In Bewegung. Ereignisfeld für ästhetische Erfahrung
Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin- und Her-Laufens,
das ist Kommen und Gehen, das sind ‚Schritte’, ‚Verwicklungen’
(Roland Barthes)
Theoriesplitter – Ästhetische Erfahrung auf der Schwelle zwischen Kunst und Leben
Seit Marcel Duchamps Ready-mades hat sich nicht nur das Verständnis von Kunst, sondern auch die Perspektive auf ästhetische Erfahrung radikal verändert. Die AusstellungsbesucherInnen sahen kein Kunstwerk, kein Objekt, dem die ‚Idee’ als Schönheit auf hermetische Weise innewohnt, sie waren vielmehr einer zutiefst irritierenden Situation ausgesetzt. Der Anblick eines Urinals im Kontext der Kunst lenkte die Aufmerksamkeit auf einen (zudem anrüchigen) Alltagsgegenstand, der im gewohnten Umgang einfach nur benutzt und nicht erfahren wird.
Die Kontextvertauschung mag banal erscheinen und war doch ein gekonnter Schachzug, provozierte Fragen über das, was Kunst sein soll und ein Nachdenken darüber, was den Diskursen zur ästhetischen Erfahrung bislang entzogen war: der Alltag. Was hier seinen Anfang nahm, haben die Dadaisten, Fluxus- und AktionskünstlerInnen, Joseph Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff oder Michel Foucault mit seiner Ästhetik der Existenz fortgesetzt: Sie wollten künstlerische Verfahren gleich ganz auf das Leben anwenden. Natürlich hatte ihr Anliegen mitnichten eine Ästhetisierung im Sinn, wie sie sich im gesellschaftlichen Alltag inzwischen vollzieht. Pop- und Eventkultur, Design- und Modebranche, digitale Medien und virtuelle Realitäten mögen nach ‚Art der Kunst’ verfahren und ihr Anliegen perfekt inszenieren, aber sie lassen in der Regel jenen Eigensinn vermissen, dessen Zeigevorgang ästhetische Suchbewegungen und ästhetische Erfahrung auf den Weg bringen kann. Neue Medien, Filmindustrie, Real-Life-Dokus und dergleichen haben das befürchtete Ende der Kunst zwar nicht herbeigeführt, aber doch einen Realitätsschub forciert, mit dem weniger schauspielerische Talente gesucht als vielmehr „Experten der Wirklichkeit“ gefragt sind. Insgesamt erscheinen die Künste – seien es darstellende, bildliche oder musikalische Aufführungen – bisweilen „wirklicher als die Wirklichkeit“. (Vgl. Seitz 2008a)
Die Popularisierung der Künste (manche sprechen auch von Demokratisierung) und die Ästhetisierung des gesamten gesellschaftlichen Alltags haben also längst dazu geführt, dass ästhetische Erfahrung nicht mehr allein auf die Produktion und Rezeption von Kunst zu reduzieren ist. Weder an das (solitär, wahr und souverän erscheinende) Kunstwerk noch an bestimmte Orte gebunden, wird sie zur „Einnahme einer Perspektive“, mit der wir „jederzeit unseren nicht-ästhetischen Umgang mit Darstellungen dem Einbruch der ästhetischen Transfiguration unterwerfen“ können. (Vgl. Menke 1991:269)
Wo die instrumentelle Praxis auf strategische Wirkung zielt – die moralische darauf, sozial und ethisch richtig zu handeln, die theoretisierende hingegen, objektiv zu beschreiben –, zielt künstlerische Praxis genuin auf ästhetische Erfahrung. Ihr Zeigegestus provoziert eine sinnliche Aufmerksamkeit, wie sie insbesondere durch einen plötzlichen Widerstand oder durch das Zusammentreffen widersprüchlicher Informationen entsteht. Die Künste mögen besonders prädestiniert sein, ästhetische Erfahrung auf den Weg zu bringen, doch diese ist nicht an den Kunstkontext gebunden, kann jederzeit und überall, mitunter durch einen kleinen Einstellungswechsel gelingen. Dennoch zeigt sie sich sonstiger Erfahrung gegenüber different: Die sonst zweckdienliche Orientierung wird selbstbezüglich, der auf Wiedererkennen fixierte Sinn zieht sich auf die ihn erzeugende Sinnlichkeit zurück – eine „Unmögliche Gegenwart“ (Kamper 1995), die in das Kontinuum des Selbstverständlichen und Erwartbaren einbricht. Möglichkeiten werden wirklich, und die Wirklichkeit zeigt sich nur als eine unter anderen Möglichkeiten; der Eigensinn der künstlerischen Perspektive provoziert die Einbildungskräfte, sich buchstäblich einen Reim auf das dem Begriff Entzogene zu machen und eigene Denkformen herauszubilden.
