Von Art Education im Emergency-Remote-Modus hin zu Art Education im Modus Potentialis

Erste Ergebnisse einer Untersuchung mit Studierenden zu kunstpädagogischen und ästhetisch-kulturellen Vermittlungspraxen im Ausnahmezustand

Artikel-Metadaten

von Miriam Schmidt-Wetzel

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Der Beitrag gibt Einblick in eine Studie, die als eine Untersuchung von und mit Akteur*innen in Art Education angelegt und methodisch-methodologisch an den Merkmalen einer phänomenologischen Einzelfallforschung orientiert ist. Gegenstand sind die Erfahrungen der beteiligten Akteur*innen in der Lehre und Vermittlung in Art Education inmitten des globalen Ausnahmezustands, welcher durch die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 ausgelöst wurde. Die Untersuchung leitend sind zwei Annahmen: Erstens, dass Vermittlungsformate unter dem (Ein-)Druck der ersten pandemischen Welle quasi aus dem Stand und ohne fundierte Kenntnis von E-Didaktik im Modus eines „Emergency Remote Teaching" (ERT) (Hodges et al. 2020) entstanden sind. Zweitens, dass die Verständnisse und Umgangsweisen, die sich im ERT-Modus zeigen, für eine grundsätzliche Erweiterung ästhetisch-kultureller Bildung ins Digitale und in die Distanz von Bedeutung sein können. Als Bedingung hierfür werden aus den Ergebnissen der Studie Ansätze für einen Moduswechsel abgeleitet: weg von ERT hin zu einem „Modus Potentialis", in dem der Orientierungsrahmen und die Handlungsmöglichkeiten für kunstpädagogisches und ästhetisch-bildnerisches Handeln neu befragt und verhandelt werden können.

Kontext und (pandemische) Rahmungen der Studie

Die Studie „Erzählungen über Distanz und Nähe – kunstpädagogische und ästhetisch-kulturelle Vermittlungspraxen im Ausnahmezustand“, gestartet im Mai 2020, öffnet zu einem frühen Zeitpunkt der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie einen Reflexions- und Resonanzraum für Studierende, Dozierende und schulische Lehrpersonen, in dem sie über ihre persönlichen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Haltungen in der ästhetisch-kulturellen Bildung oder im Kunstunterricht in der ersten Phase des harten Lockdowns sprechen können. Gemeinsam mit Akteur*innen in Feldern der Art Education geht die Untersuchung der Frage nach, welche Verständnisse und Umgangsweisen sich im Vermittlungshandeln im Ausnahmezustand zeigen und inwiefern diese relevant und wegweisend für die grundsätzliche Erweiterung Kultureller Bildung bzw. des kunstpädagogischen Handelns ins Digitale und in die Distanz sein können. (Anm.: Sämtliche Zeilenangaben in diesem Text beziehen sich auf das Protokoll der Gruppendiskussion, einsehbar bei der Autorin.)

Der vorliegende Beitrag fokussiert auf das Vorgehen, die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der ersten von drei Teilstudien, in deren Zentrum eine Gruppendiskussion mit drei Bachelorstudierenden über ihr erstes Berufspraktikum im Berufsfeld Ästhetische Bildung und Soziokultur steht. Ein Überblick über die Gesamtanlage der Untersuchung, verbunden mit einer vertieften kritischen Reflexion der methodisch-methodologischen Implikationen und den Herausforderungen des spezifischen Forschungssettings, wurde bereits an anderer Stelle publiziert (vgl. Schmidt-Wetzel/Zachmann 2021); für das Verständnis notwendige Passagen werden aus diesem Artikel in die vorliegende Darstellung übernommen.

