Die „böse Prinzessin“ – Künstlerische Prozesse im Zwischenraum von Improvisation und Inklusion
Abstract
Kunstpädagogische Praxis erweist sich durch die Vernetzung von individueller, materialer und sozialer Situierung künstlerischer Prozesse als mehrdimensional und multiperspektivisch, so dass sich gemäß der Eigenlogik des Künstlerischen inklusionswirksame Gestaltungsmöglichkeiten entfalten können (Kaiser 2022a). Das Moment des Improvisatorischen als responsive gestalterische Praxis in ereignishaften und unvorhersehbaren Situationen konstituiert das Kontingente – sich überlagernde Sinnbildungs- und Erkenntnisprozesse können entstehen (Brenne 2011:153). Derartige Prozesse reflektieren, neben den materialen Gegebenheiten, implizit die individuelle Erfahrungsgeschichte sowie das sich hieraus ergebende dynamische Spannungsfeld von Heterogenität und Homogenität, das sich für inklusives Lernen als konstitutiv erweist.
Anhand des im Beitrag vorgestellten Fallbeispiels soll explorativ gezeigt werden, wie Kinder im Kontext künstlerisch-edukativer Prozesse transformatorische Bildungserfahrungen machen, in denen sich selbst- und weltbezügliche Wahrnehmungsakte in ihrer impliziten Alterität improvisatorisch artikulieren. Die Interaktion zwischen Kindern und künstlerischem Material entzieht sich einem diskursiven Zugriff und dokumentiert das responsive Moment von künstlerisch-edukativen Bildungsprozessen. Diese sind zwar durch Emergenz geprägt, doch gleichzeitig epistemisch relevant. Diese Erkenntniskonstruktionen sind als ästhetische Figurationen beschreibbar und umfassen neben der bildsprachlichen Kommunikation szenische und atmosphärische Handlungen und Ereignisse.
Inklusion – Improvisation – (Ko-)Konstruktion
Inklusion ist eine zentrale Aufgabe offener und partizipativ ausgerichteter Gesellschaften, deren Güte sich u.a. an der Möglichkeit einer vollumfänglichen Teilhabe am kulturellen Feld auszeichnet. Insofern ist dies auch Ziel und Gegenstand einer qualitätsvollen Kulturellen Bildung. Betrachtet man dies prozessual lässt sich feststellen, dass insbesondere die soziale Interaktion innerhalb von kollaborativ ausgerichteter Gestaltungsprozesse von besonderem Interesse ist. D.h. wie wird eine künstlerische Wirklichkeit ko-konstruktiv hergestellt. Doch was bedeutet dieser Zusammenhang für das kunstpädagogische Feld?
Die Thematik der Inklusion ist im kunstpädagogischen Praxis- und Forschungsdiskurs allgegenwärtig und auf das Engste mit dem bildungspolitischen Impuls, der von der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ausgegangen ist, verknüpft (Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften [DGfE] 2015:1; Kottmann 2022), gleichwohl die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland an eine langjährige Tradition der Entwicklung integrativer Schulen anschließt (Müller 2018). Im Gegensatz zu anderen Staaten lässt sich allerdings in Deutschland beobachten, dass erst mit der Ratifizierung der UN-BRK 2009 schulsystemische Veränderungen unter dem Label Inklusion und Änderungen der Schulgesetzgebung vorgenommen wurden, die als Schock die „vorherrschende Selbstverständlichkeit der Sonderschule nachhaltig erschüttert“ haben (Blanck et al. 2013:287), indem bewährte Handlungsmodi der Trennung von Förder- und Regelschule irritiert wurden (Heinrich et al. 2013). Es scheint insofern wenig verwunderlich, dass auch unter dem Vorzeichen des ‚Gemeinsamen Lernens‘ (von Kindern mit und ohne Förderbedarfen an Schulen) das Thema der Inklusion oftmals einseitig an die Sonderpädagogik delegiert wird (Budde/Blasse/Rißler/Wesemann 2019). Eine solche Engführung auf die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarfen an kunstpädagogischen Institutionen und Praktiken affirmiert einseitig eine kompensatorisch konnotierte Bildungspraxis und ignoriert die Realität eines durch Diversität geprägten Kunstunterrichts, der eine heterogene Schüler*innenschaft adressiert und systemische wie professionsbezogene Transformationen im Hinblick auf ein Maximum an Teilhabe und ein Minimum an Diskriminierung erfordert (in Anlehnung an Ainscow 2013).
