Die Bildungsinitiative „Im Laub“ — Repräsentationen von Gleichheit und Differenz

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von Andrea Bramberger, Iris Bramberger, Elisabeth M. Eder

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Im Laub ist eine Bildungsinitiative, die eine Auseinandersetzung mit Gleichheit und Differenz anregt. Durch Multimodalität und das Aus- und Eintauschen von Text, Bild und Musik lädt die Bildungsinitiative Im Laub Schüler*innen (der Primarstufe) sowie Studierende dazu ein, Gleichheit und Differenz als Parameter eines Spektrums wahrzunehmen, das sie entdecken und mitgestalten können. Im Spiel mit Unterrichtsmaterialien, die von den Autorinnen für Im Laub entwickelt wurden, und in ihrer Wahl der von den Autorinnen vorgeschlagenen Varianten dieses Spielens können sich Schüler*innen/Studierende darin üben, Dichotomien – etwa Gleichheit versus Differenz – zu transzendieren: Dialektisch zu agieren und sich nicht auf Dichotomien zu reduzieren ist Ziel der Projektarbeit und des didaktischen Konzepts. Im Laub versucht, die Reflexion von Gleichheit und Differenz durch Kunst in/als Bildung in einer Weise zu beleben, die in Richtung Egalität weist. Der Beitrag kontextualisiert diese diversitätssensible Initiative und versteht sich zugleich als eine didaktische Handreichung. Im Beitrag werden in einem ersten Schritt die Bildungsabsicht von Im Laub genannt und der theoretische Rahmen skizziert, in den die Bildungsinitiative eingeordnet werden kann. In einem zweiten Schritt werden die Unterrichtsmaterialien für Im Laub gezeigt und deren Potenzial für den Unterricht im Kontext von Gleichheit und Differenz ausgelotet. In einem dritten Schritt werden Anregungen für die Gestaltung von Bildungssettings mit Im Laub als Angebote für eine ungleichheitssensible Kulturelle Bildungspraxis vorgestellt.

Der Umgang mit Gleichheit und Differenz in Bildungsinstitutionen, der sich an Egalität orientiert, hält die Erfahrungen und Wahrnehmungen aller Bildungsbeteiligten für gleichermaßen wichtig und ist mit der Gestaltung eines sicheren Raums befasst (Bramberger/Winter 2021). In Bildungssettings, die auf egalitäre Bildungsmöglichkeiten aller abzielen, erleben sich Lernende als Akteur*innen und Mitgestaltende ihres Bildungsraums. Sie sind an der Ausgestaltung dessen, was als Wissen gilt, beteiligt. Multimodale, den Körper miteinbeziehende Szenarien – etwa die Verbindung der Verse, Bilder und Stimmen (Ellison/Esposito 2022) aller – könnten die Berücksichtigung von Wissen, das nicht bereits zugänglich vorliegt, ausgesprochen oder angesprochen ist, ausdehnen. Sie verstehen sich als Methoden, bewegliches, situiertes Wissen zu generieren und die Repräsentationen des Sozialen durch unterschiedliche interpretative Praktiken sichtbar zu machen (Denzin/Giardina 2020), die weder das Material privilegieren, noch die Sprache oder den Ausdruck.

