Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung
Begriffsbestimmung
Unter zeitgenössischen informellen Literaturformen werden im Folgenden Formate, Veranstaltungen und Konzepte verstanden, die im deutschsprachigen Raum literarische Vermittlungsarbeit außerhalb offizieller Institutionen (also staatlicher oder privater Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Literaturhäuser oder -büros) betreiben, also beispielsweise in Bars, Clubs, Kneipen oder Cafés stattfinden.
Zu den bekanntesten Formen informeller Literaturvermittlung zählen sogenannte Lesebühnen, deren Entstehung im Berlin der Wendezeit zu verorten ist (beispielsweise die „höhnende Wochenschau“, die von 1989 bis 1991 stattfand und sich als ‚lebendes Feuilleton‘ verstand): Lesebühnen definieren sich über ein festes Autorenensemble, häufig durch Gäste ergänzt, sowie turnusmäßige Auftritte in der immer gleichen Lokalität, bei der jeweils für den Vortrag verfasste, oft autobiografisch gefärbte, unterhaltsame Texte vorgetragen werden. Der betont antiprofessionelle Bohème- und Performancecharakter und die polemische Abgrenzung gegenüber einem als elitär empfundenen Kulturbetrieb spricht vor allem ein junges (Stamm-)Publikum an. Zurzeit existieren im deutschsprachigen Raum etwa 40 regelmäßig stattfindende Lesebühnen.
Weitere Formen informeller Gegenwarts-Literatur umfassen darüber hinaus vielfältige Versuche, literarische Texte in andere Medien zu übertragen oder über neuartige Mechanismen zu transportieren. Dies muss sich nicht nur in den vielfältigen Erscheinungsformen digitaler Literatur niederschlagen, sondern kann sich auch ganz konkret im öffentlichen Raum materialisieren; in Form der ‚Textbox‘ beispielsweise, einer Erfindung des Performance-Poeten Bas Böttcher, die an eine gläserne Sprecherkabine erinnert. Während im Inneren ein Autor seinen Text stimmlich gestaltet, versammelt sich das Publikum rund um den Kubus, um dem Vortrag per Kopfhörer zu lauschen.
Weitere Veranstaltungs- und Mediationsformen, die an der Grenze zwischen subliterarischem und offiziellem Kulturdiskurs anzusiedeln sind, sind beispielsweise die extemporierte Straßenpoesie des Autors Fabian Neidhardt; die experimentelle Hallenser Veranstaltungsreihe „Wörterspeise“, bei der DichterInnen nach ihrem Vortrag beispielsweise Cocktails kreieren müssen; die Literaturshow „Turboprop“ von Claudius Nießen und Christoph Graebel, bei der unter anderem Live-Lektorate stattfinden; oder das Format „Live.Poetry“, bei dem zwei AutorInnen auf Basis derselben Stichwörter zeitgleich Texte erstellen, die per Beamer an die Wand geworfen und im Anschluss vorgelesen werden. Auch junge Literaturfestivals wie „Prosanova“ experimentieren beispielsweise mit Dunkellesungen, Live-Hörspielen oder Lesungs-Installationen (vgl. Ortheil 2005).
Allen genannten Formaten ist gemein, dass sie sich in Abgrenzung zur klassischen Autorenlesung positionieren und zu diesem Zweck experimentelle Verfahren, neue Medien und/oder partizipative Elemente einsetzen. Informelle Literatur besonders mit den Merkmalen des Events belegen zu wollen, erschiene allerdings insofern einseitig, als sich auch der etablierte Literaturmarkt derselben Mittel (beispielsweise Erlebnisorientierung, Interaktivität und Inszenierung) bedient.
Poetry Slam als paradigmatische Mediationsform
Im Folgenden soll besonders auf sogenannte Poetry Slams (der Duden schlägt seit 2004 die Schreibungen ‚Poetry-Slam‘ bzw. ‚Poetryslam‘ vor, die allerdings kaum verwendet werden) sowie verschiedene Derivate desselben Formats eingegangen werden, die bis zu 4.000 ZuschauerInnen pro Veranstaltung (so beim Finale der deutschsprachigen Meisterschaften 2011 in Hamburg) erreichen und im öffentlichen Bewusstsein, zumindest der jüngeren Bevölkerung, angekommen sind. Sie verkörpern die informelle Vermittlung von zeitgenössischer Literatur nicht nur aufgrund ihrer breiten Resonanz, sondern auch der Vielfalt der episodenhaft dargebotenen Textformen und der erfolgreichen Kombination von literarischen mit theatralischen sowie von rezeptiven mit partizipativen Elementen.