Mit seiner „Lehre von der sinnlichen Erkenntnis“ hatte Alexander Baumgarten im 18. Jh. die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin etabliert, die Sinnestätigkeit als Aisthesis zur Grundlage rationaler Erkenntnis erklärt. Die Aufklärung (und insbesondere Friedrich Schiller) hat der ästhetischen Erziehung schließlich eine prominente Rolle bei der Bildung des ‚Ganzen’ und vor allem vernunftbegabten Menschen zugesprochen. (Vgl. hierzu Seitz 2008b) Schon damals zielte ästhetische Erfahrung also weniger auf „Das Andere der Vernunft“ (Böhme 1983), wie Anfang der 1980er Jahre zur Untermauerung der neu entflammten Autonomiediskussion postuliert wurde, vielmehr bildet sich die Vernunft auf dem Boden der Sinnlichkeit überhaupt erst heraus. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben mitsamt den „Versprechungen des Ästhetischen“ (Ehrenspeck 1998) werden seit einiger Zeit erneut ausgelotet, und Postulate wie „Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte“ (Pazzini 2000) sind wieder salonfähig. Das gegenwärtige ästhetische Anliegen scheint wieder an den Aufklärungsgedanken anzuknüpfen, doch (wie schon Jean-Jacques Rousseau) verweist es dabei vor allem auf die „Grenzen der Aufklärung“, lässt das dichotome Denken und die Dualität zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zugunsten eines Differenzdenkens hinter sich, schreibt der Ästhetik als „Ästhet/ik“ (Welsch 1994) gar eine inhärente Ethik zu.
Hans Robert Jauß hat das produktive, rezeptive und kommunikative Potenzial ästhetischer Erfahrung Anfang der 1980er Jahre noch im Hinblick auf die poetische, aisthetische und kathartische Wirkung von Kunst und insbesondere deren soziale Funktion untersuchen können. (Vgl. Jauß 1991) Der hermeneutische und wirkungsästhetische Zugang kann jedoch den Ereignischarakter zeitgenössischer Produktions- und Rezeptionsformen nicht mehr fassen, in denen nicht mehr das Semiotische und die Bedeutungskonstitution, sondern das Performative und der Vollzug im Vordergrund stehen. RezipientInnen und ZuschauerInnen sehen sich der Kunst heutzutage nicht mehr gegenüber, sie werden mitten hineingezogen. (Vgl. Seitz 2009) Kunst ist noch immer ein Medium zur Reflexion von Wirklichkeit, aber es gelingt ihr, „Diesseits der Hermeneutik“ (Gumbrecht 2004) eigene Wirklichkeiten herzustellen. Der Performativierungsschub erzeugt eine Unverfügbarkeit, angesichts derer die Wahrnehmung nicht umhinkommt, das phänomenale Geschehen selbst in den Blick zu nehmen. Eine solche „Ästhetik des Performativen“ provoziert ein Umspringen der „Ordnung der Repräsentation“ in die „Ordnung der Präsenz“ – der Betrachter/Zuschauer wird um ein Verstehen bemüht sein und nach symbolischen Verweisen auf die Wirklichkeit außerhalb suchen, doch seine Suchbewegung ist weniger auf die Kunst bezogen, als dass er in einer Art „Hermeneutik des Selbstverstehens“ auf sich zurückgeworfen ist. (Vgl. Fischer-Lichte 2004:272f.)
Selbstredend hat das „Ästhetische als Schlüsselkategorie“ (Welsch 1993) bis heute an Brisanz nicht verloren, auch wenn die Fragen nach einer autonomen Ästhetik gegenüber den 1990er Jahren heutzutage etwas verstummt scheinen: Wo die Einen in der Rückkopplung ästhetischer Erfahrung an die Lebenswirklichkeit ehedem die Erfüllung eines (vor allem durch die russischen Konstruktivisten) seit langem vorbereiteten Bemühens sehen, beklagen die Anderen die „Entkunstung der Kunst und Verkunstung der Wirklichkeit“ (Bubner 1989), den Verlust der „Souveränität der Kunst“ (Menke 1991) und fordern die „Grenzen des Ästhetischen“ (Bohrer 1998) – mit der Prämisse, eine radikale ästhetische Erfahrung könne keinen Anspruch auf den generellen Diskurs erheben. Folgerichtig unterschied Martin Seel zwischen der „ästhetischen Praxis des Alltags“ und der „ästhetischen Praxis der Kunst“, denn nur die Kunst könne gleichzeitig sinnenferne Kontemplation, sinnstiftende Korrespondenz und sinnreflexive Imagination und damit jene mehrfache Aufmerksamkeit ins Spiel bringen, die nachhaltige ästhetische Erfahrung bedinge. (Vgl. Seel 1993) Der Kontemplation geht es um bloße, der Korrespondenz um atmosphärische und der Imagination um artistische Erscheinungen, doch (so spezifiziert Seel einige Jahre später): „Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen – das ist der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung [...], eine radikale Form des Aufenthalts im Hier und Jetzt.