Diversitätsbewusste Soziale Arbeit mit Musik in der (Welt-)Migrationsgesellschaft
Abstract
Dieser Beitrag diskutiert die Potenziale und Herausforderungen einer diversitätsbewussten Sozialen Arbeit mit Musik in der (Welt-)Migrationsgesellschaft. Dafür werden die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen sowie diversitätsbewussten Ansätze im Kontext von Sozialer Arbeit erläutert: die kritische Reflexion des Kulturbegriffs, des Anspruchs auf Kulturelle Teilhabe und Teilgabe sowie multi-, inter- oder transkultureller Ansätze. Im Konzept einer diversitätsbewussten Sozialen Arbeit mit Musik wird nicht nur ein reflektierter Blick auf ‚fremde‘ Musikkulturen, sondern auch auf Diversität innerhalb der ‚eigenen‘ Musikkulturen geworfen und der Sinn für Fluidität zwischen den Kulturen und hybride, transformative Praxen geschärft. Die Autorinnen plädieren für eine intersektionale Perspektive im Umgang mit Diversität, die sich nicht auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten beschränkt.
An diese theoretischen und konzeptionellen Überlegungen anschließend, werden Perspektiven einer diversitätsbewussten Musikarbeit in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit exemplarisch vorgestellt: Zunächst wird auf das Kindes- und Jugendalter eingegangen, weil in diesen Lebensphasen Weichen der musikalischen Sozialisation und Bildung gestellt werden und Musik in den Handlungsfeldern der frühkindlichen Bildung und Jugendarbeit vergleichsweise stark repräsentiert ist. Außerdem wird aufgrund aktueller vielfältiger Praxisansätze und Fachdiskurse Musik in der Arbeit mit geflüchteten Menschen thematisiert und kritisch reflektiert. Im Schlussteil geht es um Herausforderungen, Perspektiven und Positionierungen von Professionellen im Handlungsfeld „Musik in der Sozialen Arbeit“.
Einleitung
Musik wird häufig unterstellt, soziale, politische, kulturelle und sprachliche Grenzen überschreiten und Verbindungen stiften zu können. Musik wird als universal verständliches Medium gepriesen und gern zu symbolisch-politischen Zwecken instrumentalisiert. Spielt beispielsweise das West-Eastern Divan Orchestra – 1999 ursprünglich als Workshop zwischen israelischen, palästinensischen und anderen arabischen Musiker*innen gegründet – unter Leitung von Daniel Barenboim (zumeist europäische) klassische Musik, scheint Musik, wenn die Politik scheitert, auf einzigartige Weise Brücken bauen zu können: „Equal in Music“, lautet das Motto (West-Eastern-Divan-Orchestra 2018). Angesichts dieser Euphorie über die Kraft der Musik als ‚universal language‘ wird leicht übersehen: Musik kann ebenso gut kulturelle und soziale Distinktion markieren und Exklusion verstärken. Das verdeutlichen z.B. die nach wie vor verbreitete Unterscheidung zwischen hochkultureller und populärer Musik und die damit verbundenen Wertungen und Hierarchisierungen. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass das Verstehen von Musik aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die jeweils „ihre eigene musikalische Muttersprache haben“ (Sağlam 2014:75), nicht per se gegeben ist, weil im Kontext der musikalischen Sozialisation spezifische Kompetenzen (vgl. Polak et al. 2018) und ästhetische Empfindungsweisen erworben werden, die die jeweiligen Wahrnehmungsperspektiven bestimmen. Speziell im deutschen bzw. europäischen Kulturraum war man lange Zeit von der eigenen – vermeintlichen – Superiorität überzeugt: „Die europäische Begegnung mit fremdkulturellen Tonsystemen hat sehr schnell zutage gebracht, wie das ethnozentristische Ohr mit dem eigenen, kulturimmanent konditionierten Referenzsystem – etwa der eigenen temperierten Tonskala – fremde ‚ungewohnte‘ Intervalle und Tonfolgen einfach als ‚kunstlos-primitiv‘ ablehnt, oder aber nach dem eigenen Begreifsystem zurechthört“ (Baumann 2006:44f.). Die Auseinandersetzung von Wiener Student*innen mit europäisch-klassischer Musikausbildung mit der türkischen Makam-Musik zeigte beispielsweise, dass sie diese nicht temperierte Musik als „falsch“ klingend empfanden und deren Einstimmigkeit als „Lücke oder Schwäche“ beurteilten (Sağlam 2014:75). Umgekehrt empfinden „nicht-europäisch geschulte Ohren [...] westeuropäische klassische Musik [als] steril und rhythmisch einförmig, das Tonsystem ist blockhaft, es fehlen Zwischentöne und die Vielfalt der Ornamentik“ (ebd.76). Für Sağlam ist die Vermittlung unterschiedlicher musikalischer Sprachen demnach sehr voraussetzungsvoll. Interessanterweise kommt es im urbanen Raum oft zu einem musikalischen Miteinander von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, häufig im World-Music-Bereich (vgl. ebd.77). Zumeist definieren sich solche Musik-Aktivitäten „gerade nicht durch den Rekurs auf die Herkunftskultur“ (ebd.), sondern sie beziehen sich auf unterschiedliche Musikrichtungen wie Jazz, klassische oder elektronische Musik, die weltweit Verbreitung finden.
Über den „Umgang mit eingewanderter Folklore“ machen sich die Initiator*innen des Projekts „Heimatlieder aus Deutschland“ (2018), Jochen Kühling und Mark Terkessidis, Gedanken: Es war
„höchste Zeit, die eingewanderte Folklore als Musik eines vielfältigen Deutschland zu entdecken. Das Singen von Liedern aus den Herkunftsregionen (weniger Nationen) war bei den so genannten Gastarbeitern in Deutschland ein wichtiges Element von Community-Leben. Der gemeinsame Gesang diente dazu, den durch die Migration erfahrenen Bruch in der Kontinuität von Kultur und Erinnerung zu kitten und sich neu zu verorten. Und im gesungenen ‚imaginären Heimatland‘ sind die Nachkommen aufgewachsen. Dieser ‚Folk‘, der durch die Arbeitsmigration eingewandert ist, stirbt auf der einen Seite aus und wird auf der anderen gerade neu entdeckt.“ (ebd.)
Zunächst standen die Sammlung, Studioaufnahmen und die Präsentation von ‚eingewanderter‘ traditioneller Musik im Vordergrund. Dann ging es jedoch auch um die Einbeziehung dieser Folklore in die elektronische Musik, also um Remixe. Cross Over sind sowohl in klassischen als auch populären Musikstilen verbreitet und bezeichnen u.a. das Mixen unterschiedlicher Genres, was in der Popmusik auch als ‚Fusion‘ bezeichnet wird. Hybride Musikproduktionen sind nicht nur etwas Gekreuztes oder Vermischtes, sondern beruhen oft auf disziplinübergreifenden Auseinandersetzungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik und destabilisieren eine eher statische Vorstellung von Kultur und Kunst z.B. durch imaginäre ethnographische Experimente (vgl. Hybrid Plattform 2018).
In diese Verstehensweisen von Musik und musikpolitischen und -kulturellen Entwicklungen ist auch Soziale Arbeit eingebunden, wenn sie Musik in ihren unterschiedlichen Handlungsfeldern einsetzen und als Menschenrechtsprofession das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbriefte Recht auf kulturelle Teilhabe (Artikel 27) umsetzen will. Dabei sollte einleitend deutlich geworden sein, dass nicht mehr nur von einer Musik oder Musikkultur auszugehen ist, sondern dass in den unterschiedlichen Lebenswelten der Adressat*innen Sozialer Arbeit auch unterschiedliche Musiken eine Rolle spielen. Deutschland ist ein Einwanderungsland, dies wird mittlerweile von der Politik nicht mehr infrage gestellt. Infolge der ab der zweiten Hälfte des Jahres 2015 erfolgten Zuwanderung von Asylsuchenden stehen die Themen Migration und Flucht verstärkt im Mittelpunkt gesellschaftlicher, medialer und politischer Debatten. Soziale Arbeit ist hier in vielfältiger Weise gefordert, nicht nur national (vgl. Spetsmann-Kunkel/Frieters-Reermann 2013), sondern auch inter- bzw. transnational (vgl. Wagner et al. 2018). Um das soziale und kulturelle Ankommen der nach Deutschland eingewanderten oder geflohenen Menschen zu unterstützen, wurden und werden auch zahlreiche Kulturprojekte auf den Weg gebracht, in die Soziale Arbeit als eine Akteurin im Feld der Kulturellen Bildung oder der Sozialen Kulturarbeit eingebunden ist. Die Potenziale und Herausforderungen einer diversitätsbewussten Sozialen Arbeit mit Musik in der (Welt-)Migrationsgesellschaft sollen daher im Folgenden erläutert werden.