Bei Poetry Slams handelt es sich um abendfüllende literarische Vortragswettbewerbe, die in der Regel jedem Vortragenden offenstehen. Die BühnenpoetInnen, die ‚SlammerInnen‘ genannt werden, tragen, häufig auswendig, selbstverfasste Lyrik oder kürzere Prosa vor, deren Wirkung in vielen Fällen durch performativ-theatrale Elemente (Stimmmodulation, Gestik und Mimik, Publikumsinteraktion) unterstützt wird. Der Einsatz von Requisiten ist untersagt, auch müssen die Vortragenden einen vorgegebenen Zeitrahmen (ca. 58 Min.) einhalten. Poetry Slams finden häufig in regelmäßigen Rhythmen in einer festen Lokalität statt und werden von einem oder mehreren Conférenciers (sogenannten ‚Slammasters‘) moderiert, die innerhalb der Autorenszene als MultiplikatorInnen dienen, indem sie nicht nur Veranstaltungen organisieren, sondern sich auch um Reisekosten, Gagen und Öffentlichkeitsarbeit bemühen. Die Zusammensetzung des Publikums kann je nach Veranstaltungsort spürbar variieren und reicht vom klassischen Theaterpublikum bis zu studentischen und/oder politisch motivierten Auditorien. Eine entscheidende Rolle kommt dem Publikum zu, entscheidet es doch mittels einer repräsentativen Jury oder in seiner Gesamtheit über den Sieger des Abends. Aufgrund dieses partizipativen Grundgedankens im Sinn einer emphatischen ‚Demokratisierung des Literaturbetriebs‘ und der vergleichsweise niedrigen Einstiegsschwelle werden Poetry Slams seit einigen Jahren auch von öffentlichen wie privaten Bildungsträgern wahrgenommen und geschätzt.
Geschichte und kulturtheoretische Einordnung
Obwohl versucht wurde, Poetry Slam an die abendländische Tradition des Dichterwettstreits (beispielsweise der mittelalterlichen Meistersänger) oder des dadaistischen Tingeltangels des frühen 20. Jh.s anzuknüpfen, konnten bewusste Rückgriffe dieser Art nie nachgewiesen werden: Der erste Poetry Slam unter diesem Namen wurde vielmehr 1986 in Chicago von Marc Kelly Smith durchgeführt und war zugleich als gegenkulturelles Spektakel wie als parodistische Aneignung des etablierten Literaturbetriebs intendiert. Schnell verbreitete sich die Slam-Bewegung weltweit, der erste Poetry Slam in Deutschland ist zwischen 1993 und 1994 anzusiedeln (vgl. Preckwitz 2005:41). Nachdem Poetry Slam in den 1990er Jahren die kurzlebige subliterarische „SocialBeat“-Szene inkorporiert hatte und noch einen bewusst anarchischen, spürbar politisierten Charme pflegte, begann zu Beginn des 21. Jh.s mit größeren Medienberichten und zahlreichen Buchpublikationen die inkrementelle Vergesellschaftung des Formats. Kulturelle Wandel und Austauschprozesse führten dazu, dass Protagonisten und Formate in die (Verwertungs-)Kontexte offizieller Kulturvermittlung eingespeist wurden; ein Prozess, der von den Betroffenen teilweise begrüßt, teilweise (in der Sorge vor Even tisierung und Merkantilisierung) vehement abgelehnt wurde. Insgesamt kam es zu einer Professionalisierung, Öffnung und Weiterentwicklung des Formats, das KünstlerInnen nun erlaubte, von ihrer Arbeit zu leben: Slam-PoetInnen sind inzwischen auf Buchmessen präsent (so mit der erwähnten ‚Textbox‘), sind Bestandteil von Literaturfestivals geworden oder werden vom Goethe-Institut zu Auftritten und Gesprächen ins Ausland eingeladen. Auch das Selbstverständnis vieler KünstlerInnen wandelt sich zu MedienunternehmerInnen in eigener Sache (vgl. Porombka 2001), die sich nicht mehr in erster Linie als kritische Gegenöffentlichkeit, sondern als Verantwortliche eines persönlichen Markenmanagements verstehen. Die auf diesem Weg entstandene erweiterte Öffentlichkeit zog schnell auch das Interesse von Forschung und Didaktik auf sich, was die Entstehung einer Nachwuchsszene