Anthropologien der Medialität
Dass Medien ein eminent anthropologisches Thema darstellen, scheint angesichts der Bedeutung von Sprache, Zeichen und Bildern in der menschlichen Evolution und Kulturgeschichte evident. Dennoch existiert keine homogene oder systematische „Anthropologie der Medien“, die uns zuverlässig über die anthropologischen Aspekte „des Medialen“ informieren könnte. Und dies ist kein Zufall: Da es keine allgemeine und allgemein anerkannte „Theorie der Medien“ gibt – und möglicherweise wenig Aussicht auf eine solche besteht – ist der Gegenstandsbereich medien-anthropologischer Beiträge entsprechend weitläufig.
Das „Handbuch Historische Anthropologie“ (Wulf 1997) etwa, als ein zentraler Bezugspunkt der neueren anthropologischen Diskussion, listet im Abschnitt „Medien und Bildung“ die Artikel „Bild“, „Geld“, „Kommunikationsmedien“,„Neue Medien“, „Rhythmus“, „Schrift“, „Sprache“, „Zahl“ und „Zeichen“. Hier sind gleich mehrere nicht ineinander überführbare Arten von Medienbegriffen involviert – Kommunikationsmedien, Artikulationsmedien, Speichermedien, Containermedien sowie der genuin soziologische Begriff der generalisierten Interaktions- bzw. Erfolgsmedien (z.B. Geld).
Wenn mithin eine medientheoretische Ordnung sich nicht ohne Weiteres anbietet, so lassen sich dennoch unterschiedliche Zugangsweisen erkennen. Medienanthropologische Diskussionsbeiträge lassen sich in systematischer Hinsicht nach der Art und Weise unterscheiden, wie sie Anthropologie und Medienthematik jeweils aufeinander beziehen:
Eine Strategie besteht darin, von Medienphänomenen im Sinne eines Ensembles alltagsweltlich-gegenständlich „gegebener“ Medien auszugehen und sie auf bestimmte anthropologische Themen hin zu befragen. Daraus ergeben sich Themen wie etwa: religiöse Formen im Fernsehen, rituelle/mythische Aspekte von News, ritualisierte Kommunikation im Chat, das Menschenbild in der Werbung, Körperkonzepte in postmodernen Autobiografien etc. In einem weiter gefassten Verständnis von „Anthropologie“ etwa als „cultural anthropology“, also Ethnologie und Ethnografie, zählen hierzu auch Ansätze der „Visual Culture“ (Mirzoeff 1998; Sturken/Cartwright 2004). Im Rahmen dieser Strategie werden also ein oder mehrere anthropologische Themen auf ein oder mehrere mediale Felder bezogen, wobei die medialen Formaspekte selbst eher nicht im Zentrum der Diskussion stehen (vgl. Rothenbuhler/Coman 2005; Pirner/Rath 2003; Ginsburg/Abu-Lughod/Larkin 2002; Müller-Funk/Reck 1996; Gumbrecht/Pfeiffer 1988). (Ferner – im Folgenden nicht weiter berücksichtigt – werden im erweiterten Verständnis von „Anthropologie“ unter dem Titel „Medienanthropologie“ bisweilen auch mediale Forschungszugänge in anthropologischen Feldern subsumiert, also etwa der ethnografische Film.)
Eine zweite Strategie geht von einem Medientyp oder -bereich aus, wobei nicht auf mediale Alltagsbegriffe, sondern auf eine dezidiert medientheoretische Beschreibung des Gegenstands Bezug genommen wird. Prominentes Beispiel hierfür ist der Diskurs der bild- und kunstwissenschaftlich verorteten Bildanthropologie (vgl. Belting 2001; Schäfer/Wulf 1999; Kamper 1999). Bei dieser Strategie werden medienspezifische Formaspekte auf anthropologische Sachverhalte (etwa: Ritual, Körper, Imagination) bezogen. Weitere Beispiele für diesen Zugang stellen Anthropologien des Klangs (Schulze/Wulf 2007) oder des Cyberspace (Lévy 1996) dar.
