Wege ins Theater führen über die Hauptstraße der Partizipation - Jugendpolitik für kulturelle Teilhabe
Abstract
Wie können Kinder und Jugendliche, insbesondere jene, die unter prekären Bedingungen aufwachsen, die Chance erhalten, Theater für sich zu entdecken? Der Beitrag macht Erfahrungen des Projekts „Wege ins Theater!“ im Rahmen des Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ zugänglich und positioniert sich jugendpolitisch für kulturelle Teilhabe und ein beteiligungsorientiertes Konzept von Kinder- und Jugendtheater.
Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass Projekte und Programme der kulturellen Kinder- und Jugendbildung nicht nur aus einer einzelnen politischen Perspektive bewertet werden können. Denn die politische Verantwortung für dieses außerschulische Praxisfeld sollte im Idealfall eine kulturpolitische, eine bildungspolitische und eine jugendpolitische Dimension haben. Ein erklärtes Ziel einer ressortübergreifenden Politik für kulturelle Kinder- und Jugendbildung sollte es sein, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und zur Teilhabe zu befähigen.
Auf Prinzipien und Qualitäten der kulturellen Kinder- und Jugendbildung vertrauen
Die bildungspolitische Genese des Programms Kultur macht stark wird in der leistungsbezogenen und auf gesellschaftliche Transfereffekte orientierten Konzeption von Kultureller Bildung deutlich, die in den Programmrichtlinien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) formuliert ist. Demzufolge sollen durch das Programm „bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche“ erreicht werden,
„die in mindestens einer der vom nationalen Bildungsbericht 2010 beschriebenen Risikolagen aufwachsen und dadurch in ihren Bildungschancen beeinträchtigt sind. Als Risikolagen nennt der nationale Bildungsbericht: Arbeitslosigkeit eines oder beider Elternteile, geringes Familieneinkommen, bildungsfernes Elternhaus.“ (BMBF 2012:3)
Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die mit dem Programm erreicht werden sollen, werden also anhand ihrer Mängel beschrieben, die dem Elternhaus zugeschrieben und nicht mit strukturellen Hindernissen und sozialer Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und im Bildungssystem begründet werden. Angesichts dieser Einschätzung muss der dem Programm zugrundeliegende Begriff von Kultureller Bildung aus jugendpolitischer Perspektive kritisch gesehen werden, denn der Begriff geht nicht von den Stärken der Kinder und Jugendlichen aus, sondern von Defiziten, die als Folgen ihrer sozialen Herkunft gesehen werden.
Mit dem Programm, dessen paternalistischen Impetus Benedikt Sturzenhecker kritisiert (vgl. Sturzenhecker 2014), sollen aber nicht die Ursachen dieser sozialen Benachteiligung beseitigt werden, vielmehr sollen kognitive Kompetenzen, soziales Lernen, Persönlichkeitsbildung und Erfahrungswissen bei den beteiligten Kindern und Jugendlichen gefördert werden, „da sie besonders geeignet sind, Selbstmotivation, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft zu stärken“ (BMBF 2012). Damit wird die Wirkung Kultureller Bildung auf Transfereffekte beschränkt. Benedikt Sturzenhecker zieht daraus folgende kritische Schlussfolgerung: „Die Kinder und Jugendlichen sollen ‚stark‘ gemacht werden, um schwächende Lebenslagen und diskriminierende Ausbildungsverhältnisse zu bewältigen, um trotz alledem individuellen Bildungserfolg zu erbringen.“ (Sturzenhecker 2014)
Die Programmpartner*innen haben ihre Praxiskompetenz in der Umsetzung des Programms dadurch unter Beweis gestellt, dass sie in den Konzepten ihrer Förderprogramme mehrheitlich auf Prinzipien und Qualitäten der kulturellen Kinder- und Jugendbildung vertrauen, wie die Förderung des Eigensinns, die Stärkung der Selbstpositionierung und die Orientierung an den individuellen Stärken und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig ist es mit dem Programm Kultur macht stark nicht nur gelungen, Angebote der Kulturellen Bildung an vielen Orten umzusetzen, sondern es hat auch die politische Aufmerksamkeit auf die Kulturelle Bildung und ihre Potenziale für eine bildungsgerechte Gesellschaft gelenkt. Und zwar nicht nur die Aufmerksamkeit der parlamentarischen und staatlichen Politik, sondern auch das politische Interesse von Akteur*innen der außerschulischen kulturellen Kinder- und Jugendbildung, die sich in der Umsetzung des Programms noch konkreter und stärker auf die Teilhabefragen und die Einlösung von Teilhabeversprechen konzentriert haben als vorher. Die Verbände und Initiativen haben es verstanden, die Praxis des Programms auch dazu zu nutzen, um ihre eigenen Kompetenzen in Fragen der Teilhabe und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen, Institutionen und Strukturen der Kultur und der Kulturellen Bildung weiter zu entwickeln.
