Bildungslandschaften und Kulturelle Bildung
Jugendliche Gestaltungen des Alltags als Herausforderung für ganztägige Bildungsangebote
Abstract
Kulturelle Bildung ist auf vielfältige Art und Weise in Projekte der Ganztagsbildung und Bildungsnetzwerke eingebunden. Anknüpfend an die im letzten Kinder- und Jugendbericht vorgetragene Idee einer den Jugendlichen entsprechenden, gerecht werdenden Formatierung von Bildungsangeboten werden in diesem Beitrag Fragen nach der Bedeutung der Kulturellen Bildung im Konzert von vernetzten Ganztagsbildungsangeboten und vernetzten kommunalen Bildungsarrangements erörtert und die damit verbundenen Herausforderungen diskutiert. Schafft es die Kulturelle Bildung als Koproduzent*in und Kooperationspartner*in, eine Bildungspraxis zu ermöglichen, die den jugendlichen Gestaltungen des Alltags und den jugendkulturellen und sozialen Interessen entspricht?
Jugend, Alltag und ganztägige Bildung
Insbesondere auch aufgrund der prominenten Platzierung im 15. Kinder- und Jugendbericht (vgl. BMFSFJ 2017) erfahren „die Lebensphase Jugend“ und die plurale, ausdifferenzierte alltägliche Gestaltung dieser eine erneute Thematisierung in den Diskursen der Fachpraxis, Wissenschaft und Politik. Wird der dort vorgenommenen Perspektivierung von „Jugend als spezifischem Integrationsmodus“ (ebd.: 84f.) gefolgt, geraten die Instanzen und Institutionen verstärkt in den Blick, die Kinder und Jugendliche in der Bewältigung und Gestaltung der alltäglichen, partiell riskanten Herausforderungen unterstützen, begleiten und rahmen. Die in dem Kinder- und Jugendbericht vorgetragene Konzeptualisierung von Jugend provoziert eine Relationierung mit den thematischen Ausrichtungen vorangegangener Berichte und hier insbesondere mit dem 12. respektive 14. Kinder- und Jugendbericht, die mit den programmatischen Titeln „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“ (ebd. 2005) bzw. „Kinder- und Jugendhilfe in neuer Verantwortung“ (vgl. ebd. 2013) vorgelegt wurden, ebenso wie eine Konkretisierung der in diesem Kontext aufgerufenen Potenziale und eingeforderten Verantwortungsübernahme außerschulischer Akteure für die Initiierung ganztägiger, den jugendlichen Wünschen und Erwartungen gerecht werdender Bildungsangebote.
Wird dem im 15. Kinder- und Jugendbericht (ebd. 2017) unternommenen Versuch gefolgt, die „Lebensphase Jugend“ anhand der in ihr zu bearbeitenden Herausforderungen zu verstehen, so sind Heranwachsende heutzutage in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft mit drei Kernherausforderungen konfrontiert. Sie haben sich nicht nur „allgemeinbildende, soziale und berufliche Handlungsfähigkeiten“ (ebd.: 49) anzueignen, sondern sich ebenso in zunehmender Verantwortungsübernahme zu erproben sowie sich in der Vielfalt gesellschaftlicher Entscheidungsoptionen, zwischen subjektiver Freiheit und sozialer Zugehörigkeit gesellschaftlich zu verorten (vgl. ebd.: 97). Der Auftrag sämtlicher pädagogischer – und auch sozialer – Handlungsfelder sowie des Bildungssystems, Kinder und Jugendliche in der Bewältigung und der Gestaltung dieser Aufgaben adäquat zu begleiten, zu unterstützen und zu fördern, verlangt – auch dies ist dem Bericht zu entnehmen – nach einer Praxis, die dezidiert jugendgerecht ausgerichtet ist (vgl. ebd.). Insbesondere auf den diesbezüglichen, potenziell wertvollen Beitrag der Akteure der außerschulischen Handlungsfelder wird im Zuge der Diskussion um eine an Bedürfnissen und Interessen Jugendlicher ausgerichteten Praxis von ganztägiger Bildung immer wieder verwiesen, auch weil diesen Angeboten zugesprochen wird, an die informellen jugendlichen Praktiken und Artikulationen anzuschließen, denn sie „bieten Lern- und Bildungsanlässe, die das formal strukturierte Bildungssystem so nicht vorhält oder aufgrund seiner selektiven Grundstruktur nicht vorhalten kann“ (Thole 2018: 490).
