Ästhetische Praxis des Theaters als Intervention, Partizipation oder einfach nur ästhetische Erfahrung?
1. „I hate your western binary views“
Intervention, Partizipation oder auch Transformation – große Begriffe mit einer originär politischen Agenda haben Eingang in die Programme der kulturellen Bildung gefunden. Das ist nachvollziehbar, denn im Zuge zunehmender Globalisierung, verbunden mit Migration, Digitalisierung, gesellschaftlicher Heterogenität, ökonomischem Druck und allgemeiner Kontingenz verändern sich auch die Arbeitsbedingungen, Themen und Strategien in allen kulturellen Arbeitsfeldern, und damit eben auch die Programme und Praktiken der kulturellen Bildung.
Ausgehend von der Praxis des Theaters diskutiere ich die Frage, ob die ästhetische Praxis den programmatischen Formulierungen und Absichten eigentlich gerecht werden kann. Wenn die Programmatik prominenter wird als die Praxis, besteht dann nicht die Gefahr der Überfrachtung der Praxis? Was heißt das für die konkrete Projektarbeit und Praxis der kulturellen Bildung?
Die Versprechen der kulturellen Bildung klingen mächtig, die Programmatiken vollmundig. Das müssen sie auch, denn nur so entfalten sie eine kulturpolitische Kraft. In der Betrachtung der konkreten ästhetischen Praxis ist ein differenzierterer Blick notwendig, um die Praxis nicht zu überfrachten, die Akteurinnen und Akteure nicht zu überfordern und letztlich, um im Projekt realistische Ansprüche im gemeinsamen ästhetischen Tun zu formulieren.
Mein Nachdenken über das Verhältnis und die Kontexte von Programmatik und Praxis (insbesondere in der Theaterpädagogik) – angeregt durch den Fragehorizont der fundierten Fachtagung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder und Jugendbildung (BKJ) „Illusion Partizipation – Zukunft Partizipation: (Wie) Macht Kulturelle Bildung die Gesellschaft jugendgerecht(er)?“ im Jahr 2015 – geht ganz unsystematisch auf drei Impulse zurück:
- Die vehemente Aussage eines südafrikanischen Kollegen „I hate your western binary views“, als ich mit ihm darüber diskutierte, ob ein Theaterprojekt zum Thema HIV und Aids eher ein gesundheitspolitisches, sozialpädagogisches oder künstlerisches Projekt sei. Seine Kritik galt unserer eurozentristischen Perspektive, die ihm oft vorschnell und unnötig in Gegensätzen und Hierarchien denke (hier Politik – da Ästhetik, hier Pädagogik – da Kunst). Im Sinne postkolonialer Kritik sei es angesagt, Machtstrukturen und Deutungshoheit im (internationalen) akademischen Diskurs kritisch zu hinterfragen. Auch im Feld der kulturellen Bildung, so meine Folgerung daraus, ist es sinnvoll, alle Rahmenbedingungen zu reflektieren und zu kontextualisieren. Wer fordert was (z. B. Partizipation) wozu? Und wer agiert im Praxisfeld wie (z. B. als Intervention) mit wem warum? Und wer finanziert Projekte mit welchen Interessen? Wer ermächtigt wen was zu tun? Bevor man vorschnell in Kategorien und vermeintliche Qualitätskriterien einteilt und urteilt, ist es ratsam, kultur und theaterpädagogische Projekte als komplexe Einheiten zu sehen, die man nicht so einfach in Einzelteile zerlegen kann. Sonst entsteht allzu schnell eine Hierarchie, was besser oder wichtiger sei: Kunst oder Pädagogik, das Ästhetische oder das Politische, Prozess oder Produkt.
- Die Position und Argumentation des britischen Applied-Theatre-Forschers James Thompson (2011), der nach jahrelangen Studien zu Theaterprojekten in Krisengebieten (in Sri Lanka und Ruanda) einen Paradigmenwechsel „from effects to affects“ vorschlägt, da die Projekte mit programmatischen Zielen überfrachtet waren und das genuine ästhetische Erleben wie etwa „bewilderment and astonishment“ (Verwirrung und Erstaunen) verloren zu gehen drohte. Er plädiert vielmehr dafür, die ästhetische Praxis nicht primär über „effects“, also Wirkung und Lernziel auszurichten, sondern in ihrer Bedeutung als ästhetisches Ereignis zu fundieren.