Bei der Bildungsinitiative Im Laub ist es der Umgang mit Differenz und Gleichheit, der im Unterricht verortet und verhandelt wird. Im Laub verbindet komplexe Theoriekonzepte, die auf soziale Ungleichheiten reagieren, die Erstellung von Materialien, die sich dazu eignen, egalitäre Bildungsmöglichkeiten im Unterricht zu forcieren, und die Planung und Gestaltung von Unterrichtssettings in einer Weise, in der die drei Bereiche einander informieren. Darüber hinaus werden Zugänge zu und Umgänge mit Differenz und Gleichheit im Zusammenspiel von Aspekten und Haltungen in unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen – der Sprache, der Malerei/Grafik und der Komposition – entwickelt. Auf diese Weise repräsentiert Im Laub eine bestimmte Art des Auslotens der Beschaffenheit, Grenzen und Überlagerungen von Differenz und Gleichheit. Das von uns entwickelte und gestaltete Unterrichtsmaterial (zu) Im Laub regt kritische Reflexionen von Differenz und Gleichheit an, die aus dem Selbstverständnis der drei Bereiche (Text, Bild, Ton) gespeist werden. Im Laub erweist sich als eine Alternative zu hegemonialen Wissenskonstruktionen: Ohne Differenzkategorien zu benennen und aufzurufen stärkt die Bildungsarbeit mit Im Laub in einem ersten Schritt die Reflexion eigener Interpretationen von Unterschiedlichem/Gleichem und setzt diese Interpretationen in einem zweiten Schritt in ein Verhältnis (relation) zu den Interpretationen anderer Personen (relationrelationship). Im Laub ist Material und Prozess zugleich. Es rührt die Lust Lernender an, sich differenzierter zu artikulieren bzw. bewusster zu verbergen, was nicht mit anderen geteilt werden soll oder kann. Es leitet Lernende in ihrer Virtuosität, sich dem/den anderen zuzuwenden.

Lernenden liegen mit Im Laub 9 Karten vor. Mit dem Lesen des Worts, das sie jeweils auf der Karte vorfinden, und dem Betrachten des Bilds auf derselben Karte, und mit dem zeitgleich stattfindenden Hören eines Musikstücks bzw. der Töne für die jeweilige Karte, genauer: mit ihrem Umgang mit dem synästhetischen Ausdruck und Eindruck von Im Laub, greifen Lernende auf das Repertoire ihrer eigenen Empfindungen und Deutungen zu. Der Rhythmus von Im Laub, die Bilder, Worte, Töne und der Ausdruck verweisen auf Differenz und Gleichheit, und mehr: sie bieten unterschiedliche Einschätzungen von Differenz und Gleichheit an. Lernende artikulieren ihre Wahrnehmung und ihre Interpretationen der Karten bzw. des Gesamtkunstwerks, und sie beleben die eröffneten Zugänge zu Differenz und Gleichheit in Reflexion und im Austausch miteinander. Sie orchestrieren Aspekte eines sprachlich, bildhaft und musikalisch angebotenen Eindrucks, der durch ihre Aufmerksamkeit für jedes Wort, jeden Vokal, jeden Konsonanten, für visuelle Manifestationen und für den Klang und die Abfolge von Tönen in Bewegung gehalten werden und nicht abschließen. Gleichheit und Differenz erweisen sich für Lernende als Aspekte, die verschiebbar sind, und deren Verhältnis zueinander beweglich ist.

Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Bildungsabsicht von Im Laub und der theoretische Rahmen beschrieben, in den die Bildungsinitiative eingeordnet werden kann. In einem zweiten Schritt wird die Gestaltung von Im Laub als Unterrichtsmaterial vorgestellt und im Kontext von ‚Gleichheit und Differenz‘ begründet. In einem dritten Schritt werden Vorschläge für den Unterricht angeboten.