“ (Seel 2000:47/62) Die zeitliche Gebundenheit und leibliche Bezogenheit ästhetischer Erfahrung wird gesehen, aber sie bleibt zuvorderst an ein Gegenüber, an das Sehen und an Objekte gebunden. Selbst Gernot Böhme, der das Atmosphärische und die Sinnlichkeit ästhetischer Erfahrung betont, bleibt dem dualistischen Erfahrungsmodell verhaftet, wenn er das „atmosphärische Spüren von Anwesenheit“ dann doch als Anwesenheit von ‚etwas’ auslegt: „Je mehr die Wahrnehmung diesem Etwas nachgeht, desto mehr distanziert sie sich von dem Atmosphärischen bzw. dieses zieht sich zusammen auf einen Wahrnehmungsgegenstand qua Ding.“ (Böhme 2001:42)
Ganz anders äußern sich jüngst die eher empirisch und topographisch orientierten Ansätze. Für Arnold Berleant etwa ist ästhetische Erfahrung weder primär an Objekte noch an die Wahrnehmung gebunden, sondern in einem ästhetischen Kraftfeld verortet. Zwischen Subjekt und Objekt gibt es eine „aesthetic of continuity“, eine reziproke Kontinuität, durch die die Pole zugleich aktiv und rezeptiv gedacht werden – ein Modell, das gerade auch dem interaktiven Anspruch zeitgenössischer Kunst nachkommen kann. Wie Madalina Diaconu ausführt, ist Erfahrung für Berleant nicht unmittelbar, sondern an kulturelle und soziale Kontexte gebunden und wird vor allem körperlich vollzogen – Körper verstanden als „expanded“ und „environmental“, als Kraftfeld bzw. als das, was durch die Verdichtung von Kräften und Akten entstanden ist und entsteht: „an approximation, a concentration of being in the midst of activity, not the center of a spatial world“ (Berleant, zit. n. Diaconu 2005:53). Damit schließt seine Ästhetik an Diskurse an, die die vermeintliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Selbst und Nicht-Selbst durch Konzepte der „Einleibung“ (Hermann Schmitz), des „embodiment“ (Thomas Csordas) oder „embodied mind“ (Francisco Varela) zu überwinden suchen und die Anthropologie des Menschen in aller Konsequenz vom Leib aus denken – ein Ansatz, der auf Merleau-Pontys Phänomenologie zurückgeht.
Mit der Annahme eines Chiasmus zwischen Innen und Außen und einer wechselseitigen Überkreuzung zwischen wahrnehmendem Leib und wahrnehmbarem Körper ergründet Merleau-Ponty das Paradox der exzentrischen Position des Menschen, die (Helmuth Plessner folgend) danach verlangt, dass er sich in seiner Abständigkeit andauernd (als einen Anderen) herstellen muss. Er überwindet das dualistische Denken, in dem er den Körper immer schon mit der Welt verbunden sieht: Der wahrnehmbare und wahrnehmende, empfundene und empfindende Leib seien „wie zwei Segmente eines einzigen Kreislaufs, der oben von links nach rechts und unten von rechts nach links verläuft, der aber in beiden Phasen nur eine einzige Bewegung ausmacht“ (Merleau-Ponty 1994:181). Für den hier zu erörternden Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass Merleau-Ponty Erfahrung genau an diesem Umkehrpunkt ansiedelt: „Vielleicht sind das Selbst und das Nichtselbst wie Vorder- und Kehrseite, und vielleicht ist [Herv. i. O.] unsere Erfahrung diese Umkehr, die uns weit weg von ‚uns’ in die Anderen, in die Dinge plaziert.“ (Ebd. 208f.)
In Bewegung – Zur Entstehung eines Ereignisfeldes
Du kannst es nicht zwingen, du kannst es nicht zu dir holen.
Du mußt es wahrnehmend machen, und es kommt.
(William Forsythe)
„Wir befragen unsere Erfahrung gerade deshalb, weil wir wissen wollen, wie sie uns dem öffnet, was wir nicht sind. […] Doch damit wir diese Ränder der Gegenwart sehen, sie prüfen oder befragen können, müssen wir unseren Blick zuerst auf das richten, was uns augenscheinlich gegeben ist.“ (Merleau-Ponty 1994:208) In der nun zur Anschauung kommenden Performance „In Bewegung“ – im Jahre 2010 zum FeldForschungsFestival_Kultur (FFF_K) an der Berliner Akademie der Künste und im Deutschen Theater Berlin aufgeführt – ist das augenscheinlich Gegebene der (im doppelten Sinne: räumlich und emotional) bewegte Körper. Die Kontingenzgebundenheit und prozessuale Verlaufsform der Performance hat eine auf Stabilität, Wiedererkennen und Konstanz ausgerichtete Wahrnehmung auf besondere Weise herausgefordert: Buchstäblich am eigenen Leib suchen die PerformerInnen zu ergründen, wie Bewegung in der Wechselwirkung von Materialität, Verkörperung und Wahrnehmung zur Erscheinung kommt und ästhetische Erfahrung möglich macht. „Wollen wir das Phänomen der Bewegung ernst nehmen, so müssen wir eine Welt denken, die nicht allein aus Dingen, sondern aus reinen Übergängen besteht. Das Etwas im Übergang, dessen Notwendigkeit für die Konstitution der Veränderung wir erkannt haben, definiert sich allein durch seine besondere Weise des ‚Vorübergehens’.