Theoretische und konzeptionelle Grundlagen
Warum sind in der Sozialen Arbeit mit Musik sowohl eine transnationale Perspektiverweiterung als auch eine diskriminierungskritische Musikarbeit und -vermittlung unerlässlich? Um Antworten geben zu können, werden zunächst die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen sowie diversitätsbewussten Ansätze erläutert und daran anschließend (transnationale) Perspektiven einer diversitätsbewussten Musikarbeit in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit exemplarisch diskutiert.
Kritische Reflexion des Kulturbegriffs im Kontext von Sozialer Arbeit
Der Begriff der Kultur ist ein schillernder und vielschichtiger, der zum einen weit gefasst ist und im anthropologisch-ethnologischen Verständnis Kultur als Menschenwerk und Lebensweise bezeichnet. Zum anderen gibt es einen in den Kulturwissenschaften verorteten Kulturbegriff, der Kultur versteht als den von Menschen erzeugten „Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert“ (Nünning 2013:429). Ausgehend von diesem weiten Kulturbegriff und orientiert an den Lebenswelten der Adressat*innen hat es Soziale Arbeit immer mit Kultur zu tun und ist auch selbst als eine kulturell-geprägte Praxis zu verstehen, die auf soziale Lebenslagen von Menschen reagiert und diese mitgestaltet. Zu fragen ist dabei, in welchem Kontext welche als kulturell verstandenen Differenzmerkmale von welchen Akteur*innen für handlungsorientierend erklärt werden (vgl. Treptow 2017:59). In den aktuellen gesellschaftlichen Debatten zu Flucht und Migration muss sich Soziale Arbeit (mit Musik) positionieren, wenn es um Fragen von kultureller Identität, vermeintlich kultureller Fremdheit (vgl. Messerschmidt 2008, 2014) oder gar ‚Leitkultur‘ geht. Auffallend an den politischen und medialen Diskursen ist, dass Kultur als „das entscheidende Instrument zur Herstellung des Anderen“ (Abu-Lughod 1996:21) genutzt wird. Dieses „Othering“ kann als eine Form des Kulturrassismus (vgl. Hall 1989) verstanden werden, denn:
„An Rassismus schließen kulturelle Argumentationen dann an, wenn äußere Unterschiede zwischen Menschen mit Entsprechungen ‚des Seelenlebens‘ oder ‚Mentalitäten‘ verknüpft werden, und diese seelischen Unterschiede so gewertet werden, dass die unterschiedliche Verteilung von Privilegien legitimiert wird. Neuere Formen des Rassismus argumentieren ‚kulturalistisch‘, indem sie unterschiedliche kulturelle Traditionen als inkompatibel ansehen. Der Begriff Kultur ersetzt dabei den Begriff ‚Rasse‘. […]. In neueren Formen des Rassismus gilt es nicht mehr die ‚rassische Reinheit‘ zu schützen, sondern eine angeblich authentische ‚kulturelle Identität‘.“ (Mecheril 2015/2013)
Für die Soziale Arbeit kommt es darauf an, das eigene methodische Handeln in Bezug auf Differenzmerkmale von Menschen dahingehend kritisch zu reflektieren, inwiefern diese tatsächlich auf vermeintlich eindeutige kulturelle Zugehörigkeiten zurückzuführen sind oder ob nicht vielmehr sozio-ökonomisch oder bildungspolitisch bedingte Ungleichheiten kulturalisiert werden.
Neben diesem weiten Kulturbegriff ist für die Soziale Arbeit auch ein eher enger Kulturbegriff relevant, der Kultur mit Kunst gleichsetzt und der beim kulturellen Mandat der Sozialen Arbeit (vgl. Treptow 1988) eine Rolle spielt, wenn es um die kulturelle Teilhabe marginalisierter Personengruppen geht. Dieser Auftrag beruft sich auf das in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verbriefte Recht eines jeden Menschen, „am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ Es geht, um Pierre Bourdieu aufzugreifen, um die Vermittlung kulturellen Kapitals. Und auch hier kommt es für die Soziale Kulturarbeit darauf an, die Gefahr des Othering in kulturalisierenden ästhetischen Praktiken zu vermeiden, damit beispielsweise geflüchtete Menschen nicht in Kunstprojekten instrumentalisiert werden (vgl. RISE 2016; Gerards 2016) oder künstlerische Praxen ‚anderer‘ Kulturen nicht als weniger wert- oder kunstvoll angesehen werden.
Kulturelle Teilhabe und Teilgabe – Herausforderungen, Potenziale und Fallstricke
Kulturelle Teilhabe ist mit ihrem Anspruch auf Partizipation, auf Teilnahme und Dabeisein im Sinne von Teilsein als normativer Begriff zu verstehen, der sich u.a. auf Artikel 27 der AEMR, auf die UN-Kinderrechtskonvention (Artikel 28 und 31), die Behindertenrechtskonvention (BRK, hier v.a. Artikel 8 und 30) und das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII/KJHG, hier v.a. § 11) bezieht. Dennoch hapert es bei der Umsetzung dieses Anspruchs, beispielsweise bei der tatsächlichen kulturellen Teilhabe von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen (vgl. Koch 2017). Und noch größere Defizite sind bei der Umsetzung des Anspruchs auf kulturelle Teilgabe, also des Anspruchs auf künstlerisch-ästhetische Eigenproduktivität zu verzeichnen. Teilgabe meint, „dass jedes Mitglied einer Gesellschaft seinen Beitrag zur Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders in allen Fragen, die sein Leben betreffen, leisten kann. Teilnahme ist dagegen der Anspruch, bei der Verteilung des so genannten großen Kuchens seinen Teil abzukriegen“ (Gronemeyer 2009:79). Im ersten InterKulturbarometer hat Susanne Keuchel (2012) nach dem Kulturverständnis und den Bedarfen an kultureller Teilhabe und Teilgabe der in Deutschland lebenden ‚Menschen mit Migrationsgeschichte‘ gefragt. Die wesentlichen Ergebnisse lauten:
- Menschen mit Migrationsgeschichte beziehen sich auf einen eher breiten Kulturbegriff, der das Miteinander, das Alltagsleben, Religion und Familie einbezieht (Kultur als Lebensweise) (vgl. ebd.:183), während die deutschstämmige Bevölkerung eher von einem auf die ‚Künste‘ fokussierten Kulturbegriff ausgeht.
- Junge Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte in der dritten Generation rekurrieren eher auf einen hybriden Kulturbegriff, der sich auf Künste und zugleich ein breites Kulturverständnis im Sinne von Lebensweise und Alltagskultur bezieht (vgl. ebd.:184).
- Migrantische Gruppen aus der Türkei und dem arabischen Raum interessieren sich im Vergleich zu anderen migrantischen Gruppen weniger für europäische Kunst und stärker für Kunst aus dem arabisch geprägten Kulturraum. Türkische Migrant*innen aus ländlichen Herkunftsregionen rezipieren mit größerem Interesse traditionelle volkstümliche Kunstformen (vgl. ebd.).
- Migrantische Gruppen aus osteuropäischen Ländern (v.a. aus Russland) haben ein starkes Interesse an ‚klassischen‘ Kulturangeboten, wenn sie über ein höheres Bildungsniveau verfügen (vgl. ebd.).
- Die erste Generation der Migrant*innen weist ein besonderes Interesse an traditionellen Kunstformen, die zweite Generation an populären Kunstformen auf, während die dritte Generation sich auch für klassische und zeitgenössische Kunstformen öffnet. Hier ist das höhere Bildungsniveau der zweiten und dritten Generation zu beachten (vgl. ebd.:186).
Die Ergebnisse zeigen also einen Bedarf an vielfältigen kulturellen Angeboten, die sowohl traditionelle, alltagsästhetische Kunstformen aus den Herkunftsländern als auch populär- und hochkulturelle Kunstformen der Dominanzkultur umfassen. Leider bilden die Programme, Spielpläne und Veranstaltungsangebote der deutschen Kulturinstitutionen – die übrigens mit Steuergeldern aller Bürger*innen subventioniert werden – diese Vielfalt nicht ab, so dass von „einer Internationalität des Kulturangebots in Deutschlands […] nur im Hinblick auf den europäischen und angloamerikanischen Raum gesprochen werden“ kann (ebd.:184). Das Recht auf kulturelle Teilhabe und der Anspruch auf kulturelle Teilgabe sind demnach kaum umgesetzt. Aus diesen Defiziten ergibt sich ein Handlungsauftrag sowohl für die Kulturpolitik als auch für die Kulturelle Bildung und die Soziale Kulturarbeit.