Im Laub — Bildungsabsicht und theoretischer Rahmen

Bildungsinitiativen, die Gleichheit und Differenz diskutieren, und pädagogisches Handeln, das auf Egalität abzielt, sind bemüht, soziale Ungleichheiten zu benennen und /oder für Lesende Möglichkeiten eines Ausdrucks zu finden, der gerade nicht von jenen Ungleichheiten geprägt ist. In ihrer Bildungstrilogie fordert etwa bell hooks (1994, 2003, 2010) counter-hegemonic speech. Sie meint damit eine alternative Rede zu hegemonialem Sprechen. Die von ihr geforderte Rede setzt eine Atmosphäre in einem Bildungsraum voraus und stärkt einen solchen Raum, der insofern für alle Lernende sicher sei, als sie in diesem Raum lernen und sich bilden können, ohne dass ihre Würde verletzt wird und sie physische und/oder psychische Verletzungen erleiden (Winter/Bramberger 2021). hooks sucht nach Antworten auf die Frage, wie Lernende zu einer Sprache kommen, die sie ihre eigene nennen können und wollen, angesichts der Schwierigkeit, dass das Sprechen der Lernenden in Bildungsinstitutionen unterschiedlich autorisiert und legitimiert ist, einerseits, und dass über Sprache, Texte, Bilder und Töne vielfach Ungleichheiten reproduziert und aufrechterhalten werden, andererseits. Das Vermögen, geschriebene, gesprochene, performte und digitale Texte und Zeichen zu dekodieren, zählt zu den zentralen Leistungen, die Lernende in Bildungseinrichtungen erwerben. Dekodierung ist ein komplexer Prozess, der von der Diversität des Materials und der Lernenden mitbestimmt wird (Cope/Kalantzis 2000). Vertreter*innen der New Literacy Studies erarbeiten anhaltend Methoden der Sensibilisierung für die Kontextualisierung eines jeden Schreibens, Lesens und Dekodierens (Gee 2014, 2012), und für die Machtverhältnisse, in denen diese Texte und Praktiken angelegt sind. Die Schärfung der Wahrnehmung von Machtverhältnissen und sozialen Ungleichheiten, die manchen Unterrichtsmaterialien, Bildern, Texten, Musikstücken, Lernszenarien usw. eingeschrieben sind, stärkt Lernende darin, soziale Ungleichheiten als strukturell und politisch zu erkennen (Janks 2010). Der Verweis darauf ruft Ungleichheiten einmal mehr auf, und/oder er führt alternative Szenarien vor Augen und stärkt Lernende darin, das Erforschen, Variieren und Steuern sozialer Handlungen und ihres eigenen Ausdrucks reflektierter zu praktizieren (Garcia/Luke/Seglem 2018). Im Laub regt dementsprechend einen Modus des Umgangs mit Differenz/Gleichheit an, der Relationen, Variationen und Veränderungen neben vermeintlich Gegensätzliches stellt. Im Laub zeigt Differentes/Gleiches als ein Spektrum auf, ohne es zur Diskussion zu stellen. Es stärkt die Wahrnehmung der Parallelität von Varianten, ohne eine Entscheidung darüber zu fordern, welche von ihnen ausgewählt, aufgenommen oder abgelehnt werden (sollen); “why must I absolutely understand the Other in order to live next to him and work with him?” fragt Édouard Glissant (in Diawara 2009/2021:7), und er relativiert hegemoniale Vorgehensweisen und Forderungen nach Einheitlichkeit in der Artikulation und Interpretation. Im Laub bietet eine spielerische Art und Weise an, sinnliche Erfahrungen, Körperwissen, die eigene Biographie und die in Gesellschaften auffindbaren Deutungen des Sozialen auszuloten, und die Deutungen bzw. die eingeübte Handlung des Deutens um Alternativen zu ergänzen. Im Laub stärkt die Reflexion der Beschaffenheit, der Grenzen und der Überlagerung von Differenz und Gleichheit als aufeinander bezogene Größen und verbindet diese Reflexion mit der Spiegelung dieser Praktik im eigenen Umgang mit Sprache, Bildern und Tönen; Im Laub regt eine Vielzahl von Interpretation an, die weder zu einer Einheit gefügt werden, noch in Widerspruch verharren, „consent to the idea that it is possible to be one and multiple at the same time; that you can be yourself and the Other; that you can be the Same and the Different“ (Glissant in Diawara 2009/2021:3). Ziel ist es, einen Umgang mit Differenz und Gleichheit einzuüben, der als Alternative zu Binarität und Polarisierung stets neu entdeckt werden kann. Der Gewinn könnte ein Bewusstsein von Differenz und Gleichheit sein, das Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten nicht verschleiert, sondern die Fähigkeit stärkt, eigene Grenzen verschiebbar zu halten – etwa im Sinne Boaventura de Sousa Santos‘, nach dem Menschen über ihre Zugehörigkeiten entscheiden können: „people have the right to be equal whenever difference makes them inferior, but they also have the right to be different whenever equality jeopardizes their identity” (Santos 1997:13).

