Bildkompetenz – Visual Literacy. Kunstpädagogische Theorie- und Lehrplanentwicklungen im deutschen und europäischen Diskurs

Artikel-Metadaten

von Ernst Wagner

Erscheinungsjahr: 2018

Peer Reviewed

Abstract

Er hat sich überraschend schnell und unkompliziert durchgesetzt, der Begriff Bildkompetenz (im internationalen Kontext – der Begriff ‚Visual Literacy‘). Bildkompetenz bzw. ‚Visual Literacy‘ bezeichnen das aktuelle Kernanliegen, das zentrale Selbstverständnis von Kunstvermittlung bzw. Kunstpädagogik, in Deutschland und in Europa. Dabei treffen sich im Begriff Bildkompetenz mit seinen beiden Bestandteilen Bild und Kompetenz, zwei zentrale Stränge der kunstpädagogischen Fachtheorieentwicklung der letzten Jahre. Zum einen nimmt der Begriff über ‚Bild‘ (statt ‚Kunst‘) Bezug auf die stetige Ausweitung des Gegenstandsbereichs des Fachs „Kunst“, der in den 1960/70er Jahren einsetzte. Diese Ausweitung führte abschließend zu einer sehr weiten – und vielleicht gerade dadurch allgemein akzeptierten Definition des Gegenstandsbereichs des Kunstunterrichts durch die Kultusministerkonferenz (KMK 2005): „Bilder, verstanden als umfassender Begriff für zwei- und dreidimensionale Objekte, Artefakte, visuell geprägte Informationen, Prozesse und Situationen visueller Erfahrung […]“. Zum andern kommt in ‚Bildkompetenz‘ die Orientierung am Kompetenzbegriff und damit an der Outcome-Orientierung zum Tragen, eine Entwicklung, die die Bildungspolitik seit der Jahrhundertwende bestimmt. Das Ergebnis der Überlagerung oder vielleicht besser der Verschmelzung dieser beiden Prozesse ist die allgemein angenommene Durchsetzung von ‚Bildkompetenz‘ (bzw. Visual Literacy) als Leitbegriff der Kunstpädagogik. Um den mit dem Begriff verbundenen, aktuellen Ansatz besser zu verstehen, gehe ich zunächst auf seine historischen Wurzeln und ihre jeweiligen Einbettungen in gesellschaftliche und fachgeschichtliche Entwicklungen ein, um anschließend die Entwicklung eines transnationalen Modells vorzustellen, das sich als Referenzrahmen versteht.

Bild bzw. das Visuelle als Gegenstand des Lernens

In den später 1960er / frühen 1970er Jahren haben junge KunstpädagogInnen begonnen, die Orientierung des Kunstunterrichts an der Hochkunst als elitäres, bildungsbürgerliches Projekt zu kritisieren. Zwei konkrete Beispiele für die mit dieser Kritik verbundene Ausweitung des Gegenstandsbereichs wurden paradigmatisch: die Einbeziehung des (populären) Films und hier v.a. des Italowesterns auf der einen Seite und die Einbeziehung von Werbung und hier konkret einer Schnapswerbung (Dornkaat) auf der anderen (Ehmer 1971:162 und 299). Die Alternative von 1971 hieß also ‚Raffael‘ oder ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘. Es ging dabei um eine echte, hochkontroverse Entscheidung, da im Hinblick auf die zur Verfügung stehende Zeit eben nur eins von beiden möglich war: High oder Low, Kunst oder Pop, bürgerlicher oder proletarischer Geschmack. Mit dem Kampfbegriff ‚Visuelle Kommunikation‘ wurde die Frage nach den Bildungsinhalten gestellt, die Frage nach dem Lebensweltbezug im Kunstunterricht. Was in den damaligen Diskussionen kaum deutlich wurde, ist, dass es diese Auseinandersetzung natürlich schon früher gab, etwa in der Bauhauspädagogik der 1920er Jahre, in der Design und Architektur keine ‚angewandten Künste‘ mehr sondern Gattungen waren, die gleichberechtigt neben der Bildenden Kunst standen. Oder in der sogenannten ‚Kunsterzieherbewegung‘ um 1900, in der ‚Kinderkunst‘ und Exotisches nicht einfach nur primitiv waren. Oder im Zeichenunterricht des 19. Jahrhunderts, als es noch gar keinen Bezug zur Bildenden Kunst gab.