Der Beitrag stellt sich der Frage, in welcher Art und Weise Kulturelle Bildung, wenn sie in Projekte der Ganztagsbildung und Bildungsnetzwerke eingebunden ist, einen Beitrag zu einer Bildungspraxis leisten kann, die den jugendlichen Gestaltungen des Alltags und den jugendkulturellen und sozialen Interessen entspricht. Anknüpfend an die im letzten Kinder- und Jugendbericht vorgetragene Idee einer den Jugendlichen entsprechenden, gerecht werdenden Formatierung von Bildungsangeboten werden in diesem Beitrag Fragen nach der Bedeutung der Kulturellen Bildung im Konzert von vernetzten Ganztagsbildungsangeboten und vernetzten kommunalen Bildungsarrangements und die damit verbundenen Herausforderungen erörtert.
Perspektiven auf die Bedeutung Kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche
Wird gefragt, wie die Potenziale Kultureller Bildung im Kontext von Ganztagsbildung und Bildungslandschaften konkret ausgelotet werden können und dabei insbesondere die diesbezügliche Perspektive der Kinder und Jugendlichen in Erfahrung zu bringen gesucht, dann ist zunächst nach empirisch fundierten Annahmen der potenziellen Bedeutung kulturell-ästhetischer Arrangements und Praktiken für Kinder und Jugendliche allgemein zu fragen.
Kulturelle Bildung erhält zunächst Bedeutung als eine Form kindlicher und jugendlicher Freizeitgestaltung, die in erster Linie dem Motiv, in der Freizeit Spaß zu haben, sich kulturell auszudrücken und in der Welt zu platzieren, um sich als eigensinniges wie eigenständiges Subjekt zu präsentieren, folgt. Aktuelle Befunde der Kindheits- und Jugendforschung (vgl. u. a. World Vision Deutschland e. V. 2013; Rauschenbach/Bien 2012; Shell Deutschland Holding 2015) verdeutlichen den insgesamt hohen Stellenwert kreativer Beschäftigungsformen im Kontext kindlicher und jugendlicher Freizeitgestaltung und bestätigen damit ältere Befunde, die den kulturellen, autonomen, zuweilen auch renitenten und spaßigen Praxen (vgl. u. a. Willis 1977) wie auch den sozial-kulturellen Orientierungsmustern (vgl. Fuchs 1985) eine hohe Relevanz in Bezug auf die jugendlichen Verortungen des „Ich“ in der „Welt“ zuweisen. Forschungsergebnisse von speziell auf den kulturell-ästhetischen Bereich gerichteten Studien stärken diese Perspektive. In der Studie „Medien, Kultur und Sport“ (MediKuS) (Grgic/Züchner 2013) wiesen die Autor*innen u. a. darauf hin, dass „über alle Arten von Aktivitäten hinweg […] das Motiv ‚Spaß zu haben‘ die größte Zustimmung“ (Grgic 2013: 63) von den Jugendlichen erfuhr, die in ihrer Freizeit an kulturell-ästhetischen Bildungsangeboten teilnahmen. In Jugendkunstschulen engagierte Jugendliche, welche die Studie „Bildungsprozesse in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit“ (JuArt) (vgl. z. B. Züchner et al. 2019; Stuckert et al. 2018; Thole et al. 2017) in den Blick nahm, betonten die befragten jüngeren Jugendlichen die vorgefundenen Frei- und Möglichkeitsräume und stellten den darüber entstehenden Spaß als zentralen Faktor zur Aufrechterhaltung ihrer Motivation heraus (vgl. Rohde 2019). Spaß meint in diesem Zusammenhang insgesamt allerdings mehr als die bloße Freude am Tun oder „schrille Grenzüberschreitung, verantwortungsblinden Hedonismus und folgenloses Instant-Vergnügen, sondern auch und vielmehr: Hingabe, Vertiefen, Versenken in einen Gegenstand“ (Lindner 2003: 19). Spaß, wie er von Jugendlichen artikuliert wird, ist als eine Form des emotionalen Bezugs der Jugendlichen zum Gegenstand zu deuten (vgl. Rohde 2019). Entsprechend einer so verstandenen Bedeutung Kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche zielen kulturelle Bildungsangebote auch auf die Eröffnung von Zugängen und die Ermöglichung von Prozessen ab, die ein subjektives Erleben von Spaß versprechen. Daran anschließend erhält Kulturelle Bildung für Heranwachsende auch im Kontext von Wohlbefinden eine Bedeutung, da vielfältige Freizeitaktivitäten das Wohlbefinden von Heranwachsenden steigern und stärken, wie die World Vision Studie (vgl. Jänsch/Schneekloth 2013: 166f.; Wolfert/Pupeter: 2018: 123f.) aufzeigt. Werden Jugendliche befragt, so weisen sie auch auf die Bedeutsamkeit von Peerzusammenhängen und -prozessen in den Angeboten Kultureller Bildung hin (vgl. Thole et al. 2017).