Die Bildungsinitiative Im Laub — Material und Prozess

Als eine Variante des Umgangs mit dem anderen/demselben, die Binarität relativiert, führt Jacques Derrida différance ein; einen Modus von Differenz und Gleichheit, der, gesprochen, mit difference schwingt, nahezu im Gleichklang, mit nicht hörbarer, nicht vernehmbarer Unterscheidung; einen Modus von Differenz und Gleichheit, der sich nicht in Oppositionen findet (Derrida 1968/2004:131), aber auch keine Einheit oder Vereinheitlichung andeutet. Mit Im Laub könnte différance als ein „Spiel von Verschiedenheiten in der Sprache“ und „die Beziehung des Sprechens zur Sprache, der Umweg, den ich gehen muß, um zu sprechen, das schweigende Unterpfand, das ich geben muß“ (Derrida 1968/2004:129) angeregt werden, das etwas von dem impliziert, das Édouard Glissant (in Diawara 2009/2021) „the dimension of multiplicity“ (2) nennt; différance stellt einem binär angelegten Differenzdenken Verschiebungen von Perspektiven zur Seite. Sie zeigen sich in der Sprache durch Widersprüche, ein Aufschieben und Aussparen, ein Anbieten und Rücknehmen des Angebotenen, und sie schöpfen sich sowohl aus der Sprache als auch aus ihrer Verwobenheit mit dem Blicken, dem Hören, dem Tasten, dem Fühlen, dem Riechen und den Bewegungen, die das sensitive Erleben begleiten. Différance hebt die Opposition des Sensitiven und des Intelligiblen auf. Differenz/Gleichheit werden mit Im Laub nicht allein als eine theoretische und intellektuelle Übung aufgefasst. Vielmehr sind mit Im Laub die sinnlichen Erfahrungen ‚multipler‘ Varianten der Differenz und Gleichheit und die Reflexion dieser Erfahrungen verbunden. Im Laub impliziert multiplicity. Im Laub offeriert und inszeniert multimodal Differenz und Gleichheit. Bildungsarbeit mit Im Laub setzt diesen Prozess der anhaltenden Inszenierungen fort. Lernende gestalten diesen Prozess als absichtsvoll Handelnde und reflektieren ihn.

Abb. 1 Arbeitsprozess
Abbildung 1: Arbeitsprozess

Die Worte — das Gedicht

Im Laub schreibt ein Gedicht, das aus 9 Worten besteht:

Abb. 2 Das Gedicht
Abbildung 2: Im Laub. Das Gedicht

Das Gedicht beginnt mit einem Gedanken, einem Wort, wendet dieses Wort und verschiebt dessen Bedeutung. Diese Verschiebungen und mit ihnen die Transformationen von Im Laub weisen in zwei Richtungen. Sie werden in die eine Richtung – senkrecht gelesen – über drei Themen, und in die andere Richtung – waagerecht gelesen – über Qualitäten der Themen oder Aktivitäten um sie herum hervorgerufen. Den Themen Liebe (lieb-), Leib (leib-) und Leben (leb-), mit denen allein durch Vokalwechsel (an difference – différance erinnernd) neue (andere und doch ähnliche?) Bedeutungen entstehen, werden jeweils über ein Suffix Qualitäten oder Aktivitäten zugedacht, die Mehreres bedeuten: ohne etwas sein und beginnen (-los), angehören, anhängen und etwas tatsächlich im Sinne von ‚so wie‘ zum Ausdruck bringen (-haft) und gefüllt und erlebensintensiv sein (-voll). „Im Laub“ ist ein Gedicht und damit eine Textform, die allemal drei in Bildungskontexten bedeutsame Effekte hat (Bramberger 2018): Erstens ist Gedichten die Verbundenheit des Sinnlichen und des Intelligiblen, Herz und Verstand, eingeschrieben. Das Gedicht „Im Laub“ rührt Herz und Verstand an, es erschließt/verbirgt sich über die Sinne und den Verstand. Zweitens überschreitet ein Gedicht die Grenzen sprachlicher Regelungen, und zwar um mehr und um genauer das auszudrücken, was mitgeteilt werden soll. Zugleich ist das Gedicht nicht beliebig. Vielmehr ist dies der Ausdruck seiner Strukturiertheit. Das Gedicht „Im Laub“ verbindet neue Worte mit bekannten Worten, um Neues anzuregen. Drittens richtet sich ein Gedicht an ein Gegenüber und existiert als das, was es ist, durch unterschiedliche Lesarten. Das Gedicht „Im Laub“ wird sowohl durch die Bilder und die Musik als auch durch die Deutungen der Lesenden zu dem, was es jeweils ist.

