Zwischen Reichweite und Bedeutungstiefe: Kulturelle Bildung und Postdigitalität
Abstract
Angekommen in der Postdigitalität ist die Debatte um Ausstattungsoffensiven mit Tablets als Antwort auf zeitgemäße Kulturelle Bildung endlich verschwunden. Postdigital beschreibt die Verwobenheit von Mensch und digitaler Technik samt ihrer sozialen, kulturellen und ökonomischen Eigenlogik. Es würde niemand mehr infrage stellen, dass digitale Geräte, Software, aber eben auch digitales Handeln, Verhalten, Repräsentieren und Kommunizieren mit eigener, nunmehr etablierter Logik den Alltag der Gesellschaft durchdrungen haben. Das Setting des Postdigitalen fordert den/die Einzelne permanent heraus sich zu verhalten, auch ohne eine eigene Frage gestellt zu haben. Eine große Aufforderung zur Beschäftigung, Zuwendung und Ablenkung geht zusammen mit kaum überschaubarer gesellschaftlicher Vielstimmigkeit und Sichtbarkeit. Dieser Text entsteht im Jahr 2022, in dem niemand mehr an den Schlagworten Transformation, Agilität sowie gesellschaftlicher und Klimawandel vorbeikommt. Wie geht die Kulturelle Bildung mit dieser Situation um? Gibt es einen Transformationsdruck für die Kulturelle Bildung und die Kulturarbeit im Ganzen? Der nachfolgende Text umkreist anhand von Beispielen aus der kulturellen Teilhabe-Praxis Aspekte der Kulturellen Bildung, die neue Orte, Formate und Kontexte berühren.
Transformationspotenzial
Zu häufig noch, wird Kulturelle Bildung als Erziehungs- oder Publikumsprojekt angesehen. Dabei ist das Potenzial der Kulturellen Bildung ein weitaus größeres. Kultur, Kunst und Bildung in ihren Eigenschaften der Grenzüberschreitung, Kreation und Zumutung tatsächlich ernst genommen, können Veränderungsprozesse nicht nur begleiten, sondern eigenständig definieren.
Kulturelle Bildung kann ein Handlungsskript abgeben, um die soziale, kulturelle und künstlerische Diversität sichtbar und individuell wie auch gesellschaftlich wirkungsvoll zu machen. Denn sie basiert auf Partizipation und Mitgestaltung, der Reflexion von Beziehungen zu sich und anderen bzw. anderem und der Gestaltbarkeit von Situationen. Ihr künstlerischer Anteil ermöglicht, andere Wirklichkeiten beispielhaft zu entwerfen und „durchzuspielen“. Das Mögliche ist wirklich. Der Möglichkeit nach vorhanden, so eine alte Definition von „virtuell“, wenn digitale Technologie im Spiel ist. Das Virtuelle ist ein Möglichkeitsraum und ein Raum mit völlig eigener Ästhetik und eigenen künstlerischen Überwältigungsmechanismen für die Sinne, die ein Eintauchen in eine andere Welt, andere Erzählungen von Welt sehr umfänglich erlauben.
Kulturelle Bildung bewegt sich immer zwischen individuellen bzw. sozialen Lebens- und künstlerischen Ausdruckswelten. Im Postdigitalen gehört zur individuellen Lebenswelt das Leben im Netz automatisch dazu. Dies gilt nicht nur, wenn man sich selbst dort sichtbar produziert oder beteiligt ist, sondern auch, wenn man sich einfach „umguckt“ und algorithmisch berechnet adressiert wird.
Das eröffnet Menschen großartige Chancen, sich mit vielen Belangen und Gedanken nicht mehr allein zu fühlen und die Kultur des Umgangs mit bestimmten Themen und Lebenslagen aktiv zu verändern. Hinzu kommt eine breite Palette an Gestaltungsmöglichkeiten mit entsprechenden leicht verfügbaren Apps und Programmen. Diese generieren regelmäßig neue Ästhetik und Formate im Mix mit allem, was im Netz verfügbar ist. Interaktion und Kommunikation mit anderen User*innen belebt das eigene Schaffen und Agieren.
Es verlangt auf der anderen Seite jedoch auch viel Widerstandskraft und Selbstbewusstsein, der Logik des Optimierens, des Kommerzialisierens und Adressierens sowie des Beschämens und Beschämt-Werdens Stand zu halten.