Neben den konstatierten Defiziten bei der Umsetzung von kultureller Teilhabe und Teilgabe verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. Es besteht immer dann die Gefahr, dass kulturelle Teilhabe zu einem paternalistischen Akt der großzügig gewährten Teilnahme bzw. Partizipation wird, wenn von Seiten privilegierter Gruppen entschieden wird, welcher als unterprivilegiert oder benachteiligt definierten Gruppe man welches kulturelle Kapital in Form welcher künstlerischen Praxis zukommen lässt oder eben nicht. Die so adressierten Teilnehmenden werden nicht in ihrem Menschenrecht auf Teilhabe bzw. Teilgabe und damit als gleichberechtigt gesehen. Vielmehr wird ihnen ein Hilflosigkeit und Kulturlosigkeit implizierender Status zugewiesen, dem mittels (dominanz-)kultureller Angebote Abhilfe verschafft werden soll, indem – mehr oder weniger gönnerhaft – Mittel zur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel machen die Teilnehmenden aber eher zu passiven Konsument*innen, die ihren Teil ‚vom Kuchen‘ abbekommen. Teilhabe findet zwar statt, aber nur in einem fremdbestimmten Modus und nicht in gegenseitiger Anerkennung auf Augenhöhe. Wie Elke Josties (2013a) zudem deutlich gemacht hat, bleibt es häufig dem Zufall überlassen, ob kulturelle Teilhabe überhaupt stattfinden kann. Soll diese aber gelingen, dann müssen Menschen selbstbestimmt entscheiden können, welche künstlerischen Prozesse und Produkte sie gestalten wollen und welche nicht, wie sie ihre (alltags-)kulturellen Praktiken leben wollen, welche ästhetisch-kulturellen Praxen sie zu einem gelingenden guten Leben brauchen und welche nicht (vgl. Gerards 2019a).
Multi – Inter – Trans: Konzepte und Kritik
Der Kulturbegriff wird – wie bereits eingeführt – im wissenschaftlichen Diskurs kontrovers diskutiert. Zum einen werden seine begriffliche Unschärfe, changierend zwischen Kultur als Lebensweise und Kultur als Kunst, sein eingeengtes Verständnis im Sinne von ‚kultureller Differenz‘ und damit verbundenen Kulturalisierungen kritisiert (vgl. Mecheril 2010), zum anderen wird darauf verwiesen, Kultur als Identitätsressource anzuerkennen (vgl. Nieke 2010). In (musik-)pädagogischen Kontexten zeichnen sich verschiedene Grundhaltungen in der Auseinandersetzung mit dem vermeintlich ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ ab, die auch für die Soziale Arbeit mit Musik bedeutsam sind. Multi-, inter- oder transkulturelle Ansätze beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Bedeutungsebenen des Kulturbegriffs. Wird seitens der Dominanzkultur eine monozentrische Haltung eingenommen, so liegt dem ein normativer Kulturbegriff zugrunde, der verschiedene Kulturen oder kulturelle Praktiken wertend einander gegenüberstellt (vgl. Malmberg 2013:225f.; Barth 2008). Hierzu zählt beispielsweise in Deutschland die größere Wertschätzung der europäischen klassischen Musik als ‚Hochkultur‘ im Vergleich zur Popmusik (‚Subkultur‘) oder auch zur Musik aus ‚anderen‘ Ländern. Dem gegenüber zeichnet sich eine multikulturelle Haltung dadurch aus, dass Kulturen bzw. Musiken in ihrer Koexistenz als gleichwertig behandelt werden und an die Stelle eines Nebeneinanders ein kultureller Austausch tritt. Im musikpädagogischen Diskurs hat sich in den letzten Jahren der Begriff der Interkulturellen (Musik-)Pädagogik als Dachbegriff etabliert. Kulturen gelten zwar als unterschiedlich, sollen im musikpädagogischen Kontext aber über gemeinsame Berührungspunkte oder Schnittstellen (vgl. Merkt 1993; Stroh 2009) erschlossen werden. Doch auch hier besteht die Gefahr einer Kulturalisierung, wenn mittels des Differenzaspekts ‚Kultur‘ individuelle Unterschiede überformt werden. Im transkulturellen Ansatz wird davon ausgegangen, dass der Mensch grundsätzlich kulturell bzw. ethnisch heterogen lebt, da sich Kulturen ständig durchdringen und verflechten: „Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine Patchwork-Identität“ (Welsch 2010:46) – man spricht in diesem Zusammenhang auch von „hybriden Identitäten“ (Foroutan 2013). Ausgehend vom prozesshaften und dynamischen Charakter von Kultur will der transkulturelle Ansatz gesellschaftliche Tendenzen der sozio-kulturellen Homogenisierung und Abgrenzung (vgl. die ‚Leitkultur‘-Debatte) überwinden.
Da man auch in sozialarbeiterischen Kontexten mit der kulturellen Vielfalt und mit Differenzen umgehen muss, kann der Begriff der Transdifferenz nützlich sein, der „die komplexen Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse von kultureller Identität und Alterität vor dem Hintergrund zeitgenössischer kultureller Gemengelagen und kultureller Mehrfachzugehörigkeiten von Individuen und Gruppen“ (Lösch 2005:26) beschreibt und analysiert. Anders als der transkulturelle Ansatz, der von der Utopie einer vollkommenen Dekonstruktion kultureller Differenzen ausgeht, versteht man hier Differenz als Element menschlicher Ordnungsstrukturen. „Gerade angesichts der stark wahrnehmbaren Differenzen in der gelebten Wirklichkeit – und deren Artikulation in der Literatur, im Film oder der Kunst – zeigt Transdifferenz, dass es einerseits kein Entrinnen aus dem Denken in Differenzen gibt, andererseits die binären Differenzen aber nicht ausreichen, um die Wirklichkeit zu erfassen“ (Mill 2005:441). Und solange das Denken in binären Differenzen, wie das Eigene/das Fremde oder Wir/die Anderen, mit Hierarchisierungen verbunden ist, muss es auch in der Sozialen Arbeit mit Musik um einen diversitätsbewussten Umgang mit eben diesen Differenzen gehen.
Im Konzept einer diversitätsbewussten Sozialen Arbeit mit Musik wird nicht nur ein reflektierter Blick auf ‚fremde‘ Kulturen, sondern auch auf Diversität innerhalb der ‚eigenen‘ Kultur geworfen und darüber hinaus grundsätzlich sensibel mit Diversität umgegangen, die sich nicht auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten (vgl. Mecheril et al. 2010) beschränkt. Diversitätsbewusstsein in der Sozialen Arbeit mit Musik bezieht sich also nicht ausschließlich auf Kultur als ein isoliertes Konstrukt, welches nur dann zum Tragen kommt, wenn beispielsweise Lieder aus ‚anderen Kulturen‘ erklingen, sondern stellt eine grundlegende Haltung dar. Kultur ist in diesem Verständnis keine einzig bedeutsame Zugehörigkeitskategorie, sondern sie ist mit anderen Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, Ethnie, soziale Herkunft, Behinderung oder Religion intersektional verflochten und führt in dynamischen Konstruktionsprozessen zu Selbst- und Fremdbeschreibungen.