Die Idee der Umsetzung des Programms durch zivilgesellschaftliche Verbände und Initiativen ist vielfach kritisiert worden und in der Tat ist die Gefahr einer durch den Staat instrumentalisierten und durch staatliche Vorgaben reglementierten Zivilgesellschaft nicht zu unterschätzen. Aber die beteiligten Organisationen haben bei der Risikobewertung offenkundig die Potentiale des Programms für die Kinder und Jugendlichen und ihre eigene Arbeit stärker gewichtet, als die Risiken für ihre zivilgesellschaftliche Rolle und demokratische Verfasstheit. Dabei sind sich alle bewusst, dass sie einerseits als Programmpartner*innen den Richtlinien entsprechend handeln, aber andererseits die Interessen des Feldes in Hinsicht auf die Weiterentwicklung und die Bewertung des Programms konstruktiv-kritisch vertreten müssen. Die fachliche Stärke, die auf Teilhabegerechtigkeit ausgerichtete gesellschaftspolitische Haltung der Programmakteur*innen, ihre vielfältigen Perspektiven und Interessen und die bei aller Gemeinsamkeit dennoch spartenspezifischen und unterschiedlichen Begriffe und Praxen Kultureller Bildung sind die Grundlage dafür, dass es den Programmpartner*innen gelungen ist, die komplexen Herausforderungen des Programms zu bewältigen.
Keine Teilhabe ohne Zugänge zur Kultur
Wie viele andere Programmpartner*innen auch, ist die ASSITEJ Deutschland e. V., die Vereinigung der Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland, durch das Programm Kultur macht stark erstmals in die Lage versetzt worden, Projekte der Kulturellen Bildung ihrer Mitglieder und anderer Antragsteller*innen finanziell zu unterstützen und damit überhaupt zu ermöglichen. Dieses Engagement darf auch als eine aktive Anstrengung zur Umsetzung des Verbandszieles verstanden werden, das darin besteht, es jedem Kind und jedem Jugendlichen in Deutschland zu ermöglichen, mindestens zweimal im Jahr ein Kinder- und Jugendtheater zu besuchen. Diesem Ziel ist auch der Vereinszweck verpflichtet, das professionelle Kinder- und Jugendtheater in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, zu fördern und zu entwickeln. Das visionäre Ziel, dass jedes Kind und jeder Jugendliche in Deutschland die Chance haben soll, Theaterkunst zu erleben und selbst Theater zu spielen, kann letztlich auch nicht allein von den Kinder- und Jugendtheatern erreicht werden.
Zur Herstellung von Teilhabegerechtigkeit braucht es das Zusammenwirken vieler gesellschaftlicher Akteur*innen. Denn das Teilhabehindernis mangelnder Reichweite wegen fehlender Angebote in der Fläche teilt das Kinder- und Jugendtheater mit den meisten anderen Bereichen der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Daraus leitet sich die Notwendigkeit einer infrastrukturellen Stärkung dieser Akteur*innen ab.