Eine dritte Strategie besteht darin, vom Phänomen der Medialität auszugehen. Es geht hierbei um eine Mediumtheorie, die, sowohl von einzelnen Medienerscheinungen als auch von bestimmten Medientypen abstrahierend, auf übergreifende Form- und Strukturaspekte fokussiert (und von dort aus beispielsweise mediale Architekturen vergleichend differenzieren kann). Anthropologie und Medialität werden aus dieser Perspektive stärker grundlagentheoretisch verknüpft: Aspekte der medialen Konstitution des Anthropologischen und Aspekte der anthropologischen Konstitution des Medialen werden eng aufeinander bezogen, sodass sich daraus zugleich eine Anthropologie der Medialität wie auch eine „medialitätstheoretisch“ fundierte Anthropologie ergibt. So gefasste Anthropologien der Medialität nehmen die Konstitutivität von Medialität für das, was jeweils als „Mensch“ die historischen Bühnen betritt, in den Blick. Medialität ist aus dieser Perspektive nicht ein anthropologisches Themenfeld unter vielen anderen, sondern ein anthropologisches Kernkonzept, so wie es etwa Körper, Kultur und Imagination darstellen. Im Zentrum stehen dabei – im Schnittfeld von Anthropologie und Medientheorie – Begriffe wie Artikulation (Jung 2009; Schwemmer 2005; Trabant 1998), Performativität (Krämer 2004b), Kybernetik (Rieger 2003), das Imaginäre (Pfeiffer 1999), Symbol (Leroi-Gourhan 1988) oder Extension (McLuhan 1969).
Welcher dieser Zugänge für die Erkenntnisinteressen im Feld der Kulturellen Bildung am ehesten hilfreich ist, kann nicht pauschal angegeben werden. Der erste Zugang verfolgt primär ein ethnografisches oder empirisch-anthropologisches Erkenntnisinteresse, das etwa für die pädagogische Praxis vielerlei Einsichten bereithält, jedoch medientheoretisch eher wenig aussagekräftig ist. Der zweite Zugang stellt de facto keinen homogenen Diskussionszusammenhang dar; vielmehr handelt es sich um jeweils eigenständige fachwissenschaftliche Zugänge (Bildwissenschaft, Sound Studies, New Media Studies etc.), die lediglich aufgrund ihrer Strukturverwandtschaft unter eine Kategorie versammelt werden können. In jedem Fall steht hierbei das jeweilige Medienphänomen im ausschließlichen Fokus der Betrachtung, was für die entsprechenden Praxis- und Forschungsbereiche Kultureller Bildung, insbesondere im Hinblick auf Aisthesis und Ästhetik, jeweils von besonderer Relevanz ist (etwa: Stimme/theatrale Bildung, Bild/bildende Kunst, Klang/musische Bildung etc.). Der dritte Zugang betont in seinem allgemeineren Fokus auf Medialität die anthropologischen Grundlagen der Kulturellen Bildung insbesondere aus theoretisch-systematischer Forschungsperspektive.
Historische Dimensionen und gegenwärtige Diskurse
Geht man aus vom Phänomen der Medialität als etwas, in das die jeweiligen Selbstbeschreibungen und Selbstverständnisse des Menschen, insofern sie symbolisch, also kulturell vermittelt sind, eingelassen sind, so verweist dies auf eine weit zurückreichende historische Dimension. Hierbei ist erstens die Medialität menschlicher Artikulationen von Bedeutung, die in jeder ästhetischen Äußerungsform implizit thematisch wird. Beispielsweise verweisen Gesang und gebundene Sprache auf ein praktisches Wissen über Struktur- und Formaspekte ihrer Hervorbringung, mithin auf die Medialität von Stimme und Sprache, die in ihrer konkreten Formbestimmtheit wiederum auf Mythen und Kosmologien Bezug nimmt. Bereits in der griechischen Antike wurde aber zweitens dieses implizit-praktische Wissen expliziert und somit reflexiver Kritik zugänglich – so etwa in Platons Medienkritik, die Formaspekte von Medien sowohl in praktisch-pädagogischer und anthropologischer (Wirkung von Tanz und Gesang auf Moral und Seele) wie auch erkenntnispraktischer und erkenntnistheoretischer Perspektive (gedächtnistheoretische Schriftkritik; erkenntnistheoretische Bildkritik) thematisiert.