Dies erfordert eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit der Unterschiedlichkeit von Kindern und Jugendlichen im Kunstunterricht, ohne diese auflösen zu wollen, und impliziert von hier aus betrachtet immer auch ein kunstpädagogisches Agieren im Spannungsfeld von Normalität und Andersheit bzw. Normativität und Diversität (Kaiser/Brenne 2022). Die Unterscheidungen von z.B. Selbst und Fremd, von Innen und Außen, sind im Sinne Luhmanns (2005) Grundlagen jeglicher Erkenntnis (womit der Wissensbegriff charakterisiert werden könnte – dazu später mehr). Es braucht die perspektivische Differenz – so die Hypothese – um Strukturen zu erkennen, so dass neue Welten entdeckt bzw. entwickelt werden können. Dies gilt für Bildungsprozesse im Allgemeinen und im Kontext schulisch organsierter Bildung im Besonderen. Bildung wird gefasst als Prozess, in dem das sich konstituierende Selbst aus dem Vorgefundenen und in Wechselwirkung eine als sinnhaft erlebte Welt konstruiert und sich selbst adäquat positioniert (Heidegger 1938). Bildung ist demnach immer auch Selbstbildung. Dies heißt jedoch nicht, dass Bildung einem solitären und autopoietischen Prozess gleicht, sondern dass sich dieser in Interaktion mit den erlebten Phänomenen und einem Gegenüber vollzieht. In diesem Sinne basiert inklusives Lernen sowohl auf konstruktiven, als auch auf kokonstruktiven Prozessen. Alle Formen des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Wissens sind eingebunden in Pendelbewegungen zwischen Sozialität und Individualität. Ein autonomes Selbst, das außerhalb lebensweltlicher Bezüge steht, ist somit nicht denkbar. Diese Zusammenhänge gelten auch für die kunstpädagogische Praxis. Und hier gibt es aufgrund des Gegenstands – der Kunst – spezifische Bezüge.
„Making Worlds“ (Goodman 1978) – das Hervorbringen von Welt – ist die zentrale Kompetenz der Kunst, die plurale Perspektiven als sinnstiftend und zukunftsweisend kennzeichnet. In der dialogischen Entwicklung künstlerisch-edukativer Bildungsprozesse kann dies sichtbar werden. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen normativen Setzungen und radikalen Verschiebungen, insbesondere für die schulische Kunstpädagogik, die mit einem doppelten Mandat ausgestattet ist: der Normierung kunstunterrichtlicher Prozesse durch fachliche Standardsetzung und der Förderung strukturell offener, kontingenter künstlerischer Prozesse, die das Experimentell-Improvisatorische nicht nur zulassen, sondern als wesentliches Moment verstehen (Kaiser/Brenne 2022). Die so hervorgebrachten Formen changieren somit zwischen Wiedererkennen, Improvisation und Innovation, durch die Geläufiges in einem neuen Licht erscheint, so dass Neues entstehen kann. Diese Potenziale sind komplex und brauchen eine Atmosphäre, in der widerstreitende Positionen und Perspektiven anerkannt und diskursiv weiterentwickelt werden.
