Ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit
Abstract
Was hat Ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit zu suchen? Was soll es mehr sein als ein netter Appendix zur Ablenkung und Erbauung ihres Klientels, das Freude macht und eine Auszeit von den Mühen des Alltags bietet? Wobei ja auch das schon nicht verkehrt wäre. Aber ja, Ästhetische Praxis soll mehr sein, und vor allen Dingen soll sie einen wichtigen Beitrag leisten zur Erweiterung des klassischen Methodenspektrums der Sozialen Arbeit. Dabei geht es in erster Linie nicht um musische Bildung, es geht auch nicht um eine Bereicherung und Auflockerung des Alltags in sozialpädagogischen Einrichtungen, obwohl das eine wie das andere durchaus wünschenswerte Effekte sein können. Ästhetische Praxis wird hier als ein eigenständiger Methodenbereich der professionellen Arbeit dargestellt, der, wie andere Methoden auch, Zugänge zur Lebenswirklichkeit der KlientInnen eröffnet. Sie bietet gegenüber anderen Methoden einige spezifische Möglichkeiten, die durch ihr dreistufiges Vorgehen begründet sind. Ausgangspunkt ist der Transfer von der Praxis in ein professionelles geschütztes Setting:
Situationen, Erlebnisse, Erfahrungen aus dem Alltagsleben werden mithilfe ästhetischer Methoden (Spiel, Theater, Musik etc.) vor einem „Publikum“, in der Regel vor anderen GruppenteilnehmerInnen, dargestellt. Es entsteht eine Spielszene (eine Musik-Szene, ein Bild etc) mit Darstellern und Zuschauern.
Die Aufarbeitung dieser Spielszene (alternativ: dieses Bildes, Musikstückes etc.) ist das Thema der zweiten Phase. Wichtige Themen werden gemeinsam analysiert, ausgetauscht und besprochen. Die eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster kommen dabei ebenso zur Geltung wie alternative „Denkmöglichkeiten“ des Themas.
Die dritte Phase widmet sich dem Transfer in das Alltagsleben. Schlussfolgerungen werden gezogen und Lösungsmöglichkeiten entwickelt.
Fazit: Die verschiedenen Methoden der Ästhetischen Praxis bieten nicht die eine und richtige Lösung für die behandelten Probleme und Themen, sie können aber den Blick darauf weiten und alternative Lösungsmöglichkeiten sichtbar machen.
Hinweis: Als Wissensplattform Kulturelle Bildung Online verstehen wir es als unsere Aufgabe, den Wissenstransfer im Feld der Kulturellen Bildung zu verbessern. Aus diesem Grunde veröffentlicht kubi-online auch Texte „Alter Meister*innen“ und macht sie über einen Nachdruck dauerhaft zugänglich. Der Impuls für die Wiederveröffentlichung dieses Beitrags von Ralf Kuckhermann kam von Birgit Dorner, Marion Gerards und Damaris Nübel, den Initiator*innen des kubi-online Dossiers „Soziale Arbeit und Kulturelle Bildung im Dialog“ (i.E.).
In den Studiengängen der Sozialen Arbeit werden unterschiedliche Angebote zur kulturellen und ästhetischen Bildung, häufig in Verbindung mit medien- und bewegungspädagogischen, bisweilen auch mit spiel- und erlebnispädagogischen Angeboten, in einem Studienbereich zusammengefasst. Unter Fachbezeichnungen wie "Kultur, Ästhetik, Medien" oder "Kultur, Ästhetik, Bewegung" finden sich neben Angeboten aus dem Bereich der Künste (z.B.: "Bilder sprechen nicht, aber sie lehren uns sehen", "Poetry Slam -Texte schreiben und erfolgreich vortragen") auch erlebnisorientierte ("Winter erleben", "Klettern - ein Medium der Sozialen Arbeit"), bewegungsorientierte ("Aikido", "Bewegungslabor - Körperlichkeit erforschen") und medienorientierte Angebote ("Praktische Radioarbeit", "Kreatives Gestalten und Veröffentlichen im Web 2.0"). Allein dieser (im Lehrplan ausgewiesene) Bereich der ästhetisch-kulturellen Lehrangebote unter ein methodisch, begrifflich und theoretisch haltbares Dach stellen zu wollen, braucht neben einer breiten theoretischen Grundlage auch eine gute Portion Optimismus. Hinzu kommt, dass Themen der ästhetischen Praxis und kulturellen Bildung auch an anderen Orten des Studiums eine wichtige Rolle spielen. Die Bedeutung von (ästhetischen) Medien in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen und bei der Entstehung sozialer Ungleichheit ist Gegenstand der soziologischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen Sozialer Arbeit. Der Einsatz ästhetischer Medien in der Arbeit mit Gruppen ist bewährte methodische Praxis in der Jugend-, Familien- und Erwachsenenbildung und Gegenstand gruppenpädagogischer Studienangebote. Eine Reihe von diagnostischen Verfahren in der Beratungsarbeit greift auf ästhetische Handlungsformen zurück. Das Rollenspiel, die (Familien-) Aufstellung, Verfahren der szenischen Diagnostik und z.B. das Geschichtenergänzungsverfahren zur Analyse des Bindungsverhaltens von Kindern (Gloger-Tippelt / König: 2009) sind nur einige Beispiele hierfür. Die verschiedenen Verfahren der visuellen sozialen Diagnostik und der Sozialraumanalyse wären ein weiteres (Anm.: Übersichten über das Feld der ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit geben Hoffmann u.a.: 2004, Jäger / Kuckhermann: 2004 sowie Meis / Mies: 2012. Eine kurze instruktive Einführung bietet der Handbuchartikel von Karl in Otto / Thiersch: 2011, 71 ff.). Der Schritt von hier zu den Methoden der qualitativen Sozialforschung, deren Gegenstand Narration und Visualisierung sind, ist nicht weit. Bereits in den 80er Jahren wurde mit der "Narrativen Landkarte" ein Verfahren zur Erforschung von Kindheitsräumen entwickelt, dessen Grundlage die Verknüpfung des narrativen Interviews mit der Verbildlichung des Sozialraums ist (Behnken / Zinnecker: 2010).
Die Formen ästhetischer Praxis und die Einsatzmöglichkeiten ästhetischer Medien in diesem Terrain sind also vielfältig und erfordern einen theoretischen Zugang, der über den Bildungsaspekt kultureller und ästhetischer Arbeit hinausweist. Begriffe wie "Ästhetische Bildung" und "Kulturelle Bildung" beschreiben lediglich einen, wenn auch zentralen, Ausschnitt dieser Praxis. Ein zweiter, ebenso wichtiger Bereich ist die Nutzung ästhetischer Praxis als Methode zur Analyse psychosozialer Situationen. Und so, wie sich Kunst und Künstler öffentlich präsentieren, kann auch ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit Zugänge zur Öffentlichkeit und damit soziale und kulturelle Partizipation schaffen.
Im Folgenden stelle ich die Grundzüge einer ästhetischen Praxis in der Sozialen Arbeit aus drei Blickwinkeln dar: Als Prozess, als System von Handlungen und als Arbeitskonzept mit den Hauptfunktionen der Diagnostik, der Bildung und der gesellschaftlichen Partizipation. Abschließend gehe ich auf zwei eher am Rand liegende, nichtsdestoweniger interessante Überlegungen ein: die Bedeutung des Nicht-Ästhetischen in der ästhetischen Praxis und die Frage nach der Kunst professionellen Handelns.
Begriffsverständnis und Prozesscharakter ästhetischer Praxis
Der Begriff Ästhetik wird im Allgemeinen in zwei Bedeutungen verwendet. Beide sind für die Soziale Arbeit relevant. In einem weitgefassten Verständnis, das auf das griechische ‚aisthetike‘, die Lehre von der menschlichen Sinneswahrnehmung, zurückgeht, ist das Ästhetische der Teil des Alltagslebens, der sich auf die Sinneswahrnehmung bezieht und sich in den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, den Ausdrucksformen und der Selbstdarstellung von Individuen und sozialen Gruppen zeigt. Als wichtiger Teil ihres Habitus trägt es zur Bildung sozialer Identität und subkultureller Abgrenzung bei (Anm.: vgl. Bourdieu: 1991, aber auch Dewey, der davon ausgeht, dass individuelle Erkenntnis auf der Grundlage von gemeinsamen "habits" als "Form der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrungen" erfolgt.) In einem engeren Sinne meint Ästhetik die spezifische Form "ästhetisch-medialer Praxis" (Seelinger: 2003,147ff.), die in der Auseinandersetzung mit den Medien der Kunst entsteht, also mit Musik, bildender Kunst, Tanz, Theater, Literatur und mit ihren digitalisierten Varianten in den Neuen Medien.