- Die Lektüre von Jacques Rancières Text „Der emanzipierte Zuschauer“ (2015), der konstatiert, dass der Zuschauer keineswegs als passiv zu betrachten sei, da Zuschauen ein aktiver Akt sei. So kritisiert er zwei Grundannahmen zeitgenössischer Kunst, nämlich, dass der Zuschauer aus seiner Passivität befreit werden müsse und dass die Thematisierung von gesellschaftlichen Missständen etwa helfen könne, diese zu beseitigen. Aktuelle Spielformen der Kunst wie partizipative Projekte stellten nie die Macht der Institution und der Kunstschaffenden in Frage, das Topdown-Prinzip bleibe bestehen, weil vorbestimmt wird, wie man partizipieren solle.
Aus allen drei Impulsen spricht die Aufforderung, sich Programmatiken und Praktiken der Künste und kulturellen Bildung genauer anzuschauen, kritisch zu hinterfragen und zu kontextualisieren: 1) Wer macht was wozu, mit welcher Haltung und welchem Interesse? 2) Den Blick von den vermeintlichen Effekten wieder auf die Affekte, die sinnlichen Potenziale der ästhetischen Praxis zu richten.
Dabei ist völlig klar: Programmatiken und Programme sind wichtige kulturpolitische Instrumente, die der Positionierung, Artikulation und Öffentlichkeitsarbeit zentraler Konzepte und Aktivitäten dienen. Programmatik und Praxis beziehen sich aufeinander, haben jedoch eine jeweils eigene innere Handlungslogik.
2. Zentrale Begriffe: Partizipation, Intervention, ästhetische Erfahrung
Partizipation als politischer Begriff bedeutet „in demokratischen Staaten die freiwillige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Leben im weitesten Sinne“ (bpb: 2017), um Entscheidungsprozesse mitzugestalten, sei es durch Wahlen oder Mitarbeit in Parteien, Verbänden, Initiativen. Letztlich geht es darum, was auch die Programme der kulturellen Bildung – bezogen auf den Bereich der Kunst und Kultur – fordern, eine gleichberechtigte Teilhabe und aktive Mitgestaltung aller am sozialen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Projekte der kulturellen Bildung bieten viel fältige Partizipationsangebote und grade; auch das NichtpartizipierenWollen muss möglich sein. Welche Beteiligungsoptionen und chancen sich ergeben, auf der Basis welcher Voraussetzungen, ist jeweils offenzulegen.
Intervention im politischen Sinne meint das Eingreifen oder sich Einschalten von außen in eine Situation oder einen Konflikt. Intervention im künstlerischen Bereich ist eine meist temporäre Aktion im öffentlichen Raum, mit dem Ziel, die öffentliche Wahrnehmung zu schärfen, zu provozieren und/oder auf kulturelle, soziale und politische Fragen und Themen hinzuweisen (z. B. Aktionskunst, Graffiti, Flashmob, Smartmob). Der Flashmob, ein Paradebeispiel für interventionistische Kunst lebt von seiner Performativität, die sowohl für Performer wie Rezipientinnen Wirklichkeit schafft (vgl. Warstat et al. 2015). Künstlerische Intervention ist also eine Strategie des Eingreifens oder Unterbrechens öffentlicher Ordnungen und versteht sich nicht als gesellschaftspolitisches Programm wie Partizipation.
Gleichwohl kann Partizipation auch als produktionsästhetische und performative Strategie eingesetzt werden, um das Publikum anders anzusprechen oder Mitspielerinnen und Mitspieler einzubinden. Im Bereich der szenischen Künste gibt es inzwischen ein weites und ausdifferenziertes Spektrum an partizipativen Formaten, die die Beteiligung oder Mitwirkung an künstlerischen Prozessen zulassen, oft an Alltagsorten und mit Alltagsbezug („Experten des Alltags“). Angefangen von der Anwesenheit (Kopräsenz) der Zuschauenden bei der Aufführung bzw. Aktion zur Aktivierung im und Mitgestaltung des künstlerischen Vorgangs, der Performance, bis hin zur Einbindung in den Produktionsprozess (z. B. Bürgerbühne).