“ (Merleau-Ponty 1966:320) Vergessen wir also die Dinge und betrachten die Beziehungen und Relationen und das, was passiert, wenn sich Menschen auf ihre Bewegungsintelligenz und ihr Körpergedächtnis verlassen, wenn sie mit ihren Erfahrungen ins Spiel treten, Richtungen einnehmen, Drehungen vornehmen, Wege gehen, Gesten spiegeln, Rhythmen gestalten, wenn sie aufeinander zu- und vorübergehen, wenn sich „Räume im Dazwischen“ (Seitz 2000) öffnen und die affirmative Kraft faktischer Setzungen entfaltet wird. Es sind buchstäblich „beredte Körper, bewegte Seelen“ (Thurner 2009), unterwegs mit ihren performativen Setzungen, offen für die Wahrnehmung flüchtiger Ereignisse, räumlicher Konstellationen, energetischer Impulse und wach in der Aufmerksamkeit für den mit Anderen geteilten Raum. „Es öffnet sich ein Raum, in dem die Situation fühlbar wird.“ (Lilly, Performerin)
Wie muss man sich die Herstellung eines solchen Ereignisfeldes vorstellen? Die Performance „In Bewegung“ wird durch ein gemeinsam entwickeltes Regelsystem zusammengehalten, wobei die Regeln das Geschehen nicht determinieren, vielmehr deren Grenzen bis hin zum Regelbruch ausgelotet werden. (Vgl. hierzu auch die entwickelte Matrix in Seitz 2006) „Wir haben ernsthaft gespielt.“ (Cathleen, Performerin) Und wie bei jedem Regelsystem wird auch hier das zur Verfügung stehende Material erst im Gebrauch zu einem lebendigen, sinnlichen und sinnhaften Territorium. In der sogenannten Matrix – aus dem Lateinischen Muttertier, Gebärmutter, also Hülle/Schutz, in dem sich etwas entwickeln kann, aber auch ein Schema, das zusammenhängende Faktoren in ihrer Beziehung zueinander dargestellt werden – werden Bausteine gesammelt, geordnet und aufeinander bezogen, wobei der Baustein ‚Gehen’ das Grundgerüst darstellt. Die Bausteine entstammen allesamt zunächst vertrauten und bekannten Ordnungen: Gesten, Körpertechniken, Geschichten, Umgangsformen, Sätze, biografische Erinnerungen, Zitate, Spiele. Die Entwicklung der Bausteine wird angeleitet, die sprachliche Begleitung ist jedoch eher als Stimulanz zu verstehen, mit der die Aufmerksamkeit gelenkt wird. Bei der Entwicklung des Bausteins ‚Solo’ sieht man, wie die PerformerInnen eine Handbewegung finden, diese auf der räumlichen, zeitlichen und dynamischen Ebene erkunden und befragen, sie auf die andere Hand übertragen, größer, rückläufig oder drehend machen, sie unterbrechen und die Bewegung nochmals ansetzen. Nach dem Prinzip ‚Aufgabe, Probieren, Entscheiden’ entsteht ein Reservoir an möglichen Handlungen und Verrichtungen: Eine Handbewegung, ein Zitat/Lied, eine Praktik des Suchens, ein Abzählreim mit sich selbst, sich mit Druck oder Zug einem anderen Körper aussetzen, sich Luft machen, etc. Die Kurzformel der Anleitung ist: Nimm wahr, was du tust, sei interessiert, und wenn Dich das ‚Inter-Esse’ zu sehr packt, lasse los, unterbreche, setze eine Pause, nimm einen neuen Anlauf, sei mit dir und mit den Anderen, provoziere Veränderung, nimm die Atmosphäre im Raum wahr, die Bewegungen der Anderen, greife auf, was Du wahrnimmst, wiederhole, untersuche und befrage es, alleine, zu zweit, in der Gruppe – ganz nach dem Motto ‚Gemeinsam in Verschiedenheit’. „Sich selbst in der Gruppe zu spüren – Überraschung, Genuss, Vertrauen.“ (Özge, Performerin)
Bis auf den Baustein ‚Bewegungschor’, eine aus den Handgesten aller PerformerInnen entwickelte Etüde, die eingeübt und unisono ausgeführt werden kann, gibt es kein explizites Einstudieren. Selbst das Warm-up ist mit dem Baustein ‚Spiegel’ verknüpft, die Entwicklung der Matrix also Teil der Performance und das Ganze von Anbeginn immer schon Ernstfall. Die Schlussaufführung ist von den Proben nur dadurch unterschieden, dass keine Bausteine mehr erarbeitet werden, keine Anleitung erfolgt, Publikum zugegen ist und eine durchlaufende Klanginstallation die Performance begleitet – in diesem Fall „Piano Three Hands“ von Morton Feldman. Das Anbringen von Klebestreifen zu einem etwa 90 qm großen Feld markiert den Beginn. „Sich in einem geschützten Rahmen bewegen, der Freiheit ermöglicht.