Doch zurück in die Jetztzeit mit einem Blick auf die für die Kunstpädagogik wichtigen Bezugswissenschaften Kunstwissenschaften und Kunstgeschichte. Auch diese sogen entscheidende Impulse aus den Umorientierungen der 1960/70er Jahre. Hans Belting hatte das Ende der Kunstgeschichte proklamiert, oder Wissenschaftler wie Gottfried Boehm und Horst Bredekamp speisten Bildtheorien statt (Hoch-)Kunsttheorien in die Diskussion ein. Zu verstehen waren diese Innovationen vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung von Bildern im täglichen Leben, zu der die Globalisierung und digitale Vernetzung wesentlich beitrugen. Die Proklamation eines ‚Iconic Turn‘ oder ‚Pictorial Turn‘ in den Kunst- und Kulturwissenschaften eröffnete einen neuen Blick auf die Welt und damit ein adäquateres Verständnis der Welt.

In Äußerungen von vielen Fachkollegen zu dem angesprochenen Thema heute fällt häufig der Begriff ‚Bilderflut‘, der sicher etwas Richtiges meint. Er scheint aber mit seinem kulturpessimistischen Grundton wenig geeignet, da er keine produktive, handlungsorientierte Diagnose liefert, sondern eher eine diffuse Angst zur Sprache bringt: In Fluten kann man eigentlich nur untergehen. Interessant ist hier ein alternativer Vorschlag, den Wolfgang Ullrich unlängst in Spiel gebracht hat, das Phänomen der Expansion von Bildern, die im Kunstunterricht behandelt werden sollten, mit dem Begriff „Bildersozialismus“ zu beschreiben (Ullrich 2016). Ullrichs Diagnose ist, dass durch die Digitalisierung und die immer billiger werdenden Mittel zur Produktion und Distribution von Bildern (mobile Endgeräte und Internetplattformen) die Gestaltung von Bildern in die Hände derer übergeht, die bislang nur Bilder konsumieren konnten. Da dieser Gebrauch von Bildern stark an bestimmte Gruppen, Szenen oder Communities bzw. an eine bestimmte Generation der Digital Natives gebunden ist, fand dieses Thema bei KunstpädagogInnen, die eh schon immer ein großes Interesse an Jugendästhetik und Jugendkulturen haben (s. z.B. Hartwig 1986), offene Ohren – und Augen. Es ist also kein Wunder, dass die Kunstpädagogik sehr schnell auf die angedeuteten Veränderungen in den Diskursen reagierte.

Da die Kunstvermittlung die einzige Sparte bzw. das einzige Fach ist, das sich explizit mit Bildern beschäftigt, war das auch eine gesellschaftliche Verpflichtung. Die Fähigkeit Bilder zu interpretieren, zu kritisieren, herzustellen und damit zu kommunizieren ist eine wichtige Voraussetzung für Teilhabe in der heutigen Welt. Auch deshalb hatte der Fachverband für Kunstpädagogik, BDK, bereits 2006 und 2007 die vorhandenen Ansätze in einem Papier gebündelt und verabschiedet (Johannsen 2008:2). Kunibert Bering und Rolf Niehoff intensivierten den didaktischen Diskurs rund um einen so verstandenen, umfassenden und damit flexiblen sowie anschlussfähigen Bildbegriff und entwickeln ihn in Deutschland weiter (s. z.B. Bering/Höxter/Niehoff 2010).