Ästhetische Praxis im Theater meint alle Aktivitäten im kreativkünstlerischen Schaffensprozess: Recherchieren, Forschen, Proben, Gestalten, Inszenieren bis zum Präsentieren eines Produkts in der Aufführung. Ästhetische Praxis verkörpert gleich zeitig immer einen Möglichkeitsraum; sie kann die Möglichkeit zur Teilhabe, zu Lern und Bildungsprozessen eröffnen, bestimmte Wirkungen sind aber nicht zuzusagen.
Unter ästhetischer Erfahrung ist grob gesprochen die sinnliche, leibliche Wahrnehmung zu verstehen, die wir in der rezeptiven und produktiven Auseinandersetzung mit Kunst(prozessen), aber auch anderen ästhetischen Phänomen und Gegenständen oder beim eigenen ästhetischen Gestalten erleben. Eine allgemeine Definition ist weder sinnvoll noch möglich (vgl. Brandstätter 2012), noch können hier unterschiedliche Konzepte dazu reflektiert werden, da sich ästhetische Erfahrungen als unmittelbare Gegenwart ereignen und von unterschiedlichen Merkmalen und Bezügen begleitet werden können: Synästhesie und Leiblichkeit, Selbstzweck und Selbstbezüglichkeit, Selbstbezug und Weltbezug, Eigenzeitlichkeit und Eigenräumlichkeit, Ding und Zeichencharakter, zwischen Differenz und Affirmation, Reflexion und Erkenntnis (vgl. ebd.).
3. Ästhetische Praxis des Theaters: Theater als Erfahrung und Bildung
Wenn Theater so als ästhetischer und sozialer Kommunikations und Erfahrungsraum gefasst wird, dann setzt sich Theaterpädagogik theoretisch und praktisch, künstlerisch und pädagogischdidaktisch mit der Rahmung, Bereitstellung und Gestaltung dieser Räume und den darin möglichen ästhetischen und sozialen Erfahrungen aus einander. Theaterpädagogische Projekte mit nichtprofessionellen Akteurinnen und Akteuren ermöglichen im szenischperformativen Handeln und Rezipieren vorrangig Wahrnehmungs, Spiel, Gestaltungs und Ausdruckserfahrungen.
Die Einsicht, dass durch Theater Lern und Bildungsprozesse initiiert bzw. unter stützt werden, hat eine lange Tradition (vgl. Sting 2013). Zahlreiche Wirkungsmodelle beschreiben die sozialen, bildenden oder erkenntnisfördernden Potenziale von Theater, wie unter anderem Aristoteles’ Begriff der „Katharsis“, Schillers Modell der „Schaubühne als moralischer Anstalt“, Bertolt Brechts „Lehrstück“ und sein „dialektisches Theater“, Augusto Boals „Theater der Unterdrückten“ oder Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“. Theaterpädagogische Konzepte heute fördern neben dem Theaterbesuch als Rezeptionserfahrung das eigenaktive Theaterspielen als ästhetische und performative Praxis, die vielfältige Selbst und Fremderfahrungen ermöglichen und somit Lern und Bildungsprozesse anstoßen kann. Dabei wird die zentrale ästhetische Wahrnehmungs und Lernkategorie im theatralen Kontext als Differenzerfahrung bezeichnet (vgl. Hentschel 2000). Gemeint ist die im Spiel erfahrbare Differenz zwischen Spielenden und Figur, zwischen Spielenden und Mitspielenden, zwischen privatem und öffentlichem Sprechen sowie zwischen Alltag und Performance.
