Vor den Dingen sind alle BesucherInnen gleich. Kulturelle Bildungsprozesse in der musealen Ordnung
Kulturelle Bildung: kontextuelle Aufgaben und Grenzen
Der Begriff Kulturelle Bildung bezeichnet einen Entwicklungsverlauf der Person. In einem weiten Verständnis werden darunter alle diejenigen Bildungsprozesse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verstanden, die sich teils in der Auseinandersetzung mit Beständen der Alltagskultur – mit Handlungsformen, Gegenständen und Lebensweisen ihres Alltags – ergeben, teils in der Auseinandersetzung mit dazu kontrastierenden und besonders als „kulturell“ bzw. als künstlerisch“ bezeichneten Ereignissen, also mit „kulturellen“ Räumen und als „kulturell“ bezeichneten Gegenständen. Der Wechsel der Welten zwischen Alltäglichkeit und Museum (Schütz 1971) braucht indessen keineswegs spannungs- oder gar konfliktfrei sein, sondern wirft Herausforderungen im Sinne der Bewältigung von Differenz zwischen symbolisch und nicht-symbolisch strukturierten Formen auf (vgl.: Cassirer 2001/2002; Schütz 1971; 1974). In diesem Sinn hat die Unesco den Begriff wie folgt festgelegt:
„Kulturelle Bildung“ oder „Arts Education“, wie sie die UNESCO versteht, umfasst sowohl die kreative Entwicklung des Individuums als auch das Verständnis regionaler und internationaler Kunst und Kultur. In dem weit gefassten Kulturbegriff der UNESCO nehmen besonders Aspekte der Alltagskultur, die Kulturen von Mehrheiten und Minderheiten sowie die Bedeutung und Förderung der weltweiten kulturellen Vielfalt einen zentralen Stellenwert ein (UNESCO 2005).
Folgt man unterschiedlichen Beiträgen zur Bedeutung außerschulischer Bildung, zu der die Museen in erheblicher Weise beitragen, so ist der darin wiederholte Hinweis bemerkenswert, dass Bildung nicht mit Wissenserwerb allein und auch nicht nur mit Qualifizierung allein verwechselt werden sollte (vgl. Bundes-jugendkuratorium/Sachverständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichts/Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe 2002).
Nun ist der Wunsch, „mehr“ zu wissen und sich für eine Tätigkeit zu qualifizieren ein achtenswertes Ziel. Aber Bildung meint darüber hinaus auch, in ein kritisches Verhältnis zu Wissen und Qualifikation, zu künstlerischen Erfahrungen und schließlich zu jenen Gegenständen treten zu können, die ein Museum anbietet. Sayer hat diesen Bildungsanteil daran festgemacht, ob das Fehlen wichtiger Kontexte überhaupt beobachtet werden kann oder ob es bei einer affirmativen Kenntnisnahme der Dinge und ihrer musealen Ordnung bleibt – z.B. im Heimatmuseum: „Es ist schön im hiesigen Heimatmuseum. Kein Korb mit vom Acker gelesenen Steinen. Keine lichtlose Knechtkammer. Kein mit Blut beschmierter Grenzstein. Kein Brief aus dem fernen Amerika. Kein Erlaß der Obrigkeit (…) Kein Wortlaut einer Bittschrift. Kein Kindersarg. Kein Gestank einer Jauchegrube. Kein Frondienst. Keine Asche. Kein Ruß“ (Sayer 1989).
Ein weiteres Moment einer über Wissen hinausgreifenden Bildung findet sich in einer Einstellung, die zum Verwertungsdruck des Museumserlebnisses auf Abstand geht. Die uralten Spindeln, die Holzpflüge und anderes Ackergerät eines Bauernmuseums; die Zeichnungen eines Monet, die Skulpturen von Giacometti oder die DDR-Zigarilloschachteln der Marke „Sprachlos“; die Knochenreste des Ichthyosaurus, die aus Mammutskelett geschnitzten Miniaturen von Fruchtbarkeitsidolen der Eiszeit oder die Fragmente eines unbekannten Dorfschreibers aus dem 17. Jahrhundert und so weiter – das Wissen und die Bedeutungen, den diese Gegenstände als Teil eines kulturellen Gedächtnisses verkapselt enthalten, dies alles lässt sich nicht einem Bildungsbegriff einpassen, der Bildung auf Nützlichkeit, auf unmittelbare oder auch spätere Verwertbarkeit oder der Steigerung der eigenen beruflichen Qualifikation verkürzt.
Denn Museen weisen über den gegenwärtigen Alltag hinaus, manchmal sehr weit in die Vergangenheit oder sehr dicht auf die Gegenwart. Durch das Versprechen auf Nähe zu den angeordneten Dingen versetzen sie uns in Abstand zum Hier und Jetzt – und lassen es gerade dadurch umso schärfer kontrastieren mit der gegen-wärtigen Alltagsroutine, der sie fremd sind. Ihre nahe Präsenz markiert die Vergangenheit als vertraute Fremdheit, geben ihre diese zugleich zurück. Museen sprechen darin etwas an, für das Odo Marquardt das Diktum prägte „Zukunft braucht Herkunft“ (Marquardt 2003).
