchtbaren Erfahrungen, die geflüchtete Kinder, Jugendliche und Erwachsene auf ihrer Flucht gemacht haben – man denke nur an die Bilder der Grenzlager wie Idomeni, wo Menschen unter schlimmsten Bedingungen überwintern mussten – ist die Wiederherstellung von Selbstbewusstsein in einer wertschätzenden und anerkennungsorientierten Atmosphäre dringend geboten.

Allerdings gibt es Stolpersteine und Ambivalenzen, die bei der Organisation einer solchen ästhetischen Praxis zu berücksichtigen sind.

a) Ein erster Punkt betrifft die Unterscheidung zwischen Pädagogik und Therapie. Man weiß, dass sehr viele Geflüchtete, insbesondere Kinder und Jugendlichen, aufgrund der Erlebnisse in ihrer Heimat und auf der Flucht traumatisiert sind. Daher brauchen sie eine psychologische Betreuung. Es ist dabei eine Besonderheit einer ästhetischen Praxis, dass diese sehr tief in die Psyche der Menschen eingreift. Wenn sie funktioniert, öffnet sich der Mensch auch mit seinen Sorgen und Nöten. An dieser Stelle ist deshalb Vorsicht geboten, weil die Bearbeitung solcher Sorgen und Nöte die Kompetenz von Pädagoginnen und Pädagogen und auch von Künstlerinnen und Künstlern überschreitet. Es ist also eine besondere Achtsamkeit im Hinblick auf die Grenzen der eigenen Professionalität gefordert.

b) Ein zweiter Aspekt betrifft nicht unmittelbar die praktische Arbeit, sondern vielmehr den politischen Rahmen dieser Arbeit. Es gibt die These, dass man in Deutschland dazu neigt, politische Probleme in das Feld der Pädagogik abzuschieben. Man erinnere sich etwa daran, als es vor Jahren eine Mediendebatte über Gewalt und Rechtsextremismus in der Jugend gab, man als einzige Konsequenz ein bescheiden dotiertes Förderprogramm für pädagogische Projekte auflegte. Gerade die Fachorganisationen der kulturellen Bildung müssen daher darauf achten, dass die kulturpädagogische Arbeit, die für den Betroffenen Einzelnen natürlich sinnvoll ist, politisch nicht so instrumentalisiert wird, dass das Problem mit der Bereitstellung bescheidener finanzieller Ressourcen als gelöst gilt.

c) Ein dritter Aspekt betrifft die simpel erscheinende Tatsache, dass Geflüchtete Menschen sind. Dies meint in diesem Zusammenhang, dass man es mit allen Ausprägungen des Menschseins zu tun hat, also auch mit einer Neigung zu Kriminalität und Gewalt bei einigen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass „die Geflüchteten“ keine homogene Gruppe mit großen Gemeinsamkeiten bilden, sondern Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Schicksalen sind.

d) Ein weiterer Aspekt betrifft die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion von Künstlerinnen und Künstler. So formuliert Tania Canas, die künstlerische Leiterin der australischen Organisation RISE, die Geflüchtete, Überlebende, ehemals Festgehaltene und Asylsuchende – so die Selbstbeschreibung – in Australien gegründet haben, zehn kritische Aufforderungen an diejenigen Künstlerinnen und Künstler formuliert, die mit Geflüchteten zusammenarbeiten wollen. So heißt es etwa: „Wir sind keine Ressource, die sich in dein nächstes Projekt einspeisen lässt. Du magst in deiner speziellen Kunst talentiert sein, aber glaube nicht, dass dies automatisch zu einem ethischen, verantwortungsvollen und selbstbestimmten Prozess führt.“ Und weiter: „Erwarte keine Dankbarkeit von uns.“ Oder „Reduziere uns nicht auf ein Thema.“

e) Man kann die Aufforderungen von Tania Canas auch als Ermutigung dazu verstehen, ehrlich über den eigenen Nutzen kultureller Projekte nachzudenken. Dies ist deshalb hilfreich, weil Altruismus auf Dauer keine stabile Motivationsgrundlage für eine solche Tätigkeit ist. In der Tat gibt es selbst im engsten Bereich des Ästhetischen die Möglichkeit, von einer Arbeit mit Geflüchteten zu profitieren. Denn diese bringen spezifische Lebenserfahrungen mit, die man selber nicht hat. Sie kommen aus einem kulturellen Kontext, in dem es vermutlich einen zum Teil anderen Blick auf die Welt gibt, der auch eine andere ästhetische Zugangsweise enthält. Damit ergibt sich die Möglichkeit, den eigenen Erfahrungsschatz auch in ästhetischer Hinsicht deutlich zu erweitern.