Eben diese prekäre Verhältnissetzung von Regelhaftigkeit und Regelbruch beschreiben Hans-Friedrich Bormann, Gabriele Brandtstetter und Annemarie Matzke (2010) als konstitutiv für die Improvisation, so dass von hier aus betrachtet angenommen werden kann, dass die kunstpädagogische Praxis conditio sine qua non vom Topos der Improvisation durchzogen ist. An Mersch (2002, 2022) anschließend lässt sich analog im Hinblick auf das improvisatorische Moment festhalten, dass sich Improvisation innerhalb begrenzt kontrollierbarer Eigendynamiken entfaltet und das Unvorhersagbare abbildet. Die Performanz von etablierten Mustern in Momenten von Ungewissheit (Bertram/Rüsenberg 2021), Ereignishaftigkeit (Mersch 2002, 2022) und Unbestimmtheit (Bormann et al. 2010) definieren die kontingente Situation (Maschat 2012), ohne die ein improvisatorischer Spannungsbogen in seiner Zeitgestalt nicht zu halten ist. Mit Fischer-Lichte (2004) können solche Aspekte von Emergenz und Rekursivität in kollaborativen Kontexten als eine autopoietische feedback-Schleife gefasst werden, welche sie „als selbstbezügliches, autopoietisches System mit prinzipiell offenem, nicht vorhersagbarem Ausgang“ (ebd. :82) definiert. Die gemeinsame Hervorbringung respektive Ko-Konstruktion in iterativen Zyklen impliziert, dass diese nur rekursiv produziert werden können und sich der „Verfügungsgewalt jedes einzelnen nachhaltig entzieht“ (ebd.:80).
So gesehen bietet die kunstpädagogische Praxis zahlreiche Ansatzpunkte, um Inklusives so zu gestalten, dass improvisatorische Momente ihre dialogische Wirkmächtigkeit derart zur Entfaltung bringen, dass ein substantieller und ko-konstruktiver Lernprozess entstehen kann. Das Verhältnis von Konstruktion und Ko-Konstruktion kann durch die Analogie eines Kippbildes beschrieben werden, wonach mal das individualisierte und mal das rekursive Lernen die Perspektive auf inklusive kunstunterrichtliche Phänomene bildet, aber erst beide Perspektiven aufeinander bezogen ein Phänomen in seiner Tiefenstruktur und Multidimensionalität erschließbar machen (Seitz 2009:o.S.).
Die „böse Prinzessin“ – Ein-Blick in einen Prozess künstlerisch induzierter Improvisation
Ein Fallbeispiel aus dem Kunstunterricht einer dritten Grundschulklasse aufgreifend, werden wir im Folgenden aufzeigen, wie Kinder im Kontext einer künstlerisch induzierten offenen Situation transformatorische Lernprozesse vollziehen. In diesem Zusammenhang artikulieren sich selbst- und weltbezügliche Wahrnehmungsakte in ihrer impliziten Alterität, so dass sie dem improvisatorischen Moment den Weg bahnen und somit Möglichkeiten inklusiven Lernens im Rahmen von Kunstpädagogik und Kunstvermittlung sichtbar machen:
Eine Gruppe von drei Mädchen setzt sich kooperativ mit Velazquez’ Darstellung der spanischen Infantin auseinander. Auffällig ist die Dominanz des prozessualen und experimentellen Vorgehens der Gruppe. Zunächst wird die ausgeschnittene Kopie der Königstochter ins Zentrum eines großformatigen Bildträgers platziert und mit Klebestift fixiert. Im Unterschied zu anderen Gruppen wird auf die skizzenhafte Angabe eines Kontextes verzichtet, sondern unmittelbar mit Farbe (Gouache) gearbeitet. Mit lockerem Pinselduktus und angstfrei entwickeln drei Mädchen schrille Farbmischungen, die Schicht um Schicht die zentrale Figur umspielen; unterschiedliche Kontextualisierungen erzeugen einen stetigen Stimmungswandel. Immerzu werden informelle und monochrome Farbflächen durch formale Setzungen (in der Regel florale Ornamente) gebremst, um diese erneut zu durchbrechen bzw. zu überformen.