Diese, auf die emotionale Empfindsamkeit und das sozial-kulturelle Erleben abzielenden Befunde, stehen keineswegs im Kontrast zu Hinweisen, die betonen, dass sich Heranwachsende bei der Wahl von konkreten Freizeitangeboten daran orientieren, ob die Angebote versprechen, Fähigkeiten neu zu erwerben oder vorhandene zu qualifizieren. In wechselseitigem Bezug zu einem gegenwärtigen Verständnis von Jugend als Qualifizierungsphase und damit einhergehenden, an sie gestellten gesellschaftlichen Anforderungen (vgl. BMFSFJ 2017) sind junge Menschen heutzutage als Ergänzung zum – verpflichtenden – Besuch formaler Bildungsinstitutionen auch – und besonders – im Freizeitkontext auf der Suche nach Bildungsgelegenheiten, die ihnen eine zusätzliche respektive eine vertiefende Qualifizierung im Sinne der Erweiterung und des Ausbaus von Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglichen. Dies tun sie zuweilen auch mit Blick auf ihre Positionierung am Arbeitsmarkt bzw. auf die Steigerung ihrer individuellen Karriereaussichten. Entsprechende Leistungs- und Qualifizierungsmotive suchten sie auch im Bereich non-formaler Bildungsangebote zu entdecken, auch in den Feldern des kulturell-ästhetischen Bereichs. Bildungsgelegenheiten werden, so zeigen u. a. die Ergebnisse der bereits zitierten JuArt-Studie, entsprechend beruflicher oder individueller Zielsetzungen bewusst ausgewählt und aufgesucht. Da es sich hierbei meist um sehr spezifische Bedürfnisse handelt – beispielsweise den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Nähen und Zeichnen, um dem beruflichen Ziel, Modedesigner*in zu werden, entsprechen zu können –, werden die Potenziale der Vermittlung entsprechender Kenntnisse an unterschiedlichen Bildungsorten aktiv reflektiert und die Freizeit entsprechend gestaltet. Außerschulischen Settings wird dabei im Kontrast zur Schule zugesprochen, auf einzelne Kompetenzen und Fachbereiche spezialisierte Angebote zu offerieren (vgl. Rohde 2019).