Ästhetische Praxis im engeren Sinne zielt nun darauf, Differenzerfahrungen in ästhetisch-medialen Settings zu ermöglichen, um eingeschliffene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sichtbar und bearbeitbar zu machen (Jäger / Kuckhermann: 2004, 273 ff.). Sie bedient sich dabei der Struktur künstlerischer Tätigkeit, also der produktiven und rezeptiven Arbeit mit den Mitteln und Medien der Kunst. Dabei spielt die künstlerische Produktion zwar eine durchaus wichtige Rolle, ordnet sich aber den jeweiligen Zielsetzungen Sozialer Arbeit unter. Diese Form ästhetischer Praxis findet man sowohl in den außerschulischen Bildungsangeboten der Sozialen Arbeit, zum Beispiel in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus bildungsschwachen Milieus, als auch in der Arbeit mit Gruppen, insbesondere im Kontext von Beratung, wo sie zur Unterstützung der Selbstwahrnehmung und der psychosozialen Diagnostik Anwendung finden.
Die aisthetische Praxis (Anm.: Zur besseren Unterscheidung verwende ich den Begriff "aisthetische Praxis" immer dann, wenn es ausdrücklich um den Bezug zur Alltagsästhetik geht) ist Thema in allen Arbeitsfeldern, in denen es um die soziale und kulturelle Integration der Adressaten Sozialer Arbeit geht, um Kompetenzen in der Kommunikation mit anderen Menschen, anderen Kulturen, aber auch um einen kompetenten Umgang mit den über die Medien vermittelten Informationen im öffentlichen Leben. In dieser weiten Bedeutung einer wahrnehmungs- und ausdrucksorientierten Kulturarbeit ist ästhetisch-kulturelle Praxis ein wichtiger Zugang zur zielgruppenorientierten Sozialen Arbeit. Die Entwicklung der Fähigkeit, sich in den eigenen lebensweltlichen Kontext einzuordnen, die Differenzierung der Wahrnehmung, die Respektierung unterschiedlicher kultureller Deutungsmuster und Ausdrucksformen und die Erhöhung der selbstreflexiven Kompetenz in der Partizipation an öffentlicher und medial vermittelter Kommunikation beschreiben wichtige Zielsetzungen dieser Arbeit.
In einem ersten Schritt stellt sich die Frage, was eigentlich das Spezifische dieser ästhetisch organisierten Lernprozesse ist, was sie von anderen Lernformen unterscheidet, und wie der Verlauf vom ästhetischen Erleben bis zur Erkenntnis bzw. zur Erfahrung zu verstehen ist.
Ästhetische Erfahrungen zeichnen sich in aller Regel durch ihre Differenz zu alltäglichen Erfahrungen aus. Sie sind von einem Moment der Überraschung und des Genießens, von einer besonderen Aufmerksamkeit und Emotionalität begleitet (Meis / Mies: 2012, 27). "Offenbar gibt es einen gewissen Abstand zwischen Alltagswelt und ästhetischem Erleben; dieses bietet etwas, was die Alltagswelt … nicht bietet“ (Dietrich u.a.: 2013, 15), und es ist diese Differenz zum Alltäglichen, die für die Soziale Arbeit immer dann eine wesentliche Rolle spielt, wenn es um die Veränderung eingeschliffener Wahrnehmungs- und Deutungsmuster geht. Eine zweite Differenz ist die zur diskursiv-analytischen Form der Erkenntnis, auf die sich bereits Baumgarten beruft, wenn er die Ästhetik als genuines Erkenntnisvermögen vom Bereich des logischen Denkens und der diskursiven Schlussfolgerung abgrenzt. Die fehlende Schärfe gegenüber einer präzisen analytischen Argumentation erweist sich unter bestimmten Umständen als Vorteil. (Anm.: Diese Argumentation Baumgartens wurde seit den 1970er Jahren und in Kritik an einer zu stark auf Kunst bezogenen Ästhetik-Theorie z.B. von Jauß und Welsch aufgegriffen. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei Zelle: 2003, 31ff.) Entscheidend ist, dass der Weg zu einer umfassenden Erkenntnis den "Umweg" über die sinnliche Wahrnehmung einschließt. Man könnte mit Blick auf einige Handlungsfelder der Sozialen Arbeit auch sagen: Wenn der Alltag problematisch geworden ist, können ästhetische Erfahrungen helfen, bestehende Hindernisse und Schwierigkeiten sichtbar zu machen, ohne sie gleich verbal differenziert analysieren zu müssen. Themen und Situationen, die noch nicht oder nur schwer verbalisierbar sind, werden - z.B. durch eine Aufstellung von Familienbildern in der Arbeit mit Eltern aus Zweitfamilien - sichtbar und bearbeitbar.
Am Anfang eines solchen Erfahrungsprozesses steht das, was Gabor Paál eine elementarästhetische Reaktion nennt: "die vegetativen Wirkungen bestimmter Sinnesreize, ohne dass wir uns ihrer Alternativen bewusst sein müssen"… "In elementarästhetischen Prozessen gilt: eine Rose ist eine Rose ist eine Rose - und nichts anderes"(Paal: 2003, 36). Form, Farbe und Duft der Rose bestimmen die erste unmittelbare, eben elementarästhetische Reaktion. Erst in der Verarbeitung dieser Reaktion, in der zunehmenden Differenzierung weiterer Informationen und Bedeutungen, werden kulturelle Standards, persönliche Erfahrungen und situative Konstellationen in die Bewertung der Rose einbezogen und zu einer Gesamtinterpretationen verdichtet: Die Rose als Symbol der Liebe, der, der sie in der Hand hält, ist leider der falsche…. Am Ende dieses Prozesses schließlich steht das Urteil, die rationale Bewertung eines ästhetischen Erlebnisses, seine Kritik. Beides, die Arbeit an der eigenen Realitätswahrnehmung und ihre Rückbindung an die diskursorientierte Urteilsbildung, ist für die ästhetische Praxis in der Sozialen Arbeit gleichermaßen von Bedeutung.
Diese drei Stufen der ästhetischen Erfahrungsbildung - elementarästhetische Reaktion, Verarbeitung und Differenzierung der (Selbst-)Wahrnehmung, rationales Bewerten und Urteilsbildung - können auch als eine Art didaktischer Leitfaden für die Arbeit mit ästhetischen Medien dienen. Er beginnt mit dem Arrangieren von ästhetischen Ereignissen mit Lernpotenzial und führt über die Arbeit an der eigenen Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu Reflexion, Verallgemeinerung und Transfer des Erlebten auf andere Situationen, zum Beispiel auf den eigenen Alltag (Anm.: Vergleichbare Stufenmodelle ästhetischen Denkens finden sich bei Welsch und Bohrer. Vgl. hierzu wieder Zelle: 2003, 43 und 46).

Mit aller Vorsicht lassen sich aus den bisherigen Überlegungen zwei vorläufige Schlussfolgerungen ziehen. Erstens: Ästhetische Arrangements bieten einen Zugang zu nichtalltäglichen Erfahrungen. Zweitens: Sie bieten darüber hinaus Erkenntnismöglichkeiten in einem Bereich zwischen dem emotional-sinnlichen Erleben und der diskursiv-analytischen Reflexion. Damit können sie unter bestimmten Voraussetzungen eine Brückenfunktion zwischen beiden Bereichen übernehmen.