Das Praktikum, das von den Studierenden in verschiedenen Institutionen der außerschulischen ästhetischen Bildung und soziokulturellen Vermittlung in Tandems absolviert wird, ist massiv von den pandemiebedingten Einschränkungen betroffen. Denn nach einer fast halbjährigen Phase der Vorbereitung und Hospitation fällt die Durchführung des eigenen Vermittlungsprojekts zeitlich genau zusammen mit dem Heranrollen der ersten Corona-Welle im März 2020. Die Praktikant*innen sind dadurch gemeinsam mit den sie betreuenden Hochschuldozierenden und Praxismentorierenden gezwungen, ihre Praxisprojekte gewissermaßen aus dem Stand den strengen Lockdown-Bedingungen entsprechend so umzuplanen, dass sie remote, also in Distanz und ohne direkte Begegnungen der Beteiligten an einem gemeinsamen Ort, machbar werden. Konfrontiert mit dieser besonderen Herausforderung entwickeln die Studierenden verschiedene Lösungsansätze für die Ad-hoc-Umstellung ihrer Vermittlungsprojekte (Abbildung 1).

Schmidt-Wetzel_Abb. 1
Abb. 1: Einblicke in die Praktika © bei den Studierenden

Ein Teil nutzt dafür naheliegende Formate und Kanäle, indem beispielsweise Kunstvermittlungsangebote als Videotutorials auf den Homepages der Museen veröffentlicht werden oder Workshops zu Siebdruck oder Textilfärben zwar zum geplanten Termin angeboten werden, die Teilnehmenden und Workshopleitenden sich aber von ihren heimischen Küchen aus mit Hilfe eines Videokonferenztools zuschalten. Andere studentische Tandems lösen sich stärker von ihren ursprünglichen Vorhaben und entwickeln eigene Ansätze, um die unvermeidbare Distanz zu und zwischen den Teilnehmenden zu überbrücken. Sie reichen von vor den Institutionen zur Abholung bereitgestellten oder per Post versandten Materialboxen, mit denen zu Hause frei gearbeitet werden kann, über Anregungen für Bildgestaltungen, die auf Instagram geteilt werden, einen Fotoworkshop für Jugendliche, bei dem vollständig über WhatsApp kommuniziert wird, bis hin zu einem gänzlich analogen „Postkarten-Pingpong“ mit Senior*innen in einem Pflegeheim.

Vermittlung und Forschung mit Studierenden im Ausnahmezustand

Bei den im Praktikum realisierten Vermittlungsprojekten handelt es sich um Premieren in doppelter Hinsicht, nämlich um erste Praxisversuche als Vermittler*innen und in der Konzeption und Durchführung von Vermittlungsprojekten im Bereich der ästhetisch-kulturellen Bildung auf Distanz. Entscheidend für die Untersuchung und Bewertung dieser Vermittlungsansätze ist nun, dass diese nicht langfristig, bewusst und aus freien Stücken geplant als Formate für E-Learning oder Fernunterricht entwickelt worden sind. Sie wurden vielmehr ad hoc, innerhalb kürzester Zeit und unter einem enormen Handlungsdruck vollzogen, mit dem didaktischen Wissen und unter Einsatz der Mittel und Techniken, die unmittelbar verfügbar waren.

Rückblickend kann der Modus, in dem hier gehandelt wurde, mit Hodges et al. als „Emergency Remote Teaching“ (ERT) bezeichnet werden (Hodges/Moore/Lockee/Trust/Bond 2020). Damit soll betont werden, dass die im Lockdown praktizierten Vermittlungsformate auf Distanz als Lösung für einen akuten Notfall entwickelt wurden und dass davon auszugehen ist, dass diese von der krisenhaften Ausnahmesituation stark beeinflusst waren.

Doch auch die Studie selbst ist durch die pandemischen Rahmenbedingungen methodologisch und methodisch berührt und soll daher in Anlehnung an die Terminologie von Hodges et al. als Emergency Remote Research (ERR) bezeichnet werden kann. Denn wie der Forschungsgegenstand waren auch die forschungsmethodischen Entscheidungen und die Durchführung der Erhebungen wesentlich geprägt durch die außerordentliche Lockdown-Situation. So waren etwa die Handlungsmöglichkeiten der Forschenden durch das Gebot der Kontaktreduktion eingeschränkt; es war klar, dass Interviews und Gruppendiskussionen nur digital durchgeführt werden konnten. Die Forschungskonzeption war motiviert durch den hohen Bedarf, schnell und fokussiert zu reagieren. Ziel war es, in einer dynamischen Gesamtsituation Daten zu erheben, welche die Auseinandersetzung mit den durch die Pandemie ausgelösten Entwicklungen aus einer Forschungsperspektive heraus gemeinsam mit Studierenden und Dozierenden als Akteur*innen in Art Education möglich machten.