Kompetenzerwerb als Ziel des Lernens

Interessant ist das soeben genannte Papier des BDK vor allem auch deshalb, da es das breite Bildverständnis (verstanden als Bildungsgegenstand) mit dem bildungstheoretischen Diskussionsstrang um Kompetenzen und Standards verknüpfte. Bereits 2001 hatte F. E. Weinert eine Definition von Kompetenz vorgelegt, die bis heute breite Akzeptanz auch in der Kulturellen Bildung findet und Gültigkeit beanspruchen kann (Weinert 2001). Bei Weinert liegt der Fokus zunächst auf kognitiven Aspekten, durch das Einbeziehen handlungsbezogener Aspekte wird dies jedoch durch motivationale und emotionale Facetten erweitert. Weinert stellt folgende Aspekte ins Zentrum:

  • Kompetenz ist erlernbar.
  • Kompetenz ist domänenspezifisch, da man immer in einem bestimmen Bereich Kompetenz erwirbt und dort kompetent ist.
  • Bildung ist auf die Bewältigung des Lebens ausgerichtet, Kompetenz erweist sich damit in bestimmten Situationen.
  • Kompetenz zeigt sich beim Problemlösen, sie verkörpert eine Problemlösungsstrategie.
  • Kompetenz umfasst Bereitschaften, Fähigkeiten und Wissen.

Der mit der Kompetenzorientierung verbundene Paradigmenwechsel von der Input- zur vorrangigen Output- (oder besser Outcome-) Orientierung vollziehen im Moment die meisten Bildungssysteme, nicht nur in Deutschland sondern weltweit. Bei der Input-Orientierung schreiben staatliche Vorgaben etwa durch Lehrpläne, Schulgesetze oder Prüfungsrichtlinien vor, welche Inhalte mit welchen Lernzielen in der Schule zu behandeln sind. Bei einer Outcome-Orientierung werden die tatsächlichen Lernergebnisse der Schüler fokussiert. Die Steuerung erfolgt hier nicht mehr ausschließlich über Lehrpläne sondern über Bildungsstandards, die nun festlegen, welche Lernergebnisse die Schüler einer bestimmten Jahrgangsstufe im jeweiligen Fach erworben haben sollen. Überprüft wird dies über länderspezifische, nationale oder internationale Vergleichsarbeiten und Evaluationen, die die tatsächlichen Bildungserträge untersuchen und messen.

Im Hinblick auf den Kunstunterricht muss hier einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die Entwicklung von Messinstrumenten zur Erfassung von fachspezifischen Kompetenzen noch in den Kinderschuhen steckt, um nicht zu sagen ein absolutes Desiderat ist. Erste Ansätze dazu liefert das Forschungsprojekt ‚Bildkompetenz in der Kulturellen Bildung - BKKB‘ (s. BKKB 2017). In unserem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Einführung des Kompetenzbegriffs in der Kunstdidaktik den Fokus von den zu vermittelnden Inhalten hin zum Schüler und zu den zu erlangenden Lernergebnissen verschiebt, auch wenn die Messbarkeit im Moment noch nicht gewährleistet ist.

Trotz des akzeptierten (und alternativlosen) Bildkompetenz-Ansatzes haben die Unterrichtspraxis, vor allem aber die Hochschulen lange Zeit Distanz zur Kompetenzorientierung gehalten. Manchmal ist die allgemeine Debatte um die Kompetenzorientierung als solche und vor allem um die Messbarkeit in der deutschen Kunstpädagogik sogar äußerst kontrovers. Die Befürchtung lautet, mit der Kompetenzorientierung würde sich die Kunstpädagogik dem Neoliberalismus und der Ökonomisierung von Bildung ausliefern. Die Positionen zur Kompetenzorientierung in diesem Sinne lassen sich vereinfacht vielleicht so darstellen: Auf der einen Seite die ›Pragmatiker‹ und auf der anderen die ›Systemkritiker‹. Erstere sehen den Paradigmenwechsel als Chance zur Weiterentwicklung des Fachs und versuchen, die Ausgestaltung der Kompetenzorientierung möglichst positiv zu beeinflussen (auch um dabei den Anschluss an die zentralen Entwicklungen in der Bildungsforschung und Bildungspolitik nicht zu verlieren). Letztere verwehrten sich, Teil dieses Mainstreams zu werden, da sie eine solche Ausrichtung des Bildungssystems grundsätzlich ablehnen.

Die Gründe für diese Ablehnung liegen in einer spezifischen Form diffuser Angst, die durch keine Empirie belegt ist. Dieses Phänomen wäre sicher eine eigene Untersuchung wert. Der Autor vertritt – auch hier, analog zu den Bedenken gegenüber dem Begriff ‚Bilderflut‘ – die Haltung, dass Angst vermutlich kein geeigneter Ratgeber ist, wenn es um pädagogische Konzeptentwicklung geht.

