Wessen Wissen zählt? Ausstellungen als Orte von Wissenstransfer und Praktiken des Verlernens
Abstract
Ausstellungen sind Orte von Wissenstransfer. Durch verschiedene Praktiken und Medien des Transfers – Exponate, Ausstellungsgestaltung, Texte, Videos, aber auch auditive, performative oder partizipative Elemente und Formate Kultureller Bildung – wird ausgewähltes Wissen an ein Publikum vermittelt. Doch wessen Wissen findet sich in Ausstellungen? Welches Wissen wird hier erzählt – und welches nicht oder auf welches wird nicht verwiesen? In diesem Beitrag sollen die Ausstellungen „Berge Versetzen“ am GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig und „Leerstellen.Ausstellen. Objekte aus Tansania und das koloniale Archiv“ im Humboldt Forum in Berlin im Hinblick auf ihren Umgang mit Wissen und Wissenstransfer betrachtet werden. Dafür wird auf den Begriff des Verlernens aus post- und dekolonialer Theorie zurückgegriffen und für eine Verschiebung von Verlernen als diskursiver Praxis hin zu Verlernen als ästhetischer Praxis votiert. Aus den beiden genannten Ausstellungsbeispielen werden Möglichkeiten von Praktiken des Verlernens und eine kritische Annäherung an Wissensparadigmen in Museen abgeleitet.
Museen sind Institutionen mit einem Bildungsauftrag, der sich auch in der machtkritischen Gestaltung von Ausstellungen und Vermittlung spiegelt. In der musealen Arbeit treten dabei die Bereiche Wissen, Ästhetik und Bildung miteinander in Verbindung. An der Schnittfläche dieser Bereiche können Praktiken des Verlernens ein Instrument sein, um bestehende Repräsentationsweisen, Ausstellungs- und Vermittlungspraxis und Institutionsstrukturen zu hinterfragen und neue, machtkritische Praktiken zu entwickeln. Eine machtkritische Bildungsarbeit, die im Ausstellungsraum und darüber hinaus stattfinden kann, betrachtet dabei Wissen, Ästhetik und Bildung im Zusammenhang: sie verbindet Fragen nach dem was (Welches Wissen wird vermittelt?), Fragen nach dem wie (Auf welche Art und Weise wird dieses vermittelt? Welche Ästhetiken werden verwendet?) und einen kritischen Blick auf den eigenen Bildungsauftrag. Dieser Beitrag legt einen Schwerpunkt auf Vermittlung im Ausstellungsraum und stellt Fragen nach Wissen und Wissenstransfer in Ausstellungen in das Zentrum der Betrachtung. Ausstellungen finden ästhetische Formen, in denen sich Wissen manifestiert und vermittelt. Wissen erfährt in Ausstellungen daher eine besondere Relevanz: es wird für Besucher*innen sichtbar und greifbar, es nimmt durch verschiedene Formen ästhetischer Praxis Gestalt an und ist als Repräsentation erfahrbar. Ausstellungen finden damit auch immer in einem Kontext von Bildung und Vermittlung statt und müssen sich fragen: Welches Wissen soll wie vermittelt werden? Welchen Bildungsauftrag gibt sich eine Ausstellung?
Wissen und Macht on Display
Michel Foucault beschreibt, dass gesellschaftliche Macht erheblich durch Wissenssysteme realisiert wird. Er spricht sich gegen die Annahme aus, Wissen stünde außerhalb von Machtverhältnissen und schreibt:
„Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ (Foucault 1977:39)
Wissen und Macht sind ineinander verwoben, Wissen ist durch Machtmechanismen gelenkt und Macht konstituiert Wissen. „Subjekt“, „Objekt“ und „Erkenntnisweisen“ sind „Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformation“ (ebd.).
Damit sind die Fragen nach Wissen und Wissenstransfer auch Fragen nach Macht und Machtverhältnissen. „Wessen Wissen zählt?“ ist die Frage nach Wissen und Macht, nach Vorstellungen und Wertungen von Wissen und Wissenssystemen.
Die westliche Auffassung von Wissen beruhte lange auf einer Vorstellung von Neutralität und einem universalen Wahrheitsanspruch. Geprägt ist diese Vorstellung von einer Tradition von Wissenschaft als vermeintlich objektive Untersuchung, deren Ergebnisse einen universalen Geltungsanspruch haben und gegenüber ,anderem‘/ geandertem Wissen und als einzige Wahrheit deklariert werden. Das Erbe dieser Vorstellung ist nach wie vor präsent und vielerorts sichtbar, z.B. in Museen, die Geschichte aus einer bestimmten – europäischen und oft eurozentristischen – Perspektive vermitteln, ohne diesen Standpunkt als solchen zu markieren. Diesem Denken sind längst Ansätze von Subjektivität entgegengetreten. Beispielhaft sind wie zuvor beschrieben Michel Foucault oder Donna Haraway, die in ihrer wegweisenden Publikation „Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen“ den Begriff des „Situierten Wissens“ prägt (Haraway 1995:73). Wissen ist nie neutral, es ist nie unbeeinflusst, „Wissen vom Standpunkt des Unmarkierten ist wahrhaft phantastisch, verzerrt, und deshalb irrational“ (ebd.:87). Aus feministischer Perspektive analysiert Haraway die „soziale Konstruiertheit aller Arten von Erkenntnisansprüchen“ (ebd.:74) und statuiert: „Jedes Wissen ist ein verdichteter Knoten in einem agonistischen Machtfeld“ (ebd.:75). Wissen und Wissensproduktion sind immer situiert, es ist nie eine einzelne Wahrheit, sondern stets ein von Macht durchdrungener „Knoten“. Ein wichtiger Ansatz machtkritischer Bildungsarbeit ist es daher zu verdeutlichen, dass Wissen nie universal, sondern immer situiert ist. Für Museen und Ausstellungen heißt das, Wissen, Ästhetik und Bildung zusammenzudenken und in der eigenen Praxis nicht nur Wert darauf zu legen, welches Wissen vermittelt wird, sondern wie dieses zur Geltung kommt – welche Ästhetiken werden verwendet? Aus welcher Perspektive wird das „fabrizierte“ Wissen gezeigt? Ist diese Perspektive markiert?