Ganz unabhängig von diesen herausfordernden Bedingungen: Die Untersuchung der Erfahrungen, Wahrnehmungen und Haltungen der Studierenden im Kontext ihres Praktikums im ERT-Modus stellt ein Experiment in gemeinsamem Forschen von und mit Akteur*innen in Art Education dar. Die Beteiligten agieren dabei – wie die Forschenden selbst – im Rahmen der Untersuchung in verwickelten Doppel- oder sogar Mehrfachrollen, nämlich als Lehrende, Lernende und Forschende. So sind die Studierenden zunächst im Praktikum als Vermittler*innen aktiv, sprechen dann in einer Gruppendiskussion als Teilnehmende an der Studie über ihre Erfahrungen und werten diese schließlich als Mitwirkende in einer Interpretationswerkstatt aus. Diese Verwicklungen sind gleichermaßen herausfordernd wie mit diversen, erkenntnisversprechenden Multiperspektiven verbunden (vgl. Hallmann/Hofmann/Knauer/Lembcke-Thiel/Preuß/Roßkopf/Schmidt-Wetzel 2021).

Ziele, Forschungsdesign und Fragestellungen

Die Untersuchung verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen geht es darum, methodisch geleitet und orientiert an Verfahren kunstpädagogischer phänomenologischer Analysen (vgl. Peez 2007:105f.; Mayring 2016:108ff.) Strukturmerkmale von ästhetisch-kulturellen und kunstpädagogischen Lehr- bzw. Vermittlungsangeboten zu rekonstruieren, die in der Phase des ersten, strengen pandemiebedingten Lockdowns praktiziert wurden. Darauf aufbauend wird danach gefragt, ob sich die allgemeindidaktisch beschriebenen Merkmale von „Emergency Remote Teaching“ (Hodges et al.) anhand der Erhebungen auch in Bereichen der ästhetisch-kulturellen und kunstpädagogischen Arbeit zeigen. Oder aber ob möglicherweise für Art Education so spezifische Strategien und Handlungen zu rekonstruieren sind, dass sie die Beschreibung einer „Emergency Remote Art Education“ sinnvoll erscheinen lassen bzw. erforderlich machen.

Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand erfolgt mit einer offen-explorativen Grundhaltung in drei exemplarischen Einzelfallstudien (vgl. Wernet 2006). Das Forschungsinteresse liegt dabei jeweils auf der Rekonstruktion der subjektiven Deutungen und Sinnzuschreibungen der Beteiligten, die in möglichst offenen kommunikativen Settings erhoben werden. Für die erste der drei Einzelfallstudien werden wie bereits genannt Bachelorstudierende eingeladen, sich in einer Gruppendiskussion über ihr unter Lockdown-Bedingungen durchgeführtes erstes Praktikum im außerschulischen ästhetisch-kulturellen Berufsfeld auszutauschen. Die Perspektiven der Hochschuldozentin, die dieses Berufspraktikum vorbereitet und begleitet hat, werden in Teilstudie 2 in Form eines narrativen Interviews erhoben. Teilstudie 3 kontrastiert die Erzählungen über die Erfahrungen im außerschulischen Bereich von Art Education mit den Erzählungen einer Gymnasiallehrerin aus dem Schweizer Schulfach Bildnerisches Gestalten, welche ebenfalls in Form eines narrativen Interviews erhoben werden. Alle drei Gespräche werden aufgrund der zu den Erhebungszeitpunkten erforderlichen Kontaktbeschränkungen als Videokonferenzen via Zoom durchgeführt. Die allen drei Teilstudien übergeordneten Forschungsfragen lauten:

  • Welche Aspekte thematisieren Akteur*innen in der Lehre und Vermittlung im Bereich Art Education, wenn sie Anderen von ihren Erfahrungen in der ästhetisch-kulturellen Vermittlung bzw. im Kunstunterricht unter Lockdown-Bedingungen, d.h. unter dem Eindruck einer krisenhaften Ausnahmesituation, erzählen? Auf welche Weise tun sie dies?
  • Welche Verständnisse und Umgangsweisen der Akteur*innen lassen sich aus den Themen und der Art der kommunikativen Verhandlung in Form von Erzählungen rekonstruieren – bezogen auf Art Education im ERT-Modus und in Bezug auf Art Education generell?