So verstanden sind Museen durch Ordnungsvorstellungen normativ geprägte Inszenierungsräume. Hier wird sowohl auf das Verlangen reagiert, zu wissen, woher wir kommen, als auch das Repräsentationsangebot gemacht, das den symbolischen Gehalt des besonderen Dings auf etwas Allgemeines verweisen lässt – sei es auf eine Epoche, einen regionalen Raum, ein komplexes soziokulturelles Gefüge, einen Markstein technischer Entwicklung. Museen bieten eine, auch durch Machtstrukturen erheblich beeinflusste „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1980), zwischen denen sich die BesucherInnen bewegen und die durch Inszenierungsstrategien Einfluss auf ihre „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ zu nehmen versucht (Franck 1998). Nicht selten ist es die Inszenierung des Triumphs des Wissens darüber, was einst an Beherrschung möglich war. Es bietet zugleich Möglichkeit, auf Abstand zu vergangenen Fortschrittsauffassungen zu gehen, die noch teils ironisch, teils sarkastisch gesteigert werden kann: Ambivalenz des Modernitätsbewusstseins, das sich in der Anschauung der Dinge selbst seines raumzeitlichen Ortes vergewissert, Vergangenheit gleichsam abscheidet und die eigene Zugehörigkeit „auf der Höhe der Zeit“ bekräftigt.
Nicht nur die Vielfalt der Besucherpopulationen, auch die vielfältigen Ordnungsstrukturen von Museen lassen es heute unzulässig erscheinen, von einem einzigen Typus von Museums-Erfahrung auszugehen. Vielmehr handelt es sich um eine Fülle ganz unterschiedlicher Arten und Weisen, welche Themen, Gegenstände, Ereignisse von den Menschen als anregend empfunden werden, als „berührend“ oder „bewegend“ gerade auch durch das Gebot der Unantastbarkeit, als bewegend gerade auch in der eingeschränkten Bewegungsform, in der man sich zu den Objekten und ihrem darin verkapselten, häufig mehrdeutigen Sinn verhalten muss. Dem hat Museums-pädagogik Rechnung zu tragen.
Bewegungsräume, soziale und lebensgeschichtliche Kontexte
Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat es erhebliche Veränderungen gegeben (vgl. Weschenfelder/Zacharias 1988; Zacharias 1990; Museumspädagogisches Zentrum München 1998). Museumspädagogisch sind dingbezogene Bewegungs- und Berührungsverbote teils auf ausgewählte Areale beschränkt worden, gelockert oder gar aufgehoben worden und manchmal geradezu Ermunterungen gewichen, anzufassen, auszuprobieren, zusammenzustecken, auseinander zu treiben, hin- und herzulaufen - „hands on“, „move on“ wie es in den großen internationalen Museen zwischen San Francisco und Helsinki heißt (Popp 1993). Längst hat die Museumsarchitektur Zonen vorgesehen, in denen Kinder und Jugendliche an eigens für sie bereitgestellten Apparaturen nichts weiter tun, als zu spielen, die Dinge anzufassen, sie zu verändern, sich abzuwenden, sich ihnen wieder zuzuwenden, und dabei zu lernen. Oft sind es Orte im Gesamtkomplex der Museen, in denen ihre Neugier mit ihrem Bewegungsdrang Verbindungen eingehen kann, ohne dass der Ernst der Objekte ihr Interesse durch die Einschüchterung austreibt, nachher würde nachgerechnet, wie viel Wissenszuwachs sie nachweisen können.
An solchen Trends lässt sich zeigen, dass die geschlossene „Welt“, die ein Museum als sinnvoller Zusammen- hang von mehr oder minder aufeinander verwiesener Symbole auch bedeutet, − eingegrenzt und markiert als Ort der Wahrnehmung, der Anschauung, der Betrachtung, des Informiertwerdens, des Verstehens – dass diese Welt keineswegs für alle BesucherInnen noch „dieselbe Welt“ ist.
So liegt denn auch eine der wichtigsten Chancen von Museen darin, dass die BesucherInnen miteinander ins Gespräch kommen, darüber, welche Unterschiede sie wahrgenommen haben – bei Gegenständen, die doch „für alle gleich“ aussehen. Wie die Forschung zeigt, bringen Kinder, Jugendliche und Erwachsene, noch dazu wenn diese drei Gruppen als „Familie“ erscheinen, immer ihre eigene Lebensgeschichte, ihre augenblickliche Neugier, auch ihr Desinteresse und ihre Erwartungen mit (Kirchberg 2005; Lewalter/Geyer 2005).
Das heißt: sie treten nicht nur zu den ausgestellten Gegenständen des Museums in eine sachliche Beziehung, sondern sie befinden sich – lange vorher – auch zueinander sozial in einer Beziehung. Was sich als Geschwister- oder als Familiendynamik bereits vorher entwickelt hatte, mag für die Weile des Museumsbesuchs in den Hintergrund treten. Dass sie aber allesamt in der Zeit des Besuchs und seiner Vorbereitung auf die Art und Weise Einfluss nehmen, wie ein Museum „angeeignet“ wird, zeigt nicht nur die Erinnerung an Museums-besuche der eigenen Kindheit, sondern auch die Beobachtung an einem normalen Besuchstag. Was wird da nicht alles ausgehandelt – Mutter möchte bei ganz bestimmten Exponaten länger verweilen, sie vergleichen, die Bilder „auf sich wirken“ lassen; Vater ist nur mit gekommen, weil er erklärtermaßen „kein Spielverderber“ sein wollte, die älteste Tochter hat ihr Zeichentalent entdeckt und sitzt völlig versunken mit ihrem Skizzen- block vor einer Skulptur und möchte unbedingt wiederkommen; die beiden Jüngsten sind gleichsam hin- und her gerissen, ob sie an den Bildern vorbei rennen sollen, um sie zu einem Film aus Farben zusammen zu stellen oder eine Rüge des Museumspersonals riskieren, und sie rufen Fragen über Fragen über alle Köpfe hinweg. Manchmal mischen sie sich auch unter die Besuchergruppen, die von einem Mitarbeiter mit Erläuterungen von Raum zu Raum geführt werden, hören andächtig zu, um gleich danach wieder zu verschwinden.