Machtkritische Bildungsarbeit und Reflektion über sie kann sich auch in der Arbeit mit Sprache zeigen. In diesem Artikel sind daher als Form der machtkritischen Hervorhebung Begriffe wie ‚Sammlung‘, ‚Objekt‘ oder auch ‚Andere‘ mit einfachen Anführungszeichen markiert, um eine kritische Distanz zu ihnen einzunehmen. Weiß ist kursiv geschrieben, um es als privilegierte Position zu markieren und auf die Zuschreibung von Schwarz und weiß als soziale Konstruktionen hinzuweisen.
Museen als Orte von Macht
Auch Museen sind Orte von Macht. Sie zeigen Kunstwerke und cultural belongings, sie repräsentieren Menschen und Leben, sie vermitteln Wissen und Erfahrungen, sie erzählen und produzieren Geschichte und Geschichten. Haraway schreibt etwas polemisch über Geschichte:
„Geschichte ist eine Erzählung, die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen, Wissenschaft ist ein anfechtbarer Text und ein Machtfeld, der Inhalt ist die Form. Basta.“ (ebd.)
Museen, als Orte von Geschichte, Wissen und Wissenschaft sind Teil ebendieser Erzählung von Geschichte, auch sie sind ein „anfechtbarer Text“ und ein „Machtfeld“. Europäische Museen sind eng verstrickt mit kolonialer Geschichte und kolonialen Kontinuitäten. Eine daraus resultierende besondere Verantwortung zum Umgang mit kolonialer Geschichte und Gegenwart tragen insbesondere ethnologische Museen durch ihre in der Kolonialzeit – zum großen Teil durch gewaltvolle Aneignung – gewachsenen ‚Sammlungen‘. Sie sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, einen neuen Umgang mit ihren ‚Sammlungen‘ und Ausstellungen entwickeln zu müssen, ihre Rolle als Mittler*innen von materiellem und immateriellem Erbe und damit als (Re)produzent*innen von Geschichtsschreibung zu reflektieren. Dabei geht es darum, gewachsene rassistische Strukturen nicht zu reproduzieren, sondern sie zu verändern, um eine gerechtere, multiperspektivische Geschichtsschreibung zuzulassen. Die Frage nach Wissen und Wissenstransfer ist der Frage nach Geschichte und Geschichtenvermittlung inhärent. Wessen Wissen findet Platz in musealen Räumen, wessen Geschichten werden aus welchen Perspektiven erzählt – und auf welche Art und Weise?
Instrumente für eine machtkritische Reflektion der Fragen nach Wissen, Geschichtsschreibung und deren Vermittlung in ethnologischen Museen bieten u.a. postkoloniale und dekoloniale Theorie, die aus je unterschiedlicher Tradition heraus die koloniale Erfahrung zum Ausgangspunkt von Theoriebildung machen. Diese theoretische Verortung hat deshalb besondere Relevanz, weil ethnologische Museen Ergebnis von Kolonialismus, von der Aneignung von ‚Objekten‘ in asymmetrischen Machtverhältnissen, mitunter durch Raub, Krieg und Völkermord, sind.
Post- und dekoloniale Theorien ergänzen neben den bisher beschriebenen Ansätzen eines machtkritischen Blicks auf Wissen unter dem Brennglas von Subjektivität und Situiertheit die konkrete koloniale Erfahrung und den Anspruch eine primär aus europäischer Perspektive verfasste Geschichtsschreibung zu dezentrieren. Sowohl in postkolonialer Theorie (insbesondere durch Gayatri Chakravorty Spivak) als auch in dekolonialer Theorie (insbesondere durch Walter D. Mignolo) wird mit einem kritischen Blick auf Wissensproduktion der Begriff des Verlernens geprägt. Im Folgenden soll Verlernen als Ansatz machtkritischer Bildungsarbeit an Museen, spezifisch als Instrument machtkritischer Reflektion von Wissensgenerierung und Wissenstransfer eingeführt werden. Ich werde dabei weniger auf die grundlegenden Ansätze und Differenzen von post- und dekolonialer Theorie eingehen (dazu siehe Boatcă 2015 und Castro Varela/Dhawan 2015), als mich vielmehr konkret dem Begriff des Verlernens als möglichem Ansatz machtkritischer Bildungsarbeit widmen.
