Biografisches Schreiben in der Bildungsarbeit von Jugendfreiwilligendiensten. Didaktische und methodische Perspektiven

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von Damaris Nübel

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Ein Bundes- oder Jugendfreiwilligendienst kann für junge Erwachsene eine wichtige biografische Lernphase darstellen und sie in ihrer Identitätsbildung unterstützen. Träger von Freiwilligendiensten reagieren in ihrer Bildungsarbeit mit vielfältigen Angeboten auf den Bedarf nach biografischer Orientierung. Konkret werden in diesem Beitrag die Potentiale des biografischen Schreibens als Methode für die Freiwilligenbildung ausgelotet. Herausgearbeitet wird, dass Identitätsarbeit zugleich Narrationsarbeit ist, denn das Selbst wird immer auch „erzählend erzeugt“ (Kraus 2007:25). Das kreative Schreiben fördert biografische Re-, De- und Konstruktionsprozesse. Als spielerischer Zugang zur eigenen Identität ermöglicht es, neue Einsichten auf vergangenes Sein und Handeln zu gewinnen, aktuelle Erfahrungen zu reflektieren und sich selbst in die Zukunft hineinzuentwerfen.

Einleitung

Katjas Buchstaben, Book of Juli oder Ich by Anton – so lauten die Titel von sogenannten Lebensbüchern, die im Rahmen einer Bildungswoche des Freiwilligen Sozialen Jahres entstanden sind. Fünf Tage lang haben sich junge Erwachsene mit einem zeitgenössischen Werk der Jugendliteratur auseinandergesetzt und ausgehend von diesem eigene Texte unterschiedlicher Länge produziert. Biografische Schreibimpulse schlugen dafür eine Brücke zwischen der Wirklichkeit des Buches und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, die sich als Umbruch- und Übergangssituation kennzeichnen lässt und für die Mehrzahl der Freiwilligen zwischen dem Ende der Schullaufbahn und dem Beginn einer Ausbildung oder eines Studiums angesiedelt ist.  

Der folgende Beitrag betrachtet die Bildungsarbeit von Freiwilligendiensten aus einer didaktischen Perspektive und geht der Frage nach, wie sich hier Identitätsbildungsprozesse initiieren und begleiten lassen. Es wird angenommen, dass kreative Methoden die biografische Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst fördern, weshalb auch die Bildungsarbeit von Bundes- und Jugendfreiwilligendiensten ein Ort der Kulturellen Bildung sein sollte. Konkret werden im Folgenden die Potentiale des biografischen Schreibens als Methode für die Freiwilligenbildung ausgelotet. Die These lautet dabei, dass sich mit Hilfe literarischer Texte biografische Re-, De- und Konstruktionsprozesse anregen lassen.

Freiwilligendienste und ihre Bildungsarbeit

Millionen von Menschen engagieren sich in Deutschland Jahr für Jahr ehrenamtlich, z.B. in Vereinen, den Kirchen oder bei den Tafeln. Ein Teil von ihnen tut dies sogar in Vollzeit, und zwar im Rahmen von strukturierten Diensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (kurz: FSJ), dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (kurz: FÖJ) und dem Bundesfreiwilligendienst (kurz: BFD). Knapp 47 000 Menschen zwischen 18 und 27 Jahren leisteten 2022/23 ein FSJ (BMFSFJ 2023). Im BFD waren 2022 und 2023 jeweils etwa 36 000 Personen aktiv (statista o. J.). Typische Einsatzstellen in FSJ und BFD sind Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Werkstätten oder Wohnheime für Menschen mit sogenannten Behinderungen, Kindergärten, Jugendzentren u.v.m. Das FÖJ bietet Einsatzfelder in Verbänden und Initiativen des Umwelt-, Klima- und Tierschutzes, in der Landwirtschaft, der Landschaftspflege und anderen Einrichtungen. Eine weitere Form sind die Freiwilligendienste Kultur und Bildung. Sie ermöglichen altersunabhängig auf Grundlage des Jugendfreiwilligendienstegesetzes (JFDG) und des Bundesfreiwilligendienstgesetzes (BFDG) den Einsatz in den Bereichen Kultur, Bildung und Politik.

