Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle von Bildung und Kunst
Einblicke in konzeptuelle Rahmungen, Methodik und Bildungsverständnis eines digitalen Lehr-Lernmaterials
Abstract
Der Beitrag widmet sich der Entwicklung, Konzeption und methodischen Fundierung des digitalen Lehr-Lernmaterials diskrit-kubi.net, das diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle von Bildung und Kunst fördert. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass kunstpädagogische Methoden und Inhalte historisch gewachsene Wertehierarchien reproduzieren, die auf kolonialen, patriarchalen und kapitalistischen Strukturen basieren. Plädiert wird für eine bewusste Reflexion dieser Strukturen durch die Vermittlung von „Critical Diversity Literacy“ (CDL), einem Konzept nach Melissa Steyn, das Lernende zur Analyse und Veränderung eigener Positionierungen und Machtverhältnisse befähigen soll.
Die Materialien greifen auf intersektionale Theorien, Kolonialitätskritik und Aktionsforschung zurück und verbinden theoretische Zugänge mit praktischen Beispielen. Drei zentrale Dimensionen – Kanon, Methoden und Strukturen – strukturieren den Aufbau der Website, deren Inhalte auf Selbstbildung, kollektives Lernen und kontinuierliche Reflexion abzielen. Die methodische Ausrichtung betont Vielstimmigkeit, Ambivalenztoleranz und die Verbindung von Theorie und Praxis. Dabei richtet sich das Angebot an Lernende mit akademischem Hintergrund und einem grundlegenden Problembewusstsein für Diskriminierung.
Mörsch versteht Bildung als offene, widersprüchliche Praxis, in der affektive Prozesse ebenso bedeutsam sind wie kognitive. Die Materialien sollen dazu anregen, hegemoniale Normen zu hinterfragen, diskriminierungskritische Haltungen zu entwickeln und Veränderungsarbeit in der eigenen Praxis zu leisten – nicht durch Rezepte, sondern durch prozesshafte, situierte Auseinandersetzung.
„Methoden an der Schnittstelle von Kunst und Bildung sind von historisch gewachsenen Wertehierarchien durchdrungen. Ein Beispiel ist die Abwertung bestimmter Verfahren als ‚Handarbeit‘, ‚Kopieren‘, ‚Kunsthandwerk‘ oder ‚Basteln‘ und ‚Kitsch‘ gegenüber dem vermeintlich ‚eigenen Ausdruck‘, der vermeintlich freien Kunst oder gegenüber Verfahren wie zum Beispiel dem akademischen Aktzeichnen. Ich schreibe ‚vermeintlich‘: Keine Hervorbringung, kein Ausdruck ist ganz und gar ‚eigen‘, denn es findet immer im Austausch, ein Aufbau auf Vorhandenem und ein Arbeiten unter Bedingungen statt. Was in einer bestimmten Zeit als ‚Kunst‘ gilt und was nicht, ist ein Aushandlungsprozess, an dem sogenannte Definitionsgemeinschaften von gesellschaftlich autorisierten Expert:innen, z.B. Kritiker:innen, Sammler:innen, Kurator:innen usw. beteiligt sind. In diesem Prozess sind intersektionale Machtverhältnisse am Werk, genauso wie er auch kontingent ist. Und Kunst wird immer angewandt – zum Beispiel als Objekt im Kunsthandel, um sich durch Kunstkenntnis sozial abzuheben, als repräsentative Ausstattung von Innen- und Außenräumen sowie Bauten, zur nationalen Repräsentation oder für Bildung und Aktivismus. Die genannten Wertehierarchien sind Konstruktionen, die im Zuge von Kolonialismus und Kapitalismus entstanden sind. Sie dien(t)en dazu, eine weiß, männlich und bürgerlich geprägte Kunst als allgemeingültig und als höchsten Wert zu behaupten. Bis heute wirken sie an der Schnittstelle von Kunst und Bildung; sie bestimmen, wer sich von den Künsten angesprochen fühlt und wer findet, nicht begabt zu sein oder kein Interesse zu haben. Es ist deswegen in einer diskriminierungskritischen Perspektive notwendig, als an der Schnittstelle von Kunst und Bildung Lehrende die eigenen Bewertungskriterien kritisch zu reflektieren: warum wird es von vielen Kunstpädagog:innen beispielsweise nicht als ‚eigener Ausdruck‘ gewertet, wenn Jugendliche Comics zeichnen, egal wie engagiert und intensiv sie es betreiben? Warum werden möglicherweise Bildwerke von Jugendlichen, die Anmutungen an den europäischen Expressionismus, Impressionismus oder andere Richtungen der Avantgarde der vorletzten Jahrhundertwende zulassen, dagegen als ausdrucksstark beurteilt?Eine Möglichkeit, die beschriebenen Wertehierarchien methodisch zu unterbrechen wäre, mit minorisierten Verfahren und Wissen zu arbeiten und dabei auch ihre Abwertungsgeschichte zu thematisieren. Dafür gibt es viele gegenwärtige und historische Anknüpfungspunkte aus Kunstproduktion und Bildungsarbeit. Ein Beispiel sind die queeren Aktzeichenkurse von Sabian Baumann, bei denen die gewohnte Situation mit Elementen aus Drag-Performances, mit Reflexionen über Verletzlichkeit und Körpernormen durchquert wird. Sie knüpfen an die Geschichte des akademischen Aktsaals als umkämpften Ort an: als Hauptargument für den Ausschluss von Frauen aus dem Kunststudium wurde im 18. und 19. Jahrhundert angeführt, dass ihre Anwesenheit beim Aktzeichnen unschicklich wäre. Ein weiteres Beispiel ist das »radical crafting«, bei dem textilkünstlerische und andere als Handarbeit oder Kunsthandwerk abgewertete Verfahren für künstlerisch-aktivistische Interventionen im öffentlichen Raum eingesetzt werden. Oder das Herstellen von sogenannten Zines, selbstgemachten und selbstvertriebenen Zeitschriften zu einem Thema. Beide Verfahren haben ebenfalls Wurzeln in historischen kollektiven Widerstandspraktiken.
Anregungen für die Recherche
- Reflektiert zunächst kritisch Eure eigenen methodischen Vorlieben an der Schnittstelle von Bildung und Kunst: Reproduzieren sich darin mitunter historisch gewachsene Wertehierarchien? Versucht dafür eine Aufmerksamkeit zu entwickeln.