Es ist deutlich und postdigitale Wirklichkeit: Viel mehr Menschen bringen auf viel mehr Ebenen ihre Perspektive ein, können gehört und gesehen werden, Netzwerke bilden, Einfluss nehmen, Perspektiven verändern, reale Situationen verändern. Dies tun sie für eigene Projekte und Ideen und nicht gebunden an ein Angebot, bei dem sie mitwirken können. Nicht allein, dass es den digitalen Ort gibt; es entstehen im Wechselspiel auch neue reale Orte, in denen sich Menschen für und mit ihren Belangen beschäftigen und organisieren, nicht selten auch künstlerisch, audiovisuell ästhetisch. Orte und Räume werden selbstbewusster beansprucht, Safe Spaces, die Machtgefälle ausschließen, mit eigenen Regeln des respektvollen Umgangs, der anderswo nicht funktioniert. Diese Plattformen spielen eine wichtige Rolle beim Empowerment von Communities, die die Kennzeichen ihrer Zusammengehörigkeit und ihre Themen selbst definieren und es nicht durch ein Förderprogramm der Kulturellen Bildung oder ein Publikumsprogramm definieren lassen.
Kulturelle Bildung könnte hier noch viel mehr Agent*in und Kompliz*in sein, indem sie Plattformen und Räume schafft, in denen diese Themen und Ausdrucksweisen durch die Beteiligten mitdefiniert werden.
Zum Beispiel: Ijula – Intersektionale Jugendlabore im Veedel/Köln
Nach dem Projekt „Young Arts for Queer Rights and Visibility“ des Trägervereins ROOTS & ROUTES Cologne (RRCGN) entstand die Idee für ein Folgeprojekt. Zeitlich begrenzte „Pop-up-Räume“ sollten nacheinander in drei Kölner Stadtvierteln entstehen. Diese Räume waren gedacht als Mischung aus Safe Space und Kunstort. Neben queeren Themen sollten dort auch andere Diskriminierungsformen und deren Überschneidungen (Intersektionen) künstlerisch angegangen werden. Die intersektionale Ausrichtung des Projekts bedeutete auch: Menschen mit verschiedensten Positionierungen und Identitäten waren eingeladen, sich einzubringen, den Raum mitzugestalten und ihre Gedanken künstlerisch zu artikulieren. In Workshops und regelmäßigen Gesamttreffen entwickelte ein Jugendkuratorium das Vorhaben weiter, das unter der Abkürzung iJuLa zuletzt zu einem jetzt auf zwei Jahre ausgeweiteten städtischen Labor geführt hat. Das RRCGN-Team begleitete die Teilnehmenden dabei, etwa in Form einer fast zweiwöchigen iJuLa-Peer-Coach-Academy, bei der sie zur Durchführung eigener Workshopangebote qualifiziert wurden.
„Plattform“ zu sein bedeutet, dem Prozess mit Inspirationen und sich entwickelnden Fragestellungen mehr Aufmerksamkeit und Wendigkeit zu widmen. Als Plattform verhilft man mehr als Kompliz*in anderen zum Ausdruck oder auch Eindruck, als dass man andere in das eigene Produktionskonzept einfügt. Das bedeutet nicht, dass es keine künstlerischen Arbeiten vor Publikum mehr gibt, sondern dass „die Kunst“ ein vielfältigeres Publikum sucht, aufsucht, respektiert, pflegt. Die Kulturelle Bildung kennt die Kriterien der Beteiligung und Mitgestaltung, versteht sich darauf, zuzuhören und Geschichten – also Anknüpfungspunkte im Lebensalltag – aufzuspüren und deren Bedeutsamkeit hervorzuheben.
Kulturelle Bildung, die sich als Selbstbildung versteht. muss dies berücksichtigen. Ihre DNA ist die Mitgestaltung, Ko-Produktion, Partizipation und ein Wirksamkeitsversprechen. Hierin ist sie grundsätzlich demokratisch, weil sie – im politischen Jargon – Teilhabe ermöglicht.