Alle Dienste werden „mit dem Ziel, soziale, kulturelle und interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl zu stärken“ (§ 4 BFDG bzw. § 3 JFDG) pädagogisch begleitet. Diese pädagogische Begleitung findet vorrangig im Rahmen von 25 Seminartagen statt, die vom jeweiligen Träger über die Dienstzeit verteilt zu organisieren sind und für die eine Teilnahmepflicht von Seiten der Freiwilligen besteht. Die Teilnahme gilt als Arbeitszeit, was verdeutlicht, dass FSJ, FÖJ und BFD nicht nur als freiwilliger Dienst an der Gemeinschaft, sondern auch als individuelle Bildungsjahre zu verstehen sind. Der Gesetzgeber betrachtet Freiwilligendienste als „persönlichkeitsbildende und Identität stiftende biografische Lernphase“ (BMFSFJ 2012:3). Für die Freiwilligen fällt diese biografische Lernphase mit einer lebensgeschichtlichen Übergangssituation zusammen. Etwas anderes, in der Regel die Schule, manchmal auch ein Studium oder eine Berufsausbildung, wurde zuvor abgeschlossen oder abgebrochen.

Freiwilligendienste können grundsätzlich zwei verschiedene Funktionen für das Individuum erfüllen. Einerseits sind sie eine institutionalisierte und gesellschaftlich anerkannte Form der Unterbrechung in einem „Normallebenslauf“ (Walther 2014:18), andererseits können Freiwilligendienste gerade auch Brüche im Lebenslauf verhindern (z.B. bei fehlendem Ausbildungs- oder Studienplatz). In beiden Fällen markiert der Freiwilligendienst eine Zeit des Übergangs. Die beiden unterschiedlichen Zuschreibungsebenen sind dabei durchlässig und die Zeit des Freiwilligendienstes in der Rückschau offen für Umcodierungen. Dies kann z.B. bedeuten, dass der Freiwilligendienst, der als Notlösung gedacht war, retrospektiv als wichtige Zeit des Wandels und des Wachstums betrachtet wird.

Mit Hilfe von Jugendhearings hat die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) 2020 ermittelt, was junge Menschen zur Aufnahme eines Freiwilligendienstes motiviert. Die Befragten sehen in einem Freiwilligendienst zu 79,9 % eine Möglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung. Anderen Menschen zu helfen ist ein Motiv für 69,8 % der Befragten. 52,1 % halten einen Freiwilligendienst für eine sinnvolle Überbrückung zwischen Schule und Ausbildung bzw. Studium. Für 34,3 % stellt der Freiwilligendienst eine Alternative dar, „wenn man nicht weiß, was man sonst machen soll“ und 21,4 % betrachten ihn als eine Auszeit (DKJS 2020:36 ff.).

Egal ob Freiwillige ihren Dienst als bewusste Auszeit oder aufgrund eines Mangels an Alternativen antreten, immer handelt es sich um eine Zeit der Orientierung und des Übergangs. Drängend sind Fragen wie ‚Was kommt nach dem Freiwilligendienst? Wie soll es in beruflicher und privater Hinsicht für mich weitergehen? Welche Entscheidungen muss ich als nächstes treffen?‘ Die verschiedenen Träger von Freiwilligendiensten haben aus der lebensgeschichtlichen Übergangsphase ihrer Teilnehmenden Positionen für ihre Bildungsarbeit abgeleitet. So formuliert beispielsweise die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) als bundeszentraler Träger für das FSJ Bildung und Kultur, dass die begleitende Seminararbeit u.a. „Angebote zur Lebensorientierung und Lebensgestaltung sowie Entwicklung einer individuellen Lebensperspektive“ (BKJ 2013:16) bereithalten muss. In ihrem 2020 veröffentlichten Rahmenkonzept für die Freiwilligendienste Bildung und Kultur benennt die BKJ die Lebensweltorientierung als einen von mehreren Faktoren, die die Persönlichkeitsbildung unterstützen und konkretisiert für die pädagogische Begleitung:

Inhaltlich wird die individuelle Lebenslage der Freiwilligen* als Ausgangs- und Zielperspektive einbezogen. Die Freiwilligen* werden nachhaltig in der Gestaltung ihrer Lebens-, Berufs- und Engagement-Wege unterstützt (BKJ 2020:6).