- Plant ein Projekt, das bewusst abgewertete Verfahren, wie z.B. Kopieren, Auswendiglernen, Nachmachen, Abschreiben, Basteln, Handarbeiten einsetzt und deren subversives Potential auslotet. Recherchiert dabei auch Beispiele aus Kunst und Bildung, die das und fügt sie Eurem Pool hinzu.“ (diskrit-kubi.net o. D.)
Ich habe diesen Text mit einem Zitat aus den Bildungsmaterialien begonnen, die im März 2022 unter dem Titel „Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle von Bildung und Kunst“ unter diskrit-kubi.net von mir online herausgegeben worden sind. Damit folge ich zwei der tragenden Prinzipien dieser Materialien - Beispielhaftigkeit und Anschaulichkeit. Die konzeptuellen Rahmungen und methodischen Zugänge der Materialien möchte ich im hier vorliegenden Text erläutern. Zunächst aber werde ich als Teil meiner Selbstpositionierung (ebenfalls eines der Grundprinzipien) auf die Genese von diskrit-kubi.net eingehen. Meine Arbeit daran begann 2017, im Rahmen eines Senior Research Fellowships der Stiftung Mercator Deutschland, das mir eine neunmonatige Auszeit von meiner damaligen Tätigkeit an der Zürcher Hochschule der Künste als Leiterin des Institut Art Education, eines Forschungsinstituts für Praxen an der Schnittstelle von Bildung und Kunst, ermöglichte (Anm.: Die Formulierung ‚Schnittstelle Bildung/Kunst‘ benutze ich hier, genauso wie in den Bildungsmaterialien diskrit-kubi.net, als Schirmbegriff. Ich bezeichne damit alle Bereiche der Bildungsarbeit in, mit und durch die Künste: z.B. Kunst-, Musik- und Theaterunterricht in der Schule, kulturelle Bildung in- und außerhalb von Institutionen, Kunst im sozialen Kontext, künstlerische Ausbildung oder Vermittlungsarbeit in Kultureinrichtungen.). Ein Resultat dieser Auszeit war der Entschluss, die Zürcher Hochschule der Künste zu verlassen, weil diese in den Jahren zuvor in meinem Erleben einen inhaltlich reaktionären, marktorientierten und strukturell zentralistischen Backlash erlebt hatte, der meine Arbeit dort zunehmend schwierig machte. Oder, wie es im Jahr 2016 einer meiner damaligen Vorgesetzten mir gegenüber sinngemäß formulierte: ich hätte es geschafft, mit einigen Keywords – Gender, Queer, Postkolonial – das Institut erfolgreich am internationalen Hochschulmarkt zu platzieren. Das Problem dabei: Es seien nicht die Keywords der ZHdK. Ein weiteres und mit dieser Erfahrung verschränktes Resultat des Fellowships war der dringende Wunsch, nach dreizehn Jahren herrschaftskritisch perspektivierten Analysen und Praxisforschungsprojekten über das Darstellen von Erkenntnissen hinauszugehen und (noch stärker) in die Praxis hineinzuwirken – durch die didaktische Aufbereitung des gesammelten Wissens und damit einhergehend, durch die Sichtbarmachung der entstandenen Netzwerke. Das Ganze sollte in ein Curriculum münden, in Materialien für die diskriminierungskritische Aus- und Weiterbildung an der Schnittstelle von Bildung und Kunst. (Anm.: Ich selbst würde meine erste Veröffentlichung in der sich die Konzepte andeuten, die auch das hier vorgestellte Bildungsmaterial rahmen, auf 2005 datieren, im Jahr nach Antritt einer Juniorprofessur für materielle Kultur und ihre Didaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Mörsch 2005). Damals hatte ich das Glück, die Schwarze deutsche Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche für zwei Semester für die Zusammenarbeit gewinnen zu können – eine Zusammenarbeit, der ich wesentliche Impulse für mein Denken verdanke. Peggy Piesche hat auch diskrit-kubi.net in entscheidenden Momenten seiner Entstehung mit kritisch-freundlichen, immer produktiven Hinweisen begleitet, wofür ich ihr an dieser Stelle meinen Dank ausspreche.)
Leitkonzepte
Durch Forschungen zu sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen an Schweizer Kunsthochschulen in den Jahren 2012 bis 2016 (Art.School.Differences. o. D.) kam ich mit der Arbeit der weißen südafrikanischen Kommunikationswissenschaftlerin Melissa Steyn in Kontakt, die im internationalen wissenschaftlichen Beirat für diese Forschungen wirkte. Von ihr habe ich das leitende Konzept für die Bildungsmaterialien übernommen: Critical Diversity Literacy (CDL) (Steyn 2007; Anm.: Steyn bezieht sich dabei auf das Konzept „Racial Literacy“ (Twine 1999) der US-amerikanischen Soziologin und Dokumentarfilmerin France Winddance Twine, Angehörige der Creek (Muskogee) Nation of Oklahoma.), das ich mit ‚diskriminierungskritische Lesefähigkeit‘ übersetze. Melissa Steyn beschrieb mir gegenüber CDL einmal als ‚scharf geschliffene Linse für eine Brille, mit der die Welt gelesen wird‘; als ‚Set von Praktiken‘; als ‚Lesepraxis‘ und als ‚Befähigung‘ (Gespräch mit Melissa Steyn am 25.5. 2017). ‚Literacy‘, Lesefähigkeit, trägt die Idee der Alphabetisierung in sich – das, worum es bei der Ausbildung einer diskriminierungskritischen Perspektive meines Erachtens zunächst gehen muss, weil es sich um minorisiertes Wissen handelt, das im Rahmen der Allgemeinbildung selten vermittelt wird. Mit der vorangestellten Bezeichnung ‚Critical‘ vollzieht Steyn zudem die kritische Re-aneignung von ‚Diversity‘ und ‚Literacy‘. ‚Diversität‘ wird – zum Beispiel im Rahmen von Personalentwicklung – vor allem als Bereicherung gepriesen. Die grundsätzlichen Veränderungen, die mit ihr einhergehen, die aus den Herrschaftsverhältnissen, in denen diese Veränderungen stattfinden, resultierenden Verunsicherungen und Konflikte werden dabei kaum berücksichtigt. Stattdessen greift, wie unter anderem Sara Ahmed (2012) in einer empirischen Studie zeigt, eine umso gewaltvollere Logik - wir ändern nichts, sondern werden ein bisschen bunter -, welche von Diskriminierung Betroffene stärkeren Belastungen aussetzt (Ahmed 2012). Genauso wenig wird dabei in den Blick genommen, wer von nicht vorhandener Diversität profitiert und dass es um Umverteilung von Macht und Ressourcen, das heißt um Verzicht, Verlernen und Verluste geht, wenn sie stattfindet. So heißt es in auf diskrit-kubi.net: „Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Konzept der Diskriminierungskritik und Konzepten wie Diversität, Vielfalt, Inklusion, Integration ist: Die Lesebrille richtet sich weniger auf die jeweils fehlenden ‚Be_Anderten‘, als vielmehr auf die jeweils eigene Verortung (eines Individuums, eines Teams, einer Einrichtung) im sozialen Raum und auf deren jeweilige Machteffekte sowie auf die daraus resultierenden strukturellen Diskriminierungen. Zur Veranschaulichung: Statt zu fragen „wir brauchen Vielfalt, wo kriegen wir bloß die Anderen her? Aber bitte ohne etwas abgeben oder verändern zu müssen!“ fragt eine diskriminierungskritische Perspektive: „Was muss sich an unseren eigenen Strukturen, Inhalten, Verhaltens- und Sprechweisen, an der Verteilung unserer Ressourcen ändern, damit Menschen aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen hier gerne und gut tätig sein können?“ (diskrit-kubi.net o. D.a: o.S.)