“ (Mary, Performerin) Die ZuschauerInnen stehen außerhalb des Rechtecks, und die Grenze selbst fungiert für die PerformerInnen wie die Hola im Fangspiel: Wer darauf steht, ist vom Geschehen ausgenommen, kann allein hier – sozusagen inmitten der ZuschauerInnen – die Beobachterposition einnehmen und eine Übersicht über das Geschehen gewinnen. In der Schlusspräsentation wird die Matrix im besten Fall vergessen; die Erinnerung der Bausteine wird durch die Begegnungen und performativen Setzungen provoziert und letztendlich der freien Improvisation überlassen. „Im Alltag bewertet man alles, hier aber nimmt man nur wahr, ohne Bewertung; im Alltag sondert die Wahrnehmung in einer Art Routine aus, bei der Performance merkt man alles.“ (Cathleen, Performerin)
Die ästhetische Einstellung gelingt durch überraschende, widerständige oder irritierende Widerfahrnisse und Einspielungen, doch zuletzt ist sie immer gefordert – eingeübt durch einen entfokussierten Blick, eine Intensivierung des Spürsinns und ein ‚Verbot’ symbolischer Kommunikation – also kein Denken, kein Bewerten, kein Blickaustausch. „Eine gesteigerte Präsenz – man versucht, nicht zu denken.“(Özge, Performerin) Die PerformerInnen nehmen sich sozusagen selbst beim Machen wahr, während sie zugleich Andere wahrnehmen. Teil eines Gefüges zu sein, bei dem sich der innere und äußere Raum weitet.“ (Lilly, Performerin) Die Konzentration liegt auf der Wahrnehmung aller synchron oder asynchron verlaufenden Ereignisse und auf der Antizipation kommender Situationen und Konstellationen. „Impulsen nachgeben durch Anknüpfen an Gegebenes.“ (Nico, Performer) Die PerformerInnen ‚dienen’ buchstäblich dem Geschehen und halten die Improvisation durch Geben und Empfangen in Gang – ganz nach Art der Gabe (vgl. Seitz 2011) eine wechselseitige Anerkennung, wobei die Gegengabe niemals zwingend ist. Im Erspüren des richtigen Augenblicks fassen die PerformerInnen Gelegenheiten beim Schopfe, handeln in die Situation hinein oder lassen sich von ihr ergreifen. „Absolut im Moment sein – total awareness, das ist beglückend.“ (Mary, Performerin) Mitunter entstehen fast magisch anmutende Momente: „plötzliche Stille nach einer enormen Dynamik“ (Nico, Performer), die Gruppe führt (wie von Geisterhand geführt) unisono den Bewegungschor aus, einer bleibt (vertieft in sein Tun) momentan allein auf dem Feld zurück oder die Performance findet unvorhersehbar plötzlich zu einem Ende. „Unfassbar, wenn die Gruppe zufällig das Gleiche tut, zur Einheit wird.“ (Lilly, Performerin) Was sich hier äußert, ist eine mimetische, imaginative und intuitive Intelligenz – eine „Bewegungslogik“, die den „leiblichen Eigensinn sowie die Bewegtheit des Geschehens“ und den „Sinn für Bewegung und Sinn von Bewegung“ erfahrbar macht. (Vgl. Berger 2006:150) „Man hatte das Gefühl, als wäre das Ganze abgesprochen, und dann fällt es plötzlich wie ein Kartenhaus zusammen, um sich neu aufzubauen, zu schweben oder aufzubrausen. Ich war den Beweggründen hinterher und wusste, ich komme immer zu spät.“ (Zuschauerin)
Die Topographie mutet an wie eine stetig sich verändernde Landschaft, die sich selbst nicht wichtig nimmt – buchstäblich: eine Ordnung im Entstehen, eine, die Entwurf und ephemeres Ereignis bleibt. Andauernd wird etwas erspielt, verhandelt, verschwendet, zerspielt, dekonstruiert, verwandelt. Zur Anschauung kommen unbestimmte Zustände, sich anbahnende Ereignisse und Übergänge, die kaum topographisch (höchstens durch Bahnen und Linien) zu identifizieren sind. „Es sind Wellen, die durch das Feld gehen, die einen mitnehmen oder gegen die man als Wellenbrecher stört.“ (Cathleen, Performerin) Die PerformerInnen scheinen eine gemeinsame Idee zu verfolgen, doch ist eine solche nicht benannt. „Alles schien so planmäßig, so harmonisch oder unharmonisch, wie ein Bild, in das ich tief eingetaucht bin.“ (Dudu, Performerin) Sie folgen Impulsen und verstehen, indem sie machen. Der Sinn liegt nicht hinter der Bewegung, er fällt mit dem Akt der Ausführung zusammen. Die Bewegungen selbst sagen, was zu tun ist: „Was uns bewegt, ergibt sich, wenn wir der Bewegung folgen.“ (Waldenfels 1987:178) Das Können besteht dann auch darin, sich dem Prozessualen gegenüber zu öffnen. Die Performance wird sozusagen geschrieben wie sie zugleich in actu gelesen wird – Spuren eines bedeutsamen, sinnlichen, letztendlich bedeutungsleeren Geschehens und doch eine Kette sinnhafter Ereignisse. Wie bei einem Seiltänzer, der mit jedem Schritt das Gleichgewicht riskiert und zugleich herzustellen sucht, kommt eine Bewegungsintelligenz zum Vorschein, die sich durch unaufhörliche Erfindung und Überschreitung ihrer selbst versichert. Die PerformerInnen wissen mehr, als sie zu sagen vermögen. „Stille Freude über die eigene Sprachlosigkeit.“ (Julia, Performerin)