Dieser kooperative und kollaborative Prozess hätte beinahe ewig andauern können, wenn nicht die zentrale Figur – quasi der ruhende Pol – versehentlich ‚verletzt‘, d.h. übermalt, worden wäre. Dies führt zu einem abrupten Abbruch des Malprozesses und zu einer inhaltsreichen Gruppendiskussion. Ein Mädchen (Celine) versucht das nun vorliegende Ergebnis inhaltlich auszudeuten, wodurch die Formlosigkeit des Umfeldes sowie der farbliche ‚Ausrutscher‘ narrativ interpretiert werden. Die Königstochter sei ein sehr böses Mädchen, das in einer Laune ihre ganze Familie umgebracht habe, und sich nun von Gott bestraft in der Hölle (der farblich und formal indifferente Hintergrund) befinde. Die sie befleckende rote Farbe sei das Blut ihrer Familie, das an ihr klebe. Die Gruppe ist von dieser Interpretation der „bösen Prinzessin“ überzeugt und zur Bestärkung wird mit einem Buntstift der rote Farbton noch verstärkt.
Theoretische Applikationen
Die Transformation des Bildmotivs „Prinzessin“ im Kontext eines kollaborativen und improvisatorischen Malprozesses basiert auf einer geteilten Fremdheitserfahrung. Ästhetische Erfahrungsbildung meint somit eine sensuelle, lustvolle und geistige Interaktion mit dem „Nichtidentischen“ (Adorno 1970a:160) respektive „Fremden“ (Waldenfels 1997:16) unter Bezugnahme auf die eigene Erfahrungsgeschichte, wobei dieser Zusammenhang kommunikativ bzw. dialogisch hergestellt werden muss. Dies impliziert auch Abgrenzungsversuche. Sensitivität, Emotion und Kognition gehen dabei eine sinnstiftende Verbindung ein, wobei das Gegenüber einen notwendigen formgebenden und somit reflexiven Resonanzraum beschreibt. Eine derart konstituierte Expressivität ist ein epistemischer Akt, in dem sich im- und explizites Wissen ausdrückt (Heyl/Schäfer 2016). Dies hat viel mit Sinnstiftung zu tun und benötigt inklusive Lernarrangements, die durch Offenheit und dialogische Bündelung geprägt sind. Sinnzuschreibungen sind im Hinblick auf selbstverfertigte ästhetische Produkte notwendige Bedingungen für die gestalterische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Diese Form der Sinnkonstruktion entwickelt sich nicht singulär und statisch, sondern ist geprägt von im- und expliziten Interaktionen mit einem Gegenüber, die dann produktiv werden, wenn Momente von Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit im oben beschriebenen Sinn eine improvisatorische Haltung nahezu erzwingen, so dass eine Erweiterung der ästhetischen Erfahrungsmuster möglich wird. Improvisation ist mit Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg (2021) somit kein ungeregeltes Stolpern im Dunklen, sondern basiert auf bereits etablierten Mustern, die in einen neuen Sinnzusammenhang eintreten, so dass ein iterativer Zyklus einer wechselseitigen Responsivität entsteht.
Doch wie kann dieser Dialog fruchtbar werden? Wie kann es gelingen, dass auch irritierende Momente der Kontingenz Beweggründe künstlerisch-edukativer Prozesse werden, in denen das Improvisatorische zum Katalysator wird? Die vorgeführte Situation hat gezeigt, wie genderbezogene Zuschreibungen durch die Thematisierung expliziter Tabuzonen unterlaufen werden können, um sie in eine neue Formensprache zu überführen. Hier schließt sich auch die Frage an: Wie kann Inklusion im Sinne eines reflexiven Umgangs mit Differenzen gelingen? In den Fokus rücken dann nicht allein die Interaktionen zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen, sondern auch jene mit dem künstlerischen Material sowie zwischen Peers. Es werden darin universelle grundmenschliche Erfahrungen gemacht, die zwar individuell perspektivengebunden – so etwa in der Ausdeutung des farblichen ‚Ausrutschers‘ durch Celine – konstruiert werden, innerhalb der Peergroup aber wechselseitig angebahnt werden. Diese reflektieren die individuelle Erfahrungsgeschichte sowie die dynamische, narrativ und künstlerisch sich entwickelnde Struktur von Heterogenität und Homogenität.