Dem Konzept der Diskriminierungskritik unterliegt ein Werkzeug zur Analyse sozialer Ungleichheit, das als ‚Intersektionalität‘ bezeichnet wird. Dessen Ursprünge liegen im Schwarzen Feminismus (Gunda Werner Institut 2019). „Das Konzept hebt hervor, dass soziale Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, Rassifizierung, soziale Klasse und Be_hinderung selten eindimensional auftreten, sondern sich überkreuzen und wechselseitig aufeinander aufbauen. Das Konzept der Intersektionalität fokussiert auf diese Interdependenzen, d.h. die gegenseitigen Abhängigkeiten oder Wechselwirkungen. Da sie auf unterschiedlichen Konstitutionsmechanismen beruhen, können diese Ungleichheitskategorien weder isoliert betrachtet noch einfach kumuliert werden. Vielmehr ist eine Analyse ihrer Gleichzeitigkeiten, Verbindungen und Widersprüche notwendig. ‚Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ (intersections) müssen also analysiert werden, um additive Perspektiven zu überwinden und den Fokus auf das Zusammenwirken sozialer Ungleichheiten zu legen. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um eine kritische Betrachtung der Wirkungsweise historischer Macht- und Herrschaftsmechanismen, die es ermöglicht, zu untersuchen, wie dominante und unterdrückte Positionierungen in komplexer Verwobenheit funktionieren und subjektive Erfahrungen strukturieren“ (Mörsch 2019: 591f.).
Für die Frage nach der historischen Entstehung der Kategorien sozialer Ungleichheit, mit denen sowohl Critical Diversity Literacy als auch Intersektionalität operieren, und damit für die Konzeption der Bildungsmaterialien fundierend war für mich zudem eine aus Abya Yala kommende Theoriebildung: Die Kritik der Kolonialität. Das analytische Konzept der Kolonialität wurde von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano Obregón im Jahr 1992 veröffentlicht (Quijano 1992, dt. 2016; Anm.: Quijano war Mitglied des Denkkollektivs „modernidad/colonialidad“ das im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aktiv war. Es handelte sich um ein transdisziplinäres und generationenübergreifendes Netzwerk von Intellektuellen aus Abya Yala, die mit der Kolonialitätskritik gemeinsam eine dekoloniale analytische Perspektive erarbeitet haben, welche inzwischen international stark rezipiert wird. Zu den Teilnehmern gehörten neben Aníbal Quijano auch die Soziolog:innen Edgardo Lander, Ramón Grosfoguel und Agustín Lao-Montes, die Semiolog:innen Walter Mignolo und Zulma Palermo, die Pädagogin Catherine Walsh, die Anthropologen Arturo Escobar und Fernando Coronil, der Literaturkritiker Javier Sanjinés und die Philosoph:innen Enrique Dussel, Santiago Castro-Gómez, María Lugones und Nelson Maldonado-Torres.)
Pablo Quintero und Sebastian Garbe, welche zu den Autor:innen gehören, die dieses Konzept für deutschsprachige Leser:innen erschlossen haben, beschreiben es als eine epistemologische Intervention, die folgende Herausforderungen aufeinander bezieht:
“1) (Den) Versuch, die Ursprünge der Moderne in der Eroberung Amerikas und in der europäischen Hegemonie über den Atlantik ab Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts zu verorten. Dies im Gegensatz zur herkömmlichen Perspektive über die Moderne als Phänomen der Aufklärung, industriellen Revolution oder Reformation.
2) Ausgehend davon werden die durch den Kolonialismus entstehende Machtstruktur und die Gründungsdynamiken des modernen/kapitalistischen Weltsystems mit seinen spezifischen Akkumulations- und Ausbeutungsregimes auf globaler Ebene betont.
3) Dadurch wird die Moderne als ein weltweites Phänomen betrachtet, das durch asymmetrische Machtverhältnisse begründet wurde statt durch symmetrische Phänomene innerhalb Europas, die später auf den Rest der Welt übertragen wurden.
4) Diese asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Europa und den anderen Weltregionen und -bevölkerungen stellen eine konstitutive Dimension der Moderne dar und implizieren notwendigerweise die Subalternisierung der Wissens- und Seinsformen der kolonisierten Bevölkerungen.
5) Die Subalternisierung des Großteils der Weltbevölkerung geschah durch eine spezielle und bisher nicht bekannte Form von sozialer Klassifikation (…) anhand von, (…) phänotypischen Unterschieden zwischen Menschen sowie von Geschlechts- und Sexualitätskonstruktionen.
6) Schließlich wird der Eurozentrismus als eine spezifische Wissensform und Produktionsweise von Subjektivitäten innerhalb dieses globalen Machtmusters identifiziert, auf den notwendigerweise und auf unterschiedliche Art alle institutionalisierten Wissensformen reagieren müssen (…).“ (Quintero/Garbe 2013, 9f.)