5. Theoretische Aspekte der Herausforderung durch die Fluchtbewegungen

Einschneidende Ereignisse wie die aktuellen Fluchtbewegungen – man spricht davon, dass 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, davon 40 Millionen im eigenen Land und 20 Millionen grenzüberschreitend – erfordern sofortige praktische Hilfe durch die Politik und die betreffenden Fachdisziplinen. Sie sind jedoch auch ein Anlass, grundlegend das eigene Selbstverständnis – auch im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen – zu überprüfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen einige derartige Fragestellungen aufgelistet werden.

Eingangs wurden einige rechtliche Grundlagen eines Umgangs mit Geflüchteten benannt. Unsere Rechtsordnung einschließlich der verschiedenen Verfassungen und insbesondere einschließlich der Menschenrechte ist kein wertneutrales Regelungssystem für den Umgang der Menschen untereinander oder über die Rolle, die der Staat oder die Staatengemeinschaften hierbei spielen, sondern normativ höchst anspruchsvoll. So ist die Basis dieser Rechtsordnung ein bestimmtes Menschenbild, das sich im Laufe der Jahrtausende – auch aufgrund sozialökonomischer Entwicklungen – herausgebildet hat (Fuchs 2001). Menschenbilder sind jedoch eine komplexe Mischung von empirischen, normativen und weltanschaulichen Grundüberzeugungen und bedürfen daher einer ständigen kritischen Reflexion. Man weiß, dass nicht bloß unser nationales Rechtssystem, sondern dass auch die Menschenrechte auf einem Menschenbild ruhen, das sich in der Kulturgeschichte Europas und des Westens insgesamt entwickelt hat: Es geht um eine individuelle Persönlichkeit, die – um eine Formulierung von Hannah Arendt aufzugreifen – das Recht auf Rechte hat. Diese Vorstellung von Individualität ist keineswegs weltweit so verbreitet, wie man angesichts der oben angesprochenen Universalität der Menschenrechte vermuten könnte. Vielmehr weisen Ethnologen immer wieder darauf hin, dass in der Geschichte eher kollektivistische Vorstellungen des Menschseins eine wichtigere Rolle spielten, dass also die Gruppe oder die Gemeinschaft die Priorität gegenüber dem einzelnen Individuum hatten. Mit solchen Fragen setzen sich nicht bloß die Rechtsphilosophie und insbesondere die Philosophie der Menschenrechte auseinander, sie sind auch für die Erziehungswissenschaft von höchster Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf die Festlegung von Bildungs- und Erziehungszielen.

Neben den personenbezogenen Menschenrechten als zentralem Teil des Völkerrechts gibt es zudem als wichtiger friedenserhaltender Errungenschaft das Recht der Nationen auf Souveränität und Selbstbestimmung (so wie es im Mittelpunkt der Charta der Vereinten Nationen steht). Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch und gerade das Verfügungsrecht über das eigene Staatsgebiet. Das bedeutet, dass die jeweiligen nationalen politischen Gremien darüber entscheiden können, wer Zutritt zu dem eigenen Staatsgebiet haben darf und wer nicht.

Offensichtlich ist dies einer der zahlreichen Zielkonflikte innerhalb völkerrechtlicher Bestimmungen, hier: das Menschenrecht des Einzelnen auf uneingeschränkte Bewegungsfreiheit versus das Recht auf Steuerung im Hinblick auf Zuzug. Vor diesem Hintergrund wird man erneut über die These des seinerzeitigen ungarischen Regierungschefs nachdenken müssen, dass niemand ein Menschenrecht auf ein besseres Leben habe. Diese Formulierung mag zynisch oder zumindest moralisch verwerflich klingen, man kann sie auch mit guten Gründen zurückweisen, da die meisten Menschen nicht aus einem Land mit einem etwas niedrigeren Wohlstand in ein Land mit etwas höherem Wohlstand reisen, sondern vielmehr einer Situation des Elends entfliehen wollen. Doch im Grundsatz wird man auch auf diesen Zielkonflikt zwischen verschiedenen völkerrechtlich gleichermaßen relevanten Zielen nicht bloß politisch, sondern auch theoretisch-reflexiv reagieren müssen.