Doch Infrastrukturentwicklung ist nicht das Ziel des bildungspolitischen Breitenprogramms Kultur macht stark, sondern die Förderung von Maßnahmen der Kulturellen Bildung, um im Programmzeitraum mehr Angebote und neue Zugänge für bisher nicht erreichte Zielgruppen zu schaffen. Solange die Angebote nicht für alle reichen und es keine Grundversorgung mit Kultureller Bildung gibt, erscheinen die Zugänge offensichtlich umso wichtiger. „Denn es liegt nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen, Zugang zur Kultur zu finden, sondern es ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe, diese Zugänge zur Kultur bereitzustellen.“ (Liebau 2014:23)
Mit ihrem Programm Wege ins Theater! Theaterscouts im Kinder- und Jugendtheater hat sich die ASSITEJ Deutschland e. V. als kultur- und jugendpolitische Akteurin dieser Aufgabe und ihrer Verantwortung gestellt, Kindern und Jugendlichen unabhängig von der sozialen Situation ihres Elternhauses Zugänge zum Theater zu ermöglichen. Das Programm stellt sich dabei der Frage nach den Teilhabehindernissen. Warum haben oder finden Kinder und Jugendliche keine Zugänge zum Theater?
Im Konzept des Programms sind einige Zugangsbarrieren benannt. Es fehlt an Vorbildern in Elternhaus und Familie, Theater als Kunstform ist ebenso unbekannt wie es als elitärer und exklusiver Ort begriffen wird. Eintrittspreise sind nicht erschwinglich, die Organisation des Theaterbesuchs erscheint kompliziert und aufwändig und oftmals sind in ländlichen Gegenden, aber auch im eigenen Stadtbezirk überhaupt keine Theaterangebote vorhanden, weswegen mangelnde Mobilität eine weitere Hürde auf dem Weg ins Theater ist.
Diese und andere Hindernisse sollen durch Unterstützung des Programms mit den Konzepten aktivierende Kulturvermittlung überwunden werden, die in den Bündnissen der Kinder- und Jugendtheater vor Ort entwickelt und umgesetzt werden. Es geht also anders als in der klassischen theaterpädagogischen Kunstvermittlung weniger um das Vermitteln der Kunst des Theaters, als um die Förderung von Fähigkeiten der jungen Zuschauenden, wie Neugier, Entdeckerfreude, Beobachtungsgabe, Lust auf das Unbekannte oder Empathiefähigkeit.
Teilhabe durch Beteiligung
Die Bündnispartner*innen sind dazu aufgefordert, eigenständige theaterpädagogische, szenische und performative Formate zu entwickeln, mit denen sie benachteiligte Kinder und Jugendliche in ihren Sozialräumen erreichen, um sie auf ihrem Weg zur Teilhabe an Theater zu unterstützen. Methodische Grundlagen für diese aktivierende Kulturvermittlung sind die Erfahrungen mit einer Methode des Audience Development, die an einigen Theatern in Deutschland erprobt und entwickelt wird. Theaterscouts sind Theaterzuschauer*innen, die als ehrenamtliche Botschafter*innen Verbindungen zwischen dem Theater und einem potentiellen Publikum herstellen. Sie agieren aufgrund eigener Erfahrungen und Auseinandersetzung mit der Theaterkunst und der Institution Theater und werden dabei von den Theatern vielfältig unterstützt.
Diese Methode ist jedoch nicht einfach auf das Publikum des Kinder- und Jugendtheaters zu übertragen, denn sie setzt Begeisterung für das Theater und auch eine gewisse Selbstlosigkeit voraus. Bei dem Scout-Konzept des Programms Wege ins Theater! geht es nicht darum, diejenigen die bisher nicht erreicht wurden, ins Theater einzuladen, um bei ihnen die Bereitschaft zu wecken, für ein bis dahin unbekanntes Theater Werbung zu machen. Vielmehr geht es bei dem Projektformat Scouts darum, für Kinder und Jugendliche Möglichkeiten zu schaffen, das Theater mitzugestalten.
Hinter diesem konzeptionellen Anspruch steht das jugendpolitische Prinzip der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen an der Gestaltung ihres Lebensumfelds durch ihre Beteiligung an und in politischen Entscheidungsprozessen. Das Programm zielt damit in seinem konzeptionellen Kern auf eine zentrale jugendpolitische Absicht. Es geht darum, das Recht auf kulturelle Teilhabe durch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen durchzusetzen. Im Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland hat die Bundesregierung 2010 formuliert:
„Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Beteiligung. Sie müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Probleme überall dort einzubringen, wo es um ihre Belange geht. Das gilt für den Alltag in der Familie, für die Gestaltung des Wohnumfelds, im Kindergarten und in der Schule. Aber auch in der gesellschaftlichen Debatte um die Zukunft unseres Gemeinwesens braucht die Stimme von Kindern und Jugendlichen einen festen Platz.“ (BMFSFJ 2006:50)
In allen Konzepten und Modellen lauert das Beteiligungsdilemma
Doch so sinnvoll und einleuchtend das Konzept der Beteiligung auch sein mag, in der Praxis sind für die Beteiligung noch hohe Hürden zu überwinden und Privilegien zu befragen. Aus jugendpolitischer Perspektive wären also auch wegweisende Beteiligungsmodelle zu befragen, ob das gegebene Beteiligungsversprechen ernst gemeint ist. Ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen im Theater Mitwirkung mit Wirkung oder nur symbolisches Ritual? Wie vertrauenswürdig sind die Angebote zur Beteiligung?