Wo soziale Beziehungsdynamiken, die zunächst wenig mit dem Bildungsauftrag von Museen zu tun zu haben scheinen, besonders einflussreich sind, zeigt sich auch beim Museumsbesuch von Schulklassen. So lautet ein Befund von Brunhild Gries aus dem Blickwinkel der Didaktikerin der Biologie, zur Situation in Naturkundemuseen:
Die Ausstellungen wurden nahezu selbstverständlich für Erwachsene konzipiert und orientierten sich häufig an der Vorbildung eines ‚Standardbesuchers’, dessen allgemeine und fachliche Bildung je nach Haus unterschiedlich hoch angesetzt wurde. Schulklassen blieben unberücksichtigt, und entsprechend ‚beliebt’ waren deren Besuche bei allen Beteiligten: Die Museen klagten über den Lärm, der die ‚seriösen Besucher’ vertrieb; die Schüler fanden es öde, verstaubt und langweilig, sobald sie die jeweiligen ‚Highlights’ im Sturm besichtigt hatten; den Lehrern war die Unruhe wohl auch nicht recht, die ihnen missbilligende Blicke der übrigen Anwesenden einbrachte, aber sie hatten ihre Klasse, z.B. bei einem Wandertag, wenigstens für einige Zeit in einer Bildungseinrichtung untergebracht, wo ‚nicht allzu viel passieren konnte’ (siehe Aufsichtspflicht). (Gries 1996:1)
So gibt es nicht „die“ eine symbolische Welt des Museums, sondern diese fächert sich gleichsam auf in die lebensgeschichtlichen Kontexte der BesucherInnen – ihrer Motive, ihrer Werte, ihrer Anlässe, ihres Vorwissens. Die BesucherInnen sind es, die dem Ganzen wie dem Einzelnen Bedeutung verleihen – oder ihm entziehen; die den Erwartungen an angemessenes Verhalten entsprechen – oder nicht; die den ausgestellten Dingen Beachtung schenken – oder sie ignorieren, gar missachten; die die Kontexte verstehen, sich um Verstehen bemühen oder gar als Wissenszuwachs erstreben – oder es mit der offiziellen Erwartung an Wissenssteigerung nicht so genau nehmen, eher auf ihre Empfindungen achten, nicht auf deren Einordnung in jene Verwertbarkeit des Wissens, wie sie eine missverständliche Auffassung von Wissensgesellschaft nahe legt.
Es treten sich gleichsam zwei Weltkonstruktionen gegenüber: hier – die lang durchdachte, sorgfältige Anordnung der Gegenstände in den Räumen durch die Museumsfachleute, die ihre Sammlungen nicht nur vorstellen, ihre Bedeutung nicht nur erläutern, sondern auch sichern müssen – gegenüber Übergriffen, seien sie gutmütig oder destruktiv gemeint; dort – der Eigensinn des Publikums, das das Museum deutet in der Vielfalt aller Möglichkeiten einer „Multioptionsgesellschaft“, in der sich Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter immer stärker durch je eigene Bedürfnisse, Lebensstile und Interessen auszeichnen und zwischen denen teils Verständigungsbereitschaft, teils aber auch die Schweigsamkeit derer vorzufinden ist, die sich nichts mehr zu sagen haben.
Ob also ein Museum tatsächlich die Menschen „bewegt“ und Wissenszuwachs ermöglicht, ist keineswegs nur auf die „Strahlkraft“ der Ausstellungsstücke selber zurück zu führen. Und ob aus einer Ausstellung ein Bildungsereignis wird, können die AusstellungsmacherInnen auch in keinem Fall vorhersagen. Hier die Ausstellungsabsicht der MuseumsbetreiberInnen, die unter den Bedingungen einer auch unter Wirtschafts-gesichtspunkten zu führenden Dienstleistungsagentur zu handeln haben; und dort: die Unterschiedlichkeit und Individualität zugleich von BürgerInnen, die zwischen kommerzieller Unterhaltungsindustrie, privater Medien-nutzung, familiärem Zusammenleben und im Interesse an Wissen, an Fremdem und Neuem in der Region bewegt, multimobil, launisch vielleicht, verwöhnt sind, oder aber hoch interessiert, engagiert, wiederholt erscheinend erreichen.