Die programmatischen Ziele der Theaterpädagogik haben sich in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung zur Medien und Inszenierungsgesellschaft, deutlich verändert. Während Theaterpädagogik in den 1970er Jahren als politische und pädagogische Aufklärung zur gesellschaftlichen und individuellen Emanzipation und in den 1980er Jahren als Chance zur Selbst, Interaktions und Rollenerfahrung verstanden wurde, kam in den 2000er Jahren die ästhetische Praxis, die Gestaltungs, Inszenierungs und Kommunikationserfahrung in den Blick. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich die Begriffe der produktionsorientierten Theaterpädagogik und der performativen Theaterpädagogik etabliert. Diese betonen die kollektive Arbeit einer Gruppe an einem künstlerischen Produkt und zeichnen sich dadurch aus, dass sie im und durch den Produktionsprozess für alle Beteiligten Lernerfahrungen eröffnen, die weit über das Produkt hinausreichen. Produktionsorientierte Theaterpädagogik umfasst den gesamten Weg der künstlerischen Arbeit, von der Auswahl und dramaturgischen Strukturierung des Materials, der Er und Bearbeitung des Materials als Gruppenarbeit, den sozialen Interaktionen im Probenprozess bis zur Gestaltung und Aufführung einer Inszenierung. Das Soziale ist vom Ästhetischen nicht mehr zu trennen (vgl. Sting 2013). Nur durch die ästhetische Praxis ergeben sich, sozusagen beiläufig die im Theaterspielen angelegten Lernmöglichkeiten, wie Gestaltungs und Präsentationserfahrung, Selbst, Fremd und Differenzerfahrung, Wahrnehmungs und Ausdrucksschulung. Inzwischen hat die vormals kontrovers geführte Debatte über Prozess oder Produktorientierung der Erkenntnis Platz gemacht, dass für jeden Spiel und Theatervorgang eine Vielzahl sozialer und ästhetischer Prozesse und Produkte konstitutiv zusammenwirken. In der Gewichtung von künstlerischen und pädagogischen oder sozialen Akzenten und Zielen artikulieren sich die unterschiedlichen theaterpädagogischen Positionen und Ansätze (vgl. Kurzenberger/Tscholl 2014).
Theater als soziale und kollektive Kunst
Weil der Arbeitsprozess im Theater, anders als bei den anderen Künsten, durch eine intensive soziale Kommunikation und meist kollektive Kollaboration geprägt ist, wird Theater als die soziale Kunst bezeichnet. Als soziale Kunst qualifiziert sich ein Theaterprojekt in dreifacher Weise: durch die Arbeitsform des gemeinsamen Machens (als soziales Lernen), durch die aufgegriffenen Themen und Interessen (als sozialpolitisches Engagement) und durch die soziale Ästhetik, die die beteiligten Spielerinnen und Spieler zur öffentlichen Performance bringt (als ästhetische Kommunikation). Diese soziale Ästhetik der Theaterpädagogik äußert sich in der jeweils eigenständigen Ausdrucksform und kraft einer sozialen Gruppe und Produktion. Durch die künstlerische Bearbeitung wird das soziale Anliegen geformt und kommunizierbar in der Aufführung. Theater schafft und fordert eine zweifache Kommunikation: eine innere Kommunikation der Spielerinnen und Spieler während des Arbeitsprozesses und eine äußere Kommunikation mit dem Publikum durch die Veröffentlichung des Arbeitsergebnisses.
Im Kontext kulturelle Bildung ist Theaterpädagogik heute zu verstehen als eine künstlerische Arbeit, aber nicht – und das ist elementar – als eine eitle Kunst oder Imitation des Kunstbetriebs, sondern als eine angewandte Kunst, die die beteiligten Spielerinnen und Spieler zum Handeln und Sprechen bringt, im Sinne von Empowerment und Partizipation. Und daraus, falls überhaupt notwendig, ihre soziale und pädagogische Berechtigung bezieht. Nur durch die ästhetische Praxis ergeben sich die beim Theaterspielen möglichen Lern und Bildungsprozesse. Theater kann so eine Schule des Sehens sein, aber mehr noch: auch eine Schule des Sprechens, eine Schule des (Sich-) Zeigens und Befremdens, eine Schule des SichBegegnens sowie letztlich eine Schule der Teilhabe an Kultur und Gesellschaft.
Das Theater als ästhetische, soziale und kollektive Praxis vermittelt in seinen Arbeitsweisen also per se Partizipationspraktiken. Auch wenn keine Partizipation, Intervention oder andere intendierten programmatischen Ziele erfolgen oder verfolgt werden, schmälert das die Bedeutung der ästhetischen Praxis nicht. Denn diese wirkt situativ und individuell und erfüllt keine normativen Zielsetzungen.