Verlernen als Instrument machtkritischer Reflektion
Gayatri Chakravorty Spivak begreift Verlernen in Zusammenhang mit der Reflektion von Privilegien. Sie beschreibt Verlernen als „unlearning one’s privilege as one’s loss” (Spivak 1990:9,42,56f., 1996:4f., 1999:118). Donna Landry und Gerald MacLean führen im Vorwort des Spivak Readers aus:
“Our privileges, whatever they may be in terms of race, class, nationality, gender, and the like, may have prevented us from gaining a certain kind of other knowledge: not simply information that we have not yet received, but the knowledge that we are not equipped to understand by reason of our social positions.“ (Spivak 1996:4)
Dabei geht es Spivak nicht nur darum, dass bestimmte Privilegien bestimmte Zugänge schaffen. Sie betont, dass Privilegien auch unseren Blick prägen und Zugänge verwehren. Privilegien, z.B. im Zusammenhang mit Vorstellungen von ‚Rasse‘ und Hautfarbe und mit Bevor- und Benachteiligungen in Bezug auf Klasse, Nationalität, Geschlecht, prägen unser Wissen. Privilegien verhindern das Erlangen von „a certain kind of knowledge“, einer bestimmten Art von Wissen. Es gibt nicht ‚die Einen‘, die Wissen haben und ‚die Anderen‘ die unwissend sind und belehrt werden müssen – diese Vorstellung bezeichnet Spivak als koloniales Wohlwollen („all benevolence is colonial“, Shaikh/Spivak 2008:183). Vielmehr gibt es unterschiedliches Wissen und aufgrund von sozialer Position sind ‚wir‘ (westliche Akademiker*innen) nicht in der Lage jedes Wissen zu verstehen. Neben der Erweiterung des eigenen Wissens ist dem „unlearning project“ bei Spivak deshalb inhärent, einen Weg des Sprechens zu finden, der es ermöglicht, von nicht in der gleichen Form privilegierten Menschen ernst genommen zu werden (vgl. Spivak 1990:42,56, 2008:75). In späteren Ausführungen ersetzt oder ergänzt Spivak in kritischer Auseinandersetzung mit ihren eigenen Texten „unlearning one’s privilege as one’s loss” mit „learning to learn from below“ (Shaikh/Spivak 2008:182). Von unten zu lernen bezieht sich dabei auf ebendiese Sprechfähigkeit, die es herzustellen gilt.
Walter D. Mignolo schildert in seinem Aufsatz „Dekoloniale Ästhetik“ den Besuch der Ausstellung „Black Mirror/ Espejo Negro“ im Nasher Museum an der Duke University in Durham, USA im Jahr 2008. Er erlebt die Ausstellung durch das Wissen, das ihm zugänglich ist: vornehmlich westliche Raumverständnisse, weniger z.B. solche der Azteken und Maya (vgl. Mignolo 2010:135). Ähnlich wie Spivak beschreibt er, dass ihm aufgrund von historischer und gegenwärtiger epistemischer Gewalt gegenüber ‚anderem‘ Wissen manches Wissen zugänglich ist und anderes nicht. Er schlussfolgert den notwendigen Prozess eines „learning to unlearn in order to relearn“ (Mignolo/Tlostanova 2012:3,12,16) als Entgegenarbeiten gegen vorherrschende (westliche, imperial geprägte) Epistemologien und Wahrnehmen, Anerkennen und Zulassen von ‚anderem‘ Wissen als Ansatz eines dekolonialen Verlernens. Dafür prägt er den Begriff der „pluriversality“, der weniger eine Konkurrenz von Wissen meint, als vielmehr das Aufzeigen verschiedener Optionen – vor allem der „dekolonialen Option“ (vgl. ebd.:12). Die dekoloniale Option betreibt durch „delinking“ und „[s]hifting the geography of reasoning” (ebd.:11) eine Verschiebung der Vorstellung, manche Räume oder Minoritäten würden ‚Objekte‘ sein, die von forschenden Subjekten studiert werden könnten hin zu einer Forschung und Theoriebildung, die von ebendiesen Minorisierten ausgeht. Verlernen beschreibt Mignolo als „[to] break free from the thinking programs imposed on us by education, culture, and social environment, always marked by the Western imperial reason.” (ebd.:7). Das Ausbrechen aus dem durch die westliche imperiale Vernunft geprägte Denkprogramm soll zu einer Dezentrierung von Epistemologien des globalen Nordens zugunsten von Epistemologien des globalen Südens führen.
Spivak und Mignolo haben dabei gewissermaßen einen ähnlichen Ausgangspunkt, wenn sie ihn auch unterschiedlich ausbuchstabieren. Spivak denkt Verlernen im Zusammenhang mit dem Hinterfragen der eigenen Privilegien und dem Anerkennen, dass diese Privilegien auch eine Einschränkung bedeuten: nicht jedes Wissen ist allen zugänglich, westliche Akademiker*innen müssen lernen, das anzuerkennen und sich gleichzeitig verständlich zu machen. Mignolo sieht ebenfalls diese Notwendigkeit und betont eine Pluriversalität von Wissen (vgl. Mignolo 2012:55). Ausgangspunkt für ein Verlernen bei ihm ist eine Befreiung von imperial geprägten Wissenssystemen und eine epistemologische Verschiebung hin zu Epistemologien des Südens.
Im deutschsprachigen Raum wurde Verlernen bisher viel in Anschluss an Gayatri Chakravorty Spivak theoretisiert. Vor allem im Bereich der Pädagogik und Bildung (vgl. u.a. Castro Varela 2007; Castro Varela/Heinemann 2016), im Bereich der Kunstvermittlung (vgl. u.a. Sternfeld 2014) und in Bezug auf Vermittlung an ethnologischen Museen (vgl. u.a. Landkammer 2021). Verlernen wird hier weitestgehend als diskursive Praxis der Reflektion begriffen: das Reflektieren von Privilegien, das Verstehen von Wissensgeschichte als eurozentristisch geprägt, das Brechen mit einer Reproduktion dieser und das Zulassen anderer Positionen. Darüber hinaus ist eine Aneignung des Begriffs durch Museen zu beobachten. Im Spannungsfeld zwischen selbstkritischer Reflektion von Museen und der Verschlagwortung von post- und dekolonialen Theorien zum Zwecke der Selbstdarstellung ist Verlernen im Museums-Mainstream angekommen und schmückt Ausstellungstexte, Podiumsdiskussionen, Tagungstitel.