Ästhetische Praxis als Handlungsformation: Produktion, Rezeption, Sinnverständigung
Ästhetische Tätigkeit ist gegenstandsbezogen und handlungsorientiert. Sie hat einerseits einen mimetischen Charakter, indem sie Wirklichkeit nachbildet (etwa in der gegenständlichen Kunst, in den Figuren eines Romans oder in den Rollen eines Theaterstücks); andererseits geht sie mit ihren Werken über die bestehende Wirklichkeit hinaus, verweist auf neue Sichtweisen und Deutungen und hat damit einen schöpferischen Charakter. Mimesis und Poiesis sind die beiden miteinander verbundenen Formen der Weltaneignung, die ästhetische Tätigkeit ausmachen. Um es mit Adorno zu sagen: Kunst ist "Mimesis und Konstruktion" (Adorno: 1970, 160) "Die Aporie von Mimesis und Konstruktion wird den Kunstwerken zur Nötigung" (ebd.). Dabei ist Mimesis weniger als ein "Nachmachen", eher als ein Nach-bilden, als ein "Sich in den Gegenstand hineinversetzen", ein Akt der Annäherung an ihn, zu verstehen. Mimesis und Poiesis verweisen auf die rezeptiven und produktiven Anteile ästhetischer Erkenntnis. Sie sind zugleich wichtige Ankerpunkte für den Einsatz ästhetischer Settings in der Sozialen Arbeit. Um im Beispiel der oben angedachten Paartherapie zu bleiben: Das Darstellen von Familienszenen ist eine Annäherung an die bestehende Familienrealität und die damit verbundenen Familienbilder. Durch das Neu- und Umstellen der Szene werden Möglichkeiten sichtbar, diese zu verändern.
Ästhetische Praxis wird in der Regel durch das Zusammenspiel von drei Handlungsformen beschrieben. Dies sind (1) die ästhetische Produktion im Sinne von Ausdrucks- und Gestaltungsarbeit, (2) die ästhetische Rezeption als aktive Wahrnehmungstätigkeit sowie (3) die Präsentation und Sinnverständigung im kommunikativen Austausch zwischen Produzenten und Rezipienten. Dem entsprechen beispielsweise in einer Theateraufführung die Rolle des Schauspielers (Produktion) und des Zuschauers (Rezeption) sowie ihre Kommunikation (Aufführung, Applaus, Kritik etc.).
In der Praxis der Sozialen Arbeit hat jede dieser drei Handlungsformen ihre spezifische Bedeutung. Die ästhetische Produktion als Möglichkeit, Ausdrucksmöglichkeiten und Ausdrucksformen für subjektiv wichtige, im Alltag oft unausgesprochene Themen zu finden; die ästhetische Rezeption als Möglichkeit, eigene und fremde Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu erkennen, und die Verständigung mit anderen als Möglichkeit, die eigenen Wahrnehmungen und Deutungen zu überprüfen, zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Ästhetische Produktion: Ausdrucksarbeit - Gestaltungsarbeit
In einer Tagesklinik für psychisch Kranke trifft sich einmal in der Woche eine "Kunst-AG" zum Malen von Bildern und zum Gestalten von Skulpturen. Die Gruppe wird von einer Kunsttherapeutin und einer Sozialpädagogin betreut. Im nächsten Jahr ist eine Ausstellung mit hier hergestellten Arbeiten geplant.
Für Menschen mit krisenhaften Erfahrungen und traumatischen Erlebnissen kann das bildnerische Gestalten eine wichtige Möglichkeit sein, diese Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen, ohne darüber reden zu müssen. Der erste und wichtigste Schritt liegt hier nicht im Ergebnis, sondern im Gestaltungsprozess. Es geht darum, Ausdrucksmöglichkeiten überhaupt erst zu schaffen, das "Unaussprechliche" in einem Bild oder einer Figur eben doch "zur Sprache" zu bringen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die persönliche Thematik im Bild für andere sichtbar wird. Die produktive Arbeit mit einem ästhetischen Medium und die damit verbundene Entwicklung der persönlichen Ausdrucksfähigkeit sind selbst Sinn und Zweck der Arbeit. Es geht dabei auch um die Schulung des Realitätssinns durch die Auseinandersetzung mit den gegenständlichen und handwerklichen Voraussetzungen, also mit Pinsel, Farbe, Form und verschiedenen Maltechniken oder mit der Formbarkeit von Ton durch die Geschicklichkeit der Hände - Mimesis: mit den Werkzeugen des bildnerischen Gestaltens die eigenen Themen nachbilden - Poiesis: diesen Themen im Bild eine neue Form geben.
In einem Jugendzentrum treffen sich 10 Jugendliche zweimal in der Woche, um für die Homepage der Einrichtung ein Video zum Thema "Unser Stadtteil" zu produzieren. Es handelt sich um Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund, und sie wollen die Gelegenheit nutzen, den Stadtteil als Teil ihrer eigenen Jugendkultur zu zeigen. Dabei entsteht eine lebhafte und kontroverse Diskussion. Was sind "unsere" wichtigen Orte, "unsere" Ausdrucksformen, "unsere" Sprache? Wer sind die anderen, von denen wir uns abgrenzen?
Die Akteure treten hier nicht als Einzelpersonen auf, die ihre persönlichen Themen in einem Video unterbringen wollen, sondern als Gruppe, die einen ästhetischen Prozess inhaltlich, darstellerisch und technisch plant und ausführt - Mimesis: Das Nach-bilden der sozialräumlichen Realität findet hier nicht nur künstlerisch statt, sondern zunächst einmal sprachlich-diskursiv als fortlaufender Einigungsprozess über das, was "unser Stadtteil" ist. Poiesis, die werkbezogene Neuschöpfung, entsteht hier nicht in einem hochindividuellen Vorgang, sondern in einem Akt der kollektiven Originalität - die Interpretation des Stadtteils im fertigen Video ist mehr als die Summe der individuellen Deutungsideen.
Ästhetische Rezeption: Wahrnehmungs- und Deutungsarbeit
In einem vom Jugendamt organisierten Wochenendseminar mit Pflegeeltern wird das Thema "Bindung zu Pflegeeltern und leiblichen Eltern" behandelt. Nach einem einführenden Vortrag mit Diskussion spricht eine Pflegemutter an, was viele der Anwesenden denken: "Unsere Elternschaft wäre wesentlich leichter, wenn unsere Pflegetochter keinen Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter mehr hätte. Die verspricht ihr das Blaue vom Himmel und jedes Mal, wenn unser Kind zurückkommt, braucht es Tage, um sich wieder bei uns einzuleben." Die Gruppe bittet die Seminarleiterin, sich mit diesem Thema intensiver zu beschäftigen. Die willigt ein und fordert die Eltern auf, die Ankunft des Kindes in der Pflegefamilie nach dem Besuch der leiblichen Mutter in einer Szene darzustellen.
Während ästhetische Rezeption in der Kunst eher dem Genuss, dem Erleben, Staunen, Sich-überraschen-lassen dient und die Interpretation, sieht man von den Kommentaren der Kritiker einmal ab, häufig en passant geschieht, im Privatgespräch während des Besuches einer Ausstellung oder auf dem Nachhauseweg nach einem Konzert- oder Kinobesuch, spielt die Reflexion des ästhetischen Ereignisses in der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle. Sie ist das eigentliche Ziel. Die szenische Darstellung der Pflegeeltern dient einem analytischen Zweck. Mit den Worten "Bitte betrachten Sie die Szene. Was sehen Sie, was fällt Ihnen auf?" leitet die Referentin die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung ein. Dabei geht es zunächst einmal darum, sich auf die inhaltliche Aussage, auf die Gegenständlichkeit der Szene einzulassen. "Was sehen Sie?" fragt nach dem, was in der besagten Szene für die Beteiligten tatsächlich sicht-bar wird. Die Spielszene tritt zwischen die alltäglichen Erfahrungsmuster der Eltern und das Nachdenken darüber. Sie schafft Distanz, zu dem, was die Beteiligten ohnehin schon wissen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was gezeigt wurde und was immer nur zum Teil der eigenen Erfahrung entspricht. Natürlich ist eine solche Reflexion nicht unabhängig von den eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, aber es ist etwas anderes, eine Szene darzustellen und zu beschreiben, als zum Beispiel in einer Gruppe direkt über ein emotional belastendes Erlebnis zu berichten.