Theater als performative Kunst
Mit der Erweiterung des Theaterverständnisses durch den performative turn in den Kultur und Theaterwissenschaften und dessen Rezeption in Deutschland seit den 1990er Jahren haben sich die zeitgenössische Theaterpraxis ebenso wie die Theaterpädagogik nachhaltig verändert (vgl. Sting 2013). Mit seinem Werk „Postdramatisches Theater“ hat HansThiess Lehmann (1999) eine detaillierte Bestandsaufnahme und Reflexion dieser neuen Theaterformen vorgelegt. Im Zuge dieser Entwicklung eines performativen Theaterverständnisses und entsprechender Theaterpraxen haben sich so die möglichen Spiel und Inszenierungsformen wie auch die Themen, Inhalte, Anlässe und Orte theatralen und performativen Aktionen ausdifferenziert und vervielfältigt. Mit dem Stichwort „Einbruch des Realen“ (ebd.) wird herausgestellt, dass Themen, Fragen und Ästhetiken des Alltags, des Sozialen, des Populären und des Urbanen, verbunden mit biografischen Bezügen und dem Spiel des Nichtperfekten, Eingang ins Theater gefunden haben. Die hochkulturelle Geschlossenheit des dramatischen Schauspielertheaters wird aufgebrochen. Das hat Auswirkungen auf alle Aspekte und Fragen des theatralen Produktionsprozesses. Ganz unterschiedliche inter und transdiziplinäre Arbeitskollektive aus Künstlerinnen, Theatermachern, Performerinnen bilden sich heraus unter Einbindung multimedialer, pop und alltagskultureller Ausdruckqualitäten. Der andere und freie Umgang mit szenischen und theatralen Gestaltungelementen wie Text, Sprache, Stimme, aber auch Raum, Zeit, Körper und Medien ist kennzeichnend für ein nichtdramatisches und performatives Theaterverständnis, eine „Ästhetik des Performativen“ (FischerLichte 2004).
Performative Akte spielen in der Kunst, aber auch in vielen Alltagssituationen eine produktive (bildungsrelevante) Rolle. Eine das Performative der ästhetischen Praxis betonende Theaterarbeit geht von der Annahme aus, dass die Erkenntnisse aus der performativen Wende auch im Kontext von (kultureller) Bildung zur differenzierten Betrachtung und Einordnung von Lern und Bildungsprozessen von aktueller Bedeutung sind. „Der Begriff des Performativen bezeichnet in diesem Sinne den Aufführungscharakter von Handlungen, die in Anwesenheit anderer, also öffentlich vollzogen wird.“ (Ebd. 2005: 238) Damit werden das dialektische Prinzip und das didaktische Potenzial des Performativen deutlich: Die subjektive Handlungsebene und lust von Heranwachsenden geht einher mit einer öffentlichverkörpernden und damit notwendig objektivierenden Sicht auf das Dargestellte. Kulturelle Bildung mit Bezug zu den Theorien und Praktiken des Performativen sieht und ermöglicht Bildungsanlässe und angebote in der Bereitstellung von Lern und Erfahrungsräumen, die im Theaterspiel bzw. in Momenten des Performativen somit sprachliche, körperliche und subjekt und handlungsorientierte Aktivitäten und Inszenierungen anregen. Dabei geht es primär um das phänomenale Geschehen, das aus und aufgeführt wird.
„Das Bildungspotential performativer Prozesse liegt in ihren kreativen und wirklichkeitserzeugenden Momenten, die Dispositionen und Disponibilitäten der Beteiligten hervorbringen können. Im performativen Fokus wird der Begriff der Bildung erweitert; denn das reflexive Potential der traditionellen Bestimmung des Begriffs wird beibehalten und um die Bildungsprozesse ergänzt, die nicht nur als kognitive, sondern auch als körperliche, soziale, situative und inszenierte Prozesse verstanden werden.“ (Wulf/Zirfas 2006: 299)
Im Theatervorgang lassen sich die herausgestellten Ebenen nicht trennen, das Ästhetische und Performative braucht und bedingt das Soziale und Politische.