Erfahrung von Unterschied und Ähnlichkeit
Prozesse Kultureller Bildung bringen, meist mühsam, selten als leichtes Nebenbei, in der Auseinandersetzung mit Fremdem und Ungewöhnlichem, neue Einsichten – und vielleicht Fähigkeiten – nicht nur hervor. Sie setzen bereits Bildung und Wissen voraus. Und das ist das Schwierige: weil es denjenigen vertraut ist, die diese Voraussetzungen erwerben konnten und denjenigen fremd, wenn nicht gar abweisend, die es nicht verfügbar haben. Folgt man der Museumsforschung und der Museumspädagogik (Institut für Museumskunde 2004; Kirchberg 2005; Graf/Müller 2005) so findet man eine Reihe von Einsichten darüber, was Menschen kulturell „bewegt“. Häufig ist es nicht nur die Herausforderung durch das Verblüffende, Rätselhafte, ganz Andere, sondern auch das Wiedererkennen, die Bestätigung des Vertrauten. Museen, als Ort Kultureller Bildung, lassen sich daher danach betrachten, in welcher Weise sie die Erfahrung der Bestätigung des Vertrauten und Bekannten mit der Entdeckung des Neuen und Fremden verbinden.
Aber ebenso selbstverständlich ist die gegenteilige Erfahrung, nämlich dass Kinder und Jugendliche sich nicht recht einlassen mögen auf die Angebote, die ein Museum macht. Das mag daran liegen, dass sie im Museum nur die Fortsetzung von schulischem Unterricht mit anderen Mittel wittern, daran, dass sie nicht genügend vorbereitet wurden auf das, was sie erwartet oder daran, dass sie – wie manche Erwachsene ja auch – mit ihren Gedanken ganz woanders als im Museum sind, vielleicht noch bei den Nachwirkungen des gestrigen Autorennens an der Spielekonsole.
Die offizielle Erwartung ist, dass Kinder und Jugendliche das Museum als einen besonderen Ort ernstnehmen, übrigens auch dann, wenn gezielt „Spaß“ versprochen wird – schließlich ist ein Museum kein Jugendhaus, keine Schulgebäude und auch kein Freizeitpark, kein Warenhaus und auch kein Fernsehen. Nein, es ist alles das nicht, was den gegebenen alltäglichen Lebensrahmen von Kindern und Jugendlichen beschreibt, Erfahrungs-räume, deren sozialisatorischer Einfluss auf Bildungsprozesse als weitaus stärker einzuschätzen sind, als es ein Museum je könnte. Das bedeutet: ein Museum steht – in den Ordnungsvorstellungen von Erwachsenen – in relativem Abstand zur alltäglichen Lebenswelt und hat darin seinen Zweck.
Nun – dies spricht nicht gegen das Museum. Im Gegenteil, es erweist sich als besonderer Ort außerhalb der alltäglichen Lebenswelten gerade deshalb als wichtig, weil es einen bewusst gestalteten Kontrast zu ihnen bildet. Und ist es schon räumlich außeralltäglich, so ist es dies zeitlich gesehen erst recht – mit all seinen aufgehobenen vergangenen Gegenwarten, mit der in den gezeigten Dingen verdichteten Zeit, der Wichtigkeit, die die Dinge einstmals hatten und nun – nicht mehr in der gleichen Weise – haben sollen. Erst in der Unterscheidung und dann in der Wechselbeziehung zwischen beidem, zwischen Alltag und Museum, zwischen heute und gestern, zwischen Profanem und Herausgehobenen vermag es seine Bedeutung zu entfalten.
Wenn nun schon ein Museum nicht für sich allein steht, sondern im Verhältnis zu vielen Bezugsrahmen – der Region, der Themen und Traditionen –, so sollte ein Weiteres auch nicht übersehen werden. Auch die Bildungsangebote, die es Kindern und Jugendlichen macht, treffen auf die Voraussetzungen und Kontexte, aus denen sie, die Heranwachsenden, selbst stammen. Sie treffen auf ihre Themen und Sehgewohnheiten, ihre Wichtigkeiten und Interessen, ihre Aufmerksamkeit und Deutungen, kurz: sie treffen auf den freien Willen der Jugendlichen und auf andere Ordnungsstrukturen, und zwar nicht unbedingt auf solche, die den Abstand zwischen Museum und eigener Lebenswelt sofort akzeptieren. Das ist deshalb zu betonen, um die Bildungsmöglichkeiten, die ein Museum bietet, weder zu unterschätzen, aber auch nicht zu überschätzen, vor allem aber die Unterschiedlichkeit in den Herkunftsmilieus der Kinder und Jugendlichen beachten sollte. Der Bildungssinn eines Museums kann auch darin gesehen werden, dass die gezeigten Dinge eben keinen Unterschied machen, welche BesucherInnen da kommen, ob jung ob alt, ob reich ob arm, ob männlich oder weiblich, vom Lande oder von der Stadt. Bildlich gesprochen: die Dinge schert nicht, wer da zu ihnen kommt, vor ihnen sind alle BesucherInnen gleich.
Aber umgekehrt müssen wir uns auf eine Vielfalt von unterschiedlichen Wahrnehmungsformen einrichten, die so mannigfaltig sind wie die Menschen, die sich den Dingen nähern. Für manche Heranwachsende, etwa aus den sogenannten bildungsnahen Schichten, ist der Besuch von Museen fast eine Selbstverständlichkeit, ihre Funktion ist Bestandteil ihres Alltagsbewusstseins, weil sie regelmäßig mit den Eltern Museumsbesuche gemacht haben. Für andere aber ist diese Form der musealen Ausgestaltung von Gegenständen kaum etwas anderes als eine weitere Variante jener symbolischen Mauern, die die Welt der Bildung vor der Welt des Alltags aufrichtet, sehr fremd, manchmal sogar sakral, eher einschüchternd als Vertrauen erweckend, und eben fern von den meisten Erfahrungen, die sie tagein tagaus beschäftigen. Weil also die Menschen unterschiedlich sind, die die Dinge betrachten, werden die gleichen Dinge – unterschiedlich.