Einblicke in Teilstudie 1: Gruppendiskussion mit Studierenden über ihr erstes Praktikum im Berufsfeld Ästhetische Bildung und Soziokultur

Wesentlich für die Erhebungsmethode Gruppendiskussion in der hier angewendeten Konzeption ist es, „dem Diskurs die Möglichkeit zu geben, sich auf jene Erlebniszentren einzupendeln, welche jeweils die focussierte [sic] Erfahrungsbasis des Gruppenhandelns darstellen. Die Gruppe bestimmt somit ihre Themen selbst.“ (Bohnsack 1997:499; vgl. vertiefend Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2010)

Das sich nach dem Eingangsimpuls entwickelnde 77-minütige Gespräch kennzeichnet eine entspannte, zugewandte Atmosphäre. Alle drei Teilnehmenden – Steve, Tamara, Enno - nutzen im Verlauf die Bildschirmfreigabefunktion und zeigen Bilder aus ihren digitalen Formaten: Sowohl Steve als auch Enno bauten ihre jeweils mit einer Tandempartnerin geplanten Druckkurse in synchrone digitale dreistündige Vermittlungsworkshops um (Abbildungen 2 und 3). Bei beiden wurde den Kursteilnehmenden vorab Material und Werkzeug per Post zugestellt. Tamara konnte noch zwei Workshops statt einer ursprünglich geplanten größeren Workshop-Reihe mit Teilnehmenden vor Ort im Museum durchführen. Zusätzlich erstellte sie gemeinsam mit ihrer Tandempartnerin drei D.I.Y.-Angebote und eine Mitmachaktion zur aktuellen Ausstellung.

Abb. 2

Abb. 3
Abb. 2 und 3: Einblicke in den von Enno und seiner Tandempartnerin digital durchgeführten Siebdruckworkshop © Lea Bachmann und Janus Boege

Die der Gesamtstudie übergeordneten Forschungsfragen werden für die Auswertung der Gruppendiskussion wie folgt konkretisiert und detailliert:

  • Auf welche Weise beschreiben und beurteilen die Studierenden ihre Erfahrungen, welche Worte und Begriffe verwenden sie in ihren Erzählungen?
  • Welche Verständnisse von Vermittlung allgemein und in der krisenhaften Ausnahmesituation lassen sich rekonstruieren?
  • Welche individuellen Verhaltensweisen in Vermittlungssituationen in Distanz lassen sich rekonstruieren? Insbesondere: Wie wird in/über Distanz kommuniziert und interagiert? 

Erste Erkenntnisse

Polarisierende Differenzierung zwischen bekannten analogen und neuen, größtenteils digitalen Vermittlungsformaten

Das übergeordnete Thema der Gruppendiskussion besteht im Austausch über die Differenzerfahrungen im Studium und im Praktikum in der ungekannten und krisenhaften Ausnahmesituation, exemplarisch verdeutlicht am folgenden Zitat:

„Man muss sich einfach EXTrem beWUSSt sein, dass man sich hier in einem digitalen Raum befindet und dass dieser nicht genau so funktioniert, wie das funktioniert im analogen oder im physischen Raum.“ (Steve, 821–824)

Die Gesprächsteilnehmenden Tamara, Enno und Steve entwickeln kollektiv eine Polarisierung zwischen bekannten analogen und neuen, größtenteils digitalen Vermittlungsformaten. Letztere werden im Vergleich insgesamt klar als defizitär und den bekannten Formaten untergeordnet oder sogar unterlegen dargestellt: Nämlich als beschränkt in Bezug auf Körperlichkeit und Leiblichkeit und als unzureichend, was die Intensität, Ganzheitlichkeit und soziale Einbindung der ästhetischen Vermittlungsprozesse angeht.