Werden hier aber wirklich Konzepte von musealem Wissen hinterfragt und verändert oder lediglich museumskritische Positionen vereinnahmt, um sie zu entkräften? Ich stelle die Frage nach der Internalisierung von Kritik und plädiere für eine Verschiebung von Verlernen als diskursives und reflexives Moment zu Verlernen als ästhetischer Praxis für die Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit an ethnologischen Museen. Als Übersetzung in ästhetische Praktiken kann Verlernen ein Potenzial entfalten, das Wissensproduktion nicht nur kritisch reflektiert, sondern Wissenstransfer verändert. Verlernen als ästhetische Praxis kann auf eine Rahmensetzung reagieren, diese aber auch transformieren (vgl. Elberfeld/Krankenhagen 2017:16) und gewinnt damit einen gestalterischen Spielraum. Im Anschluss an Rolf Elberfeld und Stefan Krankenhagen formuliert kann Verlernen damit als Handeln „die Bahnen des Gewohnten verlassen […] oder das Gewohnte in seinen Spielräumen überprüf[en]“ (ebd.:15). Das Zurückstellen einer Ergebnisorientierung zugunsten einer Konzentration auf Handlungsweisen im Vollzug und eine Offenheit für Unvorhergesehenes ermöglicht ein Transformationspotenzial: Während Verlernen als diskursive Praxis Momente der Reflektion schafft, kann Verlernen als ästhetische Praxis darüber hinaus gestaltend wirken und – bewusst oder unbewusst, intendiert oder nicht-intendiert – Veränderungen in Prozesse einschreiben.
An dieser Stelle sollen zwei Versuche, zwei Ausstellungen in je kleinem Ausschnitt skizziert werden, die machtkritische Formen ästhetischer Praxis entwickeln, indem sie museale Wissensordnungen durchbrechen und versuchen zu verlernen.
Ästhetische Praktiken des Verlernens: zwei Beispiele
Die Ausstellung „Leerstellen.Ausstellen. Objekte aus Tansania und das koloniale Archiv“ im Humboldt Forum in Berlin ist kuratiert von Kolleg*innen des Ethnologischen Museums (Paola Ivanov, Ulrike Kirsch) und des Zentralarchivs (Kristin Weber-Sinn) der Staatlichen Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Maike Schimanowski, Jocelyne Stahl) in Zusammen-arbeit mit den zwei Critical Companions der Ausstellung Josephine Apraku aus Berlin und Vicensia Shule aus Dar es Salaam. Rund 10.000 ‚Objekte‘ aus dem heutigen Tansania befinden sich in der ‚Sammlung‘ des Ethnologischen Museums, die Ausstellung „Leerstellen.Ausstellen“ widmet sich einigen dieser. Sie arbeitet ausgehend von dem Motto „No Consent – No Object?“, das heißt, sofern kein Einverständnis der Nachfahr*innen, Urheber*innen, Nutzer*innen, Verwahrer*innen oder Besitzer*innen der cultural belongings vorliegt – wenn es also keinen „Consent“ gibt –, werden keine cultural belongings ausgestellt. Demzufolge sind in der Ausstellung so gut wie keine originalen ‚Objekte‘ zu sehen. Die vier für die Ausstellung zentralen ‚Objekte‘ werden von Stellvertreter*innen repräsentiert, z.B. als abstrahierte Reproduktionen oder künstlerische Umsetzungen, um ihre Geschichten zu vermitteln. Dabei problematisiert die Ausstellung koloniale Archive, auf deren fraglicher Basis die Geschichten der cultural belongings in ethnologischen Ausstellungen gewöhnlich rekonstruiert werden. Die ‚Objekte‘, Fotografien und nachgehaltenen Informationen in ethnologischen ‚Sammlungen‘ und so auch die des Ethnologischen Museums in Berlin stammen zum Großteil aus der Kolonialzeit und sind von kolonialen Machtinteressen und rassistischen Vorstellungen geprägt. Das gesamte Archiv ist damit, mit Haraway gesprochen, kolonial situiert – oder auch kontaminiert. Wie können wir erstens dieses rassistische Wissen verlernen und zweitens einen Wissenstransfer entwickeln, der nicht rassistisches Wissen reproduziert, sondern es reflektiert und rassismuskritisch zugänglich macht? Die Ausstellung versucht eine Durchleuchtung von kolonialen Archiven, eine Dekonstruktion der selektiv-kolonialen Perspektive, aus der die Archivalien der ‚Sammlung‘ zusammengetragen wurden. Ein Weg des Sichtbarmachens der Kolonialität der Archive in der Ausstellung ist das Hinweisen auf Leerstellen. Leerstellen sind dabei in doppelter Hinsicht relevant: Einerseits als Lücken und Auslassungen im kolonialen Archiv, die aus einem rassistischen Sammlungsinteresse, nur selektiv nachgehaltenen Informationen und dem teilweisen Verlust von Sammlungsinhalten im Zweiten Weltkrieg resultieren. Andererseits als eine weiße europäische Perspektive, die sich durch die mehrheitlich weiß positionierte Belegschaft an Museen heute nach wie vor auf allen Ebenen der Ausstellungsarbeit spiegelt.