Der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung stellt klar, dass es angesichts sozialer Ungleichheiten zwischen den jungen Menschen ebenso wie im Hinblick auf das Machtgefälle zwischen den Jugendlichen und den erwachsenen Entscheidungsträger*innen eine hohe Anforderung ist, wirksame Jugendbeteiligung zur Aushandlung unterschiedlicher Positionen zu ermöglichen (vgl. Deutscher Bundestag 2017: 12). Diese Einschätzungen beziehen sich vor allem auf die Formen der Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in politische Entscheidungen. Die von den Autor*innen identifizierten Grundprinzipien lassen sich aber auch auf die Entscheidungsebenen und -prozesse im Theaterbetrieb übertragen.
Wenn ein Theater sich bereits für die Beteiligung des jungen Publikums engagiert, könnten die im Bericht beschriebenen drei Grundtypen der politischen Beteiligung zur Einschätzung des Grads und der Qualität ihrer eigenen Beteiligungsmodelle herangezogen werden, sozusagen als jugendpolitischer Check der Partizipationsformate. Im Bericht wird zwischen jugendpolitischer Teilhabe ohne Entscheidungseinfluss, partieller Teilhabe mit jugendpolitischer Mitbestimmungsmöglichkeit und der Übertragung von Verantwortung an die junge Generation unterschieden. Im ersten Fall wird zu bestimmten Fragen auch eine „Jugendmeinung“ eingeholt, indem Jugendliche ihre Ansichten zu einem bestimmten Thema oder Projekt artikulieren können. Ob ihre Meinung bei der Entscheidungsfindung beachtet wird, liegt jedoch nicht mehr im Ermessen der beteiligten Jugendlichen. Wenn es um jugendpolitische Themenfelder geht, die ausschließlich die junge Generation betreffen, werden repräsentative Teilentscheidungen von jungen Menschen getroffen, die andere Entscheidungen ergänzen. Die größte Wirksamkeit erleben Jugendliche aber vor allem dann, wenn ihnen, und sei es nur in abgrenzbaren Teilbereichen, die Verantwortung vorbehaltlos übergeben wird und sie selbstständig und eigenmächtig entscheiden können.
Doch in allen Konzepten und Modellen lauert das Beteiligungsdilemma, wie es die Autor*innen des 15. Kinder- und Jugendberichts nennen. Es geht um die Frage nach den Interessen, die sich mit der Partizipation verbinden. So sei in der gegenwärtigen Debatte über Partizipation eine Engführung des Begriffs der Partizipation im institutionellen Interesse des Aufwachsens zu beobachten, womit Partizipation ausschließlich als Dimension der Vermittlung von institutionellen mit lebensweltlichen Prozessen im Jugendalter gesehen werde. Partizipation sei in diesem Sinne vor allem ein zentraler Modus politischer und sozialer Integration Jugendlicher. Doch wenn Partizipation und Demokratie tatsächlich „Geschwister der zivilgesellschaftlichen politischen Kultur“ (Deutscher Bundestag 2017:113) sind, wie es die Autor*innen des 15. Kinder- und Jugendberichts behaupten, dann muss auch nach der Demokratisierung der institutionalisierten politischen Prozesse durch Partizipation gefragt werden.