Das empirische Wissen zu tatsächlich über kulturell-ästhetische Freizeitbeschäftigung erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen stellt sich entgegen der starken Orientierung der jungen Nutzer*innen noch immer sehr überschaubar dar. Die Ergebnisse aus Studien, die sich auf den schulischen Kontext beschränkten und dabei zumeist musikalische Angebote im Blick hatten, weisen auf positive Veränderungen von fachgebundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten ebenso wie auf die Erweiterung sozialer und kommunikativer Kompetenzen hin (vgl. Stuckert et al. 2018; Rogh et al. 2017; Preiß 2008; Heyer et al. 2013; Brenne et al. 2008). Andere künstlerische und kulturelle Zugangsweisen wie Tanz oder (digitale) Medien sind bislang allerdings ebenso wenig be- und erforscht worden wie außerschulische und informelle Kontexte in Bezug auf die dort platzierten Möglichkeiten, kulturell-ästhetische Fähigkeiten zu generieren. Die wenigen dazu vorliegenden Ergebnisse (vgl. u. a. Züchner et al. 2019; Lindner 2003) deuten die Potenziale positiver Veränderungen verschiedener Kompetenzen und den Erwerb unterschiedlicher fachgebundener Fähigkeiten zwar durchaus an, bedürfen allerdings noch einer Bestätigung durch weitere Studien, auch durch biografisch orientierte Längsschnittstudien, die die Bedeutung der aktiven Teilnahme an kulturell-ästhetischen Projekten für die Gestaltung der Wege durchs Leben konkret nachzeichnen können. Damit wird auf einen grundlegenden weiteren Forschungsbedarf sowohl hinsichtlich des programmatisch geltend gemachten Einflusses Kultureller Bildung auf das Lernen und die Bildung Jugendlicher (vgl. auch Grunert 2006, 2012; Thole et al. 2017) wie auch hinsichtlich darüber hinausgehender Fragestellungen hingewiesen. Insbesondere die Bedarfe Jugendlicher aus unterschiedlichen Milieus und die Möglichkeiten, die Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungen und Verortungen in der Welt an ein kulturell-ästhetisches Engagement in non-formal organisierten Projekten koppeln, bleiben klärungsbedürftig. Wenn davon ausgegangen wird, dass nicht alle Jugendlichen ihre Jugendphase identisch gestalten, dann sprechen gute Argumente dafür, ebenfalls davon auszugehen, dass unterschiedliche Formen und Angebote Kultureller Bildung wünschenswert sind.
Zugänge und Beteiligungen an Kultureller Bildung sind ungleich verteilt
Die formulierten Perspektiven deuten die Potenziale Kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche zur Ermöglichung einer jugendgerechten Gestaltung des Ganztags an, da sie einerseits aus der Perspektive des Erlebens der Kinder und Jugendlichen über den Faktor „Spaß“ einen hohen subjektiven Aufforderungscharakter besitzt und gleichzeitig zum kulturellen Kapital der Heranwachsenden beiträgt. Kulturelles Kapital ist, Pierre Bourdieu (vgl. 1985) folgend, neben sozialem und ökonomischem Kapital eine der drei Kapitalsorten, über die soziale Ungleichheit gesellschaftlich konstituiert wird und Distinktionen ermöglicht werden. Es setzt sich zusammen aus institutionalisiertem (Bildungszertifikate wie Schulabschlüsse), materiellem (Besitz von Kulturgütern wie Instrumenten) und inkorporiertem (Wissen über kulturelle Praktiken und entsprechende Fähigkeiten) Kapital. Die jeweils gegebenen Zugriffe auf und Verfügbarkeiten über kulturelle Kapitalressourcen haben einerseits Einfluss darauf, inwiefern Kinder und Jugendliche auf die Möglichkeiten kultureller Handlungs- und Erfahrungsfelder zugreifen und diese nutzen können. Gleichzeitig moderiert es – gemeinsam mit den anderen Kapitalsorten – die Position und die Stellung, die ein Individuum im sozialen Raum der Gesellschaft einnimmt (vgl. ebd.: 32). Insbesondere kann mit dieser Perspektive in den Blick genommen werden, warum Jugendliche sich im gesellschaftlichen Raum ungleich positionieren und die strukturell bestehenden, für alle offenen Zugänge zu den kulturellen Bildungsangeboten von den Heranwachsenden nicht in einem identischen Umfang wahrgenommen werden. Faktisch zeigen sich insbesondere für dieses Feld weitreichende Ungleichheitsverhältnisse, die vor allem diejenigen Kinder und Jugendlichen betreffen, die nicht bereits herkunftsbedingt über ein hohes kulturelles (und häufig auch ökonomisches) Kapital verfügen. Aus diesem Grund spricht beispielsweise Viola Kelb (2014: 71) vom „Beteiligungsproblem“ der Kulturellen Bildung, da immer