Interessant ist die vermutlich unfreiwillige Koalition der Systemkritiker mit der Kultusministerkonferenz (KMK). Diese hatte zwar bereits nach der Veröffentlichung der Klieme-Studie (Klieme 2003) beschlossen, dass Bildungsstandards ausgearbeitet werden, jedoch nur für die Kernfächer (Deutsch, Mathematik, die Fremdsprachen sowie die Naturwissenschaften). Damit wurden bildungspolitisch fatale Weichen gestellt. Schnell zeigte sich, dass damit die sogenannten Nebenfächer von wichtigen Ressourcen zur Entwicklung von Konzepten und damit auf dramatische Weise von Diskursen abgeschnitten wurden. Um dieser Entwicklung wenigsten ansatzweise zu begegnen, begannen vor allem die entsprechenden Fachverbände in einem Bottom-Up-Prozess – auch gegen die entsprechenden Widerstände aus der Fachdidaktik – eigene Entwürfe für Bildungsstandards in Eigeninitiative zu erarbeiten. Auf den entsprechenden Vorschlag des BDK für den Bereich Kunstpädagogik wurde bereits oben verwiesen.

Bei diesem BDK-Papier wird deutlich, dass die Charakteristika des Fachs – ganz konventionell und traditionell – in zwei großen Kompetenzfelder zusammengefasst werden können: Rezeption (Wahrnehmen und Verstehen von Bildern) und Produktion (Gestalten und Herstellen von Bildern). Wichtig ist der deutliche Hinweis, dass beide Bereiche eng miteinander verschränkt sind. Und beide werden dann durch einen Katalog von Teilkompetenzen ausdifferenziert: Wahrnehmen, Beschreiben, Analysieren, Empfinden, Deuten und Werten sind zentral im rezeptiven Bereich, während Herstellen, Gestalten, Verwenden und Kommunizieren dem produktiven Bereich zugeordnet werden.

Das Konzept des BDK wurde jedoch, wie alle anderen, von den verschiedenen Fach-Communities in Eigeninitiative entwickelten Modelle, nicht als verbindliches, durch von der KMK aufgegriffen oder gar verabschiedet. Es wurde auch nicht zum Anlass für eigene Entwicklungen genommen. So kam es in der Folge zu länderspezifischen Kompetenzmodellen, die für die Entwicklung neuer Curricula notwendig wurden. Es ist klar, dass diese Aufsplitterung der Diskurse zu einer De-Professionalisierung führte mit z.T. katastrophal schlechten Konsequenzen in einzelnen Bundesländern (s. Wagner 2017).

Deutsche Lehrpläne

Schon das Klieme-Gutachten hatte darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung zur Entwicklung von Kompetenzmodellen ein ›latenter Konsens‹ im Fachbereich ist. Schließlich müssten diese das Wesentliche, die Identität des jeweiligen Faches aus dem Konsens der Fach-Community heraus darstellen (Klieme 2003:62). Um dies zu gewährleisten, richten die Bundesländer Lehrplan-Kommissionen meist aus erfahrenen Lehrkräften und Fachdidaktikern ein, die das jeweilige Curriculum entwerfen. Oft geht das einigermaßen gut, aber eben nicht immer. Eine länderübergreifende Bündelung von Ressourcen und Wissen, von Forschungsansätzen und Diskursen etwa im deutschsprachigen Raum könnte die Qualität entschieden steigern. Dabei ginge es nicht um eine Vereinheitlichung, es ginge nicht um das Einebnen von regionalen oder landesspezifischen Unterschieden, sondern um das Schaffen eines qualitativ hochwertigen Referenzrahmens, auf das jedes Land sich dann beziehen kann, um das jeweilige Profil zu formulieren.

Wie solche Profile aussehen können, zeigt ein Vergleich der Kompetenzmodelle zweier deutscher Kunstlehrpläne (Schleswig Holstein und Bayern, s. Abb. 1 und 2). Der Vergleich zeigt aber auch, dass es einen großen Überschneidungsbereich gibt, der den weitgehenden Konsens der Fach-Communities, aufbauend auf den Fachtraditionen, abbildet (s.o. Anmerkungen zum BDK-Papier). Dies gilt zunächst im Hinblick auf den Gegenstandsbereich des Fachs. Tabelle 1 stellt die explizit erwähnten Bildgattungen gegenüber und bezieht sie auf die in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen der Kultusministerkonferenz, EPA, zum Fach Kunst (KMK 2005) genannten Bereiche.