Warum aufmerksam sein?
Wieso ziehen die Gegenstände in einem Museum Aufmerksamkeit auf sich? Nur weil man sie dort stehen, liegen oder hängen sieht? Oder weil Erwachsene meinen, dass sie diese Aufmerksamkeit verdienen? Können dies die Erwachsenen glaubwürdig vertreten? Auch Kinder wollen überzeugt werden, und wenn die Überzeugungskraft durch die Dinge selbst ausgeht, so mag das für kurze Zeit zu Aufmerksamkeit führen; aber es bleibt kurzlebig, die Aufmerksamkeit ist nicht nachhaltig genug. Um nicht missverstanden zu werden: Museen verlangen Aufmerksamkeit, aber sie haben auch die Größe, ihr Fehlen zu verzeihen (anderes bleibt ihnen auch kaum übrig).
Kinder achten nicht selten auf Aspekte, auf Eigenschaften und Merkmale, die von den Erwachsenen entweder gar nicht oder nur als nebensächlich, als bedeutungslos gelten. Aber: Dinge haben diese Bedeutung nicht nur aus sich selbst; die Bedeutung wird ihnen vielmehr verliehen. Dazu eine Beobachtung, die aus einem Naturkundemuseum stammt. Dort befindet sich eine holzgetäfelte Vitrine, etwa zwei Meter hoch und eineinhalb Meter breit. Nur ein gläserner Kasten, etwa von der Größe eines mittleren Aquariums, ermöglicht den Blick nach innen. Ein raffinierter Mechanismus ist eingebaut, der auf Knopfdruck ein nachgebildetes Stück Wüste, auf dem sich wiederum Nachbildungen von Echsen befinden, mit einem Schlag von einer Tages- in eine Nachtszene verwandeln kann. Gezeigt werden soll die Anpassungsfähigkeit der Echsenhaut auf veränderte Lichtbrechungen.
Was aber zieht die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich? Es ist der Mechanismus des Apparats, der den schnellen Szenenwechsel ermöglicht, nicht die Echse und nicht die beabsichtigte offizielle Hauptinformation. Die Kinder bleiben unbeeindruckt von der Absicht der MuseumsmacherInnen, die diese Information vermitteln wollen, zu der es auch noch einen Begleittext gibt, der aber nur beiläufig gelesen wird; sie fragen vielmehr nach der Art und Weise, wie das Gleiche plötzlich so anders erscheinen kann, nach dem Apparat also. Dazu steht aber an der Vitrine kein Wort. Übrig bliebt eine unbeantwortete Frage und eine Antwort – auf eine Frage, an der kaum ein Kind Interesse zeigte.
Was lehrt uns dieses Beispiel? Kinder organisieren ihre eigene Aufmerksamkeit mehr oder minder auch unabhängig von der vorgesehenen Ordnung der Dinge, genauer: unabhängig von den Bedeutungen, die ihnen als die entscheidenden zugeschrieben werden. Dieser Befund ist nichts Besonderes. Die Kinder- und Jugendforschung hat in einer Vielzahl von Untersuchungen genau diese Beobachtung empirisch untermauert (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998)
Ob es städtische oder ländliche Regionen sind, Heranwachsende suchen sich Orte und Tätigkeiten, die nicht von Erwachsenen mit Bedeutung vordefiniert sind, also „besetzt“ sind, oder sie definieren Bedeutung kurzerhand so um, dass sie in ihren eigenen Horizont und nicht in den von Erwachsenen passen. Diese Fähigkeit ist auch eine wichtige Bedingung für Bildungsprozesse, weil es die Selbsttätigkeit des Kinder dokumentiert, der Ordnung der Dinge eine neue Sichtweise abzutrotzen, anders und sich selbst angemessen umzustrukturieren, so die Erwartung von Erwachsenen enttäuscht wird, sich ihren Auffassungen gefälligst anzupassen.
Das Museum und die Kinder. Wieso eigentlich sollte beides harmonisch aufeinander treffen? Ist es nicht hoch unwahrscheinlich, dass die Begegnung dieser Kontexte gelingt? Was soll ein Kind aus einem mit DVD-Spieler ausgerüsteten Wohngebiet mit dem schmiedeeisernen Erntegerät zu tun haben, das in einem mittleren bäuerlichen Betrieb auf der Schwäbischen Alb Ende des 19. Jahrhunderts verwendet wurde? Warum sollte der Jugendliche mit einem Handy der neuesten Generation sich einen Kopf über die alten Telefone mit Handkurbel machen und mehr aus dem Anblick herauslesen als die Einsicht, wie kurios es damals zuging? Der technische Fortschritt, ja, ja, wie rasant er doch wieder ist, das hatten die Jugendlichen schon vorher gewusst, staunen sie doch bereits jetzt schon nicht mehr darüber, dass der PC von vor 3 Jahren beinahe schon Schrott ist und der PC von vor 10 Jahren ungefähr die gleiche Ewigkeit weit entfernt ist wie das Handy vom Kurbeltelefon.