Zum Beispiel: Klimaparlament sämtlicher Wesen und Unwesen
Die Akteure metagarten Hamburg und helfersyndrom Offenbach entwickelten ein dokumentarisch-fiktionales Klimaparlament. Es tagte Ende 2020 online mit Zentrale in Hamburg. Die Idee: Bürger*innen konnten die Patenschaft für ein Wesen oder Unwesen der Stadt übernehmen und im einberufenen Parlament für ihre beste Entwicklung streiten, verhandeln, Vorteile sichern. Es trafen Fürsprecher*innen der Elbe auf solche der Automobile, Vertreter*innen von Regenwürmern auf Lobbyisten eines Hochhauses. Perspektivwechsel, Verantwortungsübernahme, Aushandeln von Zusammenleben und menschengemachte und natürliche Umwelt als großen Gestaltungsraum zu betrachten – hierfür ist das Projekt eine Plattform, das als Prototyp nunmehr in andere Regionen wandert. Dabei organisieren die Verantwortlichen nicht einfach einen Protest, sondern geben künstlerisch auch Sprachlosem und ökologisch Streitbarem wie dem Busverkehr oder einem AKW eine eigens entwickelte Sprache und ein kostümiertes Aussehen.
Vielstimmigkeit – glokal
Im Postdigitalen ist das Multiperspektivische und damit der Anspruch auf Teilhabe und Teilnahme selbstverständlicher für viele. Dies braucht jedoch einen Resonanzrahmen in Kultur- und Bildungseinrichtungen, in der Programmkonzeption, in der Raum- und Ressourcennutzung und im Personal. Es braucht Resonanz-Personal, also nicht allein Menschen, die sich ein Programm ausdenken und es dann bewerben. Es braucht Menschen, die in der Lage sind, Sinn und Bedeutsamkeit mit anderen, mit der Gesellschaft herzustellen. Das hat nichts mehr mit Reichweiten, sondern vielmehr mit Bedeutungstiefe zu tun.
Zum Beispiel: Storyfelder
Storyfelder ist eine digitale Plattform für Geschichten aus der Gesellschaft zu Themen wie Glück, Identität, Klima, Mut. Die Verantwortlichen der Storytelling Arena in Berlin verbinden dabei Online-Veranstaltungen mit Beteiligten mit konkreten Regionen und Städten. Was digital vermeintlich keinen Sinn macht, wird hier als verbindendes Element wieder eingefügt: Die regionale Reichweite und Bedeutung. Das Prinzip der Storyfelder bringt „Publikum“ als Aktive zu bestimmten Veranstaltungsterminen online zusammen. Ein Oberthema vereint sie und sie erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten dazu. Aus verschiedenen Gruppen werden einzelne Geschichten während der Veranstaltungen herausgehoben und wieder in das „Plenum“ eingebracht. Musiker*innen, Poet*innen und Literat*innen der Storytelling Arena greifen diese Geschichten auf und entwickeln sie künstlerisch mit ihren Mitteln weiter. Der Abend (Morgen, Nachmittag) wird eine kollektive künstlerische Darbietung, die auch aufgrund der im Netz möglichen und in Corona-Zeiten eingeübten persönlichen Räume und Bedeutungstiefen ermächtigende Wirkung hat.
Diese Vielstimmigkeit hat – langsam – in einigen Kultureinrichtungen Einzug gehalten. Anderes Personal und Programme bilden eine größere Bandbreite an gesellschaftlicher Wirklichkeit ab und verändern konzeptionelle Prinzipien. Dies ist sicherlich auch der Verdienst ehemals lediglich als Stiefkind betrachteter „Vermittlungsabteilungen“ und einer freien soziokulturellen Kunstszene, die sich um Beteiligung und Sichtbarkeit kümmert und gekümmert hat.
Hier ist noch sehr viel Spielraum: Modelle von gemeinsamer „Intendanz“ und kollektiver künstlerischer Leitung haben es immer noch nicht leicht. Wichtig erscheint in jedem Fall eine kommunikative Erreichbarkeit zu gewährleisten, also Dialog und Entwicklungen zu ermöglichen, statt mit alten Maßstäben zu messen, die sich lediglich auf Reichweite (Zahlen) und Namen (Prominenz) beziehen. Kunst als symbolisch verhandelte Wirklichkeit kann genau diese mitgestalten, wenn sie mehr Menschen anregen, erreichen, sinnlich berühren und für Begegnungen mit Themen und Menschen öffnen kann. Dies verlangt viel Aufmerksamkeit und eine ständige Begleitung, Kommunikation – eben Erreichbarkeit in viele Richtungen. Das ist in der Produktions- und Publikumslogik viel zu oft nicht mitgedacht und lässt sich auch in nachgeordneten Vermittlungsangeboten oft nicht einlösen.