Nun ist es Spivaks Überlegungen fortführend ein Ansatz des Verlernens, sich der eigenen Perspektive bewusst zu sein, sie nicht unmarkiert zu lassen und die eigenen Privilegien nicht nur als Gewinn, sondern auch als Einschränkung zu begreifen (vgl. Spivak 1996:4f.). Die pink markierten Flächen in der Ausstellung stehen symbolisch für Leerstellen. Leerstellen der kolonialen Archive, Leerstellen der Perspektiven der Kurator*innen und Vermittler*innen und wenn Besucher*innen sich der Idee annehmen, so womöglich auch für ihre Leerstellen. Verlernt wird hier durch diskursive Praktiken (das Benennen von Perspektiven, z.B. „weiß positioniertes kuratorisches Team“ in den Ausstellungstexten) und durch ästhetische Praktiken (das Kennzeichnen leerer pinker Flächen) gewissermaßen unmarkiertes Wissen. Die zunächst einfach scheinende Platzierung pinker Flächen in der Ausstellung zieht sich dabei symbolträchtig durch den Raum. Den hinsichtlich verschiedener Kriterien privilegierten Personen, denen dieser Raum zugänglich ist, ist in dieser Ausstellung nicht nur Wissen zugänglich, sondern sie sind auch mit der eigenen Situiertheit und möglichen Leerstellen ihrer eigenen Wahrnehmung konfrontiert. Durch die ästhetische Arbeit mit grell pinken Flächen als markierte Leerstellen von Archiven und Wissen wird ein Verlernprozess in Gang gesetzt, der über eine reflexive Ebene hinausgehend („Ich muss oder ich möchte meine Privilegien verlernen“) eine ästhetische Dimension ergänzt. Es ist keine direkte Aufforderung etwas Bestimmtes zu verlernen, sondern vielmehr eine durch ästhetische Mittel evozierte Begegnung mit dem kolonialen Archiv und mit sich selbst, die (mit Mignolo gesprochen) eine epistemische Verschiebung ermöglicht: hier, in einem ersten Schritt eine Verschiebung hin zur Wahrnehmung von Leerstellen, bevor ggf. die von Mignolo intendierte Verschiebung hin zu Epistemologien des Südens stattfinden könnte. Ob dies erfolgen wird, bleibt offen – als erste Andeutungen ließen sich z.B. das Aufzeigen alternativer Archive wie oral history und Erinnerungsorte in der Ausstellung deuten.
In der Ausstellung „Berge Versetzen“ am GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig gibt es auch eine Leerstelle: das in der Ausstellung thematisierte Objekt, die Bergspitze des Kilimandscharo, ist nicht im Original vorhanden. Es geht in der Ausstellung einerseits um die Leere, die koloniale Ausbeutung dort verursacht, wo sie stattfindet, und andererseits um die Fülle von ethnologischen ‚Sammlungen‘ und das Hinterfragen dieser Besitzverhältnisse. „Berge versetzen“ ist eine Zusammenarbeit des in Berlin, Hamburg und Frankfurt ansässigen Künstler*innenkollektivs PARA und den beiden tansanischen Künstler*innen Rehema Chachage und Valerie Asiimwe Amani und wird im Rahmen der Überarbeitung der Dauerausstellung des Museums „REINVENTING GRASSI.SKD“ gezeigt. Die beteiligten Künstler*innen setzen sich mit der Kolonialgeschichte des Kilimandscharo im heutigen Tansania auseinander, dessen Bergspitze vom Kolonialgeograph Hans Meyer im Zuge seiner ‚Expedition‘ auf den Kilimandscharo 1889 nach Deutschland gebracht wurde. Hans Meyer (der selbstverständlich nicht alleine und auch nicht der erste auf dem Kilimandscharo war) benannte bei seiner ‚Exkursion‘ den höchsten Punkt des Bergmassivs „Kaiser-Wilhelm-Spitze“ und entfernte den Gipfelstein. Neben zahlreichen ‚Objekten‘ gelang so auch die Spitze des Kilimandscharo in deutsche Museumssammlungen. Er teilte die Spitze und schenkte einen Teil Kaiser Wilhelm II., die zweite Hälfte verblieb in seinem Privatbesitz. Erstere Hälfte gilt heute als verschollen (sie war im Neuen Palais in Potsdam), zweitere wurde von Meyers Nachfahr*innen an einen österreichischen Antiquar verkauft. In der Ausstellung werden u.a. Reproduktionen der Spitze hergestellt, die Besucher*innen erwerben können. Mit dem Erlös soll ein Rückkauf der Spitze finanziert und damit eine „partizipative Restitution“ (PARA/Chachage/Amani 2022) ermöglicht werden.
Was ist in dieser Ausstellung sichtbar und was nicht? Zunächst sind keine ethnologischen ‚Objekte‘ zu sehen. Es gibt eine Vitrine am Ende des Raumes, die einige ‚Objekte‘ der ‚Sammlung‘ des GRASSI Museums und einige Leihgaben beinhaltet, aber gestalterisch einen klaren Bruch zum Rest der Ausstellung darstellt und eher außerhalb dieser zu stehen scheint. Es ist auch nicht das einzige Originalobjekt zu sehen, um das es in der Ausstellung geht. Die Spitze des Kilimandscharo bleibt eine Leerstelle in der Ausstellung – so wie sie auch eine Leerstelle in Tansania bleibt und damit in der Erinnerungspraxis zum Kolonialismus nicht manifestierbar, nicht greifbar wird. Stattdessen ist die Ausstellung eine zeitgenössische Kunstinstallation, die aus verschiedenen Elementen besteht. Erstens, auditive und visuelle Auseinandersetzungen mit dem Echo der Leere und der Behauptung von Besitz durch Rehema Chachag und Valerie Asiimwe Amani. Zweitens Installationsteile von PARA, die humoristisch befragen, inszenieren und dekonstruieren – dazu gehören u.a.: der als Geisel festgesetzte Gipfel der Zugspitze, die platzierte „Weule-Säule“, die nach und nach abgetragen wird, und eine Produktionsstraße für Reproduktionen der Spitze des Kilimandscharos (der „Skrupel“) inklusive Verkaufsautomat für die „Skrupel“.