Ähnlich versteht auch der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt den Freiwilligendienst „als Bildungs- und Orientierungsjahr“, das darauf abzielt, „junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und bei der Entfaltung ihrer Potentiale zu unterstützen und zu fördern“ (AWO Bundesverband 2014:16).

Will man in der Freiwilligenbildung Identitätsentwicklungsprozesse anregen, stellt sich zunächst die Frage, wie Identität zu definieren ist und inwiefern sie überhaupt ein Bildungsziel sein kann. Diese Frage soll im Folgenden mit Heiner Keupps Vorstellung von einer „Patchwork-Identität“ beantwortet werden.

Identität und Identitätsbildung

Keupp versteht unter Identität nicht die „Entstehung eines inneren Kerns, […] sondern […] ein Prozeßgeschehen beständiger ‚alltäglicher Identitätsarbeit‘“ (Keupp u.a. 2008:30). Die Metapher der Patchwork-Decke beschreibt die Beschaffenheit einer Identität, die sich aus vielen Teilidentitäten zusammensetzt. Gleichzeitig drückt das Bild aus, dass Identitätsarbeit ein hohes Maß an Eigenleistung und Kreativität erfordert (vgl. ebd.:9 f.), denn die einzelnen Identitätsbestandteile verknüpfen sich nicht von selbst. Sie müssen aktiv zusammengefügt, in eine Reihenfolge gebracht oder zu einem Muster arrangiert werden. Das Verknüpfen unterschiedlicher Teilidentitäten wurde laut Keupp notwendig, da vor dem Hintergrund einer sich immer weiter pluralisierenden, individualisierenden und entstandardisierenden Gesellschaft „kopierbare Identitätsmuster“ (ebd.:60) fehlen. Die beschriebene Identitätsarbeit verläuft dabei in einem retro- und in einem prospektiven Prozess:

Im Mittelpunkt des retrospektiv-reflexiven Prozesses stehen situationale Selbstthematisierungen. Darunter verstehen wir Erfahrungen, die in bezug auf das eigene Selbst gemacht wurden und die von den Fragen „Wer bin ich (aktuell)?“ und „Woher komme ich?“ geleitet werden (ebd.:192).

Innerhalb des prospektiven Prozesses der Identitätsarbeit richtet sich die Aufmerksamkeit dagegen auf zukünftige Selbstentwürfe. „Es geht um die Zukunft eines Subjekts und die Ausrichtung seines Handelns entlang von Fragen wie: ‚Wer will ich sein?‘; ‚Wohin will ich mich entwickeln?‘“ (ebd.:103). Keupps Ansatz vermag darüber hinaus auch Diskontinuitäten – wie z.B. Abbrüche oder Trennungen – in den Lebenslauf zu integrieren.

Was aber können das Rezipieren und Produzieren literarischer Texte zur Beantwortung der mit Keupp aufgeworfenen Identitätsfragen beitragen? Antworten darauf hat die biografieorientierte Literaturdidaktik (Nübel 2018), die ausgehend von Grundgedanken der konstruktivistischen Didaktik für außerschulische Bildungskontexte konzipiert wurde. Ihr liegt ein Verständnis von Literatur als Einladung zugrunde. Literarische Texte – als Lektüre oder selbstverfasst – laden zu biografischer Reflexion ein. Sie werden zum Schlüssel, um Biografie zu entdecken, zu enttarnen und zu erfinden.

Didaktische Rahmung: Biografie entdecken, enttarnen, erfinden

Die konstruktivistische Didaktik geht davon aus, dass „Wissen […] vom denkenden Subjekt nicht passiv aufgenommen, sondern aktiv aufgebaut [wird]“ (Glasersfeld 1997:48). Während der Lehrperson weniger Bedeutung beigemessen wird, rücken die Lernenden in den Mittelpunkt des didaktischen Interesses. Sie werden nicht länger als Objekte der Wissensvermittlung, sondern als aktive Gestalter*innen ihres eigenen Lernprozesses betrachtet. Aufgaben und Funktion der Lehrperson entsprechen dabei jenen eine*r Coach*in bzw. eine*r Berater*in.