Wer sich an kulturellen Bildungsvorhaben beteiligen kann und wessen Situationen thematisiert werden, hängt entscheidend von den Verantwortlichen ab, die diese Settings herstellen. Dies gilt für Kultur- und Bildungseinrichtungen gleichermaßen, in denen schon länger die Frage nach der Deutungsmacht besteht, also nach der Programm-, Orts- und Personalhoheit, nach dem Maß von Subjekt- und Objektorientierung. Nun hat sich die Linearität und Hierarchie dieser Aspekte im Postdigitalen in vielerlei Hinsicht völlig verändert. Die zeitlich, örtlich und personell nicht gebundene Verfügbarkeit von Programm, Personen, Interaktion, Konsum, Kommunikation, Debatte und Repräsentation fordert die Einrichtungen der Kultur oder Kulturellen Bildung ihre Stärken und Qualitäten neu zu überdenken.
Das Spiel – lustvoll und subversiv
Sehr lange hat die Bildung, auch die Kulturelle Bildung die Digitalität als Instrumentenkasten für ihre alten Inhalte angesehen. Interessanterweise ist der Mensch, der eigentlich im Mittelpunkt der Bildungs- und Kulturprozess steht, in den Hintergrund geraten. Was macht das Gerät mit ihm/ihr? Wer hat Zugang, Zugriff, Gestaltungskompetenz? Wie geht das Spiel – nicht durch das Gerät, sondern mit dem Menschen? Welche anderen Welten öffnen sich gerade durch mediale Pfade, Formen, Berechnungen? Wie geht digitale Interaktion und Produktion?
Es geht um die Gestaltung von komplexen Verhältnissen zwischen sich und der Welt, sich und anderen und anderem. Verspricht der (Kunden-)Algorithmus mir eine komfortable oder auch beängstigende Engführung meiner Welt, brauchen Bildung und Kultur die Anerkennung des Anderen, die Zumutung des Unterschieds und das Spiel mit Formen und Regeln. Sonst entsteht kein gestaltbarer Raum, und eine Persönlichkeit findet keinen Anlass, eigene Grenzen zu überschreiten.
Zum Beispiel: Magdeburg Moritzplatz
Der Offene Kanal Magdeburg dreht seit 2019 ein Serienformat über und mit Bewohner*innen des Stadtviertels Neustadt. Die beteiligten Jugendlichen verwenden das Staffel- und Episoden-Format für ihre eigenen Stories und treten selbstverständlich in diverser Besetzung auf allen Positionen auf. Begleitet wird die Serie von der eigenen Website mit Hintergrundinformationen über Darsteller*innen und Macher*innen. Und natürlich begleitet auch ein Instagram-Kanal – moritzplatz_serie – die gesamte Serie, interagiert mit Fans und Fragenden oder Interessent*innen/Interessierten. Professionell und spielerisch bedient sich das Projekt medialer Logik und durchbricht diese zugleich. Denn junge Magdeburger*innen mit unterschiedlichen internationalen Biografien liefern eine Art Gegendarstellung und erzählen ihre Versionen eines klugen und gesellschaftlich attraktiven Stadtteils.
Kulturelle Bildung könnte sich zur Aufgabe machen zu stören. Sie könnte die Eigenlogik von Medien und Kulturräumen als Herrschaftsräume anderer immer wieder infrage stellen und noch deutlicher eigene Orte und Erzählungen reklamieren. Für Kulturhäuser könnte dies bedeuten, die professionellen und strukturellen Ressourcen immer auch in den Dienst der Geschichten und Perspektiven anderer als den eigenen Künstler*innen, Kurator*innen oder Dramaturg*innen und Intendant*innen zu stellen, und natürlich eigenes Personal im Sinne der Repräsentanz von Vielfältigkeit zu engagieren: Dies ist eine wichtige Ressource einer professionell eingebetteten Neuerzählung von Kunst und kulturellem Reichtum. Die Kulturhäuser tragen eine große Verantwortung dabei, welche und wie die Gesellschaft gespiegelt und erzählt und was gesammelt und weitergetragen wird. Dabei geht es nicht um die Frage, ob Kunst nun einer allgemeinen Allerlei gesellschaftlicher Erzählung weichen soll und jede*r ein*e Künstler*in ist. Es geht um die Frage, die Kunst viel selbstverständlicher in und mit der Gesellschaft zu verbinden. Die gerade deshalb, um das Potenzial von emotionaler Verbindung und intuitivem Verständnis und Berührt-Sein, das Künstlerisches bewirken kann, als menschlich Verbindendes zu erleben.