Hier zeigen sich nun diverse Formen ästhetischer Praxis, die im Hinblick auf Praktiken des Verlernens und möglicher Strategien einer Dekolonisierung von ethnologischen Museen bemerkenswert scheinen. Ich möchte eine davon herausgreifen: den Umgang mit zeitgenössischer Kunst in ethnologischen Museen. Zeitgenössische Kunst und das Involvieren von Künstler*innen ist bereits seit langem ein Instrument, das sich ethnologische Museen zu eigen machen, um ethnologische Ausstellungen durch kritische Positionen zu ergänzen und Multiperspektivität in Ausstellungen umzusetzen (vgl. Sheikh 2006; Di Blasi 2019; McGovern 2022). Künstler*innen werden dabei zu Kritiker*innen der eigenen Institutions- und Sammlungsgeschichte, zu Kommentator*innen der Ausstellung, in der sie platziert werden, die sich stets in einem Spannungsfeld von Institutionskritik und institutioneller Vereinnahmung dieser Kritik befinden.
Im GRASSI Museum ist nicht nur ein Kunstwerk als Kommentar inmitten einer Ausstellung, sondern eine vollständige Installation oder Ausstellung, die für sich steht, zu sehen. Ich möchte hier differenzieren zwischen Kunst in ethnologischen Ausstellungen und Kunst als (ethnologische) Ausstellung. Wenn ein Kunstwerk in einer ethnologischen Ausstellung platziert wird, bildet es eine zusätzliche Reflektions- und Vermittlungsebene, oftmals eine Strategie, um ‚Sammlungen‘ in der Gegenwart zu kontextualisieren. Das Werk bleibt dabei allerdings eine Intervention und bildet eine additive und ggf. kompensierende Dimension. „Berge Versetzen“ als nicht einzelnes Werk, sondern zeitgenössische Ausstellung in einem ethnologischen Museum scheint einen Versuch zu wagen, die Trennung zwischen Museen, die sich als Kunstmuseum auf der einen bzw. als ethnologisches Museum auf der anderen Seite verstehen, aufzulösen. Zeitgenössische Kunst hat hier keine additive und kompensierende Funktion, sondern zeigt sich neu-orientierend als ästhetische Praxis in einer (ethnologischen) Ausstellung – nicht als Intervention, sondern als Ausstellung.
„Berge Versetzen“ findet eine ästhetische Praxis, die mit herkömmlichen Ästhetiken ethnologischer Museen bricht. Als Kunstausstellung mit der performativen Ebene des Herstellens der „Skrupel“ vermittelt sie nicht nur Wissen über den Verbleib des Gipfelsteins, sondern entwickelt einen humoristischen und performativen Zugang, der die Besucher*innen für Kolonialgeschichte und ihre Kontinuitäten in der Gegenwart sensibilisiert. Die aus eurozentristischer Perspektive vielfach erzählten und gehörten Geschichten von ‚Eroberung‘, ‚Expedition‘ und ‚Erstbesteigung‘ über Hans Meyer werden konterkariert durch die belustigende Herstellung von „Skrupeln“, die dem Gipfelstein des Kilimandscharos entsprechen – Hans Meyer gerät in den Schatten dieser Komik. Dieser fast aktivistische Ansatz ermöglicht einen Wissenstransfer, der performativ und machtkritisch einen anderen Blick auf Geschichte öffnet: Kolonialgeschichte wird als Geschichte von Enteignung und nicht ‚Eroberung‘ erfahrbar, die Strategien des ‚Sammelns‘ von Museen werden durchschaubar, Hans Meyer wird zu einer komisch-tragischen Figur. Der Bildungsauftrag dieser Ausstellung scheint ein klar selbstkritischer zu sein – eine Kritik an Europa, seinem universalen Anspruch an Geschichte und an seinen Museen, die diese Geschichte lange Zeit ungebrochen reproduziert haben.
Der von Mignolo beschriebene „Ausbruch aus dem eigenen Denkprogramm“ findet hier als Destabilisieren des etablierten westlichen Museumswesens statt. Es eröffnet ein Verlernen der Differenzorientierung von Museen und unterschiedlichen Museumstypen sowie einer Sammlungs- und Objektzentrierung und stellt die Ernsthaftigkeit von ethnologischen Museen in Frage. Die Verschiebung von Kunst in ethnologischen Ausstellungen zu Kunst als (ethnologische) Ausstellung ist ein Widerstreben gegen eine machtvolle Epistemologie des ethnologischen Museums, das Verlernen des einseitigen Wissensparadigmas, ethnologische Museen müssten außereuropäische (ethnologische) ‚Objekte‘ in das Zentrum ihrer Auseinandersetzung stellen. Vielleicht ist dieser institutionskritische Ansatz – der dennoch eine von der Institution selbst beauftragte Kritik bleibt – ein erster Schritt zum von Mignolo geforderten „Shifting the geography of reasoning“. Fraglich bleibt, ob die institutionskritische Haltung der Ausstellung auch deshalb Raum im GRASSI Museum finden kann, weil sich der Gipfelstein des Kilimandscharo eben nicht in der eigenen ‚Sammlung‘ befindet und Debatten und Forderungen von Restitution damit nicht das GRASSI Museum selbst betreffen.