Tabelle 1: Vergleich der Gegenstandsbereiche des Fachs Kunst (EPA und zwei ausgewählte Fachlehrpläne)

Die Festlegungen in den drei Beispielen sind weitgehend kongruent mit leichten, inhaltlich jedoch irrelevanten Unterschieden. Während die KMK vor allem auf eine formale Beschreibung fokussiert (Gegenstand ist letztlich alles, was visuell erfahrbar ist), gehen die beiden Lehrpläne mal eher summarisch (Bayern), mal detaillierter (Schleswig Holstein) auf konkrete Kunst- oder Bildgattungen ein, wie sie dann später auch an Hochschulen oder Akademien studiert werden können.

Abb. 1: Kompetenzmodell des bayerischen Lehrplans

 

Abb. 2: Kompetenzmodell des Lehrplans von Schleswig-Holstein

Eine ähnliche Übereinstimmung findet sich, wenn man die ausformulierten Teilkompetenzen betrachtet. Zum besseren Verständnis muss hier erwähnt werden, dass die EPA der KMK in dieser Form bereits 2005 verabschiedet wurde, während die beiden hier benannten Lehrpläne ca. zehn Jahre später erlassen wurden. Vor allem deshalb findet sich in der EPA kein expliziter und begründeter Katalog von Teilkompetenzen im Sinne eines kohärenten Modells; die fachdidaktische Theoriebildung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit.

Als jüngstes Dokument führe ich nun in Tabelle 2 eine internationale Position ein, den „Common European Framework of Reference for Visual Literacy“ (CEFR_VL, Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Visual Literacy) von 2016. Dieses Papier wurde von einem Netzwerk von Fachdidaktikern entwickelt, die sich 2010 zum ersten Mal trafen, um sich gegenseitig bei der Lehrplanentwicklung zu helfen. Die Gruppe umfasst in der Zwischenzeit über 150 Mitglieder aus über 20 Ländern.

Die grauen bzw. weißen Hintergründe in den Zeilen der Tabelle 2 gliedern die Teilkompetenzen nach fünf Grunddimensionen. Diese Dimensionen finden sich so oder so ähnlich in fast allen fachspezifischen Lehrplänen wieder. Diese sind Rezipieren, Beurteilen (Kritisieren), Produzieren und Kommunizieren, sowie Reflektieren.

Tabelle 2: Vergleich der Teilkompetenzen des Fachs Kunst (EPA, ausgewählte Fachlehrpläne, CEFR_VL)

Im Begriff Literacy (deutsch: Lese- und Schreibfähigkeit), den der Europäische Referenzrahmen CEFR_VL verwendet, finden wir die Doppelfigur des Produzieren- (Schreiben) und Rezipieren- (Lesen) Könnens. In den letzten Jahren wurde dieser Literacy-Begriff wohl vor allem wegen jener Doppelfigur zunehmend auf Disziplinen jenseits des Alphabetismus angewandt, s. z.B. als Numeracy in der Mathematik. Übertragen auf Bildkompetenz bedeutet Visual Literacy dann zunächst die Fähigkeit, Bilder zu interpretieren (zu ‚lesen‘) und Bilder zu gestalten (zu ‚schreiben‘). Schreiben können heißt, der eigenen Meinung Relevanz verschaffen, Bilder gestalten können bedeutet, den eigenen bildlichen Vorstellungen Relevanz zu geben. Mit den beiden, hier noch hinzugefügten Fähigkeiten zum kritischen Urteil und zur (Bild-)Kommunikation kommen zwei weitere Komponenten hinzu, die für einen emanzipatorisch und an Partizipation orientierten Bildungsbegriff ebenso wichtig sind, ebenso wie die Fähigkeit, alle Tätigkeiten schließlich auch zu reflektieren (5. Dimension).