Die allgegenwärtigen globalen Effekte von Kolonialität bezeichnet der puertoricanische Soziologe Ramón Grosfoguel als "koloniale Matrix der Macht". Er beschreibt diese Matrix als Verschränkung von Hierarchieverhältnissen: der globalen Klassenbildung mit einer Verortung des Industrieproletariats im Süden; der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie; einem vom Westen kontrollierten politisch-militärischem System; einer rassifizierten Taxonomie, die weiße Europäer:innen privilegiert; einer Geschlechterhierarchie, die das europäische Patriarchat privilegiert; einer sexuellen Hierarchie mit der Privilegierung von Heterosexuellen; einer spirituellen Hierarchie, die das Christentum bevorzugt; einer epistemischen Hierarchie, die westliches Wissen und westliche Weltanschauung privilegiert; und einer sprachlichen Hierarchie, die europäische Sprachen, insbesondere Englisch, in der Kommunikation und in der Wissens- und Theorieproduktion bevorzugt (Grosfoguel 2008, 5f.). Spätestens an dieser Ausbuchstabierung wird deutlich, dass es für die Wirksamkeit der kolonialen Matrix keine nationale Kolonialgeschichte braucht. Kolonialität durchdringt vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse so gut wie überall auf der Welt. So durchdringt sie auch die europäische Ästhetik und die mit ihr verbundenen Bildungsbestrebungen (Mörsch 2019). Unter anderem Ruth Sonderegger (2018) hat dies für die Ästhetik der deutschen Aufklärung herausgearbeitet. Kolonialitätskritik stiftet demzufolge eine schlüssige Verbindung zwischen den in Südafrika und US-Amerika entwickelten analytischen Zugängen und dem europäischen, respektive dem deutschsprachigen Raum (Auma und Mörsch, im Erscheinen).
Melissa Steyn und ihr Team definieren Indikatoren, an denen eine Lesefähigkeit in Hinblick auf Diskriminierungskritik festgemacht werden kann. Die im Text von Steyn (2007) aufgeführten Indikatoren wurden von mir gekürzt und in der Reihenfolge angepasst:
- Verstehen, dass Differenzkategorien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Be_Hinderung, Klasse und Rassifizierung gelernt und sozial hergestellt sind
- Verstehen, was Intersektionalität ist, also das Zusammenwirken dieser Kategorien bei der Herstellung von Ungleichheit erkennen können
- Verstehen, was vor diesem Hintergrund Privilegiertheit ist.
- Auf dieser Grundlage eine kritische Selbstverortung vornehmen können
- Den Willen zur Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit entwickeln
- Über eine Sprache verfügen, Begriffe kennen, um Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse benennen zu können.
- Hegemoniale Adressierungen erkennen und entschlüsseln können.
- Verstehen, was die Kontinuitäten von historisch gewachsenen Herrschaftsverhältnissen in der Gegenwart sind.
Insbesondere vor dem Hintergrund der Kolonialitätskritik erschien es mir für die Bildungsmaterialien kohärent, diese Indikatoren inhaltlich auf den deutschsprachigen Kontext zu übertragen.
Aufbau
Die Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit nach Steyn bilden ein wesentliches strukturierendes Element der beiden zentralen Bereiche von diskrit-kubi.net, Lesen lernen und Üben. Der Bereich Lesen Lernen führt mit kurzen Erklärungen und daran angeknüpften, offenen Arbeitsaufträgen in die acht Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit ein. Der Name des Bereichs verweist auf die Notwendigkeit der Alphabetisierung.
Die Strukturierung der Website legt es nahe, aus dem Bereich Lesen Lernen in den Bereich Üben hinüberzuschweifen. Er besteht aus drei ineinander wirkenden Dimensionen, die das Arbeits- und Lernfeld an der Schnittstelle von Bildung und Kunst bestimmen:
- Kanon: Welche Konsequenzen hat eine diskriminierungskritische Perspektive auf die Inhalte unserer Arbeit?
- Methoden: Welche Konsequenzen hat eine diskriminierungskritische Perspektive für unsere Methoden?
- Strukturen: Welche Arbeits- und Lehr-Lernverhältnisse brauchen wir dafür?
Diese drei Dimensionen werden im Bereich Üben für die acht Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit ausbuchstabiert. So sind 27 Texte (pro Dimension ein Introtext und ein Text pro Indikator) mit Veranschaulichungsbeispielen aus der Praxis, sowie mit Anregungen für Recherchen, Aktivitäten und Diskussionen entstanden. Die Auseinandersetzung mit ihnen soll dazu dienen, die Entwicklung eines diskriminierungskritischen Vokabulars sowie eine entsprechende Reflexions- und Handlungsfähigkeit zu trainieren.
Weitere Beispiele zur Diskussion, Inspiration, Veranschaulichung und zum Entwerfen von Problemlösungen finden sich im Bereich Proben und Vignetten. Proben dokumentieren bereits bestehende Versuche diskriminierungskritischer Arbeit an der Schnittstelle Bildung/Kunst; Vignetten wiederum beschreiben häufig auftauchende Problemszenarien, anhand derer eigene Perspektiven und mögliche Umgangsweisen und Lösungswege diskutiert werden können. Die Innehaltenkarten und die Einwändekarten dienen der Reflexion von Aspekten, die bei der diskriminierungskritischen Arbeit an der Schnittstelle Bildung und Kunst immer wieder Probleme bereiten. Die Bewegungskarten dienen dazu, die Körper in einen Bildungsprozess hineinzuholen, der durch den starken Fokus auf Lesen, Diskutieren und Reflektieren ein mehrheitlich kognitiv-analytisch angelegter ist. Dies nicht nur, weil es auch körperbasierte Weisen der Reflexion gibt, die für eine diskriminierungskritische Wissensproduktion produktiv gemacht werden können, sondern nicht zuletzt auch, weil die Körper aller Beteiligten aufgrund ihrer sichtbar und unsichtbar unterschiedlichen intersektionalen Positionierungen und den damit verbundenen Ungleichheitseffekten unmittelbar im Bildungsgeschehen impliziert sind. Die Zitatkarten wiederum verknüpfen die Bildungsmaterialien mit Autor:innen, die bei der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit Kraft geben und Vorbild sein können.
Im Bereich geteiltes Wissen finden sich Beiträge, in denen diskriminierungskritisches Erfahrungswissen aus der Arbeit an der Schnittstelle Bildung/Kunst weitergegeben wird. Sie stammen von Autor:innen, die in den vergangenen Jahren mit mir gemeinsam in Bildungsangeboten und Reflexionswerkstätten gearbeitet haben und/oder mich in meiner eigenen, immerwährenden Suche beraten und unterstützt haben. Sie stammen darüber hinaus von weiteren eingeladenen Autor:innen, die im deutschsprachigen Raum gegenwärtig unverzichtbare Beiträge zu diskriminierungskritischen Perspektiven an der Schnittstelle Kunst/Bildung leisten.