Soziale Arbeit nutzt hier eine Besonderheit ästhetischer Praxis, die mit ihrer Symbolsprache zusammenhängt. In Anlehnung an Cassirer spricht Langer in Bezug auf ästhetische Medien von präsentativen im Unterschied zu diskursiven Symbolsystemen (Langer: 1992). Die menschliche Sprache als ein System vereinbarter Zeichen, die keinen sinnlich erkennbaren Bezug zum Bezeichneten haben, gilt ihr als Prototyp eines diskursiven Symbolsystems. Es beschreibt die Wirklichkeit sequentiell und ordnet das, was wir in einem Moment wahrnehmen, in einer zeitlichen Aufreihung von Gedanken (diskursiv). Diese erfordern rationales, zergliederndes und schlussfolgerndes Nach-Denken. Demgegenüber sind präsentative Symbole unmittelbar über die Sinne wahrnehmbar und interpretierbar. Voraussetzung ist, dass der Rezipient die Bedeutung der verwendeten Symbole, ihren immer auch kulturellen Kontext (er-)kennt (Langer: 1992; Jäger / Kuckhermann: 2004, 16ff.; Glöckler: 2011, 108ff.). Im Unterschied zur diskursiven Symbolik zielt sie nicht auf Eindeutigkeit. "Stärker präsentativ gewichtete Symbole tendieren … zu einem höheren Maß an Mehrdeutigkeit, weil ihre Klassifizierungen und damit Kategorisierung durch die diskursiven Prozesse in Lebenswelt und Kultur weniger festgelegt sind" (Glöckler: 2011, 109). Glöckler weist darauf hin, dass es sich hier um eine eher analytische Unterscheidung handelt, "da diskursive und präsentative Charakteristik von Symbolen in der Realität oft untrennbar miteinander verschmelzen" (ebd.: 109). Dies gilt insbesondere für alle Formen ästhetischer Praxis, in denen Sprache eine zentrale Rolle spielt, also in Literatur, Theater und Film. In dem Verschmelzen von diskursiver und präsentativer Symbolik liegt die Chance, Übergänge zwischen Erleben, differenzierter Wahrnehmung und rationaler Bewertung zu schaffen und für die Bearbeitung psychosozialer Problemstellungen zu nutzen. Entscheidend ist die Übersetzung eines Themas bzw. einer Problemstellung in eine nicht-diskursive Sprache.
Diese Arbeit an den eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ist nicht einfach als "Aufbau von Assoziationen" zu verstehen, sondern "als 'zunehmende Differenzierung von Unterscheidungsleistungen'" und damit als "Lernen(s) neuer Aufmerksamkeitsrichtungen". Wahrnehmungsarbeit in diesem Sinne ist Orientierungsarbeit und verfolgt drei zentrale Ziele:
die Weiterentwicklung und Differenzierung der eigenen Wahrnehmungskompetenz durch die Dechiffrierung der in der ästhetischen Produktion enthaltenen Deutungen,
die Entwicklung der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und
die Förderung von Imagination und Deutungsarbeit, um eingeschliffene alltägliche Wahrnehmungsmuster aufbrechen und erweitern zu können, also die Kompetenz zur Orientierung und Neu-Orientierung.
In Kurzform: es geht also um die Verbesserung der Lernkompetenz, der kommunikativen (dialogischen) Kompetenz und der Handlungs- bzw. Veränderungskompetenz bei der Lösung psychosozialer Problemstellungen.
Präsentation: Kommunikation und Sinnverständigung
In den bisherigen Überlegungen fehlt ein für die ästhetische Praxis zentrales Element: die Werkpräsentation. Kunst ist Kommunikation. Sei es in einer stillen Form wie der Kommunikation zwischen Maler und Publikum in einer Ausstellung, sei es in der ritualisierten Form des Beifalls nach einem Konzert, sei es in der Form einer Werkrezension durch den Kunstkritiker oder in den Kommentaren einschlägiger Internetforen. Ohne Publikum wäre jedes Konzert, jede Ballettaufführung, jedes Theater sinnlos. Ohne Leser keine Literatur, ohne Ausstellungsbesucher keine Ausstellung. Ästhetische Praxis lebt davon, dass sie sich einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit präsentiert und sich ihrem Urteil stellt. (Anm: Dies gilt für die ästhetische Praxis als Kunst. In der Musik- und Kunsttherapie beispielsweise ist die geschützte gestalterische Auseinandersetzung mit einem Medium nicht nur ein erster Schritt, sondern das eigentliche Ziel der Arbeit.) Das gilt auch für die ästhetische und kulturelle Bildung, und auch für die ästhetische Praxis als Teil der Sozialen Arbeit – wobei hier die Öffentlichkeit z.B. auch aus einer von mehreren Teilnehmergruppen bestehen kann.
Die dritte Handlungsform der ästhetischen Praxis ist also die Präsentation des ästhetischen Ereignisses mit dem Ziel der Kommunikation und Sinnverständigung. Ob Maler, Schauspielerin, Schriftsteller, Tänzerin, ob eine Jugendgruppe mit einer Videodokumentation, die Pflegeeltern mit einer szenischen Darstellung ihrer Familiensituation, ein Psychiatriepatient, der seine Bilder für eine Ausstellung zur Verfügung stellt oder eine freie Senioren-Theatergruppe in Selbstregie - sie alle präsentieren ihre Werke einem kleineren oder größeren Publikum. Das kann im Minimalfall eine einzige Person sein, z.B. die Sozialpädagogin in der Beratung, das kann eine sehr überschaubare Gruppe sein, z.B. eine Seminargruppe in der sozialpädagogischen Bildungsarbeit, und es kann am anderen Ende der Skala auch ein weltweites anonymes Publikum sein, das wie in einem Videoclip auf der Homepage des Jugendzentrums angesprochen wird.
Eine Präsentation zielt auf Kommunikation und Sinnverständigung. Im Dialog mit einem Publikum werden die in die ästhetische Produktion eingeflossenen Botschaften, Ausdrucksformen und Deutungsmuster vermittelt und sozialisiert. Dieser präsentative Charakter, das "Zeigen eines Werkes", unterscheidet ästhetische von anderen Methoden der Bildungs- und Kulturarbeit. Er erfordert einen Perspektivenwechsel, ein Sich-Hineinversetzen in den Anderen, und enthält damit die Aufforderung zu sozialer Empathie: "Wenn ich etwas zu zeigen habe, sollte es auch nachvollziehbar sein“ (Jäger / Kuckhermann: 2004, 40).
Präsentieren, Kommunizieren und die gemeinsame Sinnverständigung in der Gruppe sind zentrale Methodenelemente ästhetischer Praxis, auch in der Sozialen Arbeit. In der Arbeit mit Gruppen können die Mitglieder wechselweise als "Künstler" und als "Publikum" fungieren und dabei nicht nur inhaltlich zu einem intensiven Gespräch über persönlich wichtige Themen kommen, sondern zugleich ihre Fähigkeiten zu Kooperation und Konfliktlösung, ihre Teamfähigkeit und ihre soziale Empathie entwickeln.
Ästhetische Praxis als Handlungskontext
Natürlich bietet ein solches Modell lediglich eine Rahmenvorstellung für ästhetische Praxis in unterschiedlichen Zusammenhängen. Es berücksichtigt beispielsweise nicht, welche spezifischen pädagogischen und diagnostischen Möglichkeiten die unterschiedlichen Medien (Musik, Theater, Literatur, Tanz etc.) in der Kombination mit unterschiedlichen Zielgruppen bieten (vgl. hierzu Hoffmann u.a.: 2004, 127 ff.; Meis / Mies: 2012, 81 ff.; Jäger / Kuckhermann: 2004, 42ff. und 83ff.). Gleichwohl erfasst es die wesentlichen Elemente, auf welche ästhetische Produktion und Kommunikation zurückgreift, und die, je nach Zielsetzung mit unterschiedlicher Gewichtung, in den verschiedenen Anwendungsfeldern der sozialen, kulturellen und pädagogischen Arbeit zum Zuge kommen.
Die Mehrfachfunktion ästhetischer Praxis in der Sozialen Arbeit: Diagnostik, Bildung, Politik

Die Anwendungsfelder ästhetischer Praxis sind sehr heterogen und lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten strukturieren, z.B. nach Art des verwendeten Mediums oder nach Zielgruppen. Die folgende Aufteilung orientiert sich an der jeweils dominierenden Funktion des gewählten ästhetischen Settings. Dabei scheint es mir schlüssig, für eine erste Sortierung von drei Hauptfunktionen auszugehen: der analytisch-diagnostischen, der bildenden und der gesellschaftspolitischen. Auch wenn sie sich in der Praxis nie analytisch scharf trennen lassen, steht - je nach Anwendungskontext - meist eine der drei Funktionen im Vordergrund.