Die Trennung zwischen bewirkendem Subjekt und wahrnehmendem Körper ist aufgehoben. Wer zu sehr mit dem Eigenen beschäftigt ist, wird weder leibliche Gestimmtheiten noch äußere Widerfahrnisse noch räumliche Atmosphären wahrnehmen können. „Glück ist, wenn es gelingt, ganz loszulassen.“ (Lilly, Performerin) Die PerformerInnen nehmen sich und die Anderen wahr, aber sie nehmen sich auch als ein Äußeres wahr, so wie es eben auch für die Anderen wahrnehmbar ist. Dies ist nur möglich, „wenn Ich wie der Andere aus der Situation, nicht unabhängig von jeglicher Bindung sich definieren. […] Die Gebärde tritt mir entgegen gleichwie eine Frage, mich verweisend auf bestimmte sinnliche Punkte der Welt und mich auffordernd, ihr dahin nachzugehen.“ (Merleau-Ponty 1966:9/219) „Mir kam es vor, als ob wir unser Gehirn teilen und die Welt herum ist weg, da ist momentan nur noch das eine Individuum im Raum, das aus Özge und mir besteht.“ (Cathleen, Performerin) Es ist, als ob die Intentionen des Anderen in meinem Leib wären und die meinen in seinem. Diese eigenartige Verschränkung des Blickes zwischen innen und außen verbindet die PerformerInnen – „bezogen sein und doch allein sein.“ (Mary, Performerin) Wir versetzen uns „in uns und in die Anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden“ (Merleau-Ponty 1994:209).
In der Performance „In Bewegung“ handelt jeder für sich individuell und erfährt doch die Gründe (mitunter auch Abgründe) sozialer Verfasstheit. Auch ohne Sprache werden die Aktionen, Operationen und Handlungen als Mitteilung verstanden. Wenn Luhmann zufolge in der ästhetischen Erfahrung Information und Mitteilung getrennt werden, Sinn und Form (anders als in der sprachlichen Kommunikation) also auseinanderfallen, so führt gerade diese in und durch Kunst erzeugte Aufmerksamkeit für diese Differenz zum Wahrnehmen von Wahrnehmung (für die PerformerInnen wie auch für die ZuschauerInnen): „Kunst macht Wahrnehmung für Kommunikation verfügbar außerhalb der standardisierten Formen der Sprache. Kunst und ästhetische Erfahrung haben für Luhmann also die subtile Funktion, die als autopoietische Systeme gegeneinander abgeschlossenen Bereiche von (individuellem) Bewußtsein und Wahrnehmung einerseits und (sozialer) Kommunikation andererseits aufeinander zu beziehen.“ (Blaschke 2006:249)
Schwellenerfahrung – Was geschieht, wenn etwas geschieht?
Nicht wir wissen es ist allererst
ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.
(Heinrich von Kleist)
Zwischen Sein und Erscheinen, zwischen Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden hin- und herpendelnd richten die PerformerInnen ihr Augenmerk auf die rhythmische Bewegungsgestaltung, die Modulation des umgebenden Raumes, die Stimmungsschwankungen, das Ein- und Ausatmen und den Übergang dazwischen – auf die Veränderungen also, die Voraussetzung jeglicher Wahrnehmung sind. Jeder öffnet seinen eigenen Erfahrungsraum, im Bewusstsein dessen, dass alle Anderen das gleiche tun. „Jeder war in seiner eigenen Trance, aber alle waren gleichzeitig in einer gemeinsamen Trance – wie ein Organismus, der einfach lebt und sich bewegt.“ (Cathleen, Performerin) Die Performance macht das Ineinander von Gleichheit und Verschiedenheit erfahrbar: Trotz unterschiedlicher Positionen und heterogener Einstellungen richten die PerformerInnen ihr Handeln auf die dort entstehende gemeinsame Welt und verhandeln gewissermaßen, was zur Erscheinung kommt. „Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört- und Gesehenwerden konstituiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres Innenlebens – die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Lust der Sinne – ein ungewisses Schattendasein, es sei denn, sie werden verwandelt, gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden.“ (Arendt 2003:62f.)