Das Interesse des Theaters an denjenigen, die bisher nicht da waren
In Anwendung der Typologie der Beteiligungsformen, die der Kinder- und Jugendbericht vorschlägt, wären die herkömmlichen Theaterscout-Modelle jugendpolitisch als Formate zu bewerten, die den beteiligten Kindern und Jugendlichen Teilhabe ohne Entscheidungseinfluss ermöglichen. Und man müsste den Theaterscout-Modellen bescheinigen, dass sie aus jugendpolitischer Sicht die Potentiale der Beteiligung nicht ausschöpfen. Denn als Instrument des Audience Developments vermitteln Theaterscouts den Spielplan eines Theaters, über den sie selbst in aller Regel nicht mitentschieden haben. Die direkte Wirkung ihrer Mitwirkung beschränkt sich letztlich auf die Vermittlung des von den Profis gestalteten Theaters.
Doch das im angelsächsischen Raum entstandene Konzept des Audience Developments sieht den Entwicklungsbedarf nicht nur beim Publikum, sondern auch und vor allem bei den Kulturinstitutionen, deren Interesse an bisher nicht erreichten Publikumsgruppen nicht durch das Marketingkalkül der Erschließung neuer Kunden motiviert sein sollte, sondern durch die gesellschaftspolitische Erkenntnis, dass das Recht auf kulturelle Teilhabe umgesetzt werden muss. Dass sich dabei die Kulturinstitutionen grundlegend verändern müssen, ist eine der wesentlichen Erkenntnisse bisheriger Evaluationen von Audience Development-Programmen. Scout-Projekte sind dazu geeignet, „Routinen und Regeln der Institutionen infrage zu stellen. Dabei werden Preisstrukturen und Vertriebswege, künstlerische Ansätze, Organisationsformen, interne Hierarchien, thematische Schwerpunkte und Veranstaltungsformate gleichermaßen hinterfragt und gegebenenfalls verändert.“ (Eitzeroth 2016: 29)
Mitwirkung durch Mitgestaltung
Doch verändert sich der Theaterbetrieb durch die Arbeit der beteiligten Kinder und Jugendlichen tatsächlich grundlegend? Führt Beteiligung und Mitwirkung des jungen Publikums zu jenen strukturellen Veränderungen und demokratischen Öffnungen des Theaters, die angesichts einer sich wandelnden und von zunehmender Diversität geprägten Gesellschaft dringend notwendig sind? Man darf sich wohl nicht der Illusion hingeben, dass sich die Institutionen des Kinder- und Jugendtheaters durch die Mitbestimmung des jungen Publikums im Handumdrehen verändern werden. Doch die Beteiligung des jungen Publikums kann das Theater in Teilbereichen mitgestalten und es so bis zu einem gewissen Grad auch verändern.
Aber welche Gestaltungsspielräume bietet das Theater den Kindern und Jugendlichen? Das Theater mitzugestalten kann beispielsweise heißen, Räume zu gestalten, in denen sie sich gerne aufhalten, weil sie das Theater dann als einen Ort erfahren, an dem sie sich wohlfühlen und gleichzeitig eine Institution erleben, die es zulässt, dass sie Entscheidungen treffen und umsetzen. Auf diese Weise fühlen sie sich dem Theater zugehörig und die Partizipation kann ihre Identifikation mit der Institution erhöhen, bis dahin, dass sie Freunde aus ihrem sozialen Umfeld ins Theater mitbringen. Hier liegt zudem ein großes Potential für die künftige Entwicklung der Kommunikation und Vermittlung der Kinder- und Jugendtheater. Denn es scheint so, dass das Kinder- und Jugendtheater zwar auf die Kommunikation mit Multiplikator*innen, wie Lehrer*innen und Erzieher*innen spezialisiert ist, die in der Regel die Entscheidungen über einen Theaterbesuch treffen und zugleich nur wenige Formate hat, die den direkten Dialog mit dem jungen Publikum ermöglichen.
Gestaltungsmacht können Kinder und Jugendliche auch bei der Mitarbeit in Kinder- und Jugendjurys bei Festivals und Wettbewerben erfahren, wenn sie eine Inszenierung für das Festivalprogramm auswählen oder einen Preis an eine eingeladene Inszenierung vergeben. In Anwendung der oben zitierten Typologie der Beteiligungsformen treffen junge Menschen in diesen Mitgestaltungsformaten repräsentative Teilentscheidungen, die andere Entscheidungen ergänzen und im besten Fall als Teil der Gesamtentscheidung sichtbar werden.