Analytisch-diagnostische Funktion
Im Kontext von Beratung und Selbsthilfe dienen ästhetische Methoden häufig der Klärung von Lebenssituationen und biografischen Herausforderungen. Die oben erwähnte Spielszene der Pflegeeltern zum Thema "Elternkonkurrenz" und die Aufstellung von Familienbildern in einer Paarberatung wären Beispiele für eine solche analytisch-diagnostische Funktion ästhetischer Praxis. Häufig werden Hilfsmittel wie Bilder oder szenische Darstellungen dabei nur punktuell eingesetzt, z.B. wenn das Gespräch in der Paarberatung nicht weiterführt oder wenn sich in einem eher gesprächsorientierten Seminar das Thema "Elternkonkurrenz" für die ganze Gruppe als wichtig erweist und die Teilnehmer eine intensive und differenzierte Bearbeitung wünschen. Mit Hilfe ästhetischer Methoden kann es gelingen, die Perspektive zu wechseln und ein festgefahrenes Seminargespräch oder eine unproduktive Beratungssituation um neue Wahrnehmungen und Deutungen zu ergänzen.
Eine besondere Bedeutung kommt den ästhetischen Verfahren in der Beratungsarbeit mit Kindern zu, die ihre Familienerfahrungen und -bilder in der Regel nicht oder nur unter Stress verbalisieren können. Bildhafte Darstellungen und Aufstellungen mit Hilfe von Figuren bieten hier die Möglichkeit, einen geschützteren diagnostischen Rahmen aufzubauen. So ist es kein Zufall, dass gerade in diesem Bereich zahlreiche Verfahren entwickelt wurden, die mit Bildern und Geschichten arbeiten (Gloger-Tippelt / König: 2009).
Soziale Arbeit bewegt sich hier in einem Grenzbereich zwischen Bildung, Beratung und Therapie. "Die Abgrenzung zu therapeutischer Arbeit scheint einfach, weil im Studiengang Soziale Arbeit nicht für psychotherapeutische Interventionen ausgebildet wird. Der Therapiebegriff wird jedoch nicht nur in diesem Zusammenhang verwendet, sondern auch z.B. zur Kennzeichnung der Arbeit mit Kunst, Musik oder Tanz im heil- und sonderpädagogischen Bereich." Hinzu kommt, dass SozialpädagogInnen "im klinischen Bereich, in psychosozialen Einrichtungen oder in der Erziehungs-, Ehe- und Familienberatung häufig mit therapeutischen Methoden arbeiten, die sie sich im Rahmen von Zusatzqualifikationen angeeignet haben und im institutionellen Auftrag einsetzen“ (Jäger / Kuckhermann: 2004, 54. Ausführlicher zu den künstlerischen Therapien in der Sozialen Arbeit: Menzen: 2001, 20ff.). Ungeachtet solcher Unschärfen an den Grenzen der Profession sind viele der hier angesprochenen Verfahren nicht als therapeutisch, sondern als diagnostisch im Sinne einer sozialen und lebenslaufbezogenen Diagnostik einzuordnen.
In solchen Kontexten steht die Erkenntnisfunktion ästhetischer Praxis im Vordergrund. Sie macht sich das zunutze, was in der kognitiven Ästhetik konzeptgesteuerte Wahrnehmung genannt wird, nämlich "dass das, was wahrgenommen wird, nicht primär durch Elemente der wahrgenommenen Objekte bestimmt wird, sondern durch die Wahrnehmungserwartungen und -bereitschaften, mit denen das Subjekt seiner Lebenswelt gegenübertritt“ (Allesch: 2006, 93). Nicht die Eigenschaften einer ästhetischen Produktion, sondern die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Beteiligten werden in der Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Gegenstand und in der gemeinsamen Reflexion darüber sichtbar.
Bildungsfunktion
Menschen eignen sich ihre gegenständliche und soziale Umwelt an, indem sie sie durch ihre Tätigkeit verändern. Mit den Erfahrungen, die sie dabei sammeln, verändern sie zugleich sich selbst. Wahrnehmen, Erkennen, Gestalten und Lernen sind in diesem Prozess untrennbar miteinander verbunden. Da dieses Handeln generell in soziale Kontexte eingebettet ist, dient es zugleich der Kommunikation und Sinnverständigung. In Abhängigkeit vom Ziel einer Tätigkeit kann dabei entweder die Veränderung der gegenständlichen Umwelt (Produktion), die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten (Lernen) oder die Verständigung mit anderen (Kommunikation) im Vordergrund stehen. Die meiste Zeit unseres Lebens lernen wir auf diese Weise "nebenher", wenn wir die Dinge, die im Alltag oder im Beruf zu tun sind, tun. Ein Kind lernt beim Tischdecken zählen und beim Computerspiel strategisch denken, auch wenn das nicht seine Absicht ist. Ein Schüler in der Schule lernt nicht nur das, was der Unterricht lehrt, sondern auch das, was im Schulalltag neben und außerhalb des Unterrichts "gelehrt" wird. Dieses "Lernen en passant", das informelle Lernen, hat für die persönliche Bildung eines Menschen einen ebenso wichtigen Stellenwert wie für die Entstehung der "feinen Unterschiede" (Bourdieu), also für die Differenzierung sozialer Milieus und die ungleiche Verteilung des kulturellen Kapitals.
Nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie hat der Bildungsauftrag der Sozialen Arbeit noch einmal deutlich an Profil gewonnen. Im 12. und im 14. Kinder- und Jugendbericht nimmt die außerschulische Bildung als Aufgabe der Sozialen Arbeit einen zentralen Stellenwert ein. Sie dient dabei nicht zuletzt der Vorbereitung, Begleitung und Ergänzung der schulischen Bildung. Im Unterschied zu dieser verfügt sie in der Regel über größere Freiräume und kann sich daher unmittelbarer auf Leitvorstellungen beziehen, die die Selbstbildung und Ressourcenorientierung ihrer Adressaten in den Vordergrund stellen (vgl. hierzu und zum Folgenden: Meis / Mies: 2012, 39 ff.). Angebote der ästhetischen und kulturellen Bildung sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Sie dienen vor allem der Förderung des persönlichen Ausdrucksvermögens, der Kreativität sowie der Selbstwahrnehmungs- und Selbstdarstellungskompetenz. (Zu den Transferwirkungen ästhetischer Bildung vgl. Rittelmeyer: 2011, der einen Überblick über den Stand der Transferforschung künstlerischer Aktivitäten gibt, sowie Rittelmeyer: 2013). Dasselbe gilt für die Einbeziehung der kulturellen Praxen, die sich Kinder und Jugendliche in ihrer Clique und in ihrem spezifischen sozialräumlichen Kontext angeeignet haben. Da sich die Arbeit nicht an Lehrplanvorgaben orientieren muss, lassen sich solche Aktivitäten und die mit ihnen verbundenen Interessen flexibler in das jeweilige pädagogische Programm integrieren. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen schlicht Räume zur Verfügung zu stellen, in denen sie selbstinitiierte kulturelle Aktivitäten erproben können.
Der Bezug zum Sozialraum und damit zur Lebenswelt der Adressaten in Verbindung mit einem kulturellen Programmangebot spielt auch in der soziokulturellen Arbeit mit Erwachsenen eine wichtige Rolle. Kurse zum kreativen und biographischen Schreiben, Erzählwerkstätten, Erzählcafes und Zeitzeugenveranstaltungen für mehrere Generationen - in solchen Angeboten steht eine lebensweltorientierte und alltagsnahe Bildungsarbeit im Vordergrund. In ihr "verbindet sich die Weiterentwicklung eigener kultureller Ausdrucksformen, die in Gruppenarbeit zu einem Produkt gestaltet werden, mit aktiver Auseinandersetzung im öffentlichen Raum“ (Jäger / Kuckhermann: 2004, 50).