Dieser Hinweis auf ökonomische Gründe als Motivation für Migrations- und Fluchtbewegungen führt zum einen dazu, sich ausführlicher mit Gründen zu befassen: Welche Gründe erachtet man als legitim, welche Gründe entsprechen dem vorhandenen Völkerrecht, welche Gründe muss man aus moralischen Gründen oder aus pragmatisch-politischen Gründen akzeptieren? Man muss hierbei in Betracht ziehen, dass verschiedene Länder sehr unterschiedliche Formen der Steuerung des Zuzug praktizieren: von der kompletten Abschottung bis zu einer offensiven Öffnung, wie es in erklärten Einwanderungsländern wie etwa Kanada der Fall ist. So sympathisch letztere erscheinen mögen, so wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass hierbei durchaus utilitaristischen Argumente eine Rolle spielen: Welche Arbeitskräfte und welche Professionalität braucht der eigene nationale Arbeitsmarkt? Gerade in Kanada wird die Auswahl akzeptierter Zuwanderer sehr streng gehandhabt. Man befindet sich also hierbei nicht bloß in einem konfliktreichen politischen Kampfgebiet, sondern man ist zugleich in dem schwierigen Feld unterschiedlicher Ansätze einer philosophischen Normbegründung (utilitaristisch, konsequentialistisch, deontologisch, transzendental, diskursethisch etc.).

Ein weiterer Aspekt eröffnet sich aufgrund der These des ungarischen Ministerpräsidenten, die auf ökonomische Motive der Migration hinweist – und diese nicht akzeptieren will. Man muss nämlich in seine Erwägungen einbeziehen, welche Rolle die nationale und die Weltökonomie bei der Verteilung des Wohlstandes spielt. Man weiß inzwischen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich sowohl auf nationaler Ebene als auch international zwischen den verschiedenen Regionen und Nationen der Welt in den letzten Jahren dramatisch größer geworden ist. Es geht hierbei um eine Bewertung unserer Wirtschaftsordnung, bei der das komplexe Problem der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielt. In der Philosophie wird dabei bemängelt, dass sich vorliegende Gerechtigkeitsmodelle wie etwa das von John Rawls immer nur auf die jeweils nationale Ebene beziehen, so dass es hierbei einen Nachholbedarf im Hinblick auf die Entwicklung von Modellen weltweiter Gerechtigkeit gibt.

Ein zweiter wichtiger Begriff, der hierbei eine Rolle spielt, ist der anspruchsvolle Begriff der Verantwortung: Welche Verantwortung müssen die reichen westlichen Länder mit ihrer praktizierten Handels- und Wirtschaftspolitik dafür übernehmen, dass die ökonomische Situation in den Herkunftsländern der Geflüchteten mit eine Ursache für die dortigen Zustände ist. Man muss sich nur einmal daran erinnern, dass hochsubventionierte Agrarprodukte aus der Europäischen Union in afrikanischen Ländern, die eine eigene Agrarproduktion haben, billiger sind als die einheimischen Produkte und daher den Aufbau einer eigenen ökonomischen Struktur nicht zulassen (siehe hierzu und zu weiteren offenen Fragen und Forschungsproblemen den Vortrag von Andreas Niederberger 2016 zum Start des philosophischen Forschungsprojektes „Ethik der Immigration“ der Universitäten Dortmund, Duisburg-Essen und Bochum).