Diversitätsbewusste pädagogische Ansätze in der Kulturellen Bildung und Sozialen Kulturarbeit mit Musik
„Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte, gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen der Sozialen Arbeit“ (DBSH 2018, Hervorhebung Autorinnen). Diversitätsbewusste Soziale Arbeit „hat sich [...] in einem Diskursfeld um Stichworte wie soziale Heterogenität, Differenz, Diversity und Inklusion herausgebildet und versteht sich als Querschnittsaufgabe für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit“ (Leiprecht 2011:9f.). Sie zielt darauf, Benachteiligungen und Diskriminierungen von Menschen aufzudecken und ihnen entgegenzuwirken. Soziale Unterschiede, Rassismus, Diskriminierungen auf Grund von Klasse, Religion, Gender, sexuellen Orientierungen und physischen und kognitiven Beeinträchtigungen schränken Menschen lebensgeschichtlich nachhaltig ein und haben exkludierende Wirkungen. Dabei sind Menschen oftmals von intersektionalen Diskriminierungen betroffen, also einem Zusammenwirken von verschiedenen Diskriminierungskategorien und subjektiven Zugehörigkeiten. Solche Erfahrungen von Benachteiligungen und Diskriminierungen können sich im Lebenslauf bis ins hohe Alter fortsetzen. Aber auch episodische, schicksalhafte Ereignisse (wie z.B. Krankheit, Unfall, Tod, Trennung, Flucht, Gewaltverbrechen u.v.m.) können Menschen in ihren Lebenslagen erschüttern und gegebenenfalls dauerhaft einschränken. Die „Achtung der Vielfalt“ muss mit einer reflektierten Haltung verbunden sein, die Differenzen zwar fokussiert und sensibel wahrnimmt, die aber nicht differenzfixiert ist (vgl. Freise 2013): „Mit einer diversitätsbewussten [...] Perspektive geht es also nicht um das bloße Feiern von Vielfalt. [...] Vielmehr geht es in erster Linie darum, historisch gewachsene und in gesellschaftlichen Prozessen entwickelte Einteilungen, die mit sozialen Positionierungen, Zuschreibungen, Wertungen und Festlegungen verbunden sind, aus kritischer Perspektive zum Thema zu machen“ (Leiprecht 2009:218). Dabei gilt es zu bedenken, dass „Menschen sich nicht nur selbst positionieren, sie werden auch positioniert“ (Arenhövel 2012:267). Ziel einer diversitätsbewussten Sozialen Arbeit muss es also sein, „die Selbstbestimmungsfähigkeit der Einzelnen zu fördern, indem Räume geschaffen werden, in denen sich Menschen jenseits kategorialer, vor allem kulturalisierender Zu- und Festschreibungen (re-)präsentieren können“ (ebd.:268 Hervorhebung im Original).
Im Zusammenhang von weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen kommt es auf eine globale Perspektiverweiterung an. Die Reduktion kultureller und konkret musikalischer Praxen auf klischeehafte ethnische oder ‚Nationalkulturen‘ ist zu hinterfragen. Immer schon gab es globale Verflechtungen von Musikkulturen, an die sich anknüpfen lässt. Vor allem folkloristische Zuschreibungen führen zu der Vorstellung, es gebe in ‚fremden‘ Ländern ‚authentische‘ Kulturen, die unberührt von Einflüssen der Kolonialgeschichte und Globalisierung seien und deren Musik in den Repräsentant*innen der Ankunftsländer von Geflüchteten romantisierende und exotisierende Vorstellungen eines ‚anderen‘ Lebens wecken. Nina Stoffers (2012) hat in ihrer empirischen Forschungsstudie zu Musik und Transkulturalität eindrucksvoll und detailliert analysiert, wie Kinder aus Familien, die aus Ex-Jugoslawien geflüchtet waren, in dem als ‚inklusiv‘ konzipierten Musikprojekt „Heimat re-invented“ als ‚Andere‘ etikettiert wurden. „Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die künstlerische Arbeitsweise, das Kostümdesign und die Auswahl der Lieder dazu geführt haben, dass der Roma-Liederteil stark folkloristisch und stereotyp wirkte und damit das Trennende, Fremde unterstrichen wurde“ (ebd.:192). Transkulturelle beziehungsweise diversitätsbewusste Soziale Arbeit mit Musik hingegen thematisiert vielfältige kulturelle Anschlüsse, aber auch Abgrenzungen.
Pädagogische Dimensionen einer Sozialen Arbeit in der (Welt-)Migrationsgesellschaft geben Anregungen dafür, wie von Sozialer Arbeit mit Musik „Bildungs- und Reflexions- und Empowermentprozesse angestoßen und begleitet werden können“ (Frieters-Reermann 2013:165). Diversitätsbewusste Praxishandreichungen wurden bereits für die Internationale Jugendarbeit vorgelegt (vgl. Drücker et al. 2015; Winkelmann 2014; IJAB 2016). Für eine diversitätsbewusste Jugendkulturarbeit liegen ebenfalls konzeptionelle Anregungen vor (vgl. Josties 2018:74f.). Hieran anknüpfend sollte diversitätsbewusste Soziale Arbeit mit Musik in ihrer konzeptionellen Ausrichtung u. a. folgende Herausforderungen und Perspektiven beachten:
- das spezifisch Gewordene und Werden von Subjekten wahrnehmen und anerkennen; spezifische Musikbiografien und Musikpräferenzen wahrnehmen und anerkennen (wichtig auch für musikalische Biografiearbeit);
- nicht zur Einseitigkeit drängen, sondern Uneindeutigkeiten, Übergängen, Überkreuzungen in der ästhetisch-kulturellen Praxis Raum geben – musikalische Vielfalt achten und einbeziehen, zu Improvisation und experimentellem Spiel anregen, dominante Hörgewohnheiten irritieren und hinterfragen;
- aber auch: das Bedürfnis nach Eindeutigkeit angesichts einer überbordenden Vielfalt an Lebensentwürfen und kulturellen Praxen ernstnehmen; Bedürfnisse nach Imitation beziehungsweise Covern von Vorbildern (besonders im Jugendalter verbreitet) respektieren, stilistische Präferenzen einbeziehen;
- Schon- und Experimentierräume schaffen und anerkennen, z.B. Zugänge und adäquate Foren für musikalische Laien schaffen, Räume für selbstorganisierte Musikinitiativen insbesondere von marginalisierten Gruppen eröffnen und zur Verfügung stellen;
- essentialisierende Zuschreibungen aufdecken und hinterfragen, Klischees brechen; vor allem natio-ethno-kulturelle Klischees über Musik(praxen) aufdecken, aber auch exotisierende Klischees (wie ‚Orientalismus’, vgl. hierzu NORIENT 2018) oder die rassifizierende Gleichsetzung der Vielfalt von Musik eines so großen Kontinents wie Afrika mit ‚afrikanischer Musik‘ aufdecken und hinterfragen usw.;
- Differenzen nicht nur oberflächlich akzeptieren (oder zelebrieren), sondern zum Ausgangspunkt herrschaftskritischer Auseinandersetzung machen; die Themen und das Repertoire Kultureller Bildung an der Vielfalt der Gruppen von Adressat*innen ausrichten; vielfältige Musikkulturen und -stilistiken berücksichtigen, mit Musiker*innen kooperieren, die über die jeweilige Expertise verfügen;
- eurozentristische Perspektiven hinterfragen und internationale transkulturelle Perspektiven einbeziehen; die vermeintliche Überlegenheit europäischer Musik- und ‚Hochkultur’ und deren besondere Förderung hinterfragen, transkulturelle Musikförderung anregen (z.B. mit internationalen Begegnungen).
Im Folgenden werden exemplarisch diversitätsbewusste pädagogische Ansätze sozialer Musikarbeit vorgestellt und reflektiert. Zunächst wird auf das Kindes- und Jugendalter eingegangen, weil in diesen Lebensphasen Weichen der musikalischen Sozialisation und Bildung gestellt werden und Musik in den Handlungsfeldern der frühkindlichen Bildung und Jugendarbeit vergleichsweise stark repräsentiert ist. Außerdem wird aufgrund aktueller vielfältiger Praxisansätze und Fachdiskurse Musik in der Arbeit mit geflüchteten Menschen thematisiert.
Diversitätsbewusste Musikarbeit mit Kindern
Die musikalischen Lebenswelten von Kindern sind in einer Migrationsgesellschaft vielfältig. Kinder singen und hören nicht mehr nur die Lieder der sie umgebenden Dominanzkultur, sondern darüber hinaus auch die zu ihren diversen Lebenswelten gehörenden Musiken. Im Sinne der Anerkennungsgerechtigkeit ist es deshalb erforderlich, dass die Vielfalt der musikalischen Lebenswelten aller Kinder Eingang in die musikalische Praxis von Kindertagesstätten (KiTas), Familienzentren, Grundschulen, Schulhorte usw. findet, damit alle Kinder wahrgenommen und anerkannt werden. Dies ist umso bedeutsamer, wenn man berücksichtigt, dass der Mythos vorurteilsfreier Vorschulkinder falsch ist. Kinder unterscheiden durchaus zwischen den bevorzugten Standards der dominanten Kultur und leiten daraus Hierarchisierungen und Privilegien ab (vgl. Diehm/Kuhn 2006). Außerdem ist in diesem Kontext die besondere sozialisierende Funktion des Singens von Liedern zu berücksichtigen: „Die Lieder aus der Kindheit und Jugend sind emotionale und sinnliche Prägungen, welche die Grundlagen für den Aufbau einer personalen Identität vor dem Hintergrund der Herkunftskultur, Nation, Szene, Gruppe, Familie oder Schule bilden“ (Stadler Elmer 2009:159). Musikpsychologische Studien zeigen zudem, dass Kinder bis etwa zum Grundschulalter gegenüber neuen und unbekannten Klängen offen und neugierig sind. Dieses als Open-Earedness oder Offenohrigkeit (vgl. Auhagen/Bullerjahn/Georgi 2014) bezeichnete Phänomen sollte genutzt werden, um Kindern vielfältige musikalische Primärerfahrungen und einen offenen Umgang mit unterschiedlichen Musiken zu vermitteln.