Ästhetische und kulturelle Bildung sind in diesem Kontext auch als Auftrag zur aisthetischen Bildung zu verstehen, zur Schulung und Differenzierung der Wahrnehmungskompetenz (Anm.: Zum Begriff der kulturellen Bildung, der stärker als der der ästhetischen Bildung auf die soziale und politische Seite von Bildung verweist, vgl. z.B. Fuchs: 2013, 259.) Kinder, Jugendliche und Erwachsene müssen in ihrem Alltag mit einer zunehmenden Ästhetisierung des öffentlichen Lebens umgehen lernen. Der Umgang mit präsentativen Symbolsystemen erfordert vor allem durch die wachsende Bedeutung der Medien und der digitalen Kommunikation in sozialen Netzwerken Wahrnehmungs- und (Selbst-) Darstellungskompetenzen, deren Vermittlung nicht allein in Familie und Schule erfolgen kann. Man kann dies als mimetische Kompetenz, als Kompetenz im Umgang mit unterschiedlichen Symbolsystemen bezeichnen. Dabei geht es nicht nur um ein Verständnis für die klassischen ästhetischen Symbolsysteme in Spiel, Musik, Tanz, Literatur und Theater, sondern vor allem auch um die alltäglichen Herausforderungen der Wahrnehmungskompetenz durch Massenmedien und durch digitale Kommunikationsformen, in denen Sachinformationen, Musik, Bild und Spiel oft untrennbar miteinander verbunden sind. Auf den ersten Blick gelingt Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Umgang mit den digital organisierten ästhetischen Medien relativ leicht. Sie eignen sich die damit verbundenen interaktiven Praktiken, z.B. des Formwandels, der Selbstinszenierung und des interaktiven Spiels, relativ selbstverständlich an - soweit ihre Familien über die entsprechenden finanziellen und kulturellen Mittel verfügen. Facebook und andere soziale Netzwerke sind keine klassischen ästhetischen Medien in neuem (technischen) Gewand. Es sind kombinierte (zugleich diskursive und präsentative) Symbolsysteme, in denen Sachinformation und ästhetische Botschaft oft nur schwer voneinander zu trennen sind. Dies gilt genauso gut für die bereits lange etablierten Printmedien und das Fernsehen. Die Sprache der Bilder in einer Nachrichtensendung enthält gegenüber dem Nachrichtentext, wenn man so will, ganz eigene und weitergehende Botschaften (Anm.: Nach wie aufschlussreich zur subtilen Wirkung von Bildbotschaften: Frey 2000).
Die Vermittlung von Kontextualisierungskompetenz, also der Fähigkeit, zwischen diskursiver und präsentativer Symbolsprache zu unterscheiden, und die Wahrnehmung der Bedeutung von Autorenschaft sind zentrale Aufgaben ästhetischer und kultureller Bildung in der Sozialen Arbeit. Gerade im Umgang mit sozialen Netzwerken und den in ihnen gepflegten visuellen Präsentationen zeigt sich die Notwendigkeit, den sozialen, kulturellen und ökonomischen Hintergrund von Plattformen wie Facebook und Youtube zu verstehen. Wer ist mein Publikum, was zeige ich von mir, was von anderen? Was geschieht mit (meinen) Bildern und Texten, wenn die Vorstellung zu Ende ist? Woher stammen die Informationen, die ich bei meinen Recherchen finde? Wer ist ihr Urheber? Was bedeutet es, wenn ich selbst Autor eines Blogs bin, in dem ich private Ereignisse und Ansichten veröffentliche?
Methoden der ästhetischen Praxis in der sozialen Arbeit lassen gleitende Übergänge zwischen "alten" und "neuen" Medien zu und vermitteln einen Einblick in die Bedeutung von Autorenschaft, von ästhetischer Wirkung und vom Gesamtkontext eines ästhetischen Arrangements. Sie können damit einen Beitrag zur "mimetischen Alphabetisierung" und zur Reflexion des sozialen und kommunikativen Kontextes einer Präsentation leisten, unabhängig davon, ob dieses Ereignis auf einer echten Bühne mit einem sichtbaren oder auf einer virtuellen Bühne mit einem unsichtbaren Publikum stattfindet.
Politische Funktion
Ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer und der Öffnung der deutsch-tschechischen Grenze hat sich auf der tschechischen Seite des Grenzgebietes ein blühender Prostitutionshandel zu Billigpreisen entwickelt. Auf einem Wochenendseminar mit jungen Erwachsenen aus Tschechien und Deutschland wird die Prostituierung und Ausbeutung der tschechischen Frauen thematisiert. Am Ende einer intensiven Diskussion beschließen die Teilnehmer, mit einer politischen Aktion an die Öffentlichkeit zu gehen. Als Aktionsform wählen sie das politische Theater. Männer mit Sakko und Hut führen leicht bekleidete junge Frauen über einen zentralen Platz und bieten sie zum Kauf an - zum "Schnäppchenpreis", versteht sich. Im Hintergrund stehen Seminarteilnehmer an Infotischen und informieren über die Ausbeutung von Frauen im deutsch-tschechischen "Grenzverkehr".
Soziale Arbeit versteht sich als Menschenrechtsprofession mit dem Auftrag, psychosoziale Problemlagen zu bearbeiten und soziale sowie kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Außerschulische Kultur- und Bildungsarbeit erhält unter diesem Gesichtspunkt eine politisch-aufklärende Funktion. Beispiele: Ein Theaterstück mit dem Titel "Ganz schön behindert", produziert in einer Tagesklinik für Menschen mit Behinderung unter Leitung der betreuenden Sozialpädagogin und eines Schauspielers der städtischen Bühnen, zeigt Szenen zu den Einschränkungen Behinderter im öffentlichen Leben; eine Ausstellung mit aussagekräftigen Arbeiten aus der kunsttherapeutischen Abteilung der psychiatrischen Klinik, präsentiert in den Räumen einer soziokulturellen Einrichtung, soll ausdrücklich nicht als Psychiatrie-, sondern als Kunstausstellung konzipiert werden; eine Videodokumentation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, gedreht an "ihren" Orten, versehen mit ihren Kommentaren und ihrer Musik, produziert im Medienlabor ihres Jugendzentrums - solche Aktivitäten sind Beispiele für zielgruppenorientierte gesellschaftliche Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit.
Soziale Benachteiligung zeigt sich nicht nur in Form materieller Armut und sozialer Deprivation. Das Verfügen über kulturelles Kapital, womit neben der allgemeinen auch die kulturelle Bildung gemeint ist, ist eng verknüpft mit dem Zugang zu den kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft. Soziale Ungleichheit wird nicht zuletzt durch die "feinen Unterschiede" bedingt, die sich im Habitus einer Bevölkerungsgruppe, in Geschmack, Gewohnheiten, Ausdrucksformen und Lebensstil äußern. Offene und zielgruppenorientierte Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, der Erwachsenen- und Familienbildung haben zum Ziel, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe für alle sozialen Gruppen zu ermöglichen. Dies gilt in besonderer Weise für Kinder und Jugendliche, deren Familien sowohl die finanziellen Mittel als auch das kulturelle Kapital fehlen, um ihren Kindern diese Teilhabe zu eröffnen. Eine wichtige Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Bereitstellung von räumlichen, technischen und pädagogischen Ressourcen für kulturelle Aktivitäten - seien es das Equipment und die Unterstützung für die Gründung einer Band, seien es Theater- und DJ-Workshops, seien es Computer und Software für ein Spielelabor oder eine Videowerkstatt. Stadtteilorientierte Jugendhäuser haben hier eine wichtiges Aufgabenfeld. Um sich Gehör für ihre Rechte und Anliegen zu verschaffen, sind viele Zielgruppen auf Unterstützung durch die Soziale Arbeit angewiesen. Kulturelle Aktivitäten können dabei als Katalysatoren wirken. Ausstellungen, Theateraufführungen, Musikevents und Poetry Slams sind nur einige Beispiele für soziokulturelle Aktivitäten, mit denen Adressatengruppen und ihre Anliegen öffentlich wahrnehmbar werden. Ihre Präsenz im öffentlichen Raum zu erhöhen, braucht neben der pädagogischen vor allem auch organisatorische und technische Unterstützung.