Der Europäische Referenzrahmen für Visual Literacy

Wie der der Vergleich deutscher Curricula deutlich zeigt, herrscht in der Praxis ein weitreichender Konsens. Auf europäischer Ebene erscheint es jedoch zunächst, als sei das Verständnis der Unterrichtsfächer, in denen vorwiegend mit Bildern umgegangen wird, sehr verschieden. Die gerade gewählte, komplizierte Umschreibung ist nötig, da in den wenigsten Staaten das entsprechende Fach wie in vielen deutschen Bundesländern „Kunst“ genannt wird. Allein schon im deutschsprachigen Raum Österreich, Schweiz und Deutschland gibt es verschiedene Namen: ›Kunst‹, ›Bildnerische Erziehung‹, ›Bildnerisches Gestalten‹, ›Bildende Kunst‹, ›Kunst und Gestaltung‹, ›Werken‹, ›Design‹ oder ›Kunsterziehung‹. Diese Vielfalt von Bezeichnungen macht es notwendig, auf internationaler Ebene einen (englisch-sprachigen) Begriff zu finden, der – als Container-Begriff – die jeweiligen landesspezifischen Ansätze abdeckt. Auch deshalb hatte sich das Europäische Fachnetzwerk ENViL beim Referenzrahmen für den Begriff „Visual Literacy“ entscheiden.

Eine von Constanze Kirchner (Augsburg), Folkert Haanstra (Amsterdam) und Andrea Karpati (Budapest) durchgeführte empirische Erhebung in allen Ländern Europas sowie in weiteren anglophonen Ländern hat jedoch gezeigt, dass es trotz der Vielfalt der Namen in der Praxis, wie schon in Deutschland zu beobachten, große Übereinstimmungen an Zielen, Methoden und Inhalten gab und gibt (Wagner, Schönau 2016).

In fast allen europäischen Ländern besteht seitens der Bildungspolitik die Forderung nach kompetenzorientierten Curricula. Um dieser Anforderung sinnvoll gerecht werden zu können, galt es bei einem ersten transnationalen Treffen im Jahr 2010 für Austausch zwischen den Akteuren ebenso zu sorgen wie für eine bessere wissenschaftliche Fundierung. Für das „Nebenfach“ ohne Entwicklung von Standards basieren Curricula eben ausschließlich auf dem oberflächlichen Community-Konsens, wie oben dargestellt. Für ein – theoretisch oder empirisch – wissenschaftlich fundiertes Kompetenzmodell fehlen die Ressourcen. Die Bündelung von Kräften mit dem Ziel, ein besser begründetes Kompetenzmodell zu entwickeln, war überfällig. Dies führte – wie oben bereits angedeutet – zur Gründung von ENViL, dem ‚European Network for Visual Literacy‘. ENViL ist eine Plattform, die 2010 zunächst von Lehrplanverantwortlichen für den Kunstunterricht in Deutschland, Österreich und der Schweiz gegründet wurde. Dem stetig wachsenden Netzwerk gehören in der Zwischenzeit über 150 Lehrkräfte, Lehrplanentwickler, Lehrerbildner und Forscher aus 18 europäischen und einigen außereuropäischen Ländern an (www.envil.eu).

ENViL ging mit der Entwicklung des ‚Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Visual Literacy‘ (CEFR_VL) einen entscheidenden Schritt in die Richtung, Curriculumsarbeit auf eine solidere Basis zu stellen. Die Arbeit am CEFR_VL wurde durch die Europäische Union finanziert. Als Vorbild diente der ‚Europäische Referenzrahmen Sprachen‘. Im Herbst 2016 hat ENViL seine Ergebnisse, erarbeitetet von einer Gruppe von ENViL-Experten aus 12 verschiedenen europäischen Ländern, vorgestellt. Damit lag und liegt – zum ersten Mal in der Geschichte des Kunstunterrichts in Europa – ein gemeinsames und transnationales Beschreibungsmodell vor.