Zentraler Ansatz einer diversitätsbewussten musikalischen Praxis mit Kindern (vgl. Gerards 2013; Gerards/Meyer 2016) ist es daher, dass alle Kinder, egal ob mit oder ohne ‚Migrationshintergrund‘, die Lieder und Musiken, die mit ihrem Alltag und ihren kulturellen oder religiösen Festen verbunden sind, beispielsweise in der KiTa wiederfinden. Das geht nicht ohne intensive Elternarbeit, die wertschätzendes Interesse an den (musikalischen) Lebenswelten der Familien bekundet. Mit Unterstützung der Eltern könnten die Lieder und Musiken im KiTa-Alltag (Morgenkreis, Beginn oder Ende einer Gruppenarbeit, Feste im Jahreskreis, Geburtstage, musikpädagogische Angebote) gesungen beziehungsweise gespielt werden. Wichtig ist, dass dies in einem Kontext geschieht, der das Lied nicht als ‚andere‘ Musik herausstellt.
Selbstverständlich geht es dabei auch um die Vermittlung erster grundlegender musikalischer Kompetenzen und Kenntnisse der Dominanzkultur mit ihren Liedern, Instrumenten, Festen, Ritualen und Traditionen. Hier sind besonders Kinder aus benachteiligten sozialen Schichten auf musikalische Förderung angewiesen (vgl. Autorengruppe Bildung 2014). Durch Initiativen wie „Jedem Kind ein Instrument“, Kooperationen der KiTa mit der Musik(hoch)schule oder dem Orchester einer Stadt können sich Kinder erste kulturelle und speziell musikalische Codes aneignen, die für eine gleichberechtigte Teilhabe und Teilgabe am musikkulturellen Leben der Gesellschaft Voraussetzung sind. Ziel einer diversitätsbewussten musikalischen Bildung sollte es also sein, „gegebene Dispositionen [...] und Vorlieben anzuerkennen, in den Austausch aufzunehmen und nach Möglichkeit zu stärken und zu differenzieren, zum anderen aber auch die vorherrschende(n) Kultur(en) zu präsentieren und Zugänge zu ihr (oder ihnen) zu erschließen. In dieser doppelten Ausrichtung geht es also nicht darum, die Dominanz der dominierenden Kultur zu erhalten, sondern zur Teilnahme an ihr zu befähigen“ (Dietrich/Krinninger/Schubert 2012:106f.). Unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit oder körperlichen Ausstattung sollten Kinder unterschiedliche Musiken erfahren und die Chance auf ein qualifiziertes Angebot musikalischer Bildung erhalten. Diversitätsbewusste musikalische Bildung beschränkt sich nicht auf Teilnahme an und Vermittlung von dominanzkulturellen Liedern und Festen, sondern sie erkennt die verschiedenen musikalischen Lebenswelten und Bedarfe an, sodass Kinder sich aktiv als Subjekte einbringen und die (musik-)kulturellen Prozesse mitgestalten können.
Auf vier Ebenen können nun Kriterien einer diversitätsbewussten musikalischen Praxis mit Kindern benannt werden (vgl. Gerards/Meyer 2016): Auf der personalen Ebene sind zunächst die diversen Lebenswelten und Zugehörigkeiten von Kindern zu berücksichtigen. Gemeint ist ein generell sensibler und reflektierter Umgang mit Diversität, der sich nicht nur auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten beschränkt. Alter, Geschlecht, Behinderung, Herkunft, Klasse, Bildung, Religion usw. sind Faktoren, die in ihren Wechselwirkungen auch bei musikbezogenen Angeboten zu beachten sind. Auf der Sachebene geht es um vielfältige musikalische Praktiken, Stile, Formen, Gattungen, Lieder oder Instrumente – nicht nur um die, die aus dominanzkultureller Perspektive relevant sind, sondern auch um die, die aus den verschiedenen musikalischen Lebenswelten der Kinder stammen. Unter „diversitätsbewusst“ ist also vor allem eine Haltung der Professionellen zu verstehen, die die eigenen Werte und Absichten reflektieren und auf der Handlungsebene so umsetzen, dass sowohl die Vielfalt musikkultureller Praxen und Stile als auch die musikalischen Lebenswelten aller Kinder berücksichtigt werden. Auf der Basis von Partizipation und gegenseitiger Anerkennung, unter aktiver Einbeziehung der Kinder und Eltern sowie idealerweise in interdisziplinären Teams und mittels sozio-kultureller Vernetzung im Sozialraum will eine so konzeptionierte diversitätsbewusste Musikarbeit auf der Zielebene sowohl die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder an den musikkulturellen Angeboten der Migrationsgesellschaft als auch deren aktive Teilgabe in Form eigener musikalischer Praxen anvisieren. Als Fernziel kann formuliert werden, durch eine diversitätsbewusste musikalische Praxis alle Kinder bei der Einwicklung einer vorurteilsfreien Haltung in einer solidarischen Gesellschaft zu unterstützen.
Transnationale und diversitätsbewusste Perspektiven der musikorientierten Jugendkulturarbeit
Im Kontext von Jugend(kultur)arbeit (vgl. Josties 2019a) kann die kreative Auseinandersetzung Jugendlicher mit transkulturellen und transnationalen Phänomenen angeregt werden. Jugendkulturen sind global und medial bzw. digital vernetzt. Hybride Phänomene, bei denen Stile aller Art gekreuzt werden, nehmen zu und die Entwicklung wird immer unüberschaubarer.
Junge (post)migrantische Musikszenen und die Kreation von „Fusions“
Neuerdings richten Musik- und Kulturwissenschaftler*innen ihren Blick besonders auf den Wandel kultureller bzw. musikalischer Praxen jüngerer diasporischer Communities. Serhat Güney, Cem Pekman und Bülent Kabaş untersuchen in ihrer empirischen Studie über junge „turkish immigrant“-Musikszenen in Berlin „diasporic music in transition“ (2014:132). Sie analysieren, wie Jugendliche, die in Deutschland geboren sind und deren Eltern und/oder Großeltern zur türkischen Einwanderergeneration, den sogenannten ‚Gastarbeiter*innen’ zählen, transkulturelle Praxen weiter entwickeln – in der Ethnomusikszene, Rockszene, Hip-Hop-Szene und der elektronischen Musikszene. Laut Güney, Pekmann und Kabaş gibt es drei wesentliche Gründe dafür, warum die jüngere, (post-)migrantische Generation „more cosmopolitan and open to the influence of worlds outside the immigrant community“ (ebd.:148) sei und entsprechend „new forms and meanings of musical production in the diaspora“ entwickelte: Erstens böte Berlin als Weltstadt, „that welcomes difference“, ein inspirierendes Anregungsmilieu für unterschiedlichste musikalische Szenen. Zweitens seien Sprachbarrieren und die Verklärung des (groß-/elterlichen) Heimatlandes für jüngere Generationen kein Thema mehr und drittens machten vor allem digitale Plattformen neue jugendkulturelle Szenen mehr „visible and valuable: Younger German Turks grow up interacting in this global space where traditional formulations of the immigrant experience seem passé“ (ebd.:148f.).
Hierzu ein Beispiel aus der Jugend(kultur)arbeit: Die junge Band Ska Oriental entstand im Kontext der offenen Musikförderung eines Berliner Jugendkulturzentrums. Die Band ist divers zusammengesetzt. Die weiblichen Bandmitglieder – Sängerin, Schlagzeugerin, Gitarristin, Bassistin und Bläserinnen – profitierten von der gendersensiblen Musikförderung (vgl. Müller 2013) der Jugendeinrichtung. Ahmed, das einzige männliche Bandmitglied, erhielt seinen Unterricht an der Bağlama im Rahmen einer selbstorganisierten türkischen Musikschule ebenfalls im Jugendkulturzentrum (vgl. Josties 2014). Zunächst in Anlehnung an das Vorbild einer türkischen Band entwickelten die Jugendlichen ihre eigene Fusion, eine Art „orientalischen Ska“, wie die Bandmitglieder im Gruppeninterview erläuterten (vgl. Josties 2013b). Deutlich wird im Interview, wie innerhalb der Band musikalische Vielfalt produktiv genutzt wird und sich jede*r einbringen kann. Ahmed bringt es auf den Punkt: „Das ist schon ne ganz komische Mischung, aber irgendwie toll“ (ebd.:202).