Der Erziehungswissenschaftler Kersten Reich (2012) versteht Didaktik als Handlung, die auf den Ebenen Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion verläuft. Auf der Ebene der Konstruktion sollen Lernende konkrete Erfahrungen machen können. Unter Wahrung ihrer „individuellen Interessen-, Motivations- und Gefühlslagen“ sollen sie „ausprobieren, untersuchen, experimentieren“ (ebd.:138). Neben einer wertschätzenden Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden ist hier die Autonomie im Lernprozess von größter Bedeutung. Das Motto dieser Ebene lautet: „Wir sind die Erfinder unserer Wirklichkeit“ (ebd.). Auf der Ebene der Rekonstruktion steht das Nachentdecken von Erfindungen oder Erkenntnissen anderer im Vordergrund. Ihr Motto ist: „Wir sind die Entdecker unserer Wirklichkeit“ (ebd., S. 139). Auf der Ebene der Dekonstruktion geht es schließlich um das Hinterfragen der Wirklichkeit. Gemäß dem Motto „Wir sind die Enttarner unserer Wirklichkeit“, verstehen die Lernenden, dass alles auch anders sein könnte (ebd.:141).

Die biografieorientierte Literaturdidaktik (Nübel 2018) bringt die drei Ebenen der konstruktivistischen Didaktik (Konstruktion, Rekonstruktion, Dekonstruktion) mit der Produktion und Rezeption literarischer Texte in Verbindung und leitet auf diese Weise drei Ziele für eine außerschulische literarische Bildung, wie sie in der Freiwilligenbildung stattfinden kann, ab. Sie lauten:

Biografie entdecken! In der Rezeption literarischer Texte sowie innerhalb kreativer Schreibhandlungen setzen sich die Teilnehmenden aktiv und selbstbestimmt mit ihrer persönlichen Vergangenheit und Gegenwart auseinander. Im Rahmen der Freiwilligenbildung umfasst dies auch die Reflexion und biografische Einordnung der Erfahrungen im Freiwilligendienst. Darüber hinaus kann das Entdecken der eigenen Biografie eine Spurensuche in der Familiengeschichte beinhalten.

Biografie erfinden! Aus der Beschäftigung mit Vergangenem und Gegenwärtigem entwickeln die Freiwilligen eine biografische Zukunftsvision, die sowohl persönliche als auch berufliche Aspekte enthalten kann. Sie ziehen Konsequenzen aus den Erkenntnissen des Schreibprozesses sowie ggf. aus den Erfahrungen literarischer Figuren und übernehmen Verantwortung für sich und die nächsten Schritte im Lebenslauf. Auf diese Weise wird aus dem biografischen Reflexions- ein biografischer Konstruktionsprozess.

Biografie enttarnen! Lesend und schreibend beziehen die Teilnehmenden Vergangenes auf Gegenwärtiges und umgekehrt. Auf diese Weise hinterfragen sie scheinbare Zwangsläufigkeiten in der eigenen Biografie und erkennen möglicherweise Muster. Sie lernen, sich einerseits als dem Zufall unterworfen, andererseits als selbstwirksam und entscheidungsmächtig zu begreifen.

Wie kann literarische Bildung im Rahmen von Freiwilligendiensten aber nun konkret aussehen? Der folgende Abschnitt fokussiert auf das biografische Schreiben als gleichermaßen fragmentarischen, spielerischen, konstruktiven, imitativen und nonkonformen Prozess der Identitätsbildung. Das Schreiben wird gleichermaßen als Medium der Selbstreflexion und der Selbstkonstruktion verstanden.  

Methodische Konkretisierung: Biografisches Schreiben in der Freiwilligenbildung

  • Fragmentarisch

Biografisches Schreiben ist fragmentarisch und als Patchworkverfahren anzulegen, weil dies der von Keupp aufgezeigten Komplexität und Vielschichtigkeit von Identität am besten gerecht wird. Eine Orientierung bietet dabei die Idee der small stories, die auf den Psychologen Wolfgang Kraus zurückgeht. Anstatt für eine längere, in sich geschlossene Selbsterzählung im Sinne der berühmten ‚Memoiren‘, interessieren ihn die vielen kleinen Geschichten, die unterschiedliche Facetten der eigenen Biografie beleuchten. Anknüpfend an Keupp versteht Kraus Identität als ein Geschehen, das parallel in unterschiedlichen Diskursen stattfindet (Kraus 2007). Wie Keupp lehnt auch Kraus die Vorstellung eines „authentischen, wahren oder ‚realen‘ Selbst“ ab (ebd.:28 f), dessen Existenz die im Buchhandel verfügbaren Biografien berühmter Persönlichkeiten jedoch nicht selten nahelegen. Eine Sammlung von small stories, beispielsweise gerahmt durch ein sogenanntes Lebensbuch (vgl. z.B. Morgenstern 2011), erscheint vor dem Hintergrund von Patchwork-Identitäten und verschwindender Normallebensläufe anschlussfähiger an die Lebenswelt junger Freiwilliger.    