Diese Rekonstruktionen rekursiven kunstpädagogischen Lernens decken sich auch mit Bernhard Waldenfels (1997) phänomenologischen Einlassungen zur Figur des Fremden. Das Fremde ist demnach als ein irritierendes Phänomen zu beschreiben, das sich vorhandenen Zugriffsmöglichkeiten entzieht und in dieser Unzugänglichkeit vertraute Muster der Erfahrungsverarbeitung scheitern lässt. Hier spielt Waldenfels (ebd.) auf die bereits von Adorno (1970) verhandelte strukturelle Negativität von ästhetischen Erfahrungen an. Wenn Adorno vom „Nichtidentischen“ (a.a.O.) spricht, so etabliert Waldenfels die Figur des Fremden. Die Erfahrung von Fremdheit ist für Bildungsprozesse konstitutiv, denn der „Unausweichlichkeit des Einbruchs" (des Fremden) können sich Menschen nicht entziehen (Waldenfels 1997:81).
Irritation bzw. das Nicht-Normative sollte also kein Anlass zur Sorge sein und eine Fülle an kompensatorischen und fördernden Maßnahmen nach sich ziehen – sondern bietet transformatorische Bildungschancen (Koller/Marotzki/Winfried/Sanders 2007). Dieser Prozess hat das Potenzial, die vorhandenen Welt- und Selbstverhältnisse grundlegend zu verändern. Eine Forderung, die im Kontext der zeitgenössischen Kunst immer wieder gestellt wird und sich auch mit den Zielsetzungen einer kritischen Kunstvermittlung deckt (Mörsch 2011). All dies könnte auch für die schulische Kunstpädagogik realisiert werden. Voraussetzung wäre, dass Diversität nicht nur als Gegenstand der Kunst, sondern auch als didaktisch-pädagogisches Strukturelement begriffen wird. In einer dem Selbstverständnis nach homogen ausgerichteten Schule stören Differenzierungen institutionelle Abläufe die einer einheitlichen diskursiven Grundlage bedürfen.
Doch ist das wirklich so und gibt es überhaupt Wissen im Sinne von Wahrheitswerten? In der klassischen griechischen Philosophie wird zunächst ein Unterschied zwischen Wissen und Weisheit gemacht (Ölmüller 1990). Wissen ist in der Regel pragmatisch ausgerichtet, wohingegen Weisheit auf reine Erkenntnis und ohne Nutzanwendung abzielt. Wissen bezieht sich auf drei Kategorien (Fakten/Theorien/Regeln). Im Kontext von Schule und Unterricht ist allerdings beides gemeint – das Wissen und die Weisheit – und es zu fragen, ob man sich auf die Weitergabe deklarativer Fakten konzentriert und ob es nicht auch - oder sogar primär - um grundständige Einsichten geht. Sowohl die Pädagogik der Sekundarstufe würde letzteres bejahen (Bosse 2004) – aber auch in einer zeitgenössischen Grundschulpädagogik ist man weit davon entfernt, unreflektierte Praktiken in das Zentrum von Unterricht zu stellen (Peschel 2015). Immer geht es um ein aktives Begreifen und Entwickeln – man nennt das forschendes Lernen – wobei ein prospektiver und letztlich nicht abschließbarer Wissensbegriff zu Grunde gelegt wird. Tatsächlich kann es normativ abgesichertes Wissen (im Sinne der Weisheit) überhaupt nicht geben. Im platonischen Dialog Theaitetos (Becker 2007) wird Wissen als eine Überzeugung beschrieben, die auf wahren und gerechtfertigten Aussagen beruht: P ist wahr, S ist überzeugt, dass P wahr ist und kann Gründe angeben. Der