Die Bilder

Die Bildkomposition „Im Laub“ orientiert sich in ihrer Strukturiertheit an den Worten. Sie bedient sich klassischer bildnerischer Techniken und spielt mit bildnerischen Mitteln. Farbstifte und Wachspastelle ermöglichen grafische und malerische Umsetzungen. Die Bilder können in unterschiedliche Richtungen gelesen werden. Waagrecht bilden sie in der Reihe -los drei Motive ab, die sich, senkrecht gelesen, in eine Variante des Motivs transformieren (lieb-), in der Reihe leib- in veränderten Perspektiven zeigen und in der Reihe leb- unterschiedliche Bildausschnitte favorisieren. In der Reihe -haft nehmen die Motive Farbe an. Die Reihe -voll intensiviert die Farbe, die Größe und die Plastizität des Motivs. Alle Farbnuancen des Ensembles werden sichtbar. Die Motive verändern sich in Form, Farbe, Perspektive und Farbauftrag. Im Verlauf variieren die Bilder die Themen, die über das Spiel der Farben und die grafischen und malerischen Elemente einmal mehr changieren.

Die Bilder gleichen einander auf unterschiedliche Weise. Sie stehen in einem Verhältnis zueinander, das beweglich, aber nicht beliebig ist, und sie informieren einander. Zugleich sind sie mit dem Gedicht und der Musik eng verbunden. Das gegenseitige Informieren lässt unterschiedliche Deutungen eines Bildes zu, und das hat einen Effekt: Obwohl sich jedes Bild unveränderbar darbietet, ist es gerade durch den Prozess im Wandel.

Die Karten zeigen die Worte und Bilder, und sie können in ihrem Zusammenspiel oder voneinander losgelöst wahrgenommen werden.

Der Einsatz klassischer bildnerischer Mittel und dessen Umgang mit Im Laub ermöglichen unterschiedliche Lesarten und eröffnen an jeder Stelle Raum für Transformationen des Bildes und dessen Deutungen.

Abb. 3 Bilder und Text
Abbildung 3: Im Laub. Bilder und Text

Die Musik

Das Musikstück Im Laub ist in den Methoden der klassischen zeitgenössischen Musik veranlagt. In seiner Konstruktion nähert sich die Musik dem Gedicht an. Jeder Silbe des Gedichts sind ein Ton und ein Notenwert zugeordnet; so wird lieb- zu A3 (kleines a), mit einer Länge von vier Schlägen, leib- zu F3 mit einem Notenwert von fünf Schlägen, leb- zu einem fünf-schlägigen E3, -los zu einem C4 mit einem Notenwert von zwei, -haft verwandelt sich in einschlägiges E4, -voll, schließlich, wird in ein H3 mit dem Notenwert von drei Schlägen transformiert. Die Einleitung des Stücks stützt die duale Lesensform des Gedichtes mit Voice 1 als ein Charakter, welcher ein waagrechtes Verstehen des Gedichts repräsentiert und Voice 2 eine zu-Ton-Setzung der senkrechten Leseart. In der Weiterführung des Stücks erscheinen die beiden Lesarten gleichzeitig in Kontrapunkt miteinander. Die Präsenz beider ist gleich mächtig, das Stück bewegt sich von einer monophonen Textur zu einer polyphonen, in welcher die individuellen Lesarten ein Ganzes formen. Gleichzeitig legt sich über die beiden Lesarten ein rhythmisches Element. Das Gedicht „Im Laub“ wird erst spät im Stück durch ein Flüstern der Worte hörbar. Zu Beginn folgt der Text dem Puls der Melodien. Nach einem vollen Durchlauf des Sprechens/Flüsterns des Gedichts wird das Tempo des gesprochenen Texts gesteigert; das Stück wird graduell beschleunigt – mit folgendem Effekt: In seinem ersten Auftreten erscheint das Gedicht fragmentiert, Worte zeigen sich isoliert, doch mit dem folgenden accelerando verbinden sich die Worte mehr und mehr. Sie stellen die Form des Gedichts dar und verblenden letztendlich zu einem plätschernden Rhythmus. Ein weiterer Aspekt des accelerandos ist eine kontinuierliche Verschiebung, ein Zusammen- und Auseinanderfallen von melodischen und rhythmischen Elementen, die den Eindruck des Gedichts variieren.