Mitwirkung mit gestaltender Wirkung
Doch was passiert, wenn solche Entscheidungen von Kindern und Jugendlichen den erwachsenen und professionellen Vorstellungen von beispielsweise künstlerischer Qualität nicht entsprechen, wenn sie eben im besten Sinne eigensinnig sind? Hat dann die Intendanz das letzte Wort? Diese Fragen zeigen, dass ein weiteres Dilemma der Beteiligung in dem gegebenen Machtgefälle zwischen den erwachsenen Entscheidungsträgern in den Institutionen und den beteiligten Kindern und Jugendlichen liegt. Für dieses Gefälle braucht es einen Ausgleich und es muss von vornherein klar artikuliert werden, wie die Beteiligungsverfahren das gegebene Machtgefälle ausgleichen. Nur so könnte die Nutzerpartizipation Jugendlicher auch der Demokratisierung institutionalisierter Prozesse dienen. Doch „die gegenwärtige Diskussion um Partizipation im Jugendalter im institutionellen Gefüge des Aufwachsens thematisiert Strategien des Machtausgleichs und einer politischen Kultur kommunikativer Konfliktaushandlung nur selten“ (Deutscher Bundestag 2017:113).
Ein beteiligungsorientiertes Konzept von Kinder- und Jugendtheater müsste der Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen zu gestaltender Wirkung verhelfen. Eine tragfähige und ausbaufähige Idee für Mitbestimmung des jungen Publikums ist das Konzept einer Kinderdramaturgie. In den dramaturgischen Abteilungen der Theater wird die Spielplanpolitik eines Theaters bestimmt. Kindern und Jugendlichen die Mitgestaltung des Spielplans zu ermöglichen, bedeutet, sie in grundlegende künstlerisch-strategische Entscheidungen des Theaters einzubeziehen. Es bedeutet, Kindern und Jugendlichen nicht nur eine Stimme zu geben, sondern auch ihre Entscheidung zu akzeptieren und sie mitzutragen, d. h. mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie die übrigen Entscheidungen umzusetzen. Bezogen auf die oben zitierte Typologie der politischen Beteiligungsformen wäre die Kinderdramaturgie ein Modell, bei dem Kindern und Jugendlichen die Verantwortung vorbehaltlos übergeben wird und sie selbstständig und eigenmächtig entscheiden können und damit die größte Wirksamkeit erleben.
Soweit die Theorie. In der Praxis müssen Theaterbetriebe darauf vorbereitet werden, von beteiligten Kindern und Jugendlichen getroffene Entscheidungen anzuerkennen und sie auszuhalten. Zumindest aber müssen Verfahren der Konfliktaushandlung von vornherein vereinbart und von allen akzeptiert werden. Es braucht eine an den Regeln partizipatorischer Demokratie orientierte
„Diskussions- und Streitkultur, die nach Begründungsmodi fragt und sowohl Perspektivübernahme als auch die Übernahme von Verantwortung einfordert und dabei – das ist entscheidend – davon ausgeht, dass besonders die Teilhabe an Konflikten entwicklungsförderlich ist“ (Baader 2015:15f.).
Inwieweit sich solche Prozesse und Verfahren in den noch immer streng hierarchisch organisierten Theaterbetrieben etablieren lassen, hängt ganz wesentlich davon ab, ob bisherige Entscheidungsträger*innen Entscheidungsmacht teilen wollen. Doch da trifft es sich gut, dass Theaterleute Expert*innen des spielerischen „So-tun-als-ob“ sind. Es wäre denkbar, dass Theater Formate zur spielerischen Erprobung von strukturellen Veränderungen der Entscheidungsprozesse entwickeln. Denn wenn sich die real handelnden Entscheidungsträger*innen und Entscheidungsumsetzer*innen in den Theaterbetrieben ebenso an einem solchen performativen Probehandeln für die Realität beteiligen würden wie ihr junges Publikum, könnten sie Erfahrungen machen, die eine Institution verändern können – vorausgesetzt die Haltung aller beteiligten Personen ändert sich. Zumindest aber würden einmal die Konsequenzen deutlich, die tatsächliche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen für einen Theaterbetrieb mit sich bringt, und die Konzepte zu strukturellen Veränderungen könnten passgenauer werden.