Die eigene Bewegung, die Position im Raum ist durch Wahrnehmung jeweils mit allen anderen Positionen (Geschwindigkeiten, Rhythmen, Energien etc) verknüpft. „Als ein Organismus operieren, bezogen sein auf Andere, indem man ganz dicht bei sich selbst ist.“ (Mary, Performerin) Es geht weniger darum, sich dem Anderen (der Stimmung, der Bewegung, dem Rhythmus, dem Klang, dem Raumweg) anzugleichen, als vielmehr darum, etwas durch mimetisches Handeln bedeutend zu machen, zu wiederholen, zu steigern, es zu verändern, zu stören oder einfach stehen zu lassen. „Etwas ohne Absicht tun, einfach loslassen, sich faszinieren lassen und einlassen und damit das Geschehen beeinflussen.“ (Cathleen, Performerin) Die ästhetische Einstellung sucht die Situation nicht zu beherrschen: „Nicht Kompetenz, sondern Aufmerksamkeit des Geistes und der Sinne – man könnte auch das altmodische Wort der Hingabe verwenden – könnte eine Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung von Improvisation sein.“ (Brandstetter 2010:196)
Die PerformerInnen greifen auf, was ihnen begegnet, und ihre Antworten bemühen auch den praktischen Sinn, wie ihn Pierre Bourdieu beschrieben hat. Beim Betrachten solcher „praktischen Systeme“ sind jedoch weder die Vorstellungen interessant, die Menschen von sich selbst haben, noch die Bedingungen, durch die sie bestimmt werden, sondern ausschließlich das, was sie tun und wie sie es tun: „Rationalitätsformen, die ihre Weise zu handeln organisieren (dies könnte der technologische Aspekt genannt werden) und die Freiheit, mit der sie innerhalb dieser praktischen Systeme handeln, darauf reagieren, was Andere tun und bis zu einem gewissen Punkt die Spielregeln modifizieren (dies könnte die strategische Seite dieser Praktiken genannt werden).“ (Foucault 1990:49)
Sinnliche Eindrücke, Emotionen, Stimmungen werden genauso aktiviert wie vorreflexive Wissensbestände, Körpererinnerungen und tiefensensorische Wahrnehmungen. Ein Tun, das Faszination, Staunen und Glück, aber auch Gefühle der Leere, Angst und Krise auslöst – Erschütterungen, die den Weg in die Freiheit bahnen: „aufregend, beängstigend, befreiend.“ (Mary, Performerin) „Der Körper ist der Ort des praktischen Sinns, der die Frage nach der eigenen Erfahrung und des eigenen Tuns durch das eigene Tun beantwortet.“ (Dell 2002:145)
Was in der Performance zur Erscheinung kommt, gründet auf eingeschriebenem Wissen, das zunächst weder gewählt noch selbst erfunden, sondern im Verlauf des Lebens durch unzählige performative Akte übernommen und quasi eingespurt ist. Doch, was auf performativem Wege verkörpert worden ist und auf dem Performance-Feld aktualisiert wird, ist durch die Wiederholung (sozusagen im Gebrauch) nicht nur re-, sondern auch dekonstruierbar, wird neu erfahren und neu gedeutet. „Aus Lust zu verändern und zu komponieren.“ (Özge, Performerin) Solcherart Improvisation bricht zuletzt auch Konventionen – eine „Finde-Kunst“, die darauf zielt, „sich von den im Körper ‚alteingesessenen’ Disziplinierungen und Codes [zu] befreien“ (Brandstetter 2010:188). „Glück kommt hier der Befreiung, dem Ausbruch gleich.“ (Julia, Performerin) Die Erprobungen erlauben darüber hinaus, „neue Bindungen einzugehen und sich so den öffentlich-politischen Raum wieder anzueignen. Das improvisatorische Spiel und der konstruktive Umgang mit dem mimetischen Fluss als Befähigung zu verstehen, ist dann Voraussetzung für einen Blick auf das, was Improvisation als Technologie der Performanz im gesellschaftlichen Kontext zu leisten im Stande ist.“ (Dell 2002:100) So ist die Performance „In Bewegung“ zuletzt auch Probehandeln für eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der die Folgen des Tuns weder kalkulierbar noch kontrollierbar sind, deren Komplexität nicht mehr überschaubar ist, in der aber dennoch gehandelt werden muss.
Die PerformerInnen suchen auf das Gegebene zu reagieren, finden heraus, welcher Umgang stimmig, welche Antwort passend ist. „Raumgespür einsetzen.“ (Cathleen, Performerin) Dazu müssen wir jedoch „die Grenzen dessen, was Sinn für uns hat, weiter zurück verlegen und die enge Zone des thematischen Sinnes zurückversetzen in die sie umfassende nicht-thematischen Sinnes“ (Merleau-Ponty 1966:320). Angesichts solcherart Evidenzerfahrung können die PerformerInnen nicht mehr machen, als im Tun die Evidenz des Ereignisses zu intensivieren – es sind buchstäblich Existenzsetzungen. Das Denken scheitert daran, weil es die Erfahrung als Phänomen gar nicht fassen kann. „Der Anfang [des Denkens] liegt im Drehen und in der Bewegung.“ (Nancy 2008:88) So forciert das Performancefeld eine andere Art des Denkens, das sich am Differenten und Nicht-Fassbaren herausarbeitet.