analytische Philosoph Edmund Gettier (1963) hat aber darauf hingewiesen, dass auch die Präpositionen einer Aussage wahr sein müssen, damit die Überzeugung gerechtfertigt ist. D.h., dass es einen Unterschied zwischen wahren gerechtfertigten Aussagen und gerechtfertigten Aussagen geben muss. Eine Wissensvermittlung, die diesen Sachverhalt ausblendet, greift zu kurz und etabliert lediglich Vorurteile und Ideologien. Näher betrachtet kann es eine finale Bestimmung aller Präpositionen auch gar nicht geben – man kommt in einen infiniten Regress. Wilfrid Sellars (1999) führt dazu aus, dass man nur etwas wissen kann, wenn bereits begriffliche geprägte Vorstellungen existieren – und hebt dabei die sich diskursiv abzeichnende soziale Dimension von Wissensproduktion hervor. Wissen ist ein Prozess, der sich entwickelt und das Gegenüber braucht, damit ein Argument überhaupt eine Form bekommt. Wissen kann nur vernetzte Information sein und die entwickelt sich peerbezogen; sie ist also durch Kommunikationen geprägt. Das bedeutet: Je heterogener ein Diskursfeld, desto komplexer und reichhaltiger entwickelt sich das anzueignende Wissen. Diversität ist somit die Voraussetzung von komplexen Wissensformen, wobei dies nur gelingen kann, wenn heterogene Gruppen dialogisch ausgerichtet sind (Eckermann/Heinzel/Lipowsky 2013).
Kehren wir zurück zum Fallbeispiel, so kann davon gesprochen werden, dass sich die Erzeugung von Bildern nicht nur auf den performativen Akt der situativen Produktion beschränkt. Vielmehr sind narrative und szenische Zusammenhänge der entscheidende Impuls für die Initiierung ästhetischen Ausdrucks. Interessant ist am vorliegenden Fall, dass die tradierten Konnotationen einer Prinzessin im Laufe des Malprozesses konterkariert und mit Phantasien aufgeladen werden, die einer vermeintlichen Mädchenästhetik zu widersprechen scheinen (Kämpf-Jansen 1991). Die hervorgebrachten bildnerischen Zeichen spiegeln den Prozess einer spielerischen und kommunikativen Ausdeutung performativ hervorgebrachter Zeichensysteme wider, die ihrerseits innovative Formgebungen herausfordernd steuern. Die Allegorie des bösen Mädchens wird zum Initial für eine Gestaltungspraxis, die sich dem Affekt überantworten kann. Nun kann lustvoll und zwanglos mit Farbe experimentiert werden, ohne sich stereotypen Zuschreibungen bzw. Bildern ‚guter‘ Mädchen im Kunstunterricht (Sauberkeit, Ordnung, Ruhe) (Kaiser 2022b) zu beugen. Derartige malerische Erfahrungen sind in einem Zwischenraum angesiedelt, der zwar auf andere Erfahrungsräume reagiert, diese aber frei von Sachzwängen spielerisch zu transformieren weiß. Hier zeigt sich der Bezug aller ästhetischen Handlungsdimensionen zum kindlichen Spiel, das ebenfalls in einem auf unendlich gestellten ‚Zwischenraum‘ angesiedelt ist. „Das Kind‚ (…) ist dazu verurteilt, frei zu sein“ (Satre 1994) und wird zum lustvollen Demiurgen, der beständig neue Welten schafft. Durch freie malerische Artikulation, Kommunikation und Reflexion wird der individuelle Erfahrungshorizont in eine verdichtete ästhetische Struktur überführt – ein Akt transformatorischer Bildung.