Während das mediale Wissen über den Menschen spätestens seit der Renaissance einen immer größeren Einfluss auf das sich anbahnende Verständnis vom Menschen als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gewann (Hilgert/Wink 2012), ist eine explizite Reflexion auf die Bedeutung des Medialen in seinen Strukturaspekten für menschliche Selbstverständnisse und -verhältnisse im Wesentlichen ein neueres Phänomen. Friedrich Nietzsches Thematisierung des Einflusses der Schreibmaschine auf den Schreibenden (Nietzsche 2002) mag als ein historischer Vorläufer gelten, während erst die medienanthropologischen Thesen Marshall McLuhans (McLuhan 1969) Medienstruktur und (Sinnes-)Anthropologie explizit zusammendachten, indem sie Medien einerseits als „extensions of men“ und andererseits als eigenstrukturelle Phänomene verstanden („the medium is the message“). Je nach Anthropologiebegriff (siehe Eckart Liebau „Anthropologische Grundlagen“) kann man gegenwärtig zahlreiche unterschiedliche, miteinander zum Teil vernetzte Thematisierungsformate von Medien bzw. Medialität ausmachen, so dass sich ein ausgesprochen komplexes Bild ergibt. Vereinfachend lassen sich hervorheben:
>> Cultural Anthropology/Cultural Studies;
>> Medienwissenschaften (im weitesten Sinne incl. Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Medienpädagogik, Mediologie);
>> Medienphilosophien (unterschiedlichster Provenienz) und ferner, insbesondere im deutschsprachigen Raum;
>> Kulturphilosophie/Sprachphilosophie/Philosophische Anthropologie
Entsprechend ergibt sich nicht nur ein wie oben aufgezeigt systematisch, sondern auch ein diskursgeschichtlich ausgesprochen heterogenes Feld, das von ethnografischer Feldforschung über praxeologische, strukturalistisch-postmarxistische, poststrukturalistische Ansätze bis zur hermeneutischen Kulturphilosophie reicht. Diese Komplexität kann und soll an dieser Stelle nicht Gegenstand der Rekonstruktion sein. Vielmehr wird im Folgenden die Strategie gewählt, die Bedeutung medienanthropologischer Forschung anhand eines für alle Bereiche der Kulturellen Bildung relevanten, wenngleich genuin medienanthropologischen Phänomens darzustellen: das der Artikulation.
„Artikulation“ als anthropologisches Moment im Schnittfeld von Kultureller Bildung und Medialität
Der Artikulationsbegriff verweist diskursgeschichtlich auf zwei zu unterscheidende Linien. Die erste verläuft von Wilhelm von Humboldts sprachphilosophischem Konzept der „doppelten Artikulation“ über Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer (Prägnanzbegriff) hin zur gegenwärtigen (vor allem sprach-)philosophischen Anthropologie (Schwemmer, Trabant, Jung). Die zweite verläuft von Karl Marx zu Louis Althusser; von dort aus weiter etwa zu Stuart Hall und Judith Butler, also zu Cultural Studies und Gendertheorie. Auch wenn diese Linien paradigmatisch und theoriepolitisch weit auseinanderliegen und es im Folgenden insbesondere um den erstgenannten Artikulationsbegriff gehen soll, ist doch die Verknüpfung von Artikulation als individueller Äußerung und Wahrnehmung einerseits und Artikulation als „Gelenkstelle“ kulturell-sozialer Formen und individueller Äußerungsformen andererseits für diesen Begriff charakteristisch.