  • Spielerisch

Als homo narrans (vgl. Fahrenwald 2011) ist der Mensch in der Lage, sich selbst zu erzählen. Für die Form seiner Erzählung besitzt er Gestaltungsfreiheit. Durch diese, auch das Spiel kennzeichnende Handlungsfreiheit, ist es möglich, die eigene Identität kreativ zu entfalten. In der Freiheit des Schreibens können wir uns immer wieder neu ent- und auch wieder verwerfen. Das Spiel ist nicht nur eine freie und ungewisse, sondern auch

eine fiktive Betätigung die von einem spezifischen Bewußtsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird (Caillois 1966:16).

Schreiben als Spiel verstanden, ermöglicht Schreibenden, sich über Kategorien wie wahr und falsch hinwegzusetzen. Und doch kann aus dem Schreibspiel ein Realitätsbezug erwachsen, z.B. dann, wenn zukünftige Handlungsalternativen erprobt oder vergangene Ereignisse kritisch reflektiert und biografisch neu eingeordnet werden. Schreiben als Spiel zu denken kann sich auch auf das Schriftbild erstrecken. Durch die Verwendung von Farben und Materialien, etwa aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Buchstaben und Wörter, wird der Text selbst zum Bild. Als Inspiration mögen die Wort-Bilder der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller dienen. Seit Jahrzehnten schneidet sie Wörter aus, sammelt diese alphabetisch und komponiert unter Einbezug eines Bildes schließlich eine poetische Collage (Wheeler 2018).

  • Konstruktiv

Im Erzählen bildet sich Identität nicht nur im Rückblick auf biografische Ereignisse, sondern auch in der Antizipation künftigen Seins und Handelns. Mit dem futuring und dem sideshadowing schlägt Kraus hierfür zwei zentrale Erzählstrategien vor. Unter futuring versteht Kraus „die Positionierung des narrativen Selbst in der Zukunft“ (Kraus 2007:34). Es ermöglicht den Schreibenden, sich als eine Person in der Zukunft zu entwerfen und macht auf diese Weise den konstruktiven Charakter des biografischen Schreibens deutlich. Das sideshadowing empfiehlt Kraus, um „nicht Realisiertes, Vergessenes, Verdrängtes, Unterdrücktes, Verworfenes zur Sprache zu bringen“ (ebd.:40). Die Schreibenden können sich mit dieser Strategie ganz im Gegensatz zur machtvollen Position des futurings als ohnmächtig und den äußeren Umständen unterworfen darstellen. Beide Strategien sind im Rahmen einer Identitätsarbeit durch Selbsterzählung von großer Bedeutung, denn die meisten Menschen erfahren sich im Laufe ihres Lebens weder als immer machtvoll, noch als immer ohnmächtig.

  • Imitativ

Es lohnt sich, der Schreiberfahrung eine Leseerfahrung vorausgehen zu lassen, denn Selbsterzählungen entstehen in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt und ihrem literarischen Formenrepertoire. Erfahrungen literarischer Figuren können die biografische Reflexion von Leser*innen fördern, insbesondere wenn Letztere anknüpfend an die Lektüre selbst zur Produktion von Texten angeregt werden. Der Vorschlag, in einer bestimmten (z.B. lyrischen) Form zu schreiben oder sogar einen konkreten Text(ausschnitt) inhaltlich oder formal nachzuahmen, kann Kreativität erst recht in Gang setzen. Der Literaturdidaktiker Kaspar H. Spinner ist der Auffassung, dass jemand, der imitiert zu Unrecht für nicht kreativ gehalten werde. Er geht davon aus, dass Imitation sogar „zu den Grundelementen kreativen Schreibens“ (Spinner 2005:112) gehört,

weil es – anders als das bloß musterorientierte Schreiben – nicht einfach auf Regelerfüllung zielt, sondern weil ein Spielraum eröffnet wird, der auch eine Differenz zur Vorlage erlaubt, etwa dadurch, dass ein anderer (zum Beispiel persönlich gefärbter) Inhalt mit der übernommenen Form verbunden wird, dass eine parodistische Distanzierung erfolgt, dass eine Verbindung mit anderen Stilmitteln vorgenommen wird usw. […] (ebd.).