Auffällig bei beiden genannten Ausstellungen ist, dass sie zum Großteil ohne originale ‚Objekte‘ arbeiten. „Leerstellen.Ausstellen“ konzentriert sich auf das Aufzeigen von Leerstellen im kolonialen Archiv und den eigenen (weißen) Perspektiven. „Berge Versetzen“ widmet sich in Abwesenheit der tatsächlichen Spitze des Kilimandscharos ihrer Aneignungsgeschichte und möglichen Rückgabe. Beide Ausstellungen arbeiten dafür mit gestalterischen und künstlerischen Praktiken, die trotzdem eine Sichtbarkeit der ‚Objekte‘ ermöglichen und ihre Geschichten vermitteln. Dabei hat ggf. gerade die Abwesenheit von ‚Objekten‘ eine Störfunktion, die Besucher*innen die Brisanz ihrer Geschichten zeigt. Die Arbeit ohne das entscheidende Originalobjekt ist eine Strategie jenseits der sonst üblichen musealen Konzentration auf ‚Objekte‘. Ein Versuch, der auch im Zusammenhang mit möglichen Restitutionen von Objekten gelesen werden muss. Ist die Suche nach Formen von ästhetischer Praxis jenseits des Ausstellens von originalen ‚Objekten‘ die Zukunft kritischer Auseinandersetzungen in ethnologischen Museen? Vielleicht ist das eine von vielen möglichen Zukünften: Anstatt der kontemplativen Betrachtung von ‚Objekten‘ durch vermeintlich unsituierte Besucher*innen tritt eine Provokation in den Raum, die reflexive und ästhetische Begegnungen sowie postkoloniale Machtverhältnisse in das Zentrum der Auseinandersetzung rückt.
Situierte Institutionen: Sind Gebäude verlernbar?
Ein elementarer Unterschied zwischen beiden Ausstellungen stellt die jeweilige Situiertheit der Institution dar. Das GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig befindet sich nach anderen Gebäude-Stationen seit 1926 im „neuen Grassimuseum“ am Johannisplatz (vgl. Grassimuseum Leipzig 2017:6,9). Der Grundriss spiegelt die Tradition des europäischen Schlossbaus, die Architektur verbindet klare funktionalistische Formen mit expressiven Schmuckformen des Art déco (vgl. GRASSI Museum für Angewandte Kunst 2023). Das Humboldt Forum ist eine neue Einrichtung, die verschiedene Institutionen birgt – darunter das Ethnologische Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, dessen ‚Sammlungen‘ hier ausgestellt sind. Die Bauentscheidung fiel 2002, der Grundstein wurde 2013 gelegt, das Gebäude Ende 2020 fertig gestellt (vgl. Prokasky 2020, S. 21). Es spiegelt in drei rekonstruierten Außenfassaden und der Kuppel das ehemalige Berliner Schloss – viele schreiben dem Humboldt Forum als zeitgenössischem Schloss eine große Portion Kolonialnostalgie zu. So unterschiedlich die Historien und Gegenwärte dieser beiden Institutionen und Gebäude sind, so unterschiedlich ist auch ihr Umgang mit diesen. Im GRASSI Museum wurde zur Eröffnung von „Berge Versetzen“ eine Stele, auf der lange Zeit die Büste des ehemaligen Museumsdirektors Karl Weule positioniert war, in einem performativen Akt abgetragen – Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich (vgl. Brus 2022). Diese Stele, nun Teil der Ausstellung „Berge Versetzen“, wird weiterhin Stück für Stück demoliert und in pulverisierter Form in die Produktion der „Skrupel“ gegeben. Wird also hier ein Museumsbau symbolisch abgetragen, wohingegen für die ethnologische ‚Sammlung‘ mit dem Humboldt Forum ein Schloss aufgebaut wurde? Welche Hüllen und Architekturen geben Gesellschaften Museen und welches Wissen wird durch diese Formen manifestiert?
Der Aspekt von Museumsarchitektur in Zusammenhang mit Ausstellungen und Selbstverständnissen von Museen kann im Rahmen dieses Textes leider nur fragend angerissen werden. Das Aufwerfen und Ausloten dieser Fragen sollte auch Auftrag einer machtkritischen Bildungsarbeit an Museen sein.
Fazit: Jedes Wissen zählt – Und was nun?
Die Frage nach Wissen und Wissenstransfer in Ausstellungen bleibt eine unabgeschlossene. Verschiedenstes Wissen ist von Bedeutung, nur einiges findet seinen Weg in Ausstellungen. Die beiden betrachteten Ausstellungen entwickeln unterschiedliche ästhetische Formen, um Wissen zu generieren, transformieren und transferieren: Das Markieren von Perspektiven und von Leerstellen, ein Wegbewegen von Objektzentriertheit sowie performative und installative Kunst nicht als Ergänzung, sondern als eigene Ausstellung hat dieser Text als Strategien des kritischen Umgangs mit Wissen eruiert.