Eine Materialdatenbank mit einer rezensierten und verschlagworteten Sammlung von bestehenden Angeboten, Handreichungen und Materialien zur diskriminierungskritischen Bildungsarbeit ist ein weiterer Bestandteil der Website; ebenso wie ein Glossar, das Fachbegriffe und Konzepte, die in den Bildungsmaterialien verwendet werden, erklärt. (Anm.: Die Datenbank und das Glossar wurden von Christiane Jaspers, Như Ý/Linda Nguyễn und Stefan Bast erarbeitet, den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, die an diesen Bildungsmaterialien mitgewirkt haben.)
Schließlich findet sich unter dem Titel Übersetzen eine schrittweise Anleitung, welche die Lernenden dazu einlädt, die in der Auseinandersetzung mit den Bildungsmaterialien entstandene und geschärfte diskriminierungskritische Lesefähigkeit in die eigene Praxis zu übersetzen und dabei in eine Schlaufenbewegung von Aktion und Reflexion, wie sie aus der Aktionsforschung bekannt ist, einzutreten.
Methodik der Materialentwicklung
Der Bereich Übersetzen schlägt den Bogen zurück zur Methodik der Entwicklung von diskrit-kubi.net, denn wie die meisten der bislang von mir initiierten, geleiteten und/oder begleiteten Projekte, beinhaltete auch dieses eine Aktionsforschung. 2019 und 2020 nahmen zwei Gruppen von Akteur:innen aus Kultureinrichtungen aus Leipzig und NRW, welche an diskriminierungskritischen Perspektiven interessiert waren, an Reflexionswerkstätten teil, bekamen eine Einführung in die Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit und unternahmen anschließend den Versuch, einen bestimmten Aspekt ihrer Praxis diskriminierungskritisch zu analysieren und eine Veränderung zu versuchen. Einige dieser Aktionsforschungen sind im Bereich Geteiltes Wissen auf diskrit-kubi.net dokumentiert (diskrit-kubi.net o. D.b). Daneben waren die Reflexionswerkstätten auch Erprobungs- und Resonanzräume für die Entwicklung der Materialien - zum Beispiel wenn mitunter deutlich wurde, wo affektive und kognitive Widerstände in der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit existieren können; wie eng verwoben Gefühle von Ermächtigung und Krisenhaftigkeit mit den jeweiligen intersektionalen Subjektpositionen der am Bildungsprozess beteiligten Lehrenden und Lernenden sind. Auch ließ sich in diesem Rahmen die Kategorisierung der Arbeit an der Schnittstelle von Bildung und Kunst in die drei Dimensionen ‚Kanon‘, ‚Methoden‘ und ‚Strukturen‘, die ich 2017/2018 im Zuge von Relektüren vergangener Projekte heuristisch vorgenommen hatte, validieren.
Ein damit korrespondierender Aspekt der Methodik ist Vielstimmigkeit und damit einhergehend Kollektivität: Niemand kann alleine diskriminierungskritische Bildungsprozesse gestalten. Auch wenn ich die Herausgeberin der Materialien bin und diese somit verantworte, so ist diskrit-kubi.net dennoch eine kollektive Anstrengung (Anm.: Davon zeugt auch die 6350 Zeichen umfassende Danksagung (diskrit-kubi.net o. D.c) und die lange Liste der Beteiligten (diskrit-kubi.net o. D.f). Dank der finanziellen Förderung der Mercator Stiftung Deutschland war es möglich, die an der Produktion beteiligten Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen für ihre Beiträge zu bezahlen.) und mit dem Wissen und den Bemühungen von Kolleg:innen überall auf der Welt, die sich in der Bildungsarbeit für gerechtere Verhältnisse einsetzen und hegemoniekritisch Widerstand leisten, verwoben. (Anm: Ein internationales Kollektiv, dem ich wesentliche inhaltliche und methodische Einsichten verdanke, ist Another Roadmap for Arts Education; vgl. Another Roadmap School o. D.) Deswegen liefen alle von mir verfassten Texte – Einführung, Bereich Lesen Lernen, Bereich Üben, Innehaltenkarten, Einwändekarten, Bewegungskarten – durch ein vierfaches Lektorat, das von Kolleg:innen mit unterschiedlicher intersektionaler Verortung vorgenommen wurde. Deswegen habe ich seit der Konzeptionsphase in intensiven Gesprächen mit Expert:innen diskriminierungskritischer Veränderungsarbeit gestanden und in pädagogischen Settings Rückmeldungen zu Texten und Übungen eingeholt; deswegen gibt es den Bereich Geteiltes Wissen und die Zitatkarten; deswegen verweist eine Datenbank mit hunderten von Einträgen auf die Aktivitäten von anderen in diskriminierungskritische Bildungsarbeit Involvierten; deswegen sind die Glossartexte zum großen Teil bereits bestehenden Glossaren entnommen. Deswegen gibt es zu den Indikatoren aus dem Bereich Lesen Lernen jeweils Kommentare von meiner Kollegin Danja Erni, bis 2022 Leiterin des Projekts Kontextschule an der UdK Berlin (Kontextschule o. D.), in denen sie weiterführende Perspektiven eröffnet und ihr großes Netz an Referenzen und Akteur:innen zugänglich macht. Zusammengefasst lässt sich sagen: diskrit-kubi.net entwickelte sich weniger aus einer Autor:innenschaft heraus, sondern aus einer Bewegung, in die sich die Bildungsmaterialien einschreiben und von denen sie gleichzeitig Teile sichtbar machen.