Als medial geprägt und begrenzt erfahrene Handlungsmöglichkeiten und Spielräume

Die Studierenden erleben ihre Handlungsspielräume in den synchronen Vermittlungssituationen als durch die Begrenzungen des Bildschirms stark eingeschränkt und durch ihre jeweilige Rolle geprägt: Entweder sie agieren vor der Kamera oder aber sie konsumieren als Studierende das von den Dozierenden Dargebotene. In der Gruppendiskussion zeigt sich damit die Tendenz einer Rückkehr zu asymmetrischen Rollenverständnissen, die im Bereich Art Education vermeintlich überkommen sein sollten. Aussagen wie die nachfolgend zitierte legen nahe, dass dies durch eine Übertragung von Erfahrungswissen und Konventionen im Umgang mit Bewegtbildern angesichts der Exposition vor „überall geöffnete[n] Kamerafenster[n]“ (vgl. Schütz 2020: o.S.) ausgelöst sein könnte:

„[E]in Gesetz des Filmes ist, dass, wenn ich nicht im Film bin, bin ich nicht real. Also wenn ich aus dem Bild GEHe, dann bin ich weg, dann bin ich nicht mehr präsent. […] Und das fand ich zum Beispiel beim Vermitteln EXTrem anstrengend, dass ich das beWUSST stillsitzen musste und auch DA sein, damit ich da bin.“ (Steve, 540–547)

Orientierungsversuche angesichts noch ungeklärter Begriffe und Konzepte

Die Studierenden verwenden in der Gruppendiskussion eine variantenreiche Vielzahl an Begriffen und Umschreibungen, um über die im Lockdown gemachten Vermittlungserfahrungen zu sprechen (Abbildung 4).

Schmidt-Wetzel_Abb. 4
Abb. 4:  Sammlung verwendeter Begriffe und Umschreibungen © Laura Zachmann

Dies deutet darauf hin, dass die erforderlichen Verständnisse, um die gemachten Erfahrungen zu beschreiben, zu beurteilen und einzuordnen, (noch) nicht in angemessener Weise vorhanden sind. Denn insbesondere ihr Erfahrungswissen bezüglich digitaler Vermittlungsformate konnten die Teilnehmenden an der Gruppendiskussion bislang ausschließlich aus ERT-Formaten generieren. Sie können ihre Einschätzungen also nicht auf Erfahrungen im Rahmen von bewusst und mit Bedacht geplanten Remote-Formaten im Bereich Art Education stützen – ebenso wenig wie ihre Dozierenden und Praxismentorierenden. Anders als diese verfügen Teilnehmende an der Gruppendiskussion jedoch noch nicht einmal über eigene Vermittlungserfahrungen in Präsenz. Das bedeutet: Während die Praktikumsbetreuenden und Dozierenden in der Regel sowohl auf ein explizites Professionswissen als auch auf ein implizites Handlungswissen aus ihrer bisherigen – analogen – Praxis im Bereich Art Education zurückgreifen können, fehlen ihnen diese Orientierungsmöglichkeiten – sowohl für ihr eigenes Vermittlungshandeln im Praktikum in Distanz als auch für die Beurteilung der digitalen Lehr- und Begleitveranstaltungen im Bereich Art Education.

Verständnisse und Beurteilungen über die Vermittlung und Lehre in Distanz im Modus Potentialis

Angesichts fehlender begrifflicher und konzeptueller Orientierungsmöglichkeiten treffen die Studierenden in der Gruppendiskussion ihre Aussagen über die spezifischen Merkmale, Qualitäten oder Mängel der Vermittlungsformate in einem komplexen Modus Potentialis. Sie können nur vage vermuten, welche Potenziale sich durch die räumliche und mediale Ausdehnung von Art Education ins Digitale und in die Distanz eröffnen könnten:

„Aber/ das ist ja so ein WAHNsinniger Range, der sich irgendwie eröffnet, und das ist so eine Riesenchance an diesen ganzen Onlinegeschichten.“ (Enno, 203–204)

Die Studierenden können aber auch nur spekulieren, was sie in einer herkömmlichen, analogen Vermittlungssituation im Vergleich zu dem erlebten ERT-Modus hätten tun oder erfahren können. Dieser Umstand schränkt die Möglichkeit, aus den Aussagen der Teilnehmenden Vermittlungsverständnisse allgemein und in der krisenhaften Ausnahmesituation zu rekonstruieren, stark ein und fordert dazu auf, in weiteren Untersuchungsschritten u.a. den Vermittlungsverständnissen der beteiligten Dozierenden als wesentlichen Einflussfaktoren auf die Entwicklung individueller Vermittlungsverständnisse von Studierenden nachzugehen.