Die pädagogischen Voraussetzungen für die Entwicklung einer solchen Jugendband liegen auf Seiten des Teams der Jugendkultureinrichtung in einer diversitätsbewussten Konzeption der Jugendarbeit bzw. Musikanleitung und in einem musikpädagogischen Ansatz, der niedrigschwellige Zugänge zum Musizieren ermöglicht. Das (musik-)pädagogische Setting ist grundsätzlich als ein offenes zu charakterisieren (vgl. Josties/Menrath 2018). Beim Bandcoachen geht es nicht um das Erarbeiten eines vorgegebenen Repertoires, sondern um Anregung zu Selbstbestimmung und um die sozialpädagogische Begleitung von – manchmal auch konfliktreichen – Gruppenprozessen unter den Bandmitgliedern. Soziales und musikalisches Lernen sind miteinander verwoben. Aus musikpädagogischer Perspektive geht es nicht nur um das Erlernen der unterschiedlichen Musikparts, das Proben und Interpretieren, sondern – je nach Voraussetzungen der beteiligten Bandmitglieder – auch um das Improvisieren, Experimentieren, Komponieren, Textschreiben und Arrangieren. Dank lokaler, aber auch überregionaler und internationaler Vernetzungsarbeit werden Räume für Auftritte, Kooperationen und Begegnungen eröffnet. Somit werden immer wieder neue Perspektiven der Selbstverständigung, Kommunikation und Weiterentwicklung aufgezeigt und angeregt. Schließlich erreichen Bands wie Ska Oriental ein Entwicklungsstadium, in dem sie als junge Erwachsene zwar weiterhin die räumlich-technischen Ressourcen und Netzwerke der Jugendeinrichtung nutzen, jedoch keine pädagogische Anleitung mehr brauchen.
Das Beispiel des Hip-Hop im lokalen und globalen Beziehungsgeflecht
Die Hip-Hop-Kultur gibt ein eindrückliches Beispiel für eine globale Jugendkultur, auf die Jugendliche weltweit in jeweils lokalen Ausprägungen Bezug nehmen können, nicht nur in Begegnungen vor Ort, sondern genauso im Internet. Sie bezieht sich laut Sellers, MC und HipHop-Dozent in New York City, auf einen „common cultural ground“, eine Art „cultural lexicon and canon“ (zit. in Josties 2017:227).
Die Kulturwissenschaftlerin Verda Kaya untersucht in einer ethnografischen Studie am Beispiel des Hip-Hop das transnationale Beziehungsgeflecht zwischen Istanbul und Berlin. Dabei konstatiert sie eine Besonderheit auf der deutschen Seite: „Türkischstämmige Jugendliche [lebten] den Hip-Hop in städtischen Jugendzentren aus, nicht etwa in ethnischen Organisationen oder Vereinen, die zu dieser Zeit folkloristische und traditionelle musikalische Kurse anboten“ (Kaya 2015:230). Bereits in den späten 1990er Jahren gab es in Berlin über 100 Jugendeinrichtungen mit Bandprobenräumen, Tonstudios, Bühnen und Musikförderangeboten (vgl. Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Berlin e.V. und Landesarbeitsgemeinschaft Populäre Musik/Kultur e.V. 1998). Bis heute nimmt die Förderung der Hip-Hop-Kultur sowohl in der stationären offenen Jugendkulturarbeit als auch bei mobilen Angeboten (wie dem Berliner HipHop-Mobil) und der Streetwork (zum Beispiel von Gangway e.V.) sowie zunehmend auch der Schulsozialarbeit eine zentrale Rolle ein. Die Anleitung übernehmen vorwiegend ältere Hip-Hop-Aktivist*innen, die ihre Karriere zumeist selbst in Jugendzentren begonnen haben. Kaya beobachtete in solchen Settings eine „familiäre Stimmung“, die Jugendlichen in marginalisierten Lebenslagen sehr wichtig sei. Die „massive institutionelle Unterstützung“ (ebd.:237) der Hip-Hop-Kultur u. a. durch sozialpädagogische Jugendarbeit führte laut Aye Cağlar (1998:46) zu einer besonderen und widersprüchlichen Prägung des deutschtürkischen Rap in Berlin: „[…] diese Kultur, die als eine spontane Widerstandsbewegung ‚von der Straße‘ gilt, [wurde] letztendlich auch vom Senat unterstützt und gesteuert“ (Kaya 2015:237). Dies habe auch das Selbstverständnis vieler Rapper*innen geprägt, die sich in diesen Zusammenhängen als eine Art ‚Sozialarbeiter*in‘ sähen (Cağlar 1998:47), wenn sie z. B. mit Rap-Texten gegen Gewalt und Rassismus aufrufen. Mittlerweile gibt es unter den professionell ausgebildeten jüngeren Sozialarbeiter*innen immer wieder Szenen-Angehörige, die ihre Doppelrolle zum Beispiel als Rap-Künstler*innen und Sozialarbeiter*innen nutzen wollen, jedoch auch reflektieren müssen – bezogen auf besondere Potenziale, aber auch Widersprüche und Herausforderungen (vgl. Andjelkovic 2017). Wurden im sozialpädagogischen Kontext bisher hauptsächlich Gefahren diskriminierender Textinhalte des Rap problematisiert bzw. abgelehnt, so werden neuerdings ‚plumpe‘ Ansätze der Instrumentalisierung des Hip-Hop für wohlgemeinte pädagogische Präventionszwecke kritisch hinterfragt (vgl. Josties 2020).
Internationale Jugendbegegnungen haben in der Jugendarbeit eine lange Tradition. Seltener sind Jugendbegegnungsreisen mit speziellem Fokus auf populärer Musik wie z.B. Hip-Hop, wie sie seit Jahren beispielsweise durch den Streetwork-Verein Gangway Berlin e.V. organisiert wurden (vgl. Aden 2018:153f.). Transnationale Kollaborationen in der Hip-Hop-Szene regen nicht nur transkulturelle musikalische Prozesse an, wie die Auseinandersetzung mit unterschiedlicher Stilistik, Soundästhetik und Produktionsweise, sie provozieren auch Aushandlungsprozesse und kritische Selbstreflexionen darüber, wer überhaupt zur jeweiligen Hip-Hop-Community gehört (vgl. Josties 2019b). Aus der Perspektive von Dekolonialisierungsbewegungen und den Postcolonial Studies wird verstärkt die kulturelle Aneignung („cultural appropriation“) zum Beispiel der afro-amerikanischen Musik hinterfragt. Im Hip-Hop geht es um „white appropriation“ (vgl. Balliu 2015:22ff.). Dies wurde auch zum Thema bei zwei 2016/17 durch Gangway Berlin u.a. organisierten transnationalen Begegnungen zwischen jungen erwachsenen Hip-Hopper*innen aus Berlin und Detroit (vgl. Josties 2019b). Deutsche Teilnehmende äußerten beim Besuch in Detroit in einem Gruppeninterview Zweifel über ihre Legitimation als weiße deutsche Hip-Hopper*innen. Ihre jungen Partner*innen aus Detroit verwiesen auf die Ursprünge und Bedeutung des Hip-Hop. Supreme Flows, MC, erläutert: „HipHop was created [...] out of necessity, because it was so much going on, it was so much trouble, so much pain, while everybody just wanted to have fun. […]. It came from Blacks and Latinos, [...] and that’s what created the music, back in the Bronx. So, with this statement, what he said – feeling kind of guilty about doing HipHop – me, honestly, I don't think he should feel guilty for being white making HipHop, [...] if he comes from a real place. If he is not from a real place then, you go feel guilty for faking all this“ (vgl. Josties 2019b:143f.). Von zentraler Bedeutung sind demnach „realness“ und Authenzität (vgl. hierzu auch Menrath 2001:81-109).