Auch die Gestaltung, entwickelt von der Grafikdesignerin Camilla Ridha, stellt einen methodischen Aspekt der Entwicklung von diskrit-kubi.net dar. Sie würdigt die emotionale und intellektuelle Arbeit, die mit der Entwicklung von diskriminierungskritischen Perspektiven verbunden ist. Farbschema und Figuren fügen den Materialien etwas Spielerisches und Leichtes hinzu und laden so dazu ein, mit ihnen zu arbeiten. Das Farbkonzept des Leitsystems für die Bereiche Lesen Lernen und Üben folgt der Progress Flag, welche die regenbogenfarbene Pride-Fahne um die Repräsentation von queeren BIPoC und trans* Menschen intersektional erweitert. (Anm: „Die Progress Flag wurde 2018 von dem:r nichtbinären Grafikdesigner:in Daniel Quasar entworfen. Die klassische Regenbogenflagge wurde dabei auf der linken Seite durch einen Keil mit Streifen in hellblau, rosa und weiß für die Trans* Community, sowie Streifen in braun und schwarz für die Black, Indigenous and People of Color Community ergänzt. Dieser Keil soll symbolisieren, dass noch einiges an Fortschritt vor uns liegt und soll ein besonderes Augenmerk auf trans* Menschen, Schwarze und andere Personen of Color legen“ (beeproud.de 2022).) Die figurativen Darstellungen in den anderen Bereichen feiern Kollektivität und das Recht auf Opazität (Glissant 2009), indem sie eindeutige identitäre Zuordnungen verweigern und dabei doch zugewandt sind. Die klare Struktur der Website wiederum will mit der Option, sich alle Materialien als Druckvorlagen im PDF-Format herunterzuladen, zur Nutzung in den eigenen Bildungs- und Arbeitskontexten einladen.
Methodik und Bildungsverständnis der Materialien
diskrit-kubi.net ist für Reflexionen und Entwicklungsprozesse in Teams und selbstorganisierten Gruppen, im Studium, in der Aus- und Weiterbildung sowie für die individuelle Selbstbildung gedacht. Sie können sowohl von Lernenden ohne Begleitung als auch von Lehrenden verwendet werden. Sie wurden für Personen formuliert, die deutsch lesen und sprechen, eine akademische Ausbildung haben oder gerade studieren und an der Schnittstelle von Bildung und Kunst arbeiten oder zukünftig arbeiten möchten. Eine gute Voraussetzung für die Arbeit ist ein vorab bereits existierendes, zumindest vages Problembewusstsein für Diskriminierung in der Arbeit an der Schnittstelle Kunst/Bildung und der Wunsch, etwas an den bestehenden Verhältnissen und der eigenen Praxis zu verändern. Oder aber, wenn eine:r beruflich ganz am Anfang steht, ein grundsätzliches Interesse an einer diskriminierungskritisch perspektivierten Ausbildung.
Den Materialien liegt ein Bildungsverständnis zu Grunde, das davon ausgeht, dass sich das, was gelernt wird, nicht durch die Lehrenden kontrollieren lässt – es erachtet diese Kontrolle auch nicht als erstrebenswert. Das wichtigste Leitmotiv ist dabei das Arbeiten in Widersprüchen und der Umgang mit Ambivalenzen. Ambivalenz bezieht sich dabei auch auf die gerade eben benannte Ergebnisoffenheit, denn tatsächlich gibt es bei diskrit-kubi.net ja eine klare curriculare Absicht: ‚Lesen Lernen‘ ist der Bereich, der von Anfang bis Ende durchgearbeitet werden soll, um im Sinne einer Alphabetisierung Grundlagenkenntnisse entlang der acht Indikatoren diskriminierungskritischer Lesefähigkeit zu erlangen. Danach jedoch liegt es an den Lernenden, sich die Konzepte ihren eigenen Interesse folgend anzueignen, eigene rote Fäden als Spur durch diskrit-kubi.net zu spinnen – respektive, aus den umfangreichen und vielgestaltigen Angebotsfäden ein eigenes Gewebe herzustellen.
Sowohl mit der Fokussierung auf akademisch gebildete Lernende, vor allem aber auch mit der vielgestaltigen und komplexen Anlage, die zuallererst einmal deutlich macht, dass diskriminierungskritische Bildung nicht in Form von Rezepten zu haben ist, sondern eine intensive Auseinandersetzung erfordert, die zeitaufwändig ist, ‚riskieren die Materialien, selbst soziale Ausschlüsse zu produzieren‘. (Anm.: Während dieser Text entsteht, laufen die Vorbereitungen zu einem von der Bundeszentrale für Politische Bildung geförderten Fachgespräch, das am 16. und 17.Juni 2023 im Schauspiel Dortmund stattfindet und das unter anderem die Reflexion der Ausschlusseffekte von diskrit-kubi.net zum Inhalt haben wird.) Dies wird zwar an einigen Stellen in den Texten zum Thema gemacht, kann jedoch durch die Thematisierung allein nicht aufgehoben werden. Besonders die Ambivalenz von der Zeit als Luxus und gleichzeitiger Notwendigkeit im diskriminierungskritischen Bildungsprozess bereitet mir weiterhin Kopfzerbrechen. In einer dem Problem gewidmeten Innehaltenkarte heißt es entsprechend:
„Die diskriminierungskritische Perspektive, wird sie ernstgenommen, verlangsamt (…) alle Dimensionen der Arbeit an der Schnittstelle von Bildung und Kunst: die Planung und Recherche, die Produktion, die Dokumentation. Insofern lässt sie sich sehr gut mit aktuellen Konzepten von degrowth und Nachhaltigkeit verbinden: einer intersektional-machtkritisch perspektivierten Veränderung in Richtung einer Wirtschaftsweise, die Lebensgrundlagen erhält. Doch wie kann in den Künsten und der Kulturpolitik, mit weiß, bürgerlich und patriarchal perspektivierten und daher mit auf Überproduktion und Selbstausbeutung beruhenden Qualitätsvorstellungen dieses Umdenken stattfinden? Diskriminierungskritik wie Nachhaltigkeit finden sich gegenwärtig oft als künstlerischer Inhalt im Kulturprogramm, meist ohne Auswirkungen auf die institutionelle Praxis. Der Vorschlag dieses Bildungsmaterials an Kultureinrichtungen wäre: macht nur noch die Hälfte der Produktionen, aber handelt dabei konsequent diskriminierungskritisch und ökologisch. Tut Euch zusammen und überzeugt Eure Fördergeber:innen davon, dass dies die einzige Möglichkeit ist, strukturelle Veränderungen zu bewirken. Aufgrund von Diskriminierung ausgeschlossene Menschen haben keine Zeit länger darauf zu warten, dass Ihr Euch dafür endlich die Zeit nehmt.“ (diskrit-kubi.net o. D.d)