Fazit

„Und für mich war auch so (.) dieser Punkt hier, diese Umstrukturierung, die Neuorientierung war (..) das war ein wichtiger Punkt, denke ich. Da war auch viel Frustration dabei und irgendwie so ins Blaue arbeiten und nicht genau wissen (..) was jetzt KOMMT.“ (Steve, 73–75)

Das Vorhandensein einer Art-Education-spezifischen Strategie für den Emergency-Remote-Modus in der Anfangsphase der Pandemie konnte in Teilstudie 1 der Untersuchung nicht nachgewiesen werden. Die Beschreibung einer spezifischen „Emergency Remote Art Education“, die Ansprüche und Qualitäten erfüllt, welche für Art Education wesentlich sind, scheint daher nicht indiziert. Die empirischen Untersuchungen zeigen vielmehr, dass sowohl die Handlungen als auch Wahrnehmungen in ästhetisch-kulturellen bzw. kunstpädagogischen Vermittlungskontexten und in der betreffenden Hochschullehre im untersuchten Fall wesentlich gekennzeichnet waren von den fachunabhängig beschriebenen Merkmalen von Emergency Remote Teaching: Didaktische Entscheidungen fielen tendenziell eher zugunsten stärker strukturierter und linearer Vermittlungsprozesse aus, häufig verbunden mit einer tendenziell affirmativen Nutzung von Videokonferenztools, und gegen experimentelle, spontane, ergebnisoffene oder sogar subversive Formate. Für den akuten Ausnahmezustand erscheinen die sich nachgerade diametral gegenüberstehenden, deutlich voneinander abgegrenzten Verständnisse von Art Education generell und Art Education im ERT-Modus daher fast zwingend.

Über die Bearbeitung der Forschungsfragen hinaus trägt die Untersuchung auch zur Methodenentwicklung für das gemeinsame Forschen mit Studierenden im Bereich Art Education bei. Für die beteiligten Studierenden eröffnet sich durch ihre Teilnahme an der Gruppendiskussion und der anschließenden, über mehrere Monate betriebenen Interpretationswerkstatt ein wissenschaftlich konturierter Resonanzraum, in dem ihre spezifischen Erfahrungen im Ausnahmezustand verhandelt und verarbeitet werden können. Das Heraustreten aus dem Zustand des Funktionieren-Müssens im Notfallmodus ermöglicht bewusste Momente des Innehaltens und des gemeinsamen Nachdenkens, in denen die außergewöhnlichen Erfahrungen reflektiert und subjektive Einstellungen eingeordnet werden können. Im gemeinsamen Forschungsprozess eröffnet sich eine weitere Reflexionsebene, die die getroffenen Einschätzungen klärt, ins Verhältnis zu jenen der Mitstudierenden und zu theoretischen Konzepten setzt und von der aus praxisbezogene Fragen in den Forschungsprozess eingebracht werden können (Abbildung 5).

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Abb. 5:  Forschungsfragen der Studierenden, entstanden in der ersten Interpretationswerkstatt © Laura Zachmann

Erste Schlussfolgerungen für die Forschung und Lehre in Art Education

Die Rahmenbedingungen, vor denen in „post/pandemischen Zeiten“ (vgl. Bayramoglu/Varela do Castro 2021) digitale Vermittlung und Fernunterricht entwickelt werden, bleiben unklar und in Veränderung. Qualitativ-empirisch gewonnene Erkenntnisse können und müssen daher mittel- und langfristig dazu beitragen, den Orientierungsrahmen für kunstpädagogisches und ästhetisch-kulturelles Handeln zu erweitern. Im konkret vorliegenden Fall bedeutet dies: Mit dem durch die Untersuchung rekonstruierten Wissen über die Handlungspraxen im Notfallmodus können einerseits Entwürfe digitaler und hybrider Settings in schulischen und außerschulischen Kontexten begründet sowie andererseits Art Education und Kulturelle Bildung über den Ausnahmezustand hinaus grundsätzlich neu befragt und verhandelt werden.