Bei der Erstellung wurden, wie bereits angedeutet, verschiedene Arbeitsmethoden angewandt: empirische Bestandsaufnahmen der Lehrplankonzepte in den europäischen Ländern, Interpretation bestehender Forschungsergebnisse im Hinblick auf Konsequenzen für ein Kompetenzmodell, Modellierung im Expertendiskurs nach dem Konsensverfahren, Durchführung bzw. Vergabe von Forschungsaufträgen zu Teilaspekten, Diskussion von Zwischenergebnissen auf internationalen und nationalen Tagungen, sowie Evaluationen von Implementierungen in der Praxis. Dass es sich bei diesem von ENViL vorgelegte Kompetenzmodell um ein integratives, inklusives Modell handelt, welches verschiedene nationale Verständnisse und Konzepte berücksichtigt, wurde bereits dargestellt. [Interessant ist hier eine Beobachtung am Rande: Über die Konzentration auf zu erzielende Lernergebnisse / Schülerkompetenzen kann offensichtlich viel leichter ein Konsens auch zwischen verschiedenen ‚Lagern‘ erreicht werden kann, als über die Verständigung anhand fachdidaktischer Positionen. Vielleicht liegt darin auch ein Grund, warum viele deutsche Professoren sich nicht so recht auf diesen Ansatz einlassen können. Für deren Berufsbild ist Profilierung und vor allem Abgrenzung wichtiger als an Praxis orientierte Konsensbildung.]

Der als Prototyp konzipierte Referenzrahmen versteht sich als Instrument, der allen für den Kunstunterricht Verantwortlichen zur Verfügung steht: Lehrkräfte, Institute für Curriculumsentwicklung, Forschende und Lehrende an Hochschulen, Entwickler von Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien, Weiterbildungseinrichtungen - und auch für Lernende selbst kann er ein hilfreiches Instrument sein. Die Fundierung des CEFR_VL in Forschung sowie die Einbeziehung der unterschiedlichen europäischen Perspektiven führten zu einem Ergebnis, das das Dokument tatsächlich zu einem ‚Bezugsrahmen‘ machte und macht. Jede sinnvolle Fachdidaktik, jedes sinnvolle Curriculum, Unterricht oder Aufgaben lassen sich auf produktive auf ihn beziehen und so im jeweils spezifischen Profil nicht nur beschreiben sondern auch entwickeln. Vielfältige Erfahrungen belegen dies (http://envil.eu/envils-working-groups).

Das Kompetenzmodell ‚Visual Literacy‘

Ein kurzer Einblick in den Ansatz mit seinen drei Stufen des Kompetenzstrukturmodells sei hier noch gegeben. Der CEFR_VL beinhaltet als Herzstück ein Kompetenzstrukturmodell, das Bildkompetenz zunächst auf einen normativen Rahmen, auf Ziele oder Leitideen bezieht: Bildkompetenz dient dem bürgerschaftlichen Engagement, der persönlichen Entfaltung, dem sozialen Zusammenhalt, aber auch der individuellen Beschäftigungsfähigkeit (vgl. Abbildung 3).

Auf der anderen Seite erweist sich Visual Literacy immer in bestimmten Situationen. Abbildung 4 zeigt nochmals die drei allgemeinen Basisaspekte des Kompetenzbegriffs auf: Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen. Im Zentrum stehen die Grunddimensionen Produzieren und Rezipieren von Bildern und das darüber Reflektieren. Die fächerübergreifenden Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenzen sind darüber hinaus aufgeführt. Abbildung 5 schließlich benennt die wesentlichen Teilkompetenzen.

 

Abb. 1 Modellstufe 1 – Bildkompetenz zwischen Anwendungssituationen und normativen Zielen

Abb. 2 Modellstufe 2 – Die Basisdimensionen von Visual Literacy / Bildkompetenz

Abb. 3 Modellstufe 3 – Die Teilkompetenzen von Visual Literacy

Dieses Modell ist der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Anwendungen. Im Kontext der Bildungspolitik erscheint entscheidend, dass mit dem Referenzrahmen z.B. erstmals auch ein stringentes Kompetenzniveaumodell in Form von Skalen für differenzierte Kompetenzniveaus vorgelegt wurde. Die Publikation umfasst darüber hinaus vielfältige Beispiele und Instrumente für die Anwendung des Modells sowie ausdifferenzierende Beschreibungen. Dazu zählen u.a. Definitionen der Teilkompetenzen, Tabellen für Kompetenzniveaus, Begründungszusammenhänge, ein Glossar sowie Beispiele für die Anwendung. Vor allem der letztere Aspekt macht den Rahmen für die Praxis interessant, etwa zu Situationen, aus denen man Aufgaben entwickeln kann, Anwendungen für die Lehrerbildung und Curriculumsentwicklung, Nutzungen für Prüfungsverfahren und für kompetenzorientierte Aufgabenstellungen.