4. Theaterpädagogik und Applied Theatre
Der Begriff und das Arbeitsfeld des sogenannten Applied Theatre ist inzwischen auch in der deutschsprachigen Theaterlandschaft angekommen (vgl. Warstat et al 2015). Bei der Durchsicht zentraler Positionen im „Applied Theatre Reader“ (Prentki/Preston 2009) wird deutlich, dass der englische Überbegriff Applied Theatre, entstanden aus der Zusammenführung unterschiedlicher theaterpädagogischer Kontexte (Drama Education, Theatre in Education, Theatre in Social Fields), ein weites Arbeitsfeld meint, das übergreifend die Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Akteurinnen und Akteuren in pädagogischen, sozialen und therapeutischen Zusammenhängen meint. Bei uns firmiert das unter „Theaterpädagogik“. Wichtig ist dabei, dass hier keine Hierarchie zwischen künstlerisch und sozial oder pädagogisch orientierten Projekten pejorativ vorgenommen wird wie mitunter im deutschen Sprachraum. Bei allen Unschärfen im Inhaltlichen, die ein solcher Containerbegriff mit sich bringt, und offensiven Versprechungen, welche Wirkungen intendiert werden, sehe ich hier eine Chance, die letztlich unproduktive Hierarchisierung von Projekten im Bereich der kulturellen und ästhetischen Bildung aufzuheben. Das heißt nicht, dass keine kritische Reflexion in Bezug auf die Professionalität und Substanz der Projekte und Macherinnen und Macher erfolgen sollte, sondern dass eine vorschnelle Klassifizierung in hier Kunst und da Sozialprojekt nicht mehr zeitgemäß ist.
Applied Theatre als Praxiskonzept arbeitet mit klaren ethischmoralischen Absichtserklärungen und normativen Setzungen, was Theater leisten kann. Da besteht eine große Nähe zu den programmatischen Papieren der kulturellen Bildung. Applied Theatre betont aber immer das Und: Ästhetisch und sozial, künstlerisch und pädagogisch, Social Change und Transformation, Community Building und Empowerment.
5. Zwischen Programmatik und Praxis, zwischen Effekten und Affekten: Ästhetische Praxis als Erfahrungs- und Begegnungsraum
Im Zuge der Auflösung und Vermischung der klassischen Disziplinen und Kunst sparten wird auch für den Diskurs der Kunstvermittlung und kulturellen Bildung deutlich, dass die Trennung von hier Kunst und da Pädagogik nicht mehr produktiv sein kann. Künstlerische, soziale und pädagogische Anliegen und Projekte können sich verbinden und entwickeln.
Programmatiken und Manifeste formulieren Ziele, Konzepte, Visionen, Strategien, Spiel und Inszenierungsweisen, wie die Künste Mensch und Gesellschaft verändern können. Bertolt Brecht, Antonin Artaud und Augusto Boal, um nur drei prominente Vertreter zu nennen, haben künstlerische und gesellschaftlichpädagogische Konzepte vorgelegt, die aufrütteln und emanzipieren sollten.
Projekte und Aktionen des Theaters heutzutage arbeiten meist nicht nur nach Programmatiken, sondern versuchen, situativ und kontextbezogen ihre Zielsetzungen und Arbeitsweisen zu entwickeln und abzustimmen. Erst dann und so entwickeln sie ihre Kraft und ihr Potenzial.
Das Plädoyer „Mehr Kunst und mehr Pädagogik“ von Hajo Kurzenberger (2014: 129) mit Blick auf die Projekterfahrung der Dresdner Bürgerbühne ist zukunftsweisend für ein nicht mehr binäres Verständnis von Theaterpädagogik und kultureller Bildung.
Angebote der kulturellen Bildung sind meiner Meinung nach immer als Möglichkeitsräume zu verstehen, die ästhetische Erfahrung oder die Erfahrungen der Teilhabe vermitteln können, wobei der Vollzug oder Grad von Teilhabe jeweils dem Subjekt überlassen bleibt.