Es ist zwar richtig, dass das Denken nur sich selbst hat, aber es muss doch festgehalten werden, dass es sich immer wieder mit etwas konfrontiert sieht, das landläufig ‘das Reale’ genannt wird. Dieses Zusammentreffen von Denken und Realem hat seine Geschichte im Begriff der Erfahrung. Die Erfahrung ist, mit Fichte gesprochen, die Verdichtung der einfachen unreflektierten Empfindung zu einem ‚Gefühl der Notwendigkeit’. Das Bild des Denkens, das dieser Perspektive unterliegt, ist an einem Erleiden der Wirklichkeit ausgerichtet, das das Denken aus seiner Isolation heraushebt. Das Denken der Erfahrung weiß gewissermaßen bzw. ist durch die Zeit und das Leid zur Einsicht gelangt, dass jenseits der Vorstellungen des Denkens etwas auf das Denken zukommt. (Aktas 2009:14)
Das situative, mimetische, antizipierende Erfassen bringt Handlungen, Bewegungen, Aktionen, auch Töne hervor, die emergente Züge aufweisen – zuletzt also nicht einmal mehr auf konkrete Ursachen (biografisches Material, Gesten, Begegnungen, Gestimmtheiten) zurückzuführen sind, sondern eine Wirklichkeit hervorbringt, die niemand erzeugt und über die niemand verfügt.
Denn das Ereignis, wiewohl ein Gemachtes, ist doch nirgends ein Machbares; geplant ist es doch niemals ein Planbares, konstruiert ist es dennoch nichts Konstruierbares, weil es sich im Verlauf seiner Vollzüge selbst schafft. [... Es] bildet nicht ab, verweist auf nichts und macht zuweilen auch sprachlos. Darum bedeutet es nicht von sich her, fügt sich keinem Symbol, ist vielmehr, was es ist. Als reine Präsenz untersteht es entsprechend der Struktur des Zeigens; es bildet gleichsam die ‚Sprache’ des Performativen, ohne jedoch als Sprache ausweisbar zu sein. Das Zeigen ist im Unterschied zum Symbolischen stets auf Wahrnehmung bezogen; es privilegiert die Sinne. (Mersch 2001:82f.)
„Absolut abstrakt und doch auch konkret und sinnlich, wie ein Bild, das sich dauernd verändert – äußerst spannend und schön anzusehen.“ (Zuschauer)
Der Zusammenbruch gewohnter Verstehensabläufe in der Performance macht buchstäblich ortlos – eine „moderne Variante liminaler Erfahrung“, wie sie auch für die Ästhetik des Performativen konstitutiv ist. (Vgl. Fischer-Lichte 2004:332/347) Als Schwellenerfahrung zielt sie auf die Transformation aller Beteiligten (der PerformerInnen wie auch der ZuschauerInnen) bzw. wird als solche erlebt. Wie in der Übergangsphase des Rituals ist das Erleben jenem „flow“ (Mihaly Csikszentmihalyi) ausgesetzt, das transsubjektiv wirkt und ein „Denken des Außen“ (Dietmar Kamper) möglich macht. Der Prozess ist weniger durch „Einfühlung“ als vielmehr durch „Ansteckung“ bestimmt – also durch die unmittelbare Übertragung der wahrgenommenen Energien, Stimmungen und Emotionen auf den Körper. (Vgl. Fischer-Lichte 2004:339) „Man spielt sich hinein und lässt sich von dem Geschehen buchstäblich verführen.“ (Cathleen, Performerin)
Um Martin Seels Kategorien einer ästhetischen Praxis der Kunst abschließend nochmals aufzugreifen und vor dem Hintergrund der hier zu Wort kommenden ästhetischen Erfahrung zu spezifizieren: Die Performance „In Bewegung“ basiert auf Korrespondenz, Kontemplation und reflexiver Imagination und somit auf einer mimetischen Suche nach dem Sinn erfüllenden Augenblick, einer durch Performanz und Iteration geprägten Suche nach dem Sinnfernen und Fremden und einer leiblich vollzogenen Praktik des Denkens. „Eine unglaubliche Konzentration und Spannung, Das Geschehen hat mich an- und reingezogen. Ich hätte mir das noch länger anschauen mögen.“ (Zuschauerin)
Wenn ästhetische Erfahrung darauf beruht, aus dem „stream of thoughts“ (John Dewey) herauszutreten, um die Wahrnehmung auf eine Vielfalt situativer Eindrücke und Episoden zu richten, so tritt diese Aufmerksamkeit zwar als Wissen einem bloß Erlebten gegenüber, doch das integrative oder auch dekonstruktive Moment des Erfahrungsstroms ist mehr gefühlt und gewusst als gedacht. Ästhetische Erfahrung bemüht das Sinnenbewusstsein. Sie verlangt nicht nach einer Anstrengung des Begriffs, sondern einer „Anstrengung des Gemüts“ – Erfahrungshorizonte, denen heutzutage kaum Raum gegeben wird: „Wie wir das Üben zu üben haben, so auch das Erfahren zu erfahren. Während wir Erfahrungen wieder aufnehmen und auf neue Situationen, Schritte übertragen, werden aus den sinnlich erinnerten Wahrnehmungen auch Strukturen des Bewußtseins frei. Denkformen verbinden sich mit dem Nachspüren einen Balanceerlebnisses, dem Nachbild einer Landschaft, dem Nachklang eines Musikstückes“ (zur Lippe 1987:364) – und selbstredend auch dem Nachsinnen einer Performance.