Auch wird man den zugrundeliegenden Bildungsbegriff reflektieren müssen. Wenn Bildung im Wesentlichen Lebenskompetenz bedeutet, dann meint dies die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in konkreten Kontexten souverän bewegen zu können. Da sich diese Kontexte für die Geflüchteten gravierend verändern, ist auch eine entsprechende Veränderung ihrer Lebenskompetenzen nötig, die weit über das Erlernen der Landessprache hinausgeht. Es geht etwa um eine gesellschaftspolitische Bildung, es geht um Fragen der politischen Ordnung, die im Bildungsprozess zu berücksichtigen sind. Dies gilt auch für kulturelle und ästhetische Bildungsprozesse. Es verändert sich durch die Aufnahme von Geflüchteten allerdings auch die gesellschaftliche Situation in den Aufnahmeländern. Vermutlich ist es auch dieser Aspekt, der zu dem Widerstand gegen die Aufnahme führt: Man will diese Veränderung nicht.

Im Hinblick auf eine ästhetische Praxis stellt sich (erneut) das Problem, welche Rolle der Topos der Kunstautonomie spielt. Denn einerseits ist – gerade in Deutschland und in Verkennung der realen Entwicklung der Künste – die Rede von einer uneingeschränkten Autonomie der Künste und einer ästhetischen Praxis sehr verbreitet. Andererseits will man die Möglichkeiten einen solchen Praxis hinsichtlich der Stärkung des Subjekts nutzen, diese Praxis also durchaus für pädagogische und humanitäre Zwecke „instrumentalisieren“. Dieses Problem stellt sich zwar dann nicht, wenn man Künste als soziale, kulturelle oder menschliche Praxis begreift, es ist aber für viele Akteure – gerade in Deutschland – präsent.

Ein letztes Reflexionsfeld, das hier angesprochen werden soll, ist kulturtheoretischer Natur. Als eine zu kritisierende Position ist oben das Konzept der Leitkultur erwähnt worden. In der Geschichte der Kulturtheorien kann man sich hierbei auf solche Ansätze stützen, die von dem Vorhandensein klar definierter Kulturkreise ausgehen. Herder etwa ist hierbei ein wichtiger Gewährsmann, der zwar als erster die Pluralität von Kulturen als Lebensweisen und ihre prinzipielle Gleichwertigkeit betont, der aber die einzelnen Kulturen streng voneinander abgegrenzt hat. Bis tief ins 20. Jahrhundert hinein ist man diesem Gedankengang gefolgt. Insbesondere Kulturen indigener Völker verstanden auch Ethnologen, die von Hause aus auf Pluralität verpflichtet sind, als statisch.

Diese Sichtweise hat sich inzwischen weitgehend verändert. Ansätze einer solchen Sichtweise sind dort noch zu finden, wo man von „Kulturstandards“ spricht, also angeblich stabilen Einstellungen und Dispositionen in bestimmten Ländern und geographischen Regionen, die insbesondere in Schulungen für ein interkulturelles Management als Vorbereitung für einen Einsatz in den betreffenden Ländern gerne genutzt werden.

Eine entgegengesetzte Sichtweise lehnt jede Form von Verallgemeinerung und Typisierung von Verhaltensweisen ab. Insbesondere ist es der Identitätsbegriff, der als Zu- und Festschreibung von Eigenschaften und Zugehörigkeit und entsprechend als eine unveränderliche Festlegung von Verhaltensweisen und Einstellungen gilt, der abgelehnt wird. Den meisten dieser Ansätze liegt eine konstruktivistische Theorie zugrunde. Man muss hierbei allerdings sehen, dass die entsprechende aktuelle Theoriebildung sich von solchen Ansätzen distanziert und von Identitätskonstruktion und Identitätsarbeit spricht.