Wie es schon ihre Entwicklung war, so sind auch die Bildungsmaterialien selbst als Verknüpfung von Schulung und Aktionsforschung angelegt – auch dies eine zeitaufwändige Angelegenheit. Mir ist diese Verknüpfung wichtig, denn die Tatsache, dass die Arbeitsfelder an der Schnittstelle von Bildung und Kunst Kolonialität auf vielfältige Weise reproduzieren und in der Konsequenz auch in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts weiterhin zum größeren Teil mit weißen, aus der bürgerlichen Mittelschicht stammenden, als gesund gelesenen und cis-weiblich sowie heterosexuell identifizierten Akteur:innen besetzt sind, ist nicht in einem Mangel an Informationen begründet. Erklärungsangebote zu den intersektionalen Achsen sozialer Ungleichheit und zu den mit ihnen verbundenen strukturellen Ausschlüssen existieren, sind leicht zu finden und zumeist kostenfrei zugänglich. Es geht bei diskriminierungskritischer Bildungsarbeit nicht – oder zumindest nicht alleine – um das Beseitigen von Wissenslücken. Sondern es geht um die aktive Veränderungsarbeit an Haltungen und Handlungen in der eigenen Praxis, im Sinne einer Bildung des Willens zur Veränderung. Ich teile die Überzeugung der (zu Beginn des 20. Jahrhunderts marxistischen, anti-kolonialen und feministischen, später zusätzlich post- und dekolonialen) Proponent:innen der Aktionsforschung, dass die kontinuierliche wechselseitige Befragung theoretischer Konzepte durch die Praxis und der Praxis durch die Konzepte die Veränderung von beiden in Richtung mehr sozialer Gerechtigkeit unterstützen kann (Mörsch 2016). Eine der Zitatkarten trägt ein Zitat aus einem Text der Schwarzen US-amerikanischen Pädagogin und Theoretikerin bell hooks:
“I came to theory because I was hurting – the pain within me was so intense that I could not go on living. I came to theory desperate, wanting to comprehend – to grasp what was happening around me. Most importantly, I wanted to the hurt go away.” (hooks 2021)
Die Texte des Bereichs Üben fußen wesentlich auf Fallvignetten – anonymisierte, fiktionalisierte Szenarien, welche die Komplexität diskriminierungskritischer Leseweisen an der Schnittstelle von Bildung und Kunst ebenso wie widerständige Handlungsmöglichkeiten veranschaulichen. (Anm.:Den Vignetten liegen jeweils mehrfach von mir beobachtete und mir berichtete Szenen aus dem Arbeitsalltag an der Schnittstelle von Bildung und Kunst zugrunde, die für die Textfassungen so verändert wurden, dass der Sinn zwar erhalten bleibt aber das Beschriebene auf keine konkrete, einzelne Szene aus der Wirklichkeit zurückzuführen ist. Einzige Ausnahme sind Szenen, die aus meiner biografischen Erfahrung stammen und in denen alleine ich selbst in meinem Diskriminierungshandeln und meiner Ignoranz exponiert werde.)
Durch die Beschäftigung mit ihnen soll nicht zuletzt der Mut zu einer ermächtigenden Arbeit mit analytischen Konzepten gefördert werden – durch die Erfahrung, dass Theorie gerade für minorisierte Positionen nichts der Wirklichkeit Entrücktes ist, sondern dass sie, wie es hooks in dem Zitat schildert, rettend und heilend sein kann. Durch die Arbeit mit Theorie kann erkennbar und benennbar werden, dass es sich bei Diskriminierung nicht um persönliche Probleme und Schwächen handelt, sondern um potentiell veränderbare soziale Herstellungsprozesse, die sich in dominanzgesellschaftlichen Strukturen ereignen. Die Materialentwicklung war von dem Wunsch und dem Anspruch getragen, unter anderem für Lernende und Lehrende, die klassistische Ausschlüsse im akademischen Feld erleben, Räume im Sinne „sorgender Theoriearbeit“ (Niggemann 2020) zu eröffnen – Räume, in denen das Arbeiten mit analytischen Konzepten zugänglicher und ihre Sinnhaftigkeit erfahren wird. (Anm.: Ich danke Claudia Hummel für den Hinweis auf das Konzept der sorgenden Theoriearbeit von Jan Niggemann.) In diesem Anspruch begründet sich auch das umfangreiche Glossar, dessen Begriffe in den Fließtexten unterpunktet sind und die direkt beim Lesen aufgerufen werden können.
Schließlich ist auch die Entscheidung, die textuelle Ansprache in der Ich-Form zu gestalten zu einem Teil dem Wunsch nach Zugänglichkeit geschuldet – die Hoffnung ist, dass dieses Register das Anknüpfen an eigene Erfahrungen leichter möglich macht. Darüber hinaus ist es ein Grundprinzip der Materialien, die eigene intersektionale Positioniertheit und die komplexen und widersprüchlichen Verstrickungen die daraus für die Arbeit an der Schnittstelle von Bildung und Kunst jeweils resultieren, zum Ausgangspunkt jeder Reflexion zu machen. Insofern ist das Schreiben in der ersten Person hier auch Programm im Sinne einer feministischen Wissenschaftskritik, die jede Wissensproduktion als situiert und interessengebunden begreift und Objektivität und Neutralität als eurozentrische und patriarchale Mythen von Wissenschaftlichkeit entlarvt. Daher liegt meine eigene Situiertheit – unter anderem als Bildungsaufsteigerin sowie als queere, fette und partiell be_hinderte Person, die nicht zuletzt durch ihr weißSein Privilegien genießt, welche trotz Hindernissen eine akademische Karriere ermöglichen halfen – meinem Schreiben auf diskrit-kubi.net zugrunde.
Möglicherweise hat die Lektüre des vorhergegangenen Abschnitts wegen der expliziten Nennung von Kategorien sozialer Ungleichheit in der Beschreibung meiner intersektionalen Subjektposition bei manchen Leser:innen Abwehr angesichts der damit einhergehenden diskursiven Festschreibung eingestellt – andere haben vielleicht eine Nähe gespürt, die etwas mit Identifikation zu tun hat, oder eine Erleichterung des eigenen betroffenen Selbst, angesichts der kämpferisch-offenen Benennung von „fett“. Wieder andere haben vielleicht innerlich die Augen verdreht, angesichts der als leeres Ritual empfundenen Erwähnung meines weißSeins. Affekte, im Sinne von unwillkürlichen, körperlich spürbaren Gefühlsreaktionen sind beständige Begleiter:innen von diskriminierungskritischen Bildungsprozessen. Von Diskriminierung betroffene Lernende und Lehrende laufen Gefahr, während der Lektüre und bei manchen der vorgeschlagenen Übungen negative Erfahrungen zu erinnern und schlechte Gefühle erneut zu durchleben. (Anm.: Die entsprechenden Fragen und Übungen sind im Material unter der Überschrift Beachte mit einem entsprechenden Hinweis versehen.) Der diskriminierungskritische Bildungsprozess bietet das Potential, diese über die oben erwähnte konzeptuell-analytische Arbeit neu zu benennen, und vor allem in kollektiv gestalteten Prozessen zu ihrer Bewältigung beizutragen – aber das ist eine fragile Angelegenheit, die ein vergleichsweise hohes Maß an Informiertheit und an Mut von allen Beteiligten voraussetzt (Anm.: Die Konflikthaftigkeit von diskriminierungskritischen Bildungsprozessen in heterogen zusammengesetzten Gruppen und mögliche Umgangsweisen damit werden in diskrit-kubi.net an vielen Stellen adressiert – zunächst in der Einleitung unter der Überschrift „Was, wenn es knallt?“; vgl. diskrit-kubi.net o. D.g).