noch mehrheitlich Heranwachsende aus bildungsorientierten Familien adressiert und erreicht werden. Empirisch stützen entsprechende Feststellungen u. a. die MediKuS-Studie sowie das zweite „Jugend-KulturBarometer“, welche Zusammenhänge zwischen der Verfügbarkeit über kulturelles Kapital respektive der sozialen Herkunft Heranwachsender und ihren Freizeitgestaltungspraxen belegen. Kinder und Jugendliche, die über ein hohes kulturelles Kapital verfügen, betätigen sich in ihrer Freizeit zu 90 Prozent im musisch-künstlerischen Bereich und weisen allgemein deutlich vielseitigere Freizeitinteressen auf als Heranwachsende, denen ein umfänglicher Zugriff auf kulturelle Kapitalien nicht möglich ist. Zudem belegen Studien wie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) und die „Shell Jugendstudie“ Zusammenhänge zwischen Formen der jugendlichen Freizeitgestaltung und der sozialen Herkunft. So finden sich die Typen der „aktiven, bildungsorientierten Allrounder“ (Geier 2015: 45) und der „kreativen Freizeitelite“ (Leven/Schneekloth 2015: 115) mehrheitlich in den auch ökonomisch besser gestellten, höheren sozialen Milieus. Letztlich verdeutlichen auch die Ergebnisse des „mapping//kulturelle-bildung“ (vgl. Keuchel 2012: 134ff.) die fortbestehenden Disparitäten, indem sie zeigen, dass die Angebote der kulturellen Kinder- und Jugendbildung primär lediglich bestimmte Zielgruppen erreichen. Entgegen der Zielsetzung Kultureller Bildung, Teilhabe und Zugänge im Bereich kultureller und künstlerischer Aktivitäten und damit Teilhabegerechtigkeit zu fördern und zu verbessern, votieren die Befunde der Studien nicht dafür, dass es den kulturellen Bildungsangeboten besser als anderen Bildungsmaßnahmen gelingt, Jugendliche aus Milieus mit weniger ausgeprägter Bildungsaffinität für eine Teilnahme an den Angeboten und damit zur Teilhabe zu motivieren. Zudem ist zu registrieren, dass strukturschwächere, z. B. ländlichere Regionen grundsätzlich wenig flächendeckend mit Anbietern und Angeboten Kultureller Bildung versorgt sind (vgl. Keuchel 2012; Schorn/Wolf 2018) und Heranwachsenden dementsprechend auch hier Zugänge und Erfahrungen kultureller und künstlerischer Bildungspraxis oftmals vorenthalten bzw. verschlossen bleiben.
Wird auf Grundlage der angedeuteten empirischen Befunde davon ausgegangen, dass die Kulturelle Bildung nach wie vor nicht Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Milieus der Gesellschaft erreicht, dann ist zugleich ebenfalls festzuhalten, dass über die Angebote der Kulturellen Bildung allenfalls punktuell bestehende soziale Ungleichheiten abgeschwächt werden, im Kern jedoch Prozesse der Reproduktion sozialer Ungleichheiten nicht unterlaufen werden – trotz der durchaus sichtbaren Bemühungen zur Verbesserung der Situation (zielgruppenspezifische Angebote, neue – z. B. digitale – Wege der Gewinnung von Teilnehmer*innen). Allerdings wird den Kooperationen kultureller Bildungsakteure mit der Schule das Potenzial zugesprochen, Kinder und Jugendliche weniger selektiv zu erreichen (vgl. Graßhoff 2017; Kelb 2014; Züchner/Arnoldt 2011). Verwiesen wird vor allem auf Angebote im Rahmen von Ganztagsschule und festgehalten, „dass die Ganztagsschulen durchaus die Chance einer erweiterten Bildungsteilhabe für Kinder aus ressourcenärmeren Familien bieten können“ (Züchner 2014: 29).
Bildungsnetzwerke als Lösung …
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass die Frage nach den Potenzialen Kultureller Bildung für Jugendliche und für einen ihren Wünschen und Bedürfnissen entsprechendem, jugendgerechten Ganztag nur unzulässig verkürzt beantwortet werden kann, wenn generalisierend von einheitlichen Bedarfen und Herausforderungen „der Jugendlichen“ ausgegangen wird, also davon abstrahiert wird, dass Jugendliche sehr unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen davon haben, was „jugendgerecht“ ist, und über sehr unterschiedliche Zugangschancen verfügen, an den verschiedenen Angeboten Kultureller Bildung teilzunehmen und zu partizipieren.
Wird trotz der aufgezeigten, fortbestehenden Schwierigkeiten in der Eröffnung von Zugängen zum Feld der Kulturellen Bildung für möglichst alle Kinder und Jugendlichen eine auf die Potenziale entsprechender Freizeitaktivitäten fokussierte Perspektive präferiert, so besteht die Herausforderung darin, spezifische Angebote für konkrete Jugendliche zu konzipieren und anzubieten.