Die Beispiele machen die Potenziale einer transnationalen und diversitätsbewussten sozialen Musikarbeit deutlich, die Jugendlichen mittels eigener musikalischer Praxis Reflexions- und Empowermentprozesse ermöglicht und sich dabei nicht an enge Genre- oder Identitätskonzepte hält. Es werden (Selbst-)Bildungsprozesse initiiert, die Jugendliche in der (Welt-)Migrationsgesellschaft in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit und (Re-)Präsentation „jenseits kategorialer, vor allem kulturalisierender Zu- und Festschreibungen“ (Arenhövel 2012:268) unterstützen.
Musik in der Arbeit mit geflüchteten Menschen
Geflüchtete Menschen, vor allem diejenigen, die aktuell in Deutschland über keinen geklärten Aufenthaltsstatus verfügen, sind strukturell von Teilhaberechten wie „selbstbestimmtes Wohnen, Arbeiten, Zugang zu Bildung“ (Ziese/Gritschke 2016:27) ausgegrenzt. Was kann Kulturelle Bildung und Soziale Kulturarbeit in diesem Kontext überhaupt leisten? Wie grundsätzlich in jeder diversitätsbewussten Arbeit müssen pädagogisch Handelnde mit paradoxen Anforderungen umgehen: „Zum einen müssen Differenz und die damit verbundene Ungleichheit anerkannt werden. [...] Zugleich basiert die Anerkennung aber immer auf Kategorien, die auch Zuschreibungen produzieren, nämlich dass Menschen auf der Ebene von Kultur oder Herkunft festgeschrieben werden“ (ebd.:29f.). Daher müsse man sich bemühen, „die Anerkennung in einer reflektierten Bildungspraxis von Dekonstruktion zu begleiten“ (ebd.:30). In der kulturellen Bildungsarbeit mit jugendlichen Geflüchteten besteht die Herausforderung darin zu vermeiden, „Menschen auf ihren Fluchtstatus zu reduzieren [und es dennoch zu schaffen], Geflüchtete und ihre Geschichten sichtbar zu machen“ (ebd.:26). Grundsätzlich ist es problematisch und unnötig, Geflüchtete als gesonderte Zielgruppe zu adressieren und sie damit als ‚Andere‘ zu markieren (vgl. Mörsch 2016). Dies ist jedoch nicht leicht zu realisieren, da es seit 2015 besondere Förderlinien für Kulturprojekte mit Geflüchteten gibt, die gerade eine solche Markierung voraussetzen (vgl. das BMBF-Förderprogramm Kultur macht stark plus 2016-2018). Die Evaluation solcher Projekte (z.B. gefördert durch de4n Projektfonds Kulturelle Bildung Berlin, vgl. Sharifi 2015), aber auch Jugendforschungsstudien (vgl. BMFSJ 2017:69) zeigen, dass Jugendliche mit Fluchtgeschichte jedoch als Menschen mit ihren individuellen, (alters-)spezifischen Interessen wahrgenommen und anerkannt werden wollen – und diese können auch im Hören und Spielen von klassischer, folkloristischer oder jugendkultureller Musik liegen.
Musik als künstlerischer Disziplin wird – im Gegensatz beispielsweise zur zumeist auf Sprache fokussierten Theaterarbeit – in der Arbeit mit geflüchteten Menschen eine sinnliche, fast magische Wirkung zugetraut: Sie gilt als universales Ausdrucksmittel – vermeintlich „unabhängig von Sprache und Ideologie“ (Daniel Hope, zit. n. Willemsen 2009:o.S.). Immer wieder heißt es, gerade Musik könne Menschen, die die Sprache des Aufnahmelandes (noch) nicht sprechen, zum Ausdruck verhelfen, ihnen Begegnungen ermöglichen und Verbindungen stiften. Bereits im Jahr 2015 verabschiedete der Deutsche Musikrat in Berlin die Resolution „Willkommen in Deutschland: Musik macht Heimat! Von der Willkommens- zur Integrationskultur“ (Deutscher Musikrat 2015). Im Vorwort zum Internet-Portal „Musik und Integration“ des Deutschen Musikinformationszentrums heißt es: „Musik verbindet Menschen – ganz gleich, aus welchem Land sie kommen und welche Sprache sie sprechen. Zahlreiche Initiativen machen sich diese Kraft der Musik zunutze, um Menschen zu helfen, die vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland geflüchtet sind. Informationen zu musikalischen Flüchtlingsprojekten führt das Portal ‚Musik und Integration‘ als zentrale Plattform des Musikbereichs bundesweit zusammen“ (ebd.).
Es gibt mittlerweile zahlreiche musikalische Projekte, die Geflüchtete adressieren – z.B. in der klassischen Musik, in Chören, in Perkussionsgruppen, in der Ethnomusik oder in unterschiedlichen eher jugendkulturellen Musikgenres. Auf dem Portal „Musik und Integration“ finden sich Initiativen und Projekte, die sich sowohl an Amateur*innen als auch Profimusiker*innen richten. Bei manchen Projekten werden bewusst inter- und transkulturelle musikalische Prozesse betont. Bemerkenswert ist jedoch, dass in den meisten Fällen schon im Projekttitel überhöhte soziale Wirkungen versprochen werden: „Social Sounds – Willkommen mit Musik“, „Mit Musik Mut machen“, „(Noten)Schlüssel zur Integration“, „Willkommenschor“, „Begegnungschor“, „Musik spricht alle Sprachen“ oder „bridges – Musik verbindet“ (ebd.). Warum muss gemeinsames Musizieren in – oft zeitlich begrenzten – Projekten der Kulturellen Bildung oder im Rahmen von Wohltätigkeitsveranstaltungen dafür herhalten, nach außen hin ein erfolgreiches Miteinander in der vermeintlich ‚universalen Sprache der Musik‘, ja sogar eine ‚soziale Integration‘ zu symbolisieren bzw. inszenieren? Das gemeinsame Musizieren und Singen in Ensembles, Bands oder Chören kann nicht per se für gelungene soziale Integration in der Aufnahmegesellschaft stehen, solange nicht der Aufenthaltsstatus gesichert ist und weitere strukturelle Benachteiligungen (z.B. Residenzpflicht, Nicht-Anerkennung von Berufs- und Bildungsabschlüssen, eingeschränkter Familiennachzug) abgeschafft sind.
Deutschland wird als Aufnahmeland eine spezifische „Willkommenskultur“ zugeschrieben, die auch im Ausland – trotz zeitgleicher Verbreitung rassistischer Anfeindungen und massiver und lebensbedrohlicher Angriffe gegen Geflüchtete – oft würdigende Anerkennung findet (vgl. z.B. Waginska-Marzec 2017). Es ist beeindruckend, wie viele vor allem Ehrenamtliche auf kreative Weise Unterstützung leisten und geflüchteten Menschen Zugänge zum Beispiel zum Musikleben im Aufnahmeland erleichtern. Dennoch sei verwiesen auf die Notwendigkeit, die sogenannte „Willkommenskultur“ auch kritisch zu reflektieren, wenn sie nicht wirklich ‚auf Augenhöhe‘ zwischen Ankommenden und Aufnehmenden geschieht. Affekte wie Mitleid und Solidarität seien nicht per se selbstlos, sondern können auch paternalistische Züge entfalten (vgl. Castro Varela/Heinemann 2017).
Zumeist wird übersehen, dass die Selbstorganisation und Selbstermächtigung der Geflüchteten von entscheidender Bedeutung für ein gelingendes „Ankommen“ und für Selbst-Repräsentation sind. Es braucht gewisse Zeit, bis auch die Profimusiker*innen unter den Geflüchteten selbst Ensembles formieren und auch als Anleiter*innen in Projekten der musikalischen Bildung aktiv werden können, zum Beispiel im Rahmen der Förderlinie „Kultur macht stark plus“. Und es gilt grundsätzlich kritisch zu bedenken: „Die Repräsentationsfrage kommt nicht dann zum Stillstand, wenn Gruppen sich selbst repräsentieren, denn eine adäquate Repräsentation bleibt immer noch eine Unmöglichkeit“ (Castro Varela/Dhawan 2007:31). Also, Vorsicht ist davor geboten, Musik eine magische Wirkkraft zuzutrauen, die über politische, soziale, kulturelle und religiöse Spannungen hinweg alle Teilnehmenden im gemeinsamen Singen und Musizieren oder als Publikum bedingungs- und voraussetzungslos vereinen, (re)präsentieren und integrieren könne!