mit eigenen Veranstaltungen (‚U20-Slams‘) und einer regen Workshop-Kultur beförderte. Obwohl innerhalb der diversifizierten Poetry-Slam-Kultur eine strenge Trennung zwischen offizieller und informeller Literaturvermittlung heute nicht mehr sinnvoll erscheint, bleibt der beschriebene Diskurs rund um (gegen-)kulturelle Legitimation weiterhin virulent. Damit eng verwandt ist ein stärker ästhetisch ausgerichteter Literarizitätsdiskurs, der Konsequenzen auch für das gattungstheoretische Verständnis von Slam Poetry als medial mündlicher Kunstform hat: Da die Beiträge auf Slam-Bühnen die ganze Bandbreite zwischen „Spoken Word“, Lautgedicht, Rap, aber auch Kabarett oder Comedy-Beiträgen abdecken, und das Buch als Textträger zugunsten von Audio-CDs oder DVDs in der Regel zurückgestellt wird, steht eine endgültige kulturwissenschaftliche Zuordnung der Veranstaltungsform zum Begriffsfeld ‚Literatur‘ immer noch aus; obwohl die Zugehörigkeit von Poetry Slam zumindest zur ‚literarischen Kultur‘ mit guten Argumenten (so auch an dieser Stelle) nahegelegt werden kann. Aus den genannten Gründen erweisen sich allerdings philologische Untersuchungen zu wiederkehrenden oder gleichbleibenden Textgattungen, Themen oder Stilmitteln einer präsumtiv generischen „Bühnendichtung“ in der Regel als kaum durchführbar. Einen aktuellen, vor allem deskriptiven Überblick über die zeitgenössische Poetry-Slam-Szene mit ihren ca. 1.500 Protagonisten liefert Westermayr (2010), die auch zahlreiche Beispiele für intertextuelle Umsetzungen von Poetry-Slam-Texten in verschiedenen Medien (z.B. in Form sogenannter ‚Poetry Clips‘) aufführt.
Bedeutung für die Kulturelle Bildung
Die lebensnahe Aktualität vieler Texte, die persönliche Präsenz und Erreichbarkeit der DarstellerInnen (die in der Regel zwischen 18 und 35 Jahren alt sind), die nach wie vor vorhandene, im konstruktiven wie im negativen Sinn kulturkritische Aura des Veranstaltungsformats und die häufige Verortung in jugendnahen Kulturräumen sorgen dafür, dass Poetry Slam inzwischen auch als Instrument der Kulturförderung verwendet wird, um vor allem jungen Erwachsenen literarische Handlungskompetenz und „Teilhabe am kulturellen Handlungsfeld Literatur“ (Abraham/Kepser 2005:15) zu ermöglichen (siehe Doris Breitmoser „(Kinder- und Jugend)-Literatur und Kulturelle Bildung“). Vermittlungsangebote wie Schul-Workshops oder Poetry-Slam-Veranstaltungen in Jugendhäusern überbrücken gewinnbringend die Grenze zwischen offizieller und informeller Kulturvermittlung und können auf diese Weise zur literarischen Sozialisation junger Erwachsener beitragen, indem sie diese beispielsweise zum Verfassen und performativ gestützten Vortragen eigener Texte anregen. Besonders in den deutschdidaktischen Arbeiten von Petra Anders (2004, 2008, 2010, 2011) findet sich der Einsatz von Poetry Slam im Schulunterricht eingehend durchgearbeitet; vergleichbare Darstellung existieren aber auch von Protagonisten der Slam-Poetry-Kultur selbst (beispielsweise Schütz 2011 und 2012, Willrich 2010).
Performance-Dichtung wird aber nicht nur zur Literaturförderung im Jugendbereich, sondern auch erfolgreich in der Seniorenbildung eingesetzt: So existiert in Deutschland seit 2009 das Projekt „Weckwort“ für Menschen mit Demenz, bei dem durch klassische Verse ein emotionaler Zugang zu alzheimer- und demenzkranken Menschen geschaffen wird. In einstündigen Veranstaltungen rezitiert ein erfahrener Bühnendichter bekannte Gedichte besonders lebendig und mithilfe sinnlich erfahrbarer Hilfsmittel: Auf diese Weise können Verstehens- und Erinnerungsprozesse der SeniorInnen angestoßen werden, die das Gehörte mit ihrer eigenen Biografie verknüpfen.