Bildung im Digitalzeitalter
Zur pädagogisch-anthropologischen, technischen und medienpädagogischen Dimension des Verhältnisses von Bildung und Digitalisierung
Abstract
Die vorliegende kumulative Habilitationsschrift besteht aus drei Themenbereichen, die Gegenstand einer hermeneutisch-phänomenologischen bzw. diskursanalytischen Auseinandersetzung sind. Der erste Themenbereich ist überschrieben mit Zur Bedeutung der pädagogischen Beziehung und deren Veränderung im Zeitalter der Digitalisierung und ist dem Bereich der Pädagogischen Anthropologie zuzuordnen. Die Beiträge des zweiten Teils fokussieren die Möglichkeiten pädagogischer Verbesserung sowie Ansätze technischer Optimierung und befassen sich grundlegend mit dem Verhältnis von Bildung und Technik. Dem Bereich Medienpädagogik widmen sich die Beträge des dritten Teils der Arbeit. Unter der Überschrift Datafizierung als Herausforderung für die Medienbildung untersuchen die in diesem Teil subsumierten Aufsätze einerseits das Verhältnis von (Medien-)Pädagogik und Informatik, andererseits thematisieren sie den spezifischen Konnex Datafizierung und Kapitalismus. Im Folgenden werden die wesentlichen Aussagen der Arbeit thesenhaft angeführt. Eine ausführliche Zusammenfassung, ferner ein Herausarbeiten der wechselseitigen Zusammenhänge der einzelnen Beiträge sowie deren Einordnung in den relevanten wissenschaftlichen Diskurs wird im Rahmen der anschließenden Synopse unternommen. Das PDF (3,0 MB) der Habilitationsschrift bietet – ergänzend zu den auf kubi-online veröffentlichten, zusammenfassenden Thesen – Einblick in die Forschungszusammenhänge und Gesamtperspektiven des Autors über „Bildung im Digitalzeitalter“.
I. Pädagogische Anthropologie
Die Beiträge des ersten Teils der Arbeit oszillieren zwischen einem philosophisch-phänomenologischen und einem integrativen pädagogisch-anthropologischen Ansatz. Im weitesten Sinne können sie der heuristischen Pädagogischen Anthropologie zugeordnet werden. Diesem Ansatz entsprechend wird nicht die Frage nach dem Menschenbild gestellt, es werden vielmehr Dimensionen des Menschlichen formuliert, zu denen Sozialität, Subjektivität, Kulturalität, Temporalität und Moralität gezählt werden dürfen. Dennoch kommt auch die heuristische Pädagogische Anthropologie nicht ohne ein Menschbild aus, das diesen als ein erziehbares und zu erziehendes, gleichsam als ein zur Bildung fähiges und bildungsbedürftiges Wesen voraussetzen muss. Was der Mensch darüber hinaus ist und sein kann, was das Humane auszeichnet, wird als Frage offengehalten, was jedoch nicht bedeutet, dass nicht nach Antworten auf diese Fragen geforscht wird. Allerdings geschieht dieses forschende Fragen in einer grundsätzlichen paradigmatischen und methodischen Offenheit und ist einer zweifachen Historizität verpflichtet, die sowohl die spezifische Geschichtlichkeit des Erforschten als auch die historisch bedingte Perspektive des Forschenden mitberücksichtigt. Hieraus resultiert einerseits eine Relativität der pädagogisch-anthropologischen Aussagen, andererseits aber auch ein offener, freier Blick für die Veränderlichkeit pädagogisch-anthropologischer Sachverhalte. Unter Berücksichtigung der Relativität und Offenheit für die Veränderlichkeit wird im Rahmen der Beiträge dieses Teils mit einem vorläufigen Menschenbild gearbeitet, das von einem mit dem Menschsein einhergehenden prinzipiell unverfügbaren Moment ausgeht.
Die wesentlichen Aussagen können in folgende Thesen gefasst werden:
- Der Begriff vom Menschen als ein nicht ganz und gar verfügbarer zeigt auf ein Mehr und begegnet als ein bedeutender Zeiger. Er lädt zugleich dazu ein, die Frage nach der Grenze der Verfügbarkeit zu stellen, insbesondere angesichts der schon vorhandenen aber auch unter Berücksichtigung der aufscheinenden Möglichkeit der Mensch-Maschine-Verschmelzung – damit ist der Konnex einer philosophisch-pädagogischen Anthropologie einerseits und einer integrativen Pädagogischen Anthropologie andererseits angesprochen.
