Verschränkungen kultureller Bildpraxen und Bildbegegnungen im Kunstunterricht
Überlegungen zu den Konsequenzen für die Kunstpädagogik
Abstract
Das Bild nimmt im Kontext digitaler Kommunikationsstrukturen einen immer größeren Stellenwert ein (Gunkel 2018, 21f.). Als Reaktion wurde vonseiten der Kunstpädagogik der Bereich der Bildkompetenzen erweitert, um auch in digitalen Strukturen eine aktive kulturelle Teilhabe zu ermöglichen (Niehoff 2017, 101ff.). Was bisher nicht ausreichend in den Blick genommen wurde, ist, dass sich die Lernenden bereits in diesen Strukturen bewegen und sie mitgestalten. Der Beitrag zeigt auf, welche Perspektiven kunstpädagogische Forschung in diesem Bereich einnehmen kann, um Erkenntnisse für das Fach zu generieren. Dafür werden Tendenzen der gegenwärtigen kulturellen Bildpraxis aufgezeigt, ebenso wie die Einflüsse der Digitalisierung auf die Bildbegegnung. Aus der Verschränkung lassen sich erste Konsequenzen für kunstpädagogische Forschung und unterrichtliche Praxis aufzeigen, die es weiter zu untersuchen gilt.
Interlocking Cultural Image Practices and Image Encounters in Art Education. First Reflections on the Consequences for Art Education
Regarding the context of digital communication structures, the image is becoming increasingly important (Gunkel 2018, 21f.). In response, art education has expanded the field of visual literacy to enable active cultural participation in digital structures as well (Niehoff 2017, 101ff.). What has not been sufficiently considered so far is that learners are already moving in these structures as well as shaping them. The article shows which perspectives art education research can take in this area to generate insights for the subject. Therefore, tendencies in current cultural image practice are pointed out, as are the influences of digitalization on the encounter of artworks. From this interconnection, initial consequences for art education research and teaching practice can be identified, which need to be further investigated.
Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Annika Waffner-Labonde, vorgetragen im PANEL 6 „Performative Bildung in Visuellen Kulturen“ der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Die Kultur und das Digitale
«Die Kulturformen der Gesellschaft jedoch betreffen uns alle […]. Deswegen wäre es nicht schlecht, wenn wir uns mit ihnen etwas besser auskennen würden.» (Baecker 2011, 13)
Ein bedeutender Einflussfaktor auf die kulturellen Entwicklungen sind Möglichkeiten der Darstellung und Vermittlung in Form der verfügbaren Medien (Koch 2015, 182). Daraus ergibt sich, dass eben diese Medien mit in die Beschreibung sozialer und kultureller Phänomene einbezogen werden sollten. Gegenwärtig sind es vor allem digitale Medien, die einen Großteil des Rahmens bestimmen, in dem soziales Miteinander stattfindet (Koch 2015, 189). In einem wechselseitigen Prozess prägen die Erfahrungen, die durch dieses Miteinander entstehen, wiederum die Erwartungen an die Medien (Petko 2014, 21). Dabei wirken sie nicht nur auf die soziale, sondern ebenfalls auf die ästhetische Ebene ein (Koch 2015, 191f.).
Mit dem Einbezug der Ästhetik ist der Kunstunterricht von den Entwicklungen der Digitalisierung direkt betroffen. In seinem Kontext werden Medien – neben ihrer Funktion als Lehr- und Arbeitsmittel Dieser Umstand wird bspw. am Bemühen der Kunstwissenschaft deutlich, die Unzulänglichkeit digitaler Reproduktion an ihrer Auflösung festzumachen (Reifenrath 1997, 37). Während dieses Argument vor zwanzig Jahren gegebenenfalls angemessen erschien, ist es in Anbetracht der gegenwärtigen Möglichkeiten nicht länger haltbar. – auch nach ihrer künstlerisch-gestalterischen Qualität befragt (Peez 2018, 109). Zudem bedingt die stark individuell geprägte Ausrichtung des Kunstunterrichts, auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren (Beuckers 2016, 7). Digitale Medien als etwas zu verstehen, was den Kunstunterricht nur beeinflusst, wenn es aktiv hinzugezogen wird, wird den Tendenzen nicht gerecht. Vielmehr lässt sich die gesellschaftliche und kulturelle Verankerung als Voraussetzung für die didaktische Perspektive auf digitale Medien verstehen, denn «der Computer als abgeschlossener, einzelner Apparat ist ein Relikt einer vergangenen Logik» (Klein et al. 2020, 245). Bereits vor zwanzig Jahren stellt Kirschenmann (2003, 129) fest, dass die Erwartungen der Lernenden reflektiert werden müssen, wenn Medien im Kunstunterricht eingesetzt werden. Seitdem ist die Digitalisierung und vor allem die Entwicklung von Digitalität vorangeschritten und bedarf eines sich mit ihr entwickelnden Forschungsdiskurses. (Anm.: Während Digitalisierung in diesem Zusammenhang als Überführung von Dokumenten und Objekten in eine digitale Form verstanden wird, stellt die Digitalität die kulturellen Veränderungen dar, die damit einhergehen.)