Rückblickend und (selbst-)kritisch stellen sich in dieser Hinsicht mehrere Fragen. So bleibt nicht nur zu klären, ob in der untersuchten Phase des ersten, akuten Ausnahmezustands aus einer spezifisch kunstpädagogischen Haltung heraus nicht doch mehr oder anderes möglich gewesen wäre als die Anwendung fachunabhängiger Notfallstrategien für die Umsetzung bewährter Vermittlungsformate für den Fernunterricht und Vermittlungsangebote in Distanz. Sondern auch, ob aus den Erfahrungen des Lockdowns die richtigen Schlüsse und Konsequenzen gezogen wurden und werden, um in den Feldern von Art Education und Kultureller Bildung angesichts der anhaltenden Krisen angemessen zu agieren. Diese Frage betrifft nicht nur die Lehre und Vermittlungspraxis, sondern auch die Forschung in ästhetisch-kulturellen Feldern. Für die vorliegende Studie im Modus von „Emergency Remote Research“ wurde auf bewährte und den Forscher*innen vertraute Methoden und Methodologien zurückgegriffen, ein gemeinsames Forschen trotz der krisenhaften und unsicheren Ausnahmesituation dadurch ermöglicht. Dennoch ist zu prüfen, welche Ansätze und Zugänge tatsächlich wirksam und erkenntnisversprechend angesichts aktueller Fragestellungen und Herausforderungen zum Einsatz kommen können und wie sich Forschungspraxen im Bereich der Kulturellen Bildung entsprechend anpassen und entwickeln müssen.Das aus der Gruppendiskussion rekonstruierte Denken und Handeln im Modus Potentialis erweist sich als ein möglicher Ansatzpunkt, um über den unmittelbaren Untersuchungskontext hinausreichende Strategien zu entwickeln, welche die Positionierung und Bewegung von Art Education auf mehrfach „unkartiertem Gelände“ (von Randow 2021) möglich machen: sowohl im und in Bezug auf den fachdidaktisch bislang noch wenig bearbeiteten digitalen Raum als auch innerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die durch die pandemische und weitere Krisen weiterhin höchst unsicher und dynamisch bleiben. Das Denken im Modus Potentialis, das die Studierenden in der Gruppendiskussion anwenden mussten, um über für sie neue oder unbekannte Erfahrungen zu sprechen, sollten sich Akteur*innen in Art Education und Kultureller Bildung, in Lehre, Vermittlungspraxis und Forschung, daher zur Selbstverpflichtung machen. Dann wird es möglich, weiter ergebnisoffen Fragen zu stellen, auf die (noch) keine zufriedenstellenden Antworten zu erwarten sind, um mit dem Mut zum Scheitern aus dem Modus des Emergency Remote Teaching herauszutreten und aus dem krisenhaften Ausnahmezustand heraus tragfähige, u.a. ins Digitale erweiterte Bildungskonzepte zu denken und handelnd zu erproben.

Verwendete Literatur

Anmerkungen

Dank

Allen, die sich mit einem hohen Maß an Engagement und Verantwortung in einer durch vielfache Unwägbarkeiten geprägten Gesamtsituation in die hier besprochene Untersuchung eingebracht haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Renate Lerch, praktikumsbetreuende Dozentin an der ZHdK, für ihren Hinweis auf den vorliegenden Forschungsbedarf und ihre Bereitschaft, in einem Interview über ihre Erfahrungen zu sprechen, Laura Zachmann, die zunächst als Unterrichtsassistenz die Studierenden im Praktikum unterstützt hat und anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Auswertung der Studie und ihrer Publikation auch in Form dieses Artikels maßgeblich beteiligt war, sowie den Studierenden Janus Boege, Sarah Eichler, Lea Hofer, Dave Koch und Patrizia Steinmann für ihre wertvollen Beiträge in der Gruppendiskussion und/oder im Rahmen der Interpretationswerkstatt.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Miriam Schmidt-Wetzel (2022): Von Art Education im Emergency-Remote-Modus hin zu Art Education im Modus Potentialis. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/art-education-emergency-remote-modus-hin-art-education-modus-potentialis (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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