Originalität entsteht gerade in der Auseinandersetzung mit Vorgefundenem. Dies kann für Lebensentwürfe ebenso gelten wie für literarische Texte.

  • Nonkonform

Da Identitäten einzigartig sind, ist auch biografisches Schreiben nicht zuletzt als nonkonform zu begreifen. So kann das Überschreiten sprachlicher Konventionen, der Alltagssprache, grammatikalischer und orthografischer Regeln sowie von Sprachgrenzen Bestandteil von Schreibhandlungen sein. Der Reiz dieser Grenzüberschreitungen liegt darin, die Verbindung von Sprache und Identität offen zu halten. Nonkonformität realisiert sich im Schreiben etwa dann, wenn ein Individuum, dessen Selbstkonzept verschiedene Sprachen und kulturelle Traditionslinien integriert, einen mehrsprachigen Text über sich selbst und seine biografischen Erfahrungen verfasst. Inspirationen nicht nur für den Umgang mit Mehrsprachigkeit finden sich z.B. bei der deutsch-libanesischen Kinderbuchautorin Andrea Karimé. Im Rahmen ihrer Poetik-Dozentur 2019/20 an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe schreibt sie:

Ich machte mich […] auf den Weg in die türkischen Wörter. Schuld war der Biogra-Fisch, der sich als Huhn verwandelt hatte und eines Tages mit einem yokyokyok-Laut vor meinem inneren Auge Körner pickte […]. Das war auf dem Ehrenfelder Wochenmarkt in Köln. Ich hörte das yokyokyok eines türkisch deutschen Händlers und […] sah […] plötzlich ein Huhn vor mir. yokyokyok katapultierte mich auf den Istanbuler Markt meiner Kindheit auf der Durchreise in den Libanon (Karimé o.J.:17).

Fazit

Bundes- und Jugendfreiwilligendienste sind fest etablierte Formate freiwilligen Engagements, die insbesondere für junge Erwachsene zwischen Beendigung der Schullaufbahn und der Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung eine wichtige biografische Lernphase darstellen können. Die Freiwilligenbildung reagiert auf den Bedarf nach biografischer Orientierung mit entsprechenden Angeboten. Vor diesem Hintergrund untersuchte der vorliegende Beitrag die Potentiale des kreativen Schreibens. Festzuhalten bleibt, dass Identitätsarbeit zugleich Narrationsarbeit ist, denn das Selbst wird immer auch „erzählend erzeugt“ (Kraus 2007:25). Das biografische Schreiben ermöglicht dabei nicht nur Konstruktion und Rekonstruktion von Identität, sondern auch ihre Dekonstruktion – mal schöpferisch aus der machtvollen Position des*der Autor*in des eigenen Lebens heraus, mal Ohnmachtserfahrungen sichtbar machend, immer aber spielerisch, höchst individuell und mitunter eigenwillig.