Verlernen als ästhetische Praxis wurde als Ansatz dargelegt, der hilft, sich machtkritisch Fragen nach Wissen, Ästhetik und Bildung im Museum zu stellen, die eigenen Arbeitsprozesse zu reflektieren und Formen ästhetischer Praxis aufzuspüren oder zu entwickeln, die Verlernprozesse ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um bewusste Reflexionsprozesse, z.B. das Hinterfragen der eigenen Privilegien (Spivak), nicht nur um eine Orientierung hin zu ‚anderen‘ Epistemologien (Mignolo), sondern auch um Begegnungen mit Unerwartetem, um epistemische Verschiebungen, die nicht-intendierte Folge längerer Auseinandersetzungen und Verlernprozesse sind. „Leerstellen.Ausstellen“ und „Berge Versetzen“ operieren beide nicht zwangsläufig mit dem Begriff des Verlernens, und doch entwickeln sie Ansätze von ästhetischen Praktiken des Verlernens. Sie ermöglichen durch die Begegnung mit kuratorischen und künstlerischen Mitteln Verlernprozesse. Dabei wird vor allem die Bedeutsamkeit von Verlernen als Widerständigkeit und Möglichkeit des „Regelbrechens“ (Castro Varela 2017) deutlich: der Versuch, die Regeln des kolonialen Archivs aufzuzeigen und womöglich zu brechen, der Versuch, die Ernsthaftigkeit ethnologischer Museen in Frage zu stellen und Widerstand gegen den vermeintlichen Gegensatz von Kunst und Ethnologie zu leisten sind kleine Teile von Verlernprozessen in Museen. Vorwiegend finden diese hier auf der Ausstellungsebene statt – ob sie auch institutionelle Prozesse anstoßen, bleibt fraglich.
Im Sinne einer machtkritischen Befragung dieser Institutionen stellen sich auch die Fragen: Wer hat hier die Macht über kuratorische und künstlerische Prozesse? Wohl zumeist die beauftragenden Institutionen. Wer ist in Entscheidungen inkludiert? In den beiden genannten Ausstellungen Direktor*innen, Kurator*innen, Künstler*innen, Critical Companions, aber keine breite Vertreter*innenschaft von Stadtgesellschaft. Wessen Wissen zählt und wessen Wissen wird vernachlässigt? Teilweise ein stets konfliktreiches Wissen, das in kolonialen Archiven festgehalten ist, teilweise ein zeitgenössisches Wissen von Provenienz, Forschung, Kuration, Kunst sowie Erfahrungswissen von Künstler*innen – eher weniger das Wissen von Herkunftsgesellschaften oder Stadtgesellschaft und Besucher*innen. Die beiden genannten Ausstellungen widmen sich einem kritischen Umgang mit Wissen. Sie reflektieren Quellen zumeist eurozentristischen Wissens und finden ästhetische (gestalterische und künstlerische) Praktiken, um Verlernprozesse zu bewirken. Weniger inkludieren sie dabei ‚anderes‘/ ‚geandertes‘ Wissen – sie sind eher kleine Brechungen gewohnter Episteme, als vollständige Verschiebungen dieser.
Die hier ausschnitthafte Betrachtung der beiden Ausstellungen lässt verschiedene Potenziale erkennbar werden und verallgemeinern. Wissensproduktion muss kritisch reflektiert werden, um Wissenstransfer in Ausstellungen verändern zu können. Neue Formen des Wissenstransfers und das Übersetzen von Praktiken des Verlernens in ästhetische Mittel können helfen, um ethnologische Museen aus dem Dilemma der Repräsentation herauszuführen. Schon lange ist klar: Es kann nicht mehr darum gehen, über ‚Andere‘ zu sprechen. Aktuell geht es vielerorts darum, ‚anderes‘/ geandertes Wissen in Ausstellungen zu inkludieren – doch auch das ist nicht ausreichend, wenn Produktion, Transfer und Hierarchisierung von Wissen unhinterfragt bleiben. Vielmehr geht es darum, die Vielfältigkeit von Wissen deutlich zu machen, Perspektiven und Leerstellen zu markieren und im Zusammendenken von Wissen, Ästhetik und Bildung neue Formen von Ausstellungs- und Vermittlungspraxis zu entwickeln. Für eine machtkritische Bildungsarbeit an Museen bedeutet das, wie eingangs statuiert, Fragen nach dem was (Welches Wissen wird vermittelt?), Fragen nach dem wie (In welchen Ästhetiken wird dieses vermittelt?) und einen kritischen Blick auf den eigenen Bildungsauftrag miteinander zu verbinden. Praktiken des Verlernens zu entwickeln und zu vermitteln kann dabei Teil des Bildungsauftrags sein und sich sowohl in Ausstellungen, als auch in Formaten der Kulturellen Bildung widerspiegeln. Das Potenzial der Kulturellen Bildung liegt dabei wohl vor allem darin, die Produktion und den machtgeprägten Transfer von Wissen mit verschiedenen Publikumsgruppen zu verhandeln. Vermittlung ist dabei auch als eigenständige Form der Wissensproduktion mit unterschiedlichen Öffentlichkeiten zu betrachten (vgl. Landkammer 2021:24). Sie ist – im selbstkritischen und empowernden Sinne – eine machtvolle Tätigkeit. Wissenstransfer ist in diesem Sinne nicht nur eine eindimensionale Weitergabe oder ein zweidimensionaler Austausch, sondern eine gemeinsame Wissensproduktion, ein gemeinsames Lernen und Verlernen. Formen einer solchen gemeinsamen Wissensproduktion können und sollten sich in Formaten der Kulturellen Bildung und in der gemeinsamen Erarbeitung von Ausstellungen niederschlagen. Kulturelle Teilhabe als gemeinsame Wissensproduktion mit verschiedenen Öffentlichkeiten würde so zum integralen Bestandteil von Ausstellungs- und Vermittlungspraxis.