Nun, diese ungewöhnlichen neuen Eindrücke sind dennoch keinesfalls gering zu schätzen. Aber ob ein Museum von Kindern und Jugendlichen tatsächlich als das angenommen wird, was Erwachsene gern in es hineinlesen, ein Ort der Erinnerung und Vergegenwärtigung, ein Ort für ein gemeinsames Gedächtnis, ein Ort der vergangenen Zukunftsvisionen, kurz: ein Ort der Bildung – dies erscheint gar nicht mal sicher.
Ein Museum, so scheint es, ist zunächst und vor allem ein Ort, an dem die Dinge „das Sagen haben“. Aber dafür, dass die „Sprache der Dinge“ tatsächlich auch von allen verstanden wird, kann kein Museum garantieren. Im Gegenteil: es geht sehenden Auges das Risiko ein, missverstanden zu werden, das Risiko, das seine Schätze für die BesucherInnen Geheimnisse bleiben, obwohl sie offen vor ihnen ausgebreitet sind. So gesehen wird ein Museum seine Geheimnisse auch dann bei sich behalten, wenn es sie öffentlich ausstellt. In der Regel stellt ein Museum Dinge aus, die in der Lebenswelt der BesucherInnen nicht oder nicht mehr vorkommen, jedenfalls nicht in der originären, einzigartigen Weise, wie sie hier, und nur hier ausgestellt werden. Der Kopf des Tyrannus Saurus Rex mag in der DVD zu Film „Jurassic Park“ mit jenem virtuellem Leben erfüllt worden sein, der diesen Film so packend macht; aber diese Präsenz eines Gegenstandes in der medialen Lebenswelt eines Jugendlichen unterscheidet sich offensichtlich von der im Museum ausgestellten eines „echten“ Skeletts.
Wenn wir also beobachten, dass sich Jugendliche für dieses Ding im Museum interessieren, so kann es sein, dass es als Merkwürdigkeit, als skurrile Neuigkeit „aus sich selbst heraus“ seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, oder aber, was heute wahrscheinlicher ist, weil bereits Vorinformationen aus der medial geprägten Lebenswelt vorliegen, die der Jugendliche nun mit einem authentischeren Ding vergleicht. Das Interesse am Gegenstand im Museum erwächst also aus der Spannung zwischen einer bekannten Vorstellungswelt und einer im Vergleich dazu kargen, wissenschaftlich nüchtern präsentierten Tatsache. Die Welterschließung führt in diesem Fall in die Welt des paläontologischen Wissens, aber erst, nachdem der Jugendliche gleichsam eine Brücke geschlagen hat zwischen dem, was er kennt und dem was zu dieser Kenntnis Ähnlichkeit aufweist.
Was bedeutet das für das Verständnis von Bildungschancen? Unter diesen Voraussetzungen beginnt der Bildungsprozess keineswegs erst im Museum. Längst hat der Jugendliche ein Vorwissen über die virtuellen Rekonstruktionen von Dinosauriern erworben, und manche Jugendliche weisen eine solche Kenntnis darüber auf, dass sie die Frage des Aussterbens dieser Arten mit dem modernen Wissen über Gefahren durch Umweltkatastrophen in Verbindung bringen zu können, also bereits eine Vorbildung haben, die im Museum eine wesentliche Erweiterung erfahren kann. Dass diese virtuelle Erfahrung, die außerhalb des Museums gewonnen werden kann, keineswegs als Gegensatz zu dem verstanden werden sollte, was innerhalb der Museen geboten wird, zeigen längst die vielen virtuellen Angebote, die die großen Museen bieten, bis hin zu den virtuellen Museen im Internet. Virtuelle Welten und nicht-virtuelle Welten, die Animation des Skeletts und die Nachbildung des Echten, gar das „echte“ Skelett ergänzen sich, und darin liegt eine erste Bestimmung dessen, was unter Bildungschancen im Museum zu verstehen ist.
Indessen gehört es zum besonderen Charakter der kleineren Museen, auf Virtuelles aller Art zu verzichten, nicht nur weil es an finanziellen Mitteln mangelt, sondern auch weil sie darauf vertrauen, dass von den ausgestellten Dingen – gleichsam aus ihrer bloßen, ihrer stummen Anwesenheit heraus – eine solche Überzeugungskraft ausgeht, dass die jungen BesucherInnen es für wert halten, ihnen die Aufmerksamkeit zu widmen.