Projekte wie diese haben natürlich immer auch eine Bildungsfunktion, wie weiter oben bereits dargestellt. Was hier gemeint ist, knüpft demgegenüber an Prozesse der Sozialraumaneignung an. Ihr Fokus liegt "auf räumlicher Präsenz und Repräsentanz künstlerischer, kultureller und ästhetischer Phänomene in der jeweils erreichbaren und nutzbaren Leben(um)welt. … Auseinandersetzungen und Aneignungsformen durch ästhetische Prozesse mit und in der städtischen Umwelt können die Mitsprache verschiedenster Menschen und damit auch die Teilhabe an einer demokratischen Öffentlichkeit ermöglichen und echte Urbanität entstehen lassen" (Schuster: 2013, 11). Sie knüpfen damit an Überlegungen von John Dewey und seinen Begriff der "experience" an. Demokratie ist für ihn "'eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.' Dazu gehört es, dass möglichst allen alle gesellschaftlich möglichen Erfahrungen zugänglich werden, also auch die, die Kunst und ästhetisches Erleben anbieten (Schachtner / Duller in Dietrich u.a.: 2014, 64). An diesen gesellschaftspolitischen Anspruch knüpft Soziale Arbeit an, wenn sie mit Hilfe ästhetischer Praxis öffentliche Präsenz und gesellschaftliche Partizipation für diejenigen einfordert, die von gesellschaftlichem Ausschluss und sozialer Benachteiligung bedroht sind.
Der sozialräumliche Bezug dieser Praxis bedarf dort einer Erweiterung, wo Kommunikation und soziale Vernetzung nicht mehr "analog", sondern über digitale Medien vermittelt werden. Soziale Präsenz und Partizipation erfordern nicht nur ein geeignetes technisches Equipment, sondern auch spezifische Kompetenzen und Strategien der Kommunikation. Schachtner und Duller entwickeln auf Grundlage qualitativer Interviews mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Typologie kommunikativer Praktiken für Netzaktivitäten. Hierzu gehören neben Praktiken des Formwandelns (z.B. in der Übernahme unterschiedlicher Identitäten im Rollenspiel) und der gezielten Selbstinszenierung (z.B. auf Facebook oder in unterschiedlichen, parallel betriebenen Blogs) auch das Netzwerk- und Beziehungsmanagement in einem offenen Feld von Beziehungsangeboten. In Praktiken des Boundary Management geht es nicht zuletzt "um die aktive Gestaltung der Onlineräume. In sprach- und sinnlich-symbolischen Interaktionsspielen wird beispielsweise auf Twitter die eigene politische Position gepostet, wodurch öffentliches Interesse auf ein bestimmtes Thema gelenkt wird“ (Schachtner / Duller in Dietrich u.a.: 2014, 117). Praktiken des Handelns und Verkaufens beziehen sich weniger auf Geld als auf Gewinn "in Form von Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung. … Als Waren gelten Humor, Witz und Spaß sowie Informationen“ (Schachtner / Duller in Dietrich u.a.: 2014, 124 und 125). Um sich auf lockere und sozial attraktive Art mit den Herausforderungen ihrer Lebenssituation auseinanderzusetzen, wählen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Spaß- und Spielpraktiken, z.B. in selbstentwickelten und gruppenbezogenen Rollenspielen. "Damit wird ein Wir konstituiert oder an ein Wir appelliert“ (Schachtner / Duller in Dietrich u.a.: 2014, 133). Wenn man berücksichtigt, dass die Teilhabe an den hier entstehenden Praktiken und sozialen Räumen neben einer guten technischen Ausstattung vergleichsweise differenzierte Lese- und Schreibfähigkeiten und entsprechende Kommunikationsstrategien erfordert, wird deutlich, wie schnell ganze Bevölkerungsgruppen in diesem Raum "unsichtbar" werden können. Ihnen auch im digitalen Raum Stimme und Präsenz zu geben, ist eine der zentralen Herausforderungen der außerschulischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Die Bedeutung des Nicht-Ästhetischen in der Ästhetischen Praxis
Shirley Brice Heath, linguistische Ethnologin und Vorreitern der "New Literacy", untersuchte in den 1970er Jahren die Sprachsozialisation von Kindern aus weißen und schwarzen Lower-class-Familien. Sie entwickelte den Begriff der literacy events. Damit sind kommunikative, meist alltägliche Situationen gemeint, in denen ein Zugang zur Sprach- und Schriftkultur geschaffen wird. Heath bezeichnet damit “any occasion in which a piece of writing is integral to the nature of participants’ interactions and their interpretive processes” (Heath:1982, 93; vgl. auch Nickel: 2008, 7ff.). Das Lesen einer Email gehört ebenso dazu wie der Besuch der Bibliothek, das gemeinsame Schreiben eines Einkaufszettels oder das Lesen der Rezeptzutaten beim gemeinsamen Kochen von Eltern und ihren Kindern. Über einen Zeitraum von 30 Jahren hielt Heath Kontakt zu den Familienmitgliedern und beobachtete die Veränderungen ihrer sprachlichen Sozialisation. Durch die Auflösung der dörflichen Gemeinwesen und der traditionellen Familienstrukturen im Zuge der damaligen Wirtschaftskrise änderten sich auch die Lese- und Schreibanlässe, in denen die Kinder ihren Zugang zur Schriftsprache entwickelten. Viele Elternteile waren alleinerziehend, fast alle berufstätig. Sie suchten Arbeit in der Stadt, die Großeltern verschwanden aus dem Alltagskontext der Familien, einige Kinder wuchsen bei Verwandten oder in Pflegefamilien auf. Jugendorganisationen wie z.B. das Chicago Youth Theatre wurden zu wichtigen Orten im Leben der Jugendlichen. In ihnen findet Heath Jugendliche unterschiedlicher Hautfarbe und unterschiedlicher kultureller Herkunft. Die Sprache, die sie sprechen, ist wenig elaboriert, es herrscht Slang. Nichtsdestoweniger stößt Heath genau hier auf neue bedeutsame literacy events: es sind die Gespräche der Jugendlichen im Chicago Theatre, wenn sie ihre Aufführungen vorbereiten, den letzten Auftritt nachbesprechen, die Reaktionen des Publikums und die Kritiken in den lokalten Zeitungen diskutieren - Schlüsselsituationen, in denen sich ihr Denken und Reden weiterentwickelt.
"Jerome’s on-the-go life at fourteen meant that he thought a lot about what was coming up soon, where he had to be today, and what he needed to do. Early in our acquaintance, when I asked him where he would be next month or next summer or even next Christmas, he shrugged and looked puzzled. His talk with friends, as well as around the bodega where he worked, focused on the present, the immediate short term. In the theatre, the group talked incessantly about what was coming up over the full season, how they had to plan, and when they needed to do what. Jerome listened. What he heard made him realize that his friends at Liberty looked ahead farther than the next few hours or the upcoming weekend” (Heath: 2011, 51).
Heath bindet die Jugendlichen in den Forschungsprozess ein. Sie erstellen Tonbandprotokolle von ihren Gruppensitzungen, werten diese nach Vorgaben von Heath aus und diskutieren ihre Beobachtungen. Heath dokumentiert auch die Beiträge der Jugendlichen auf öffentlichen Veranstaltungen im Rahmen des Theaterprojektes und beobachtet, wie sich der Slang der Jugendlichen in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Publikum, Kommentatoren und Kritikern verändert. Sie übernehmen Elemente aus der Fachsprache der Kritiker, ihre eher einfache Alltagssprache wird durch komplexere Wörter, den Aufbau von Argumentationen und Reflexionen differenzierter und reflexiver. Daneben führen sie Planungs- und Koordinationsaufgaben durch, übernehmen Kontaktanbahnungen und Telefondienste, müssen sich mit Bühnen- und Beleuchtungstechnik auseinandersetzen. Diese Arbeiten, so Heath, gehen über ästhetische Bildung hinaus. Sie vermitteln sprachliche, handwerkliche, technische und soziale Kompetenzen für das tägliche Leben und den späteren Beruf.
"A close look at arts-based youth groups, not only those in theater but also those within the visual arts and music, illustrates how work in the arts enables - indeed depends on - members taking up numerous roles, varying by visibility, symbolic markings, and essentialness to the organization as the individuals grow with the group. Whether acting as receptionist answering the phone in late afternoons, wearing organizational tee-shirts to city arts events or mediating between two participants whose tempers have flared, youth members have to sustain everyday life in the organization” (Heath: 2000, o.S.).