Im Hinblick auf den Umgang mit Geflüchteten oder insgesamt in der interkulturellen Arbeit ist eine solche, identitätskritische Haltung oft verbunden mit einer moralisch fundierten advokatorischen Parteinahme für diese Menschen. Diese Position ist zumindest aus zwei Gründen problematisch: Zum einen gibt es eine schwierige Verbindung einer fachlichen mit einer moralischen Position, die eine fachliche Kritik sofort moralisch verwerflich erscheinen lässt, weil die kritisierte Position immer schon auf der (vermeintlich) moralisch richtigen Seite steht und damit gegen Kritik immunisiert ist. Zudem ist die Abgrenzung zwischen Advokatorischem und Paternalismus gelegentlich schwer zu vollziehen, da man die betroffenen Menschen nicht gefragt hat, ob sie vertreten werden wollen (siehe oben die Hinweise auf die Thesen von Tania Canas). Zum anderen wird hier der Kulturbegriff einer jeglichen realen Verankerung beraubt und ausschließlich als Bereich nur noch symbolischer Aushandlungsprozesse gesehen (vgl. Scheiding u. a. 2011). Es ist also ein Mittelweg zu finden, der vermeidet, dass Menschen in eine einzige Identitätsschublade gesteckt werden, dass sie allerdings trotzdem mit jeweils anderen Menschen je bestimmte Gemeinsamkeiten teilen: Menschen sind keine isolierten Individuen ohne Gruppenbezüge, sondern agieren in (verschiedenen) Gruppen, die durch geteilte Merkmale gebildet werden.

6. Schlussbemerkung: Politik und Pädagogik – zwei Seiten derselben Medaille

So wichtig die Ermöglichung einer ästhetischen Praxis für zugewanderte Menschen ist, so muss man auch sehen, dass eine solche umfassende Praxis bestimmte Rahmenbedingungen benötigt. Zahlreiche Fach- und Dachorganisationen aus verschiedenen Politikfeldern haben hierzu wichtige und richtige Vorschläge und Forderungen unterbreitet im Hinblick auf den Aufbau und die Unterstützung nationaler Strukturen. Auch im Kulturbereich gibt es etwa vom Deutschen Kulturrat oder der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung entsprechende Stellungnahmen und Forderungspapiere. Ein wichtiger Punkt in diesen Papieren besteht nicht nur darin, das Recht auf Teilhabe sicherzustellen, was etwa im Hinblick auf die Institutionen und Angebote heißt, die Zusammenarbeit mit Geflüchteten als Teil seiner genuinen Kernaufgabe zu betrachten. Allerdings haben alle mir bekannten Positionspapiere eine eigentümliche Engführung, indem sie sich ausschließlich auf innenpolitische Maßnahmen konzentrieren. Das bedeutet, dass die Ursachen und Motivationen für die Flucht außen vor bleiben.

Politisch zu intervenieren bedeutet aber, dass man über Krieg und Bürgerkrieg, deren Ursachen und vor allen Dingen über eine mögliche Verantwortung des Westens und der Bundesrepublik Deutschland nachdenken muss. Das bedeutet, über mögliche frühere und gegenwärtige politische Fehlentscheidungen nachzudenken, die die desolaten Zustände in den betroffenen Ländern mit verursacht haben. Das bedeutet auch, mögliche politische Folgen des jetzt praktizierten Fehlverhaltens bei der Einrichtung einer „Festung Europa“ zu bedenken. Es gibt die ersten Zeitungsberichte über Menschen, die nach Wochen und Monaten des Wartens an den Grenzen Europas in ihr kriegsgeschütteltes Heimatland zurückgekehrt sind. Man braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, welche Einstellung gegenüber dem Westen und insbesondere gegenüber den Mitgliedsländern der Europäischen Union nach diesen frustrierenden Erfahrungen vorliegt. Es ist vermutlich die Annahme nicht zu weit gegriffen, dass unter diesen (z. T. hochverschuldeten, in jedem Fall aber besitzlosen) Heimkehrern Terrororganisationen wie der I S gute Rekrutierungschancen haben.

Damit stellen die aktuellen Fluchtbewegungen die Organisationen im Kulturbereich vor neue Herausforderungen auch im Hinblick auf ihre politische Verantwortlichkeit. Bei aller Wertschätzung der bislang geleisteten Arbeit muss man feststellen, dass die Fachorganisationen diese Herausforderung noch nicht angenommen haben.

Verwendete Literatur

  • Aust, Stefan/Burgdorff, Stephan (Hrsg.) (2003): Die Flucht. Bonn: bpb.
  • Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Bundeszentrale für politische Bildung (2004):

    Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Bonn.

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Max Fuchs (2016): Flucht, Zuflucht und Kulturelle Bildung - Anmerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen einer ästhetischen Praxis. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/flucht-zuflucht-kulturelle-bildung-anmerkungen-moeglichkeiten-grenzen-einer-aesthetischen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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