Insbesondere im Anschluss an die eingangs zitierten Jugendberichte von 2005 und 2013 sind dann vielleicht insbesondere die Bemühungen zu verstärken, Akteure des Felds der kulturellen Kinder- und Jugendbildung in lokale Netzwerke und Kooperationen einzubinden. Das Konzept „Bildungslandschaft“ soll an dieser Stelle deshalb als eine mögliche Lösungsidee des „Beteiligungsproblems“ (Kelb 2014: 71) Kultureller Bildung präsentiert, aber auch diskutiert werden.
Entwickelt vor dem Hintergrund der Ergebnisse der ländervergleichenden Schulstudien seit Beginn des neuen Jahrtausends fokussiert die Konzeptfigur der Bildungslandschaft eine Optimierung des Bildungssystems durch institutionelle Vernetzung und Kommunalisierung bzw. Regionalisierung. Während insbesondere in Diskursen der Akteure außerschulischer Bildung die Bedeutung der Konzeptfigur im Kontext der Förderung von Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit sowie einer Öffnung des auf den formalen Bereich begrenzten Bildungsbegriffs betont wurde und wird, kann zum jetzigen Stand der Umsetzung lediglich festgestellt werden, dass die real entstandenen Netzwerke inhaltlich sehr unterschiedlichen Ausrichtungen folgen (vgl. z. B. Bollweg 2018; Schmachtel 2017). Dies dokumentiert sich auch in der Art und Weise, wie die einzelnen Verständnisweisen der Akteure Kultureller Bildung in die Netzwerkgestaltung und -praxis einfließen. Mit Perspektive auf den potenziellen Beitrag Kultureller Bildung zu einer jugendgemäßen Gestaltung von Ganztag spricht damit aus analytischer Perspektive vieles dafür, Bildungsnetzwerke im Kern als zunächst einmal inhaltlich unbestimmte Steuerungsinstrumente zu betrachten (vgl. Reutlinger 2011; Schubert 2018). Diese sind hinsichtlich der von ihnen verfolgten Zielperspektiven an den jeweils von den Akteuren vor Ort definierten Herausforderungen orientiert, für deren Bewältigung „Bildung“ zunehmend als „harter Standortfaktor“ (Bollweg 2018: 1174) angesehen wird.
„Bildungslandschaften“, so kann über ein Jahrzehnt nach der prominenten Entwicklung der Idee sowohl im Kinder- und Jugendbericht 2005 (vgl. BMFSFJ 2005) als auch in den Veröffentlichungen der Deutschen Städtetage (2007, 2012) resümiert werden, stellen in ihrer Umsetzung eine Konzeptfigur dar, deren kleinster gemeinsamer Nenner auf Ebene der Handlungsziele der professionellen Akteure zu suchen ist: Sie teilen die Merkmale einer (angestrebten) institutionellen Vernetzung, der (zunehmenden) Verantwortungsverlagerung für Bildung auf die kommunale oder regionale Entscheidungsebene und den Ausbau einer zivilgesellschaftlichen Beteiligung sowie die damit verbundene Hoffnung auf eine Optimierung der bildungsbezogenen Infrastruktur in dem in den Fokus genommenen Verwaltungs- und Zuständigkeitsraum. Mit welchen Zielen für welche Gruppen von Akteur*innen oder Adressat*innen hier Veränderungen vorgenommen werden, unterscheidet sich allerdings auffallend in den einzelnen Ausformungen dessen, was unter der Vokabel der „Bildungslandschaft“ firmiert (vgl. Stolz 2017; Bollweg 2018). Ohne differenziert auf verschiedene Modelle der Netzwerke im Bildungsbereich einzugehen, sollen zumindest exemplarisch zwei häufig anzutreffende Programmatiken für Bildungslandschaften unter der Perspektive betrachtet werden, welche Implikationen sie für die Frage einer „jugendgerechten“ Gestaltung ganztägiger Bildung und die je vorgesehene Beteiligung Kultureller Bildung an deren Realisierung beinhalten. Die hier vorgestellten Ergebnisse wurden im Rahmen des Kooperationsprojekts der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) e. V. und der Universität Kassel, Fachgebiet „Erziehungswissenschaft, Soziale Arbeit & außerschulische Bildung“ gewonnen.