Das Phänomen der Artikulation wird im Folgenden in drei Perspektiven entwickelt. Erstens unter Bezug auf Oswald Schwemmers „medientheoretische Grundlegung“ der Kulturphilosophie, die ihrerseits deutlich an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen anknüpft (Schwemmer 2002; 2005); zweitens im Anschluss an die sprachphilosophisch begründete „Anthropologie der Artikulation“ bei Matthias Jung (Jung 2005; 2009); drittens schließlich in pädagogisch-anthropologischer Perspektive.
Der zentrale Aspekt von Artikulation liegt für Schwemmer in der symbolischen Prägnanz, die durch Artikulation erreicht wird. Der Grundgedanke Ernst Cassirers, auf den Schwemmer dabei rekurriert, liegt darin, dass nur in der artikulierten Form kulturellen Ausdrucks überhaupt von Kultur zu sprechen ist. Das Thema betrifft insofern den Kern Kultureller Bildung, als diese Artikulationsprozesse ihr Grundelement darstellen.
Artikulationen versteht Schwemmer dabei im Anschluss an Cassirer als immanente Gliederung geistiger Äußerungen, die „auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes“ bezogen sind (Cassirer 2002:231). Sie strukturieren und restrukturieren Wahrnehmungsweisen, indem sie „Prozesse der Musterbildung und -anwendung“, die „Grammatiken der Sinneswelten“ betreffen und verändern – und hierin liegt vornehmlich ihre Bildungsrelevanz: „Wir sehen sozusagen durch die Bilder unserer Bildwelten hindurch, was wir sehen. Wir hören durch die Werke unserer Tonwelten und übrigens auch Geräusch- und Lautwelten hindurch, was wir hören“ (ebd.:165).
Neu und entscheidend an Schwemmers Argumentation ist der medientheoretische Aspekt: denn kulturelle Formen sind medial situiert. Die „Prägnanzmuster“ selbst – also z.B. die Art, wie Sehen notwendig mit dem Übersehen (im doppelten Wortsinn) verbunden ist – unterliegen, so Schwemmer, als „Formbildungsformen“ medialen Strukturen: es gibt keine Artikulation außerhalb medialer Strukturbedingungen. Jede Artikulation bedarf also eines Mediums (ebd.:53), und mediale Formbildungsmöglichkeiten sind „für die innere Gliederung der Artikulation konstitutiv“; ihre Analyse sei daher eine der „Hauptaufgaben jeglicher kulturtheoretischen Reflexion“ (ebd.:55). Medien sind also Strukturbedingungen der Möglichkeit von Artikulation. Artikulationen setzen die strukturalen Eigendynamiken von Medien in Bewegung (ebd.). Zusammenfassend kann man festhalten: Jede menschliche Artikulation ist prinzipiell auf mediale Eigenstrukturen und ihre (zum Teil selbstreferenziellen) Dynamiken verwiesen. Artikulationen beruhen auf „Prägnanzmustern“, die auf diesen Strukturen basieren. Sie bilden die „Grammatiken der Sinneswelten“, bestimmen also auf struktureller Ebene Welt- und Selbstsichten.
Während der Körper für Schwemmer in diesen Prozessen allenfalls eine marginale Position einnimmt – im Anschluss an Cassirer geht es um die „geistige“ Welt –, zeigt Matthias Jung geradezu entgegengesetzt die Bedeutung von Körperlichkeit für Artikulationsprozesse auf. Im Rückgriff auf Humboldts sprachphilosophisches Konzept der „doppelten Artikulation“ (die „unzertrennliche Verbindung des Gedankens, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache […]“; vgl. Humboldt 1998:180), verweist Jung auf die enge Verwobenheit von Körper und Sinn bzw. körperlichem und sinnhaftem Ausdruck. Hier sind also die Strukturbedingungen des Körpers für die Artikulation von Sinn entscheidend. Artikulation erscheint aus dieser Perspektive als ein übergreifender, körpervermittelter Prozess der Explikation von Erfahrung:
„Unter Artikulation verstehe ich die – meist okkasionelle, manchmal planmäßige – Explikation menschlicher Erfahrung durch die Performanz von symbolischen Akten […], in denen die implizit-qualitative Gestalt gelebter Erfahrung in die explizit-semantische Gestalt eines prägnanten Symbolismus transformiert wird. […] Sie stellt das vernachlässigte Medium dar, das Wahrnehmung und Sprache, Subjekt und Intersubjektivität, fließenden Bewusstseinsstrom und objektive Bedeutung, somatischen Ausdruck und Geist zusammenbringt“ (Jung 2005:105).