Abschließende Einschätzung

Seit der Publikation des Referenzrahmens wird dieser v. a. durch Folgeprojekte erprobt und weiterentwickelt. Dazu gehören Arbeitsgruppen zur Validierung der Kompetenzniveaus, zur Entwicklung von Aufgaben, zur Umsetzung in die Museumsdidaktik oder zur Weiterentwicklung der Theorie. Darüber hinaus wird er u. a. für die Entwicklung eines Schulbuchs, das mit dem Modell arbeitet, genutzt. Auch Module für die Lehrerausbildung werden entwickelt. Auf politischer Ebene treibt ENViL die Dissemination vor allem in Kooperation mit der International Society of Education through Art (InSEA) voran. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich das Fach immer mehr von Positionen, die sich durch Abgrenzungen definieren mit den daraus folgenden Lagerkämpfen, wegenzwickelt zugunsten einer an Lernergebnissen (Outcome) orientierten Entwicklung. Damit können die zur Verfügung stehenden Ressourcen in die Qualitätsentwicklung fließen. Im Moment scheint es so, dass die Erstellung des Modells genau zur richtigen Zeit gekommen ist.

Verwendete Literatur

Bering, Kunibert/Höxter, Clemens/Niehoff, Rolf (Hrsg.)(2010): Orientierung - Kunstpädagogik. Athena: Oberhausen.

BKKB (2017): https://www.dipf.de/de/forschung/aktuelle-projekte/bildkompetenz-in-der-kulturellen-bildung-bkkb; https://www.hs-doepfer.de/files/HSD/News/2017/07/HSD_Downloads_Ulm_Praesi_17_07_MT_HSDWeb.pdf; https://www.hs-doepfer.de/aktuelles/news-von-der-hsd/news/20170717813-ich-seh-dir-in-die-augen-kleines/;

Ehmer, Hermann K. (1971): Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewusstseinsindustrie. DuMont Schauberg: Köln.

Hartwig, Helmut (1986): Jugendästhetik zwischen Kulturen. In: Deutscher Werkbund e.V./Wüttembergischer Kunstverein (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert (62 - 68). Luchterhand: Darmstadt/Neuwied.

Johannsen, Jutta/ Niehoff, Rolf/Davidson, Detlef/Wagner, Ernst/Wenrich, Rainer (2008): Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss. In: BDK-Mitteilungen 3/2008, S. 2ff. URL: http://www.bdk-online.info/blog/data/2008/11/BildungsstandardsBDK.pdf [eingesehen am 24.11.2013]

Klieme, Eckhard et al. (2003): Bildungsforschungsband 1. Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. BMBF: Bonn/Berlin.

KMK - Kultusministerkonferenz (2005): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Bildende Kunst. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i. d. F. vom 10.02.2005.

Wolfgang Ullrich (2016): Bildersozialismus. Zugriff unter: https://ideenfreiheit.files.wordpress.com/2016/10/bildersozialismus.pdf

Wagner, Ernst/Schönau, Diederik (Hrsg.)(2016): Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Visual Literacy – Prototyp. Waxmann: Münster/New York.

Wagner, Ernst (2017): Kunstlehrpläne – Das Berliner und Brandenburger Beispiel. In: BDK-Mitteilungen 3/2017, S. 32 ff.

Weinert, Franz Emanuel (2001): Leistungsmessung in Schulen – Eine umstrittene Selbstverständlichkeit. Beltz: Weinheim/Basel.

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Ernst Wagner (2018): Bildkompetenz – Visual Literacy. Kunstpädagogische Theorie- und Lehrplanentwicklungen im deutschen und europäischen Diskurs. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/bildkompetenz-visual-literacy-kunstpaedagogische-theorie-lehrplanentwicklungen-deutschen (letzter Zugriff am 15.01.2022).

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