Bestätigungen
Ein Museum kann, und es muss – gleichsam mit vollem Recht – mit Schwierigkeiten aufwarten. Und diese Schwierigkeiten steigern sich – umso stärker, je weniger sich die BesucherInnen auf die Ausstellungsstücke einen Reim machen können. Sicherlich – wir finden nicht selten jenen raschen Wiedererkennungs-Effekt, wenn die BesucherInnen ausrufen: „Das kenne ich! Davon habe ich schon einmal gehört! Das habe ich schon mal gesehen!“ Und sie erleben so etwas wie den Genuss, Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmung festzustellen zwischen ihrem eigenen Vorwissen und einer Bestätigung durch einen hier und jetzt vorhandenen Gegenstand. In diesem Falle wirkt das Museum wie eine Autorität, die den BesucherInnen Gewissheit gibt, dass etwas „tatsächlich“ so war, wie sie es immer schon vermutet haben. Sie haben an Faktenwissen gewonnen, das heißt: das Museum legte eine Unterscheidung fest – etwas, das in der Wissens- und Konkurrenzgesellschaft so wichtig geworden ist, wie man an den beliebten Quizsendungen auf allen Fernsehkanälen ablesen kann: nämlich die Unterscheidung zwischen richtig und falsch – wenn Sie so wollen: zwischen echtem Rembrandt und dem nachgemachten, zwischen echtem Mondgestein und einem Abbild, zwischen einer von Alb-Bauern tatsächlich jahrzehntelang verwendeten Deichsel und einem Modell davon usw. In diesem wissens-gesellschaftlichen Kontext nehmen Museen einen bestimmten Platz ein, nämlich das Echte vom Unechten unterscheidbar zu machen, nicht ohne Grund ist das „Museumsquiz“ oder die „Museumsralleys“ bei vielen Kindern hoch beliebt: sie haben Vergnügen dabei, dass das Richtige über das Falsche, das Wissen über das Nicht-Wissen triumphiert .
Ein solcher Erkenntnisgewinn geht dann in etwas über, was man in psychoanalytischer Sprache vielleicht als „narzisstischen Lustgewinn“ bezeichnen könnte, etwa nach dem Motto: „Seht her, ich hatte es schon vorher gewusst, wie es war!“, und das Museum bestätigt nicht nur meine Annahme, sondern es bestätigt mein Selbst. Es bescheinigt gleichsam meine kompetente Zugehörigkeit zur Wissensgesellschaft, die den Nichtwissenden die Warnung auferlegt, sich besser kundig zu machen, wenn sie dazu gehören wollen. Denn jetzt kann er/sie auftrumpfen, der oder die Besucherin, denn sie haben es gleichsam „aus erster Hand“: „Ich habe es echt im Museum gesehen, also stimmt es“. Eine vor gefasste Weltsicht wird stabilisiert, eine Tradition bekräftigt, die Zugehörigkeit des Ich zu dieser Weltsicht bestätigt.
Irritationen
Diesem angenehmen Erlebnis der Bestätigung des eigenen Vorwissens durch die Überzeugungskraft anwesender Dinge steht nun ein – vielleicht nicht gerade unangenehmes, aber doch andersartiges – Erlebnis gegenüber, nämlich das der Irritation. Es lockt der Reiz des Nicht-Wissens, des Unbestimmten. Wenn die BesucherInnen den Dingen nicht völlig gleichgültig gegenübertreten – oder wenigstens diese Haltung des Desinteresses allmählich schwächer wird –, dann werden die Dinge sie irritieren. Besser ausgedrückt: dann lassen die BesucherInnen sich von den Dingen irritieren.
Was geschieht in der Irritation? Im Falle der Irritation erlauben die gezeigten Dinge eben nicht die rasche Feststellung, dass die eigenen Vorannahmen mit der Tatsache übereinstimmen. Es kommt zu keiner sofortigen Harmonie zwischen Erwartung und Angebot. Das Selbst kann sich nicht mit eigenem Vorwissen wohlig an die Dinge schmiegen und sich mit ihnen verbünden, um in der Welt der Wissenskonkurrenten zu punkten. Vielmehr sperren sich die Dinge gegenüber dem Wunsch, sofort und jetzt Gewissheit darüber zu erlangen, was falsch und was richtig ist. Die Dinge enttäuschen die Erwartung, einen eben solchen Lustgewinn zu erzielen, wie er durch das Zusammenfallen zwischen Deutung und Gegenstand für das Ego entsteht. Aber sie versprechen einen neuen Lustgewinn, jenen nämlich, den jedes Rätsel uns aufgibt: das am Ende eine Antwort gefunden werden kann.
Diese Irritation zu bieten und ihre Bewältigung erfolgreich zu meistern bedeutet für ein Museum eine weitaus anspruchsvollere Aufgabe. Es verlangt von BesucherInnen, sich den Schwierigkeiten zu stellen, die die Dinge bedeuten. Und es verlangt, sich das Verstehen – sei es heiter, sei es trocken –, entweder zu erarbeiten oder es eben nicht zu tun. Selbstverständlich – auch das Museum kann und sollte sich Mühe geben, dass dies gelingt, aber die Dinge sind keineswegs auf sofortige oder rasche Verstehbarkeit angelegt.
Was bedeutet das? Nun, erst jetzt, wenn diese Kluft zwischen Bekanntem und Unbekanntem als Herausforderung von den BesucherInnen angenommen wird, kann man es wagen, den Bildungsbegriff ins Spiel zu bringen. Bildungstheoretisch gibt es eine Art Mindestbedingung dafür, um von einem Bildungsprozess sprechen zu können. Er liegt darin, dass eine selbsttätige Anstrengung stattfindet, mit etwas ganz und gar nicht Vertrautem, mit Fremdem, mit Widerständigem in eine Auseinandersetzung zu treten und sich allmählich das Fremde vertraut zu machen. Das ist etwas ganz anderes, als sich selbst in seinem Wissen nur zu bestätigen.