In einer ersten Programmatik präsentieren Anbieter und damit auch die Akteure der Angebote Kultureller Bildung die im lokalen Netzwerk vorgehaltenen Formate als potenziell niedrigschwellige, alternative Zugänge zu pädagogisch gerahmten Settings der Bildung, Erziehung und Betreuung in Ergänzung zum formalen Bildungssystem. Weiter sollen sie als öffentlich finanzierte und in Kooperation mit dem formalen Bildungssystem zugänglich gemachte Angebote kompensatorisch im Sinne des Ersatzes für vielfältigere Freizeit- und Bildungsoptionen von Kindern und Jugendlichen aus bildungsnahen Familien wirken. Hier wird Bildungslandschaften das Potenzial zugesprochen, Kindern und Jugendlichen, denen der Zugang zu Kultur und Bildung aufgrund ihrer sozialen Herkunft nicht in gleichem Maße offensteht wie anderen Heranwachsenden, neue soziale Räume und Bildungsmöglichkeiten eröffnen zu können, indem Zugänge zu anderen sozialen Netzwerken und Kontexten geschaffen werden (siehe: Wolfgang Mack „Kulturelle Bildung in lokalen Bildungslandschaften" 2013).
Die zweite Programmatik von Bildungsnetzwerken wird präsentiert als Reaktion auf den wahrgenommenen demografischen Wandel. Akteure Kultureller Bildung und entsprechende Bildungsangebote werden in dieser Perspektive hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, die Attraktivität der jeweiligen Region zu stärken, beurteilt und vor diesem Hintergrund integriert. Sie sollen Anreize für Familien – adressiert werden zumeist erwerbstätige und bildungsnahe Familien – schaffen, sich für einen Zuzug in die jeweilige Region zu entscheiden und insbesondere in dieser zu verbleiben. Zu finden ist eine solche inhaltliche Ausrichtung zumeist in strukturschwächeren Regionen, welche vom demografischen Wandel, insbesondere der Abwanderung bildungsnaher Familien und junger Menschen, betroffen sind. Kulturelle Bildung wird in diesem Sinne verstanden als möglicher Schlüssel, Jugendlichen neue, erweiterte oder bessere Möglichkeiten zur Identifikation mit dem eigenen Wohnort zur Verfügung zu stellen, um auch diesen Anreize zum Verbleib in der Region zu bieten.
Beiden programmatischen Ausrichtungen gemein ist, dass die Netzwerke als potenzielle Arenen entworfen werden, über die die Landschaft des Aufwachsens junger Menschen verhandelt und gegebenenfalls verändert werden kann. Zudem werden explizit oder implizit Setzungen dahingehend vorgenommen, welche Ziele und Inhalte mit der jeweiligen Konzipierung von „Bildung“ für die adressierten Subjekte oder auf anderen Ebenen angestrebt werden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es über Bildungslandschaften bislang noch nicht umfassend gelingt, Jugendliche aus unterschiedlichen sozialen Milieus in spezifischer Form für eine Partizipation zu gewinnen (vgl. Stolz 2017: 121), in den politischen Diskursen aber von einer Verwirklichung von Teilnahme und Teilhabe ausgegangen wird, bleibt es eine empirische wie theoretische Herausforderung, die Interessen und Programmatiken konkret zu bestimmen, die für die Beschreibung und Beurteilung von Jugendgerechtigkeit herangezogen werden.