Die Instrumentierung basiert auf Zugänglichkeit (accessibility). Die drei Aspekte des Musikstücks „Im Laub“ sind jeweils in der Stimme (Instrument = Voice) verankert. Der Text ist ein unbearbeitetes Flüstern, und die beiden Melodien wurden durch voice sampling kreiert, können aber auch ­– in der Bildungsarbeit in Lehre/Unterricht – von zwei akustischen Stimmen dargeboten werden.

Das Musikstück Im Laub zeigt unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten desselben Themas auf. Es regt dazu an, durch ein Kombinieren der Möglichkeiten weitere/neue Formen der Interpretation zu schaffen. Der Aufbau der Komposition sowie die Instrumentation sind systematisch veranlagt, um sowohl die Idee von Differenz und Gleichheit zu vermitteln als auch ‚Komposition‘ vom Nimbus des Elitären loszusagen, Komposition zu de-mystifizieren und Lernenden das eigene Komponieren, genauer: die Modifikation des Stücks anzubieten.

Abb. 4 Die Noten
Abbildung 4: Im Laub. Die Noten

Im Laub. Die Musik

Im Laub - die Musik
Im Laub. Die Musik: https://soundcloud.com/risramberger/im-laub?utm_source=clipboard&utm_medium=text&utm_campaign=social_sharing

Das Zusammenspiel von Text, Bild, Musik im Unterricht

Schüler*innen/Studierende arbeiten in mehreren Schritten mit dem Unterrichtsmaterial „Im Laub“:

Gleichheit und Differenz wahrnehmen

In einem ersten Schritt werden Kontaktaufnahmen mit dem Material und das Zusammenspiel von Text, Bild und Musik angeregt. Lehrende legen die Karten in der Ordnung des Gedichtes auf (so wie es in Abbildung 3 gezeigt wird) und lesen das Gedicht. Anschließend spielen sie die Musik. Alle betrachten währenddessen die Karten.

Im Laub. Die Präsentation der Materialien: https://www.youtube.com/watch?v=eed6otfX34Q

Dann werden die Begriffe Differenz und Gleichheit anhand des Materials diskutiert: Menschen sind gleich und unterschiedlich zur selben Zeit, ohne dass dies immerzu sichtbar wäre. Worte, Bilder und Töne verändern (sich), sie modifizieren und informieren (einander). Sie sind an vielen Stellen gleich, ähnlich und unterschiedlich. Mit Im Laub wird die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Differenz erlebbar: Die Worte spielen mit der Verschiebung von Lauten und der Vermehrung von Bedeutungen. Sie erlauben Interpretationen der Bedeutungen und des Kontexts. Die Bilder zeigen drei Motive, die mit Wachspastellen und Farbstiften gezeichnet und gemalt wurden. Sie gleichen einander und unterscheiden sich. Sie verändern sich mit den bildnerischen Mitteln von Form, Farbe, Perspektive, Bildausschnitt und der Veränderung des Motivs selbst. Die Komposition kommt aus der zeitgenössischen Musik und eröffnet Klang-/Sprechvarianten von Im Laub. Die Interpretation der Musik verweist auf erweiternden Möglichkeiten und Reinterpretationen und findet Neues in Vertrautem. Der akustische Teil von Im Laub zeigt eine Technik, Sprache und Klang zu verbinden und in Musik zu übersetzen.