Wenn diese Auffassung zutrifft – und sie setzt einen hohen Anspruch an Bildung – so besteht die Frage, ob tatsächlich schon Bildungsprozesse vorliegen, wenn die Kinder sich über Mondgestein wissbegierig unterhalten, wenn sie sich für die Alltagsdinge aus dem Ägypten der Pharaonen interessieren und wenn dann auf den Gesichtern Begeisterung liegt, als fände die Echtheit der Dinge ihren Ausdruck in der Echtheit des Minenspiels. Sind das Bildungsprozesse? Das sind manche bereit nur dann „zuzubilligen“, wenn sie es überprüft haben. Und dann folgt meist eine ganze Reihe von Vorschlägen, die hier auf sich beruhen bleiben, etwa: wie dieses festgestellt werden könnte. Und flugs stellt sich die Frage, ob im Museum vielleicht eine Bildungs-kontrolleinrichtung aufgebaut werden soll und bald ist es als Ort, an dem Leistung von BesucherInnen höchstens freiwillig erbracht werden kann, vor allem aber kein Lern- und kein Leistungszwang herrschen sollte, kaum noch erkennbar. Das Instrument der Lern- oder schlimmer noch der Bildungskontrolle könnte sich verselbständig und wichtiger zu werden drohen als das Vertrauen in die Auseinandersetzung des Subjekts in der Spannweite seines freien Willens. Es kann also auch nicht darum gehen, dass PädagogInnen in ihren Feststellungsinteressen zufrieden gestellt werden, auch nicht darum den BesucherInnen ein feed-back-Interesse schmackhaft zu machen, das die Bildungskontrolle „vom Adressaten aus“ begründet, sondern darum, dass Museen ein Milieu der Bildungsoffenheit anbieten, des Genusses, und gerade darin, im Nicht-Leistungsbetonten ihre Bedeutung für die Menschen gewinnen, ohne indessen der Möglichkeit zur Anstrengung zu entsagen. Die Ordnung der Dinge muss nicht auch noch mit der Ordnung des Bewusstseins kurzgeschlossen werden.
Die Verwandlung eines Museums in eine Stätte musealer Leistungskontrolle wäre wohl auch nicht im Sinne seiner ErfinderInnen. Denn die Merkwürdigkeit, die ein Museum darstellt, besteht unter anderem auch darin, dass es Bildungschancen anbietet, ohne Bildungskontrolle – womöglich noch mit Notengebung – auszuüben. Und die Frage, ob es tatsächlich „schon“ Bildungsprozesse sind oder etwa „noch nicht“ klingt doch in ihrer akademischen Trockenheit wie eine Maßregel Lehrer Lempels, ein bisschen lächerlich. Man könnte nämlich erwidern: die Ungeheuerlichkeit, echtes Mondgestein überhaupt einmal zu Gesicht zu bekommen und darüber etwas zu erfahren, ist als Wissenszuwachs Rechtfertigung genug, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – Bildungsprozess hin oder her. Zu wissen, wie auf den Höfen der Schwäbischen Alb oder auf den Friesischen Inseln früher Butter gemacht, Erde gepflügt, Korn gemahlen, Linnen gebrochen worden ist, hat einen Wert in sich selbst – wenn es denn in den Kontexten verstanden werden kann, die die Anschauung des Dings in Sinnzusammenhängen zu stellen weiß.
Bildungsorte, Bildungschancen
Welche Bedingungen sollten nun erfüllt sein, um – mit Überzeugung – davon zu sprechen, dass Museen für Kinder und Jugendliche Bildungsorte sein können? Museen werden von ihnen keineswegs immer als solche gedeutet oder genutzt, und das ist legitim. Der Vergleich sei gestattet: auch die Zuschreibung, dass der Schulunterricht Wissen vermittelt und zur Bildung beiträgt, bedeutet keineswegs, dass SchülerInnen immer hellwach dem Geschehen einer Unterrichtsstunde folgen. Erinnert sei an entsprechende Stunden aus der eigenen Schulzeit, in denen wir die angestrengte Bildungsabsicht Bildungsabsicht sein ließen und dem Gedankenflug einen weiten Ausgang durch das Fenster des Klassenzimmers gestatteten, und zwar weit weg von Kreide, Tafel, Lehrerin und dem Satz des Pythagoras. Ein Museum ist wie andere Bildungsorte immer mit beidem konfrontiert: mit der Zuwendung der Kinder zu ihren Inhalten, aber auch mit ihrer Abwendung, ihrer Entfernung vom offiziell Gewollten. Es „erlaubt“ die freiwillig erbrachte Aufmerksamkeit ebenso, wie es den freiwilligen Entzug von Aufmerksamkeit „erlaubt“. Mit anderen Worten: Mit Bildungschancen soll gemeint sein, was die Wortverbindung tatsächlich nahe legt: Das Museum bietet Kindern und Jugendlichen Chancen zur Bildung, und Chancen sind Möglichkeiten; aber das Museum bietet keine Bildungsgewissheiten. Zwischen der Chance und der Gewissheit, dass Bildungsprozesse stattfindet, klafft ein Menge Unbestimmbarkeit, und es hängt von mindestens zwei Seiten ab, ob eine Chance zur Bildung tatsächlich besteht, und wenn sie besteht, auch tatsächlich genutzt wird: nach dem Motto „Du hast eine Chance, aber ob du sie nutzen kannst, setzt voraus, dass du sie erkennst und weißt, wie du dich auf sie einlassen kannst“.