Jung betont also erstens den Aspekt der Explikation von zuvor Implizitem – und somit den reflexiven Charakter von Artikulation. Damit liegt der logischen Form nach eine Prozessbeschreibung vor. Artikulation ist somit etwas, das in seinem Charakter zwischen Prozess (des Artikulierens) und Produkt (des Artikulierten) oszilliert. Zweitens, damit zusammenhängend, wird deutlich, dass Artikulation nicht nur ein subjektiv-reflexiver, sondern wesentlich auch ein performativer und somit sozial situierter, intersubjektiver Prozess ist. Artikulationen sind als Äußerungen Kommunikationsakte, die als solche Geltungsansprüche erheben. Soziale Erfahrungen sind mithin impliziter Bestandteil schon des Artikulationsprozesses, wenn und insofern diese als Maßstab der Anerkennungsfähigkeit von Artikulationen herangezogen werden: insofern geht es um eine Form der Reflexivität, die zugleich „Inneres“ medial expliziert und diese Explikation bereits (im Sinne innerer Kommunikation) an sozialen Erfahrungen ausrichtet.
Zeigt Schwemmer auf, dass Artikulationen in mediale Strukturdynamiken eingelassen sind (und sich nicht jenseits dieser denken lassen), so verweist Jung wie gesehen vor allem auf die Körpergebundenheit von Artikulationsprozessen. Medialität und Körperlichkeit werden somit als zwei Aspekte von Artikulation sichtbar: Denn was zunächst als Gegensatz erscheinen kann (zumal in der eher körperfernen Argumentation Schwemmers), lässt sich tatsächlich als Ausdruck der Tatsache verstehen, dass „Körper“ als Erscheinender (also sichtbarer, sozial signifikanter Körper) selbst Ergebnis und Aspekt von Artikulationsprozessen ist; sowohl hinsichtlich der von ihm vorgegeben Strukturbedingungen für Artikulation als auch der Kulturalität der Formen, die ihn zum sozialen Körper werden lassen. Letztere hat Pierre Bourdieu als Inkorporation von Habitus und praktischem Wissen an vielfältigen Beispielen dargelegt (Bourdieu 1979a; vgl. auch Gebauer/Wulf 1998). Medialität durchzieht den Körper: aufgrund seiner eigenen Hervorbringungsdynamiken ist er insbesondere offen für das, was Schwemmer als „artikulative Prägnanzmuster“ bezeichnet. Er ist, wo er nicht auf genetische Dispositionen zurückgreift, angewiesen auf diese Muster (man denke an die Kapazitäten der Musteranalyse bei Neugeborenen und ihre Bedeutung für frühkindliche Eltern-Kind-Kommunikation; vgl. Stern 1985). Die Grenzen des Körpers sind nicht die Grenzen des Organismus; Körper ist artikulativ, mithin medial (co-)konstituiert und somit zugleich qua Symbolhaftigkeit entgrenzt. Zugleich entzieht sich der Körper dem identifikativen Zugriff, denn er ist immer auch Zugrundeliegendes (hypokeimenon, subjectum) von Artikulationsprozessen.