Kulturelle Bildung in Bildungsnetzwerken – Herausforderungen
Als grundsätzliche Bedingung gelingender Kooperation und Vernetzung in Bildungsnetzwerken bedarf es der Bestimmung eines von den unterschiedlichen beteiligten Akteuren definierten und kollektiv geteilten Ziels des Netzwerks und einer Klärung der Interessen der einzelnen Netzwerkpartner (vgl. Schubert 2018). Die Akteure der Kulturellen Bildung sind in diesem Kontext zunächst gefordert, ihr Verständnis von „Kultureller Bildung“ zu verdeutlichen, denn „was genau unter Kultureller Bildung zu verstehen ist und wie sie aussehen soll, ist noch mit keiner Forderung nach ihr und für alle gesagt“ (Weiß 2017: 14). Davon ausgehend bleibt ebenfalls der Beitrag, den Kulturelle Bildung zur Bildungsbiografie und zum Aufwachsen junger Menschen leisten kann, oftmals unpräzise. Insbesondere sind die Projekte der Kulturellen Bildung gefordert zu präzisieren, ob es ihnen darum geht, die kulturell-ästhetischen, künstlerischen Fähigkeiten von Jugendlichen zu erweitern oder darum, sie zu motivieren, sich gemäß ihren Interessen, Fähigkeiten und Wünschen zu artikulieren und in diesem Prozess der Auseinandersetzung mit sich und der Welt neue Wege zu finden, die Welt, das Selbst und das Soziale zu verstehen (vgl. Fuchs 2013). Unter dieser Perspektive könnten die Projekte der Kulturellen Bildung ihre Beteiligung an Bildungsnetzwerken auch als Herausforderung verstehen, ihr programmatisches Gesicht zu präzisieren, also zu verdeutlichen, wie der spezifische Beitrag, den die Kulturelle Bildung in Bildungsnetzwerken zu leisten vermag, aussehen kann und wie dieser Beitrag die kommunale Bildungslandschaft bereichern kann.
Über die kulturellen Initiativen und Projekte könnte auch initiiert werden, zukünftig davon abzusehen, von den „Durchschnittsjugendlichen“ und von für „diese“ entwickelten Angebote auszugehen. Sie, die Kulturelle Bildung, könnte lernen, weder von der Jugend noch von der Kulturellen Bildung zu sprechen, sondern beides im Plural zu denken. Ersteres würde ausdrücken, dass eine ungleichheitssensible Perspektive auf Jugendliche und die Bedingungen ihres Aufwachsens eine Mindestvoraussetzung für „jugendgerechte“ Bildungslandschaften im Sinne eines für alle Jugendlichen gerechten Bildungssystems favorisiert wird. Letzteres würde signalisieren, dass die Akteure der Kulturellen Bildung über ein Gefühl für die empirische Erfassung und Konkretisierung unterschiedlicher Potenziale Kultureller Bildung für unterschiedliche Adressat*innen und Zielsetzungen verfügen.
Die Entscheidung für eine flächendeckende Umsetzung ganztägiger Bildungsangebote und ihre Einbindung in koordinierende und steuernde Netzwerke, wie sie durch eine Vielzahl von Bundes- und Landesprogrammen befördert wird, kann auch als eine Neugewichtung des Verhältnisses von finanziellen, sach- und infrastrukturellen Leistungen gedeutet werden. Ob im Schatten dieser Neugewichtungen die Ideen von Bildung neu formuliert werden, ist im Kontext der Diskurse zur Transformation des Sozialstaats zu reflektieren. Wird auf entsprechende Reflexionen verzichtet, riskieren Bildungslandschaften, dass die ausbuchstabierten Ziele lediglich auf einer abstrakten und universell konsensuellen Ebene verbleiben und eine Auseinandersetzung ausbleibt. Da Unterschiede in den Zielsetzungen und dadurch entstehende Konkurrenzen zwischen den Beteiligten somit eher verschleiert, anstatt offen ausgetragen würden, würden sie im Zuge dessen riskieren, gewissermaßen auf der Hinterbühne bestehende Verhältnisse zu verfestigen oder die inhaltlich motivierte Kooperation zugunsten formaler Steuerung des Bestehenden zu vernachlässigen. Sollten Bildungslandschaften das mit ihnen assoziierte konstruktive Potenzial für das Aufwachsen und die Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen zu entfalten anstreben, so wären sie als Arenen zu konzipieren, die einen ergebnisoffenen und kontroversen Diskurs darüber ermöglichen, wer in welchen Kontexten darüber bestimmt, was als „jugendgerecht“ gilt und welche Zielperspektiven die unterschiedlichen Akteure jeweils für das Aufwachsen von Jugendlichen ansetzen. Eine Verantwortungsübernahme außerschulischer Akteure für die Realisierung von „Jugendgerechtigkeit“ kann in dieser Lesart auch daran gemessen werden, inwiefern sie bereit und in der Lage sind, den je eigenen Beitrag zu Bildungsprozessen Jugendlicher zu präzisieren und gegebenenfalls zu diversifizieren, zur Diskussion und zur Disposition zu stellen.