In einem weiteren Schritt wählen die Schüler*innen/Studierende je eine Karte – sie wählen damit eine Variante des Zusammenspiels von Wort, Bild und Ton, das ebendiese Karte offeriert – und begründen ihre Wahl.

Gleichheit und Differenz ausloten

Die Schüler*innen/Studierenden erhalten eine Kopie der gewählten Karte und/oder eine leere Karte. Im Workshopmodus wird in drei von Lehrenden betreuten Stationen (Text, Bild, Ton) an der Modifikation und Personalisierung der gewählten Karte gearbeitet. Die Karten können beschrieben, bemalt und wie auch immer – begründet – verändert werden.

Die Station zum Wort schärft die Aufmerksamkeit für die hohe Bedeutung eines jeden Worts. Sie fragt nach Assoziationen zum gewählten Wort, anderen Schreibweisen, der eigenen Schreibweise; sie thematisiert Kombinationen von Worten, beschäftigt sich mit der Schrift und fragt nach Variationen von Schriften. In dieser Station werden das Potenzial der Worte und die Effekte von Vokalwechsel diskutiert.

Die Station zum Bild empfindet die Motive durch Zeichnungen und Malereien der Schüler*innen/Studierende nach, erweitert und kontextualisiert sie. Das Thema der gewählten Karte wird durch unterschiedliche bildnerische Möglichkeiten erfahren, interpretiert, verändert oder (mithilfe der leeren Karte) neu erfunden. Dabei können die Schüler*innen/Studierende Farben, Formen, Motive, Perspektiven variieren, erweitern und interpretieren.

Die Station zur Musik ist am Klang und Erklingen eines Themas/Empfindens interessiert. Die eigene Stimme färbt den Ausdruck. Wie können die unterschiedlichen Worte des Gedichtes „Im Laub“ gesprochen werden? Wie sprechen unterschiedliche Personen das Gedicht/Wort und was ist der Effekt? Wie dehnen, verkürzen, verändern sie Töne und deren Zusammenspiel?

In den Workshops reflektieren Schüler*innen/Studierende ihre Entscheidungen und argumentieren ihre Handlungen.

Im Laub gestalten

In einem dritten Schritt werden die modifizierten Karten der Schüler*innen/Studierenden mit den bestehenden Karten zusammengeführt. Das Gruppenwerk Im Laub wird gemeinsam gelesen und betrachtet. Die Aufmerksamkeit ist sowohl auf die unterschiedlichen Interpretationen der Schüler*innen/Studierenden als auch auf das gemeinsame Kunstwerk gerichtet: Welche Worte, Bilder und Töne fanden, wählten, gestalteten die Schüler*innen/Studierenden? Wie veränderten sie die Karten? Wie arrangierten sie sie? Wie strukturiert das Zusammenspiel von Worten, Bildern und Tönen die (erzählte?) Geschichte? Wie verändert oder stärkt es die Geschichte? Und auf einer Metaebene: Wie strukturiert das multimodale Zusammenspiel Differenz und Gleichheit? Wie erleben Schüler*innen/Studierende sich und andere in Im Laub?