- Das prinzipiell Unverfügbare bezieht sich auf den derzeitigen Ist-Zustand des Menschen. Nicht ausgeschlossen ist, dass technische Veränderungen, wie sie beispielsweise im Kontext von Human Enhancement angedacht und teilweise bereits umgesetzt werden, zu einer Veränderung des Menschen insgesamt führen, womit dann zugleich die Frage nach dem prinzipiell Unverfügbaren wieder aufscheint.
- Das Unverfügbare wird als Quelle der Möglichkeiten des Menschen verstanden. Das pädagogische Verhältnis zeichnet sich sowohl durch den Blick in die Möglichkeiten als auch durch das Spiegeln der Potenzialitäten im Blick des Anderen aus.
- Das Bedeuten des Unverfügbaren im Rahmen eines pädagogischen Verhältnisses scheint unter bestimmten Umständen durch technologische Surrogate übernommen werden zu können, was die Frage nach der Rolle von Pädagogik im Digitalzeitalter neu aufwirft.
- Der Bezug zur eigenen Potenzialität ist zugleich die Bedingung für Kreativität und damit auch für ökonomische Produktivität. Es gibt daher einen Zusammenhang zwischen Bildung und Humankapitaloptimierung.
- Der Mensch ist ontologisch durch ein Nichts an Sein von sich getrennt, dieses Nichts ist nicht überwindbar, stellt aber zugleich den Grund für Bildung dar. Bildung kann als Wahrheitsgeschehen verstanden werden und bedarf der Technik.
- Angesichts der Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung herrschen Kontingenzen vor, die mit der Unverfügbarkeit des Menschen korrespondieren; zugleich gehen diese Entwicklungen mit dem Versprechen einher, Unverfügbares in Verfügbares zu transformieren und können als eine Antwort (auch) auf fundamentale Unsicherheiten verstanden werden.
II. Bildung und Technik
Im zweiten Teil der vorliegenden Schrift wird das Verhältnis von Bildung und Technik einerseits am Beispiel der Möglichkeiten pädagogischer Verbesserung, andererseits mit Blick auf Ansätze technischer Optimierung untersucht. Deutlich wird dabei, dass beide Bereiche nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Traditionell zielt Bildung auf Vervollkommnung ab, hält sich dabei allerdings stets von der Perfektion fern. Nichtsdestotrotz gab es im Kontext der Pädagogik immer auch Versuche, durch technische Eingriffe in jene Bereiche vorzustoßen, die sich dem pädagogischen Zugriff grundsätzlich entziehen. Gleichzeitig wird aktuell insbesondere von Akteuren, die dem Transhumanismus nahestehen, eine Strukturanalogie zwischen Erziehung auf der einen und gentechnischen Modifikationen auf der anderen Seite propagiert. Technik stellt eine Objektivation des Menschenmöglichen dar, als solche deutet sie sowohl auf die Vernunft als auch auf all jene Potenziale, mit deren Verwirklichung eine bessere (humanere) Welt einhergehen kann. Gleichzeitig verweist sie auf die Abgründe des Menschlichen, auf die Möglichkeit zur Inhumanität. Die wesentlichen Überlegungen der Beiträge des zweiten Teils können in Form der folgenden Thesen artikuliert werden:
- Die klassische Bildungsidee hat ein emanzipatorisches und ein kritisches Moment. Beides zu verwirklichen ist bis heute bestenfalls in Ansätzen gelungen. So begegnet Bildung noch immer als Distinktionsmerkmal, ihr kritisches Moment ist sowohl die höchste Gefahr als auch die Rettung für das gegebene ökonomische System und ihrer Akteure.
- Bildung zeichnet sich aus durch eine Polarität von Gemeinsamkeit und Differenz; angesichts technologischer Innovationen im Bildungskontext (Stichwort: Bildungstechnologie) wird das Gemeinsame auf Kosten der Differenz aufgelöst, wodurch Bildung von Vernunft und Humanität entkoppelt wird.