Improvisation und Inklusion
Das Fallbeispiel aufgreifend zeigt sich, wie sich die Interaktion zwischen Kind, Peers und künstlerischem Material einer didaktischen Planung zu entziehen weiß und mittels Imagination und Narration ein kontingenter Gestaltungsprozess entsteht, der epistemisch relevante Formen hervorbringt. Dieser künstlerische Prozess ist im ‚Hier und Jetzt‘ verortet und transformiert Objekte, Ereignisse und Handlungen in neue Zusammenhänge. Dabei spielen rekursive Lernprozesse zwischen den Kindern eine entscheidende Rolle. Kooperative und kollaborativ geprägte Gestaltungsprozesse erweitern individuelle und kollektive Perspektiven im Sinne einer iterativen Feedback-Schleife (Fischer-Lichte 2004, 2022). Wie gezeigt wurde, ist die dialogische Auseinandersetzung mit dem „Nichtidentischen“ (Adorno 1970) respektive „Fremden“ (Waldenfels 1997) eine Grundbedingung eines substanziellen (malerischen) Lernprozesses – und dies nicht nur im Kindesalter. Dieses setzt aber eine Haltung seitens der Lehrkraft voraus, die den künstlerischen Prozess im Hinblick auf seine produktiven und prozessualen Aspekte in ihrer Verschränktheit und ihren improvisatorischen Momenten zu würdigen weiß und dafür die nötigen Freiräume schafft. Dennoch geht es hier nicht um Beliebigkeit bzw. Unbestimmtheit, sondern um die Hervorbringung und Hervorlockung mannigfaltiger Formationen. Diese postulierte Offenheit hat aber ihren Grund im Blick des Gegenübers. Und dieser Blick ist nicht nur das konkrete andere Kind, die Lehrperson oder die ‚Dinge‘, sondern ist ein wechselseitiger Akt der Betrachtung eines beständigen Gegenübers, in der sich Produktion und Rezeption durchkreuzen. In derart ko-konstruktiven Prozessen überlagern sich materiale und soziale Korrespondenzen und Resonanzen, die mittels didaktischer Entführungen kaum zu bewältigen sind und nur durch die Bezugnahme auf die Peers produktiv werden. Letztlich geht es auch im künstlerischen Prozess um die Frage nach dem Selbst und seinen lebensweltlichen Bezügen. Diese Frage kann aber nicht solitär, sondern nur diskursiv beantwortet werden. Insofern ist die soziale Dimension ästhetischer Prozesse kein erfreuliches Nebenprodukt im Hinblick auf zu vermittelnde kunstunterrichtliche Kompetenzen, sondern ein existentiales Moment im Kontext inklusiven kunstunterrichtlichen Lernens.
Die Kunstpädagogik erweist sich durch die Vernetzung aus individueller, materialer und sozialer Situierung von Lernen gegenüber anderen Fachdidaktiken als mehrdimensional und multiperspektivisch, sodass die didaktische Eigenlogik des Kunstunterrichts, neben den inklusionsdidaktischen Konzeptionen, Improvisationen im Sinne Bertrams und Rüsenbergs (2021) zulässt, indem sie selbst neue Formen des Ko-Konstruktiven als Antwort auf die kontingenten, ereignishaften und unvorhersagbaren Momente des Prozessualen in der Jetztzeit hervorbringt (vgl. ebd.). Diese wirken nicht flüchtig, sondern kunst-konstituierend und erweisen sich somit nicht nur für den künstlerischen Prozess, sondern auch für das ästhetische Produkt als konstitutiv. Sie legen die dynamischen und gestaltbaren Dimensionen lebensweltlicher Zusammenhänge offen und machen diese zum eigentlichen Gegenstand des Pädagogischen.
„Ich suche nach dem Gegenstand und dem Bild, nicht nach der Malerei oder dem Bild der Malerei, sondern nach unserem Bild, unserem Aussehen und Ansehen und unserer Ansicht, verbindlich und total.“ (Richter 1993:80)