Stärker der dominanten Mehrheit Angehörige wiederum treten in den emotional aufwändigen Prozess des Verlernens ein. Wie unter anderem Jule Bönkost für die Hochschullehre herausarbeitet hat (Bönkost 2023), ist zum Beispiel das Gewahrwerden des eigenen weißSeins mit einem Schock und mit Gefühlen von Abwehr, Wut und Ohnmacht verbunden. Die mit dem Durcharbeiten der erwähnten Fallvignetten verbundenen Wiedererkennungseffekte - „das könnte ja ich sein“ – sind dazu geeignet, solche Reaktionen hervorzurufen. (Anm.: Eine Illustration hiervon liefert folgende Anekdote: Drei Monate nach der Veröffentlichung von diskrit-kubi.net erhielt ich einen Anruf von einem:r Mitarbeiter:in eines deutschen Bildungsministeriums. Die Person versuchte eine Stunde lang mich davon zu überzeugen, nachträglich eine bestimmte Passage in der Publikation umzuschreiben. Der Anlass: Ein:e Fachleiter:in (Lehrperson, welche angehende Lehrer:innen in den Unterrichtsfächern im Rahmen des Referendariats ausbildet) meinte, sich in einer der Vignetten aus dem Bereich Üben wiederzuerkennen und fühlte sich persönlich so angegriffen, dass eine Beschwerde direkt beim Ministerium die angemessene Reaktion erschien.)
Der diskriminierungskritische Bildungsprozess beginnt dort, wo die negativen Gefühle zu einem Innehalten führen, in dem eine reflexive Distanz zu ihnen eingenommen werden kann. Anstatt zu versuchen, sie durch Abwehr oder schnellstmögliches, vermeintlich richtiges Handeln zu überschreiben, geht es zunächst darum, wie es Katja Kinder und Peggy Piesche bezeichnen, „in der Verstörung zu bleiben“ (Kinder/Piesche 2020). Denn der Verstörung liegt ein bereits vorhandenes Wissen über Diskriminierungsstrukturen zugrunde, das es wahrzunehmen und anzuerkennen gilt. Aus dieser Wahrnehmung heraus entwickelt sich – wenn diskriminierungskritische Bildung stattfindet – mit der Zeit eine Haltung, die mit dem Konzept des Verlernens als „nicht erzwungene Neuordnung des Begehrens“ umrissen werden kann (Castro Varela 2007). Erst diese Haltung stellt die Basis dar, um in ein diskriminierungskritisch informiertes Handeln zu kommen. Die Trias aus Wahrnehmung – Haltung – Handlung lässt sich jedoch nicht als evolutionäres Bildungsgeschehen im Sinne eines eleganten Treppenaufstiegs mit stufenweise beschreibbarem Fortschritt, sondern mehr als ein sich immer wieder verhedderndes Entlangstolpern entwerfen. Angesichts von über hunderte von Jahren entstandenen Gewaltverhältnissen, für die der Fortschrittsgedanke der Aufklärung selbst konstitutiv ist, sehe ich ein Paradox diskriminierungskritischer Bildungs- und Veränderungsarbeit in der ihr innewohnenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Für mich stellt es einen unverzichtbaren Teil des diskriminierungskritisch informierten Bildungsverständnisses dar, die Aufgabe als potentiell unabschließbar zu betrachten und angesichts dessen nicht zu resignieren oder in Aktionismus zu verfallen, sondern zu üben, die Spannung zu halten. (Anm.: Die Unabschließbarkeit der Aufgabe wird bei diskrit-kubi.net performativ vermittelt, über die Menge an Materialien und die große Zahl an Verweisen, sowohl Querverweise innerhalb der Materialien als auch Verweise auf Quellen außerhalb von ihnen.)
So möchte ich als Schlusswort dieses Textes noch einmal aus einer Innehaltenkarte unter der Überschrift ‚Diskriminierungskritisches Aussetzen‘ zitieren: „Als diskriminierungskritisch informierte Arbeiterin an der Schnittstelle von Bildung und Kunst muss ich in jeder Situation entscheiden: Wann ist es wichtig zu handeln und zu sprechen, wann ist es wichtig, mich zurückzuhalten, zu schweigen, Platz zu machen? Und ich kann mir nie sicher sein, die richtige Entscheidung zu treffen. Die weiße US-amerikanische Erziehungswissenschaftlerin Julie Garlen nennt diese Achtsamkeit für Unsicherheit »abandonment of hope« (…). Ich würde »abandonment of hope« mit »Aussetzen der Hoffnung« übersetzen und dabei die verschiedenen Bedeutungen von »Aussetzen« im Blick behalten und in der Schwebe halten wollen: etwas an einen ungemütlichen, unwirtlichen Ort bringen, es allein lassen und anderen zum sich Kümmern überlassen; etwas für eine bestimmte Dauer unterlassen; etwas in die Ungewissheit entlassen; etwas einer Belastung, einem Druck unterziehen. Es geht um eine bewusste Arbeit im Widerspruch und damit wieder um eine Gratwanderung. Sich auf schmalem Grat zu bewegen, erfordert Übung: das Üben der Balance; des Innehaltens zur Orientierung und zum Neuansetzen; der Aufmerksamkeit nicht nur für den Horizont, auf den sich eine:r zubewegt, sondern auch für die zurückgelegte Strecke, für die Beschaffenheit des Weges und die Absturz-, aber auch Abbiegemöglichkeiten in verschiedenen Richtungen.“ (diskrit-kubi.net o. D.e)