- Insbesondere der klassische Bildungsbegriff kann als Anlass für eine Beschleunigung interpretiert werden, die der Mensch als eine Möglichkeits- und Zeitkrise erlebt, zugleich sind es derlei Krisen, die für das Subjekt eine revolutionäre Umwälzung bedeuten.
- Im Rahmen des vorherrschenden gesellschaftlich-ökonomischen Systems wird das menschliche Grundbedürfnis nach einem Sich-selbst-gewahr-werden nicht erfüllt, die Vermittlung zwischen Selbstentfaltung und Affirmation des Bestehenden misslingt.
- Der gegenwärtige Mensch ist in einem onto-theo-logischen Sinne unzugehörig. Wird seine Heimatlosigkeit nicht Gegenstand einer selbstreflexiven Bildung, erscheinen sowohl der Imperativ des Genießens als auch Human Enhancement als sinnvoll. Es sind beides Symptome für ein Fehlen der Bildung, das sich durch ein Fehlendes in der Bildung auszeichnet.
- Das Unverfügbare gilt als das Noch-nicht-verfügbare und damit als das wertlose und potenziell wertschädigende, dem es mit technischen Mitteln beizukommen gilt. Damit ist Technik – sofern sie zum Gegenstand der Reflexion wird – der Weg, das Unverfügbare als notwendiges und bildungsermöglichendes Moment einzuholen.
III. Medienpädagogik
Die Beiträge des dritten Teils spannen einen Bogen, der ausgeht von der Frage nach neuen Möglichkeiten einer umfassenderen und durchdringenderen medial gestützten Selbsterkenntnis, anschließend übergeht in Reflexionen hinsichtlich einer neuen Charakterisierung der Welt im Digitalzeitalter und letztlich hinführt in eine Auseinandersetzung mit transhumanistischen Vorhaben, die das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie radikal zuspitzen. Die einzelnen Stationen werden aus einer genuin medienpädagogischen Perspektive beleuchtet und fokussieren die Frage nach einer möglichen neuen Rolle insbesondere der Medienbildung angesichts der vorherrschenden und aufscheinenden Entwicklungen im Bereich Digitalisierung. Thesenhaft lassen sich die Kernaussagen dieses Teils wie folgt formulieren:
- Sensorisierung, Datafizierung und Vernetzung stehen symptomatisch für eine Maschinisierung und Kybernetisierung der Welt. Medienpädagogik als Kritik geht mit dem Potenzial einher, die hinter der Kybernetisierung stehende Ideologie und das, was die Ideologie nicht fasst, aufscheinen zu lassen. Damit kann Medienpädagogik zur Re-Humanisierung der Welt beitragen.
- Ähnlich wie die Informatik zielt auch die Medienpädagogik auf eine Überwindung von Heteronomie ab. Es ist Aufgabe der Medienbildung, den Umgang mit dem Fremden zum Gegenstand der Reflexion zu erheben, um Selbstgestaltung und Autonomie vor einem Umschlag in Heteronomie zu bewahren. Dazu ist es erforderlich, das technologische Prinzip der Neuen Medien zu verstehen, woraus folgt, das Medienpädagogik und Informatik einander bedürfen.
- Zwischen realer Realität und virtueller Realität ist ein neuer Raum entstanden. Der Mensch im Digitalzeitalter ist Teil dieses Raumes, in dem sowohl absolute Gleichheit als auch vollkommene Unmenschlichkeit herrschen. Ohne in pädagogische Kontexte eingebettete Provokationen ist eine Bildung zur Freiheit in diesem Raum nicht möglich.
- Medienbildung hat die Aufgabe, zur Entmythologisierung beizutragen. Sie kann dieser Aufgabe nur gerecht werden, wenn die strukturellen Bedingungen, innerhalb derer der Dataismus möglich und notwendig wurde, zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden.
- Trotz aller mit ihr einhergehenden Möglichkeiten ist es gerade die Digitalisierung, die eine immense und doch wenig beachtete Bedrohung für Bildung darstellt. Der Mensch steht in Gefahr, sich selbst zu verfehlen und in ein konstitutiv falsches Bewusstsein seiner selbst zu geraten, die Gesellschaft als Ganze befindet sich indessen vor ihrer Auflösung. Insofern Medienpädagogik in einem hinreichenden Maße in der Tradition der Aufklärung steht, kann sie diese Gefahr als Chance zur Bildung des Menschen zum Menschen wenden.