Projekte wie diese machen einen wichtigen Bereich der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit aus, finden sich vergleichbar aber auch in der Erwachsenenbildung und Seniorenarbeit. Sie verbinden die Weiterentwicklung kultureller Ausdrucksformen, die in der Arbeit an einer ästhetischen Produktion entstehen, mit der Hoffnung, dass ästhetische Praxis in einem breiten Umfang und ohne das groß zu thematisieren, zur allgemeinen Kompetenzentwicklung beiträgt (Jäger / Kuckhermann: 2004, 50). Von der ästhetischen Bildung in der Schule unterscheidet sie sich dadurch, dass sie auf Freiwilligkeit beruht, in der Regel nicht (nur) von Pädagogen, sondern von Künstlern angeleitet wird und sich in der Öffentlichkeit bewähren muss. Anders als die professionelle künstlerische Produktion, die sich auch kommerziell auf dem Markt der Kunstangebote bewähren muss, stehen solche soziokulturellen Projekte zwar unter professioneller Anleitung, ihre Hauptdarsteller sind aber Laien.
Spätestens mit der erfolgreichen Veröffentlichung des Dokumentarfilms im Jahr 2004 "Rhythm is it“ (Anm.: Deutscher Dokumentarfilm über eine Choreographie zu Strawinskys "Le Sacre du Printemps" mit 250 Berliner Jugendlichen, Regie: Thomas Grube, Enrique Sanchez Lansch) ist bekannt, dass künstlerische Arbeit auch Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus einen Zugang zu Bildungsprozessen und Bildungsbereichen eröffnen kann, denen sie eigentlich distanziert gegenüberstehen (Rittelmeyer: 2011, 21ff.). Worum es Heath in ihren Untersuchungen aber geht, ist weniger dieser Zugang zur fremden Hochkultur als der Bildungsgewinn durch die nicht-ästhetischen Anteile der künstlerischen Produktion. Ästhetische Produktionen sind Arbeit. Sie erfordern, wenn sie öffentlich präsentiert werden, einen erheblichen Organisationsaufwand. Dies schließt Abstimmungsprozesse in der Gruppe in Bezug auf Inhalte, Ziele und Selbstverständnis genauso ein wie Fragen der Technik, des Zeitmanagement und der Öffentlichkeitsarbeit. So gesehen könnte man sagen, dass auch der "Lehrplan der ästhetischen Bildung" von einem informellen nicht-ästhetischen "Lehrplan" begleitet wird. Ästhetische und kulturelle Bildung fördert in einem beachtenswerten Umfang und ganz nebenher allgemeine Bildungsprozesse, ohne diese zu thematisieren.
Wie weit Ästhetisches und Nicht-Ästhetisches zu einer organischen und vielfältigen Bildungseinheit von Spiel, Experiment und technischem Wissen zusammenfließen können, wird an einer "digitalen Performance" sichtbar, die in einem ganz anderen Kontext entstanden ist:
"Theater mit dem Schwarm"
Im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprojektes zu Praktiken der Subjektivierung im Kontext digitaler Medien werden verschiedene Lernszenarien entwickelt und erprobt. Eines davon ist "Der Schwarm". Es handelt sich "um eine digitale Installation, in welcher "Schwarmverhalten durch eine Schar auf den Boden projizierter Lichtpunkte simuliert wird“ (Büching u.a.: 2014, 163). Betritt eine Person die Projektionsfläche, reagieren die Lichtpunkte wie ein Schwarm auf ihre Körperbewegungen. Steht der Akteur still, verhalten sich die Individuen des Schwarms (die Boids) zutraulich. Sie umkreisen den Akteur. Bewegt dieser sich vorsichtig (langsam), werden die Boids "neugierig" und bewegen sich langsam auf die Person zu. Bewegt er sich dagegen schnell, fliehen sie, d.h. sie "bewegen sich konfus auf der Fläche und von dem/der Akteurin weg" (Büching u.a.: 2014, 165). Bei ruckartig-schnellen Bewegungen reagieren sie mit "Aggression": "Sie bewegen sich auf den/die Akteur_in zu und erwecken den Eindruck anzugreifen" (ebd.). Untereinander bewegen sich die Individuen des Schwarms nach drei einfachen Regeln: Sie vermeiden Kollisionen (Separation), jedes Boid hält Nähe zu umliegenden Boids (Kohäsion) und orientiert sich an diesen in Bezug auf Geschwindigkeit und Richtung (Ausrichtung).
Im Rahmen eines Workshops lernen die Teilnehmer durch eigenes Erkunden die Funktionsweise der hinter der Installation stehenden Technologie kennen und nutzen. Am Ende steht eine Performance mit dem Schwarm.
Die ästhetische Seite der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit lässt sich von vielen Seiten betrachten, zum Beispiel als gesellschaftlich-politischer Auftrag, als das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und als Teilhabe, als Aufgaben den Zugang zu den Ressourcen der Gesellschaft für alle zu sichern. Ebenfalls als professionelle, also zielbezogene und durch standardisierte Methoden gesicherte Arbeit mit Einzelnen, Gruppen und Gemeinwesen, oder als ein Set von Handlungsformen - Helfen, Beraten, Erziehen, Bilden, Organisieren, Aufklären - deren professionelle Beherrschung in der Geschichte des Heilens und der Pädagogik als Kunst bezeichnet wurde: Als Erziehungskunst, als Heilkunst oder, wie Alice Salomon sagt, als "Kunst der Menschenbehandlung" und als "Kunst zu helfen" (Limbrunner: 2004, 281f.). Hiermit ist gemeint, dass Hilfs- und Bildungsprozesse zwar auf wissenschaftlich begründeter Erkenntnis und professionell bewährter Methodik beruhen, darin aber nicht vollständig aufgehen. Als Beziehungsarbeit bewährt sich Soziale Arbeit ähnlich wie pädagogische Arbeit erst in der Gestaltung eines individuell gelungenen Hilfeprozesses. "Der andere Pfeiler professionellen Handelns muss deswegen in schöpferischen Qualitäten bestehen. Das sind Fähigkeiten des Individualisierens, der Kreativität, der Interaktion und wechselseitigen Bezugnahme und schließlich der Sinngebung“ (Limbrunner: 2004, 282).
Dabei ist nicht nur die Gestaltung der Beziehung, sondern auch ihr Verlauf angesprochen. In der helfenden Beziehung geht es wie in jedem Lernprozess um mehr als Ziele und Inhalte. Es geht auch um eine im Wortsinne "Ästhetik des Lernens": um räumliche und zeitliche Arrangements, um Kommunikations- und Umgangsformen und nicht zuletzt um eine gelungene Dramaturgie des Hilfe- und Lernprozesses. "Nicht selten ist die Beziehung SozialpädagogIn - KlientIn auch eine Begegnung unterschiedlicher sozialästhetischer Lebenswelten, und die Bewältigung dieser Unterschiede kann über Erfolg und Misserfolg beruflichen Handelns entscheiden“ (Jäger, Kuckhermann: 2004, 249). Das Ästhetische einer helfenden bzw. bildendenden Beziehung liegt - wie alles Ästhetische - in ihrer differenzierten, auch sinnesbezogenen Wahrnehmung, in den Formen des gemeinsamen Umgangs, im Zulassen neuer Deutungs- und Sichtweisen auf die beteiligten Personen und ihre Handlungen, und nicht zuletzt in der Gestaltung ihres zeitlichen Verlaufes, ihrer Dramaturgie. Kunst in diesem Sinne ist zwar erlernbar, allerdings weniger durch das Studium guter Bücher als durch die reflektierte eigene Praxis.
Resümee
Werfen wir zum Abschluss noch einmal einen Blick auf die Verankerung ästhetischer Praxis im Studienplan der Sozialen Arbeit. Das methodische Konzept der ästhetischen Praxis ist sicherlich keine erschöpfende Grundlage für die Themen, die dort unter dem Titel Kultur-Ästhetik-Medien oder Kultur-Ästhetik-Bewegung angeboten werden. Immerhin bietet es für die meisten Themen mit dem Bezug zum aisthetischen Lernen eine breite einigende Grundlage: die Sensibilisierung und Differenzierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung durch Differenzerfahrungen, seien sie nun ästhetisch, erlebnispädagogisch oder durch sportliche Aktivitäten organisiert. Hierzu gehört auch die Organisation des Bildungsprozesses vom Erlebnis über dessen differenzierte Wahrnehmung bis zur rational begründeten Urteilsbildung. Für diejenigen Angebote, die mit den Medien und Handlungsformen der Kunst arbeiten, ist darüber hinaus das engere Konzept der ästhetischen-medialen Praxis grundlegend, die sich als Erkenntnis- und Bildungsform und als Praxis der (sozial-)politischen Partizipation in der Sozialen Arbeit etabliert hat.