Verwendete Literatur

  • AWO Bundesverband e. V. (Hrsg.) (2014): Handbuch für das Freiwillige Soziale Jahr und den Bundesfreiwilligendienst bei der Arbeiterwohlfahrt. Berlin: AWO.
  • BMBFSFJ (2023): Freiwilliges Soziales Jahr. URL: https://www.daten.bmfsfj.de/daten/daten/freiwilliges-soziales-jahr--137090 (letzter Abruf: 03.05.24).
  • Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (BKJ) (Hrsg.) (2013): Qualitätskonzept im FSJ Kultur, FSJ Politik, FSJ Schule. Qualitätsstandards für Träger, Einsatzstellen und bundeszentralen Träger. Berlin: BKJ.
  • Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (BKJ) (Hrsg.) (2020): Rahmenkonzept für die Freiwilligendienste Kultur und Bildung. Berlin: BKJ.
  • Caillois, Roger (1966): Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München: Langen.
  • Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (Hrsg.) (2020): u_count. gemeinsam Gesellschaft gestalten. Was junge Menschen brauchen, um sich zu engagieren. Ergebnisbericht der Jugendhearings „freiwilliges Engagement und Freiwilligendienste“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Berlin.
  • Fahrenwald, Claudia (2011): Erzählen im Kontext neuer Lernkulturen. Eine bildungstheoretische Analyse im Spannungsfeld von Wissen, Lernen und Subjekt. Wiesbaden: VS.
  • Gesetz über den Bundesfreiwilligendienst (Bundesfreiwilligendienstgesetz – BFDG) (o.J.). URL: ttp://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bfdg/gesamt.pdf (letzter Abruf: 03.05.24).
  • Gesetz zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (Jugendfreiwilligendienstegesetz – JFDG) (o.J.). URL: https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/jfdg/gesamt.pdf (letzter Abruf: 03.05.24).
  • Karimé, Andrea (o.J.): Wörter und Himmelörter – Sprachen erfinden, poetische und fantastische Räume öffnen. URL: https://www.ph-karlsruhe.de/projekte/poetik-dozentur (letzter Abruf: 03.05.2024).
  • Keupp, Heiner u.a. (2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 4. Auflage. Reinbek: Rowohlt.
  • Kraus, Wolfgang (2007): Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten. In: Joisten, Karen (Hrsg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (25-43). Berlin: Akademie Verlag.
  • Morgenstern, Isabel (2011): Projekt Lebensbuch. Biografiearbeit mit Jugendlichen. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr.
  • Nübel, Damaris (2018): Literarische Selbstinitiation. Grundlagen einer biografieorientierten Literaturdidaktik. München: kopaed.
  • Nübel, Damaris (2018): Literatur und Selbstinitiation. Auf dem Weg zu einer biografieorientierten Literaturdidaktik. In: Ott, Christine / Wrobel, Dieter (Hrsg.): Öffentliche Literaturdidaktik. Grundlegungen in Theorie und Praxis (79-93). Berlin: ESV.
  • Nübel, Damaris (2017): Biografie als Bildungsziel? Biografisches Arbeiten mit KJL in Jugendfreiwilligendiensten. In: Roeder, Caroline (Hrsg.): AUF BLEISTIFTWEGEN. LITERARISCHE (LERN)ORTE (77-82). KJL&M 3-2017.
  • Nübel, Damaris (2017): Schreiben als Medium der Selbstkonstruktion. Zur Funktion des Schreibens innerhalb einer biografieorientierten Literaturdidaktik. In: Nubert, Roxana (Hrsg.): Temeswarer Beiträge zur Germanistik. Bd. 14 (55-64). Temeswar: Mirton. 
  • Spinner, Kaspar H. (2005): Kreatives Schreiben zu literarischen Texten. In: Abraham, Ulf / Kupfer-Schreiner, Claudia / Maiwald, Klaus (Hrsg.): Schreibförderung und Schreiberziehung. Eine Einführung für Schule und Hochschule (109-119). Donauwörth: Auer.
  • Statista (o. J.): Durchschnittliche Anzahl der Bundesfreiwilligen (Bufdis) in Deutschland in den Jahren von 2012 bis 2023. Url: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/947553/umfrage/taetige-im-bundesfreiwilligendienst-in-deutschland/ (letzter Abruf: 03.05.24).
  • Walther, Andreas (2014): Übergänge im Lebenslauf zwischen Standardisierung und Entstandardisierung. In: Hof, Christiane / Meuth, Miriam / Walther, Andreas (Hrsg.): Pädagogik der Übergänge. Übergänge in Lebenslauf und Biografie als Anlässe und Bezugspunkte von Erziehung, Bildung und Hilfe (14-36). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
  • Wheeler, Claudia (2018): Collagen von Herta Müller in Neuhardenberg. Poetische Wort-Bilder der Literaturnobelpreisträgerin. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/collagen-von-herta-mueller-in-neuhardenberg-poetische-wort-100.html (letzter Abruf: 03.05.24).

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Damaris Nübel (2024): Biografisches Schreiben in der Bildungsarbeit von Jugendfreiwilligendiensten. Didaktische und methodische Perspektiven. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/biografisches-schreiben-bildungsarbeit-jugendfreiwilligendiensten-didaktische-methodische (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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