”The dialectic is a total rhizome of what’s different”, schreibt Édouard Glissant (in Diawara 2009/2021:8). Dialektik meint mit Im Laub keine Konfrontation zweier gegensätzlicher Aussagen miteinander, um eine Weiterentwicklung eines Themenbereichs (Im Laub, Differenz/Gleichheit) voranzutreiben. Dialektik ist hier als Konglomerat von Verzweigungen, Verkürzungen und Ausdehnungen zu verstehen, als ein verflochtenes System, das sich nicht auf Dichotomien reduzieren lässt. Das, was unterschiedlich und gleich ist, ist ein verflochtenes System. Es wird nicht entwirrt, sondern als ein kostbarer Ausdruck des Zusammenseins all dieser Schüler*innen/Studierenden im Bildungsraum Im Laub behalten – dessen zahlreiche Einzelaspekte raschelnd wie Laub ineinander verschlungen sind oder, sachte angestoßen, lebhaft oder träge durcheinanderwirbeln. Das neu entstandene Kunstwerk (Im Lob?) könnte im Verlauf des Semesters weiter ergänzt, erweitert, präzisiert werden, um Differenz/Gleichheit im Ausloten durch die Lerngemeinschaft bewegt und bewegend zu halten.

Verwendete Literatur

  • Bramberger, Andrea (2018): Lyrik in Erziehung und Bildung. Weinheim: Beltz.
  • Bramberger, Andrea/Winter, Kate (2021): Why Safe Spaces Are Needed. In: Winter, Kate/Bramberger, Andrea (Hrsg.): Re-Conceptualizing Safe Spaces – Supporting Inclusive Education (13-31). Bingley: Emerald.
  • Cope, Bill/Kalantzis, Mary (Hrsg.) for the New London Group (2000): Multiliteracies. Literacy learning and the design of social futures. New York: Routledge.
  • Denzin, Norman/Giardina, Michael D. (2020): Introduction. In: Denzin, Norman/Giardina, Michael (Hrsg.): Qualitative Inquiry and the Politics of Resistance. Possibilities, Performances, and Praxis (1-11). New York: Routledge.
  • Derrida, Jacques (2004): Die différance. In: Derrida, Jacques: Die différance. Ausgewählte Texte (110–149). Dietzingen: Reclam. (Orig. 1968, Rede)
  • Diawara, Manthia (2021): Conversation with Éduard Glissant aboard the Queen Mary II (August 2009). https://www.liverpool.ac.uk/media/livacuk/csis-2/blackatlantic/research/Diawara_text_defined.pdf (letzter Zugriff am 20. Juni 2022)
  • Ellison, Tisha L./Esposito, Jennifer (2022): Multimodal Expressions of Self: Telling Ghost Stories as Intersectional African American and Latinx American Scholars. In: Qualitative Inquiry 28(1), 37-44.
  • Garcia, Antero/Luke, Allan/Seglem, Robyn (2018): Looking at the Next 20 Years of Multiliteracies: A Discussion with Allan Luke. In: Theory Into Practice, 57, 72-78.
  • Gee, James P. (2012): Discourse and “the New Literacy Studies”. In: Gee, James P./Handford, Michael (Hrsg.): The Routledge Handbook of Discourse Analysis (371-382). London and New York: Routledge.
  • Gee, James P. (2014): Decontextualized Language: A Problem, Not a Solution. In: International Multilingual Research Journal, 8(1), 9-23.
  • hooks, bell (1994): Teaching to Transgress: Education as the Practice of Freedom. New York: Routledge.
  • hooks, bell (2003): Teaching Community: A Pedagogy of Hope. New York: Routledge.
  • hooks, bell (2010): Teaching Critical Thinking: Practical Wisdom. New York: Routledge.
  • Janks, Hilary (2010): Literacy and Power. New York: Routledge.
  • Santos, Boaventura de Sousa (1997): Toward a Multicultural Conception of Human Rights. In: Zeitschrift Für Rechtssoziologie, 18(1), 1-15.
  • Winter, Kate/Bramberger, Andrea (Hrsg.) (2021): Re-Conceptualizing Safe Spaces. Supporting Inclusive Education. Bingley: Emerald.

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Andrea Bramberger, Iris Bramberger, Elisabeth M. Eder (2022): Die Bildungsinitiative „Im Laub“ — Repräsentationen von Gleichheit und Differenz. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/bildungsinitiative-laub-repraesentationen-gleichheit-differenz (letzter Zugriff am 01.11.2022).

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