Die Annahme einer basalen Verbindung von Körper und Ausdruck bedeutet jedoch nicht, dass Ausdrucksprozesse in jedem Akt unmittelbar körperliche sein müssen. Vielmehr schreibt sich der Körper historisch in die „Prägnanzmuster“ der Ausdrucksformen ein – gerade auch dort, wo Artikulationen nicht (mehr) unmittelbar körperlich hervorgebracht werden. So verweist die Schrift qua Sprachgebundenheit wesentlich auf die körperlichen Artikulationsbedingungen. Gerade der Moment, in dem Schrift sich von der gesprochenen Sprache vollends emanzipiert – wie etwa in der Typographie oder, deutlicher noch, in nicht wenigen Werken der modernen Lyrik – verweist als Grenzüberschreitung auf sein Anderes, die „sprechbare“ Schriftsprache. In ähnlicher Weise verweisen etwa digitale Instrumentensimulationen höchst präzise auf die qua Modellierung ersetzten Körper. Die Symbolhaftigkeit des medial Artikulierten erlaubt mithin stets eine Remediatisierung und insofern eine Abstraktion von der unmittelbaren Körperlichkeit des Hervorbringens von Artikulationen (vgl. Mersch 2002). Die körperabstrahierten Formen von Medialität sind wiederum de facto entkoppelt, was die Freisetzung einer Eigendynamik ermöglicht (die im übrigen neue Körperbilder hervorbringt, was insbesondere in visuellen Medien ein zentrales Thema darstellt).
Ausblick
Das Phänomen der Artikulation verweist, wie gesehen, auf einen dreiseitigen Zusammenhang von kultureller Formation/Performanz, Medialität und körperlich-leiblichen Formen der Subjektivation. Der Bildungsbezug von Artikulationsprozessen ist insofern ein ausgesprochen grundlegender. Er setzt nicht erst bei kognitiv verstandener Bildung ein, sondern bei der körperlichen Artikulation von Welt und Selbst. Gleichwohl ist er durchaus im Sinne transformatorischer Prozesse der Veränderung von Welt- und Selbstbezügen zu verstehen; wenn auch nicht unbedingt im Sinne expliziter Reflexion.
Am Phänomen der Artikulation wird somit der Bezug von Medienanthropologie und Kultureller Bildung deutlich. Der Geltungsanspruch Kultureller Bildung wird medienanthropologisch weiter fundiert und (aus dieser Perspektive) differenziert. Kulturelle Bildung wird als Feld sichtbar, in dem über die reflexive Formbetontheit ästhetischer Bildung hinaus das Mediale als Grundaspekt thematisch wird (und zwar bereits dort, wo ein Mediendiskurs explizit nicht geführt wird).
Zugleich wird die Bedeutung der von Schwemmer geforderten Aufgabe eines medialen Strukturverständnisses kultureller Artikulationsformen auch als Aufgabenfeld Kultureller Bildung deutlich. Dies gilt gerade nicht nur in Bezug auf „Mediendinge“, also technische und lebensweltlich gegenständliche Medien, sondern ebenso für körpergebundene Artikulationsformen – deren Überführung in andere mediale Architekturen wie gesehen im Medialitätscharakter von Artikulation grundlegend angelegt ist (von den Subdisziplinen Kultureller Bildung her betrachtet, werden hier Schnittstellen zu einer kulturpädagogisch verstandenen Medienpädagogik deutlich; sie werden mittels des medienanthropologischen Diskurses auch theoretisch ausweisbar).
Neben dem hier exemplarisch diskutierten Phänomen der Artikulation ließen sich weitere einschlägige Felder medienanthropologischer Forschung von ähnlicher Relevanz für die Kulturelle Bildung aufzeigen. Neben thematischen Foki – wie etwa Ritual, Spiel, Raum, Zeit, Virtualität, Imagination etc. – ist hier die methodologisch-methodische Dimension zu nennen, die auch für Forschung im Bereich Kultureller Bildung informativ ist. Abschließend sei jedoch noch einmal der Entwicklungsbedarf der Medienanthropologie bzw. der Anthropologie der Medialität hervorgehoben. Die Herausforderung liegt in der Weiterentwicklung der Medientheorie, in der medientheoretisch struktursensiblen Thematisierung anthropologischer Kernthemen, der methodologisch-methodischen Arbeit (Methodeninnovation), der darin begründeten empirischen medienanthropologischen Forschung sowie – aus Perspektive der Kulturellen Bildung insbesondere relevant – der Diskussion ihrer lern-, erziehungs- und bildungstheoretischen Implikationen.