Ein Grundprinzip der Pädagogischen Aktion e. V. München – einer der prägenden Initiativen im Feld der Kulturpädagogik/kulturellen Bildung – in den 1980er Jahren war es, Spielräume zu schaffen, das heißt Raum, Material und Kompetenz der Kulturpädagoginnen und pädagogen zu verdichten und so einen offenen Spiel, Experimentier, Gestaltungs und vielleicht Lernprozess anzuregen. Das Inszenieren von Räumen, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, wie Kinder und Künstlerinnen und Künstler, und die sich darin und dadurch ergebenden Aktionen waren das offene und einladende kulturpädagogische Prinzip. Die Inszenierungsformate reichten von der lockeren Aktion „Kunst und Krempel im Park“ bis hin zur ausdifferenzierten vierwöchigen „Spielstadt MiniMünchen“.
Die Bedeutung der Kontinuität und Nachhaltigkeit kultureller Bildungsprojekte ist bislang kaum erforscht. Ein Projekt wie „Hajusom“, ein Ort transnationaler PerformanceKunst, das seit mehr als 15 Jahren in Hamburg szenische performative Kunstprojekte mit jugendlichen Geflüchteten realisiert (Huck/Rreinicke 2014), zeigt genauso wie die von Björn Bicker (2016) geleiteten Projekte „Urban Prayers“ (Münchener Kammerspiele) und „New Hamburg“ (Schauspielhaus Hamburg), wie wichtig Langfristigkeit und Kontinuität für die Nachhaltigkeit kultureller Bildung sind. Insbesondere, wenn die Projekte inter und transkulturell angelegt sind, müssen gemeinsame Begegnungsräume und formen erst vertrauensvoll entwickelt werden.
„Der Magnetismus, der all das zusammenhält, ergibt sich aus der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Formen der Kunst, aus den sich darüber öffnenden Gefühlen und aus dem Raum, den wir teilen.“ (Ebd.: 10) Bei „Hajusom“ steht die ästhetische Praxis (Training, Vermittlung, Projekte) im Zentrum als kontinuierliche kollektive Arbeit. Dieses Arbeitsprinzip und zusätzliche gemeinsame Aktivitäten, wie Kochen, binden die Jugendlichen als soziale Familie zusammen.
Abschließend ist eine Rückbesinnung auf das eigentliche Potenzial ästhetischer Praxis angebracht. In meinen Ausführungen wird das Potenzial der ästhetischen Praxis des Theaters als soziale, kollektive und performative Kunst herausgestellt. Dieses Potenzial ist in kultur und theaterpädagogischen Zusammenhängen im institutionellen Kontext, zum Beispiel bei dem Modell der Bürgerbühne, aber auch in der freien Szene, zum Beispiel bei „Hajusom“, vielfach belegt und sollte weiter vertiefend beforscht werden, wie Arbeiten des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zeigen (vgl. Fink et al 2015).
Die ästhetische Praxis des Theaters hat sicher zahlreiche erfolgreiche Interventionsstrategien und Partizipationsformate entwickelt, um die öffentliche Wahrnehmung zu gewinnen oder Lern und Bildungschancen zu vermitteln. Aber letztlich sind die Teilhabe und Bildungsmöglichkeiten immer unmittelbar an die ästhetische Praxis gebunden, mit ihrer Vielfalt und Komplexität, die das Soziale und Pädagogische, ja auch das Politische bereits einschließen.
„From Effects to Affects“ ist auch für den Diskurs der kulturellen Bildung eine sinnvolle Perspektive. Was hieße das dann für die Programmatik und für die Praxis? Gleichzeitig ist eine kritische Reflexion der jeweiligen Interessen in und an Projekten der kulturellen Bildung notwendig, eine Kontextualisierung aller Rahmenbedingungen wird immer wieder notwendig sein. Eine aus dem postkolonialen Diskurs gewonnene kritische Sicht ist hier hilfreich, um bestehende und latente Machtstrukturen und Hierarchien in Bezug auf Finanzen, Status, Interessen und Bildung offenzulegen. Wer fördert was warum oder wozu, wie nachhaltig und auf welcher Dialogebene?
So kontextualisiert und gerahmt kann die ästhetische Praxis als Erfahrungs und Begegnungsraum immer wieder neue Impulse an Projekte kultureller Bildung und an die Programmentwicklung geben.