Jenseits der in der Kulturellen Bildungsförderpolitik verbreiteten „Projektitis“ bedarf es zudem mehr selbstorganisierter Schutz- und Begegnungsräume: „Diese Räume, in denen man unter sich ist, sind einfach extrem wichtig, um sich auszutauschen, um sich auch mal die Köpfe einzuhauen und dann wieder zu verständigen und auf einen Nenner zu kommen“ (Jouni 2017:161). Ob und wie Musik in diesen selbstorganisierten Settings eine Rolle spielt, bleibt offen und den Interessen der Teilnehmenden geschuldet – und ist weder durch Musikpädagog*innen noch durch Sozialarbeiter*innen des Aufnahmelandes vorzugeben. Im Sinne eines Selbstempowerments und des „communal music making“ sind vor allem weniger institutionengebundene Initiativen der Selbstermächtigung Geflüchteter zu stärken (vgl. Bánffy-Hall/Hill 2019: 98). Nicht nur etablierte Institutionen der Musikförderung wie Musikschulen oder Musiktheater (Komische Oper Berlin 2014), sondern auch bereits existierende und neu gegründete diasporische Initiativen und Musikvereine in lokalen Bildungslandschaften sind in diesem Kontext potenziell bedeutsame Kooperationspartner.
Im Kontext von Musik in der Sozialen Arbeit gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Geflüchteten einen Zugang zu Musik zu eröffnen, sei es im Rahmen der Arbeit in Flüchtlingsunterkünften, der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten oder der Schulsozialarbeit und Kinder- und Jugendkulturarbeit. Kontinuierliche musikalische Angebote in offenen Kinder-, Jugend-, Senior*innen- und Nachbarschaftstreffpunkten, die vielleicht weniger spektakulär daher kommen, ermöglichen womöglich eher verlässliche Kommunikation und Entwicklung (vgl. z. B. Krieger 2015). Begegnung wird hier gelebt und weniger nach außen zur Schau getragen. In der Arbeit mit jugendlichen und jungen erwachsenen Geflüchteten bietet beispielsweise die Orientierung an der global wie lokal vielfältig vernetzten Hip-Hop-Kultur gute Anknüpfungspunkte für (erste) jugendkulturelle Begegnungen im Aufnahmeland. Bereits seit vielen Jahren, lange vor der hohen Fluchtzuwanderung seit 2015, leistet z.B. das Berliner HipHop-Mobil aufsuchende Arbeit in Wohnheimen für Geflüchtete, aber auch in Jugendtreffs und an Schulen. Besonders niedrigschwellig sind auch Angebote der Offenen Jugendarbeit: Im Kamener Jugendkulturcafé (JKC) ist z. B. die Zusammensetzung der jugendlichen Besucher*innen grundsätzlich divers, was ihre Herkünfte anbelangt. Junge Geflüchtete finden hier leicht Zugang zum Offenen Bereich – und eben auch zum Musikbereich. Und so erhalten junge Geflüchtete aus westafrikanischen Ländern die Möglichkeit, selbst Raps zu produzieren, aufzunehmen und im JKC vorzuführen. „Für Kanté, dem seit einiger Zeit in der beengten Unterkunft die Decke auf den Kopf fällt, bedeutet das Musizieren vor allem: etwas zu tun [...]. ‚Was die Musik uns gibt? Sie macht uns frei!‘, sagt Adam. Die Tracks erzählen aber nicht in erster Linie Flüchtlingsrealitäten“ (RP Online 2015).
Herausforderungen – Perspektiven – Positionierung
In der Konzeption und Praxis diversitätsbewusster pädagogischer Arbeit mit Musik gilt es, intersektionale Perspektiven einzunehmen und zu bedenken. Denn die Adressat*innen Kultureller Bildung und Sozialer Kulturarbeit dürfen nicht monosektional auf eine bestimmte Diskriminierungserfahrung reduziert wahrgenommen werden. Bezogen auf junge Geflüchtete wird vor allzu einfachen stereotypen Bildern von Geflüchteten gewarnt. Die Gruppe der Geflüchteten ist in sich sehr heterogen und mit besonderen rechtlichen, sozialen und persönlichen Herausforderungen konfrontiert. „Vor allem gilt es deutlich zu machen, dass junge Geflüchtete in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene sind, sodass es auch in Bezug auf diese Gruppe junger Menschen um die Frage geht, wie Jugend ermöglicht werden kann“ (BMFSFJ 2017:69). Menschen im hohen Lebensalter – egal ob mit oder ohne Migrations- oder Fluchtgeschichte – teilen wiederum die Erfahrung, auf ein langes Leben zurückzublicken, doch war deren biografische Perspektive, und dies gilt auch für die Musikbiografie, von unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und familialen Faktoren und – gegebenenfalls damit verbunden – von spezifischen Diskriminierungserfahrungen geprägt. Deshalb bedarf es in der Arbeit mit Senior*innen, sei es bei offenen Musik- bzw. Singeangeboten, sei es bei der Biografiearbeit mit Musik, auf Seiten der Professionellen einer intersektionalen, kultur- und differenzsensiblen, respektvollen Perspektive. Menschen mit beispielsweise körperlichen Beeinträchtigungen haben nach wie vor mit Barrieren der kulturellen Teilhabe zu kämpfen, wenn sie auf rollstuhlgerechte Zugänge und Assistenzen angewiesen sind. Die meisten Musikveranstaltungen finden abends statt, und zu diesen Zeiten lassen sich Transportfahrten nicht zuverlässig organisieren. Darunter leiden beispielsweise Jugendliche mit Beeinträchtigungen – ob mit oder ohne Migrationsgeschichte – wenn sie Konzerte, Discotheken oder Jugendszene-Clubs besuchen möchten. Die Gender-Queer-Perspektive ist sowohl weltweit als auch innerhalb der deutschen Gesellschaft mehr denn je in Bewegung und wird teilweise sehr heftig diskutiert. Geschlechterunterschiede und -diskriminierungen spielen im Musikbereich sowohl im ‚doing music‘ als auch in der Musikrezeption schon immer und nach wie vor eine zentrale Rolle (vgl. Gerards 2019b). In der Kreuzung der Perspektiven von Rassismus und Genderdifferenzen liegt eine besondere Brisanz, wie die Geschichte der Benachteiligung von People-of-Color-Musiker*innen zeigt ( vgl. ebd.). Schließlich gilt es zu bedenken, dass unterschiedliche musikalische Praxen und Produktionen immer auch soziale Aushandlungsprozesse sind und Distinktion symbolisieren können. Insofern gilt es im Kontext von Musik in der Sozialen Arbeit stets kritisch (selbst-) reflektierend auszuhandeln, welche Musik da eigentlich von und für wen und mit wem gespielt werden soll.
Das fachliche und ethische Mandat von Sozialarbeiter*innen für diversitätsbewusste Soziale Arbeit mit Musik lässt sich – in Anlehnung an das Positionspapier der Initiative Hochschullehrender zur Sozialen Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften (2016) – wie folgt charakterisieren: „Sozialarbeiter*innen verstehen es als ihren Auftrag, Menschen im Sinne ihrer Selbstbestimmung, Partizipation und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen und dort Partei zu ergreifen, wo diesem Anspruch gesellschaftliche Rahmenbedingungen entgegenstehen“ (ebd.:o.S.). Sozialarbeiter*innen nehmen im Feld der Kulturellen Bildung bzw. diversitätsbewussten Musikarbeit nicht nur eine moderierende, sondern auch mandatorische Rolle ein. Wenn Sozialarbeiter*innen zudem als Musiker*innen qualifiziert sind, so bringen sie Musikangebote in ihre Arbeit mit ein. Sie regen Selbstorganisierungsprozesse und (Selbst-)Bildungsprozesse an, stiften inter- und transkulturelle Verbindungen in lokalen, aber auch transnationalen Bildungsnetzwerken und schaffen somit Zugänge zu Musik. Sie unterstützen Kooperationen, ermöglichen und fördern Teilhabe – selbstverständlich und vor allem (auch) für Menschen in benachteiligenden Lebenslagen. Dabei unterschlagen sie nicht die Notwendigkeit der Ermöglichung kultureller Teilgabe und wissen um deren wesentliche soziale, gesellschaftliche und symbolische Bedeutung. Sozialarbeiter*innen müssen sich somit verstärkt in Felder der Kulturellen Bildung und Sozialen Kulturarbeit einbringen und positionieren – zum Beispiel in machtvollen Aushandlungsprozessen bei der Vergabe von Fördermitteln, wenn es um die Frage geht, welche kulturellen Praktiken und Produktionen (vgl. Gaztambide 2017:28ff.) beziehungsweise welche musikalischen Praktiken und Produktionen mehr oder weniger Anerkennung und damit auch Realisierungschancen und Wirkung erfahren.