Dabei ist die Kraft des spielerischen und lustvollen Umgangs, der dem Menschen eigen ist, eine wichtige Ressource für kulturelles Selbermachen. Sich außerhalb von Funktionen und Aufgaben zu sehen, also zu spielen, öffnet eine große Freiheit. Diese Freiheit ist auch subversive Kraft gegenüber einer sehr kommerzialisierten und auf Effektivität getrimmten (digitalen und künstlerischen) Welt. Einen unkommerziellen Raum für das Spielen und ein Nicht-funktionales-Sein zu schaffen, ist sicher eine wichtige Aufgabe soziokultureller Bildung im Postdigitalen.
Zum Beispiel: Stadtraum für uns
Das Projekt der Jugendkunstschule Siegen-Wittgenstein ist in der Not der Corona-Restriktionen entstanden und hat zu neuen spielerischen Umsetzungen, zur Gestaltung des Stadtraums durch Jugendliche geführt. Der Stadtraum wird bespielt – digital, tatsächlich, aber immer mit vielen künstlerischen Formen oder durch die Entwicklung von Kunstwerken, die allein über Augmented Reality in der Stadt verteilt sind und über QR-Codes eingelesen werden können. Der Stadtraum wird vielfältig gestaltet und mit digitalen Mitteln durch Jugendliche digital erweitert, definiert, umgewidmet. Das Spielerische im Realen, die subversive Veränderung von Stadt als Spiel zwischen Wirklichkeiten – dies zeichnet das wandelbare Projekt aus.
Kulturtechnik zur Gestaltung von Gesellschaft
Kulturelle Bildung generiert keine Reichweiten, sondern Be- und Umdeutungen von persönlichen, sozialen, kulturellen Wirklichkeiten: Dies ist ein unkommerzieller Raum. Als dieser hat er eine enorme Kraft und Bedeutung, gerade im Postdigitalen. Die Beteiligten sind nicht in ihren – ökonomischen – Funktionen, sondern in ihrer Person anwesend. Sie erhalten keine abstrakten Belohnungen im Wettbewerbsmodus, keine genormten Optimierungsvorschläge und müssen sich nicht mit absurden Vorbildern vergleichen.
Kulturelle Bildung hat eine Dimension als Schutz- und Freiheitsraum. Schutz vor Festlegungen und Unterforderungen sowie Freiheit, andere als die existierende Wirklichkeit zu denken und sichtbar zu machen. Das sinnliche Gestalten hat im Digitalen neue Ästhetiken und Räume hinzugewonnen: Hier geht es nicht um das Online-Äquivalent einer Kulturveranstaltung – etwa in Form von Streaming oder dem digitalen Durchwandern realer Galerieräume. Hier geht es um eigens und medial kreierte Erfahrungs- und Gestaltungsräume, die sinnliches Erleben mit Ideen und Geschichten verbinden.
Die grundlegenden Kriterien von Kultureller Bildung, nämlich Partizipation, Mitwirkung, Empathie und Subjektbezug, haben eine große Bedeutung in der postdigitalen Gesellschaft. Die klare Einteilung von Zielgruppen ist überholt und führt bisweilen zur Unterforderung und Einschränkung von Menschen, die sich mehr und mehr dagegen wehren (können). Zuhören, Begleiten und Methoden des künstlerischen Spielens, der Subversion gegen – kommerzielle und ideelle – Vereinnahmungen spielen eine größere Rolle – nicht allein auf individueller, sondern deutlich auch auf gesellschaftlicher Ebene. Dies braucht viel Zeit und Aufmerksamkeit sowie personell gemischte Teams aus unterschiedlichen sozialen, medialen, politischen und künstlerischen Kontexten. Lineare, zeitliche und programmatische Planungen müssen mit non-linearen Bewegungen und Veränderungen kombiniert werden. Wenn sie überhaupt noch als getrennte Version von Kultur oder Kunst zu betrachten ist, dann ist Kulturelle Bildung im weitesten Sinne ein Innovationsmotor für die Weiterentwicklung von Kulturtechniken zur Gestaltung unserer Gesellschaft.