Der Beitrag geht am Beispiel der digitalen Fotografie darauf ein, wie kulturell geprägte Bildpraxen in Beziehung zur Bildbegegnung im Kunstunterricht stehen. Die Ausführungen sollen dabei als Impuls für den Diskurs verstanden werden, der sowohl einer tieferen hermeneutischen Auseinandersetzung als auch empirischen Forschung bedarf als es im Rahmen dieses Beitrags möglich ist.
Digitale Fotografie als Medium der Bildbegegnung
Für den Kunstunterricht wird die digitale Fotografie unter anderem in der Rezeption von Reproduktionen verwendet. Originale Kunstwerke sind meist durch ihre Ortsgebundenheit nur schwer zugänglich; sie aufzusuchen führt zu einem erheblichen Aufwand an Ressourcen (Hess 1999, 58). Daher wird die Begegnung mit Kunstwerken in den meisten Fällen als Begegnung mit Reproduktionen verstanden (Krause und Reiche 2015, 17; Reymond et al. 2020, 1; Pfennig 1974, 191). Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass ein Fundus an Kunstwerken verfügbar ist, der Werke von besonderer exemplarischer Qualität enthält und für Bildungszwecke verwendet wird (Pfennig 1974, 188). (Anm.: Der Umfang des Beitrages lässt nicht zu, das Verhältnis zwischen originalem und reproduziertem Kunstwerk in der Gesamtheit darzustellen. Ergänzend ist zu bemerken, dass sich der Blick auf die Wertigkeit und das Verhältnis zwischen Original und Reproduktion stetig ändert (Mensger 2012, 33-43). Es ist daher mehr als zeitliches Phänomen denn als charakteristischer Aspekt der Medien zu sehen.)
Aufseiten der Kunstwissenschaft wurden Reproduktionen und ihr Einfluss auf die Forschung diskutiert und ergründet (vgl. Caraffa 2009). Auffällig ist dabei, dass von inhärenten Aspekten der Reproduktionen ausgegangen wird. So wird bspw. der Einfluss der Farbechtheit einer Fotografie oder der Materialität einer Diapräsentation für die Begegnung abgewogen (Reymond et al. 2020, 2; Dilly 1995, 42).
Aus den inhärenten Aspekten entsteht die Forderung nach der Überwindung des Medienträgers (Wiesing 2008, 185). Statt die Wahrnehmung auf die besondere Leuchtkraft der Beamerpräsentation oder die glatte Oberfläche eines Tablets zu legen, sollen diese Eigenschaften ausgeblendet und nur das reproduzierte Kunstwerk wahrgenommen werden. (Anm.: Dabei wird in der Kunstwissenschaft selbst bereits infrage gestellt, ob die Überwindung des Medienträgers überhaupt möglich ist (Ullrich 2009, 7).) Möglich wird dies, indem sich Rezipierende der Grenzen der Darstellbarkeit bewusst werden und lediglich diejenigen bildlichen Qualitäten des Werkes fokussieren, die durch die Reproduktion wiedergegeben werden können (Locher und Dolese 2004, 131). Dieses Bewusstsein enthält ebenfalls eine Unsicherheit, da die Manipulationsmöglichkeiten von Reproduktionen den Rezipierenden stets präsent, aber nicht nachprüfbar sind (Kirschenmann 2003, 25).
Auf der anderen Seite finden die kulturelle Eingebundenheit und die aus ihr resultierenden Erwartungen an den Umgang mit der Reproduktion selten Beachtung. Ansätze finden sich bspw. in den Bedingungen des performative triangle nach Nelson (2000, 415). Da Reproduktionen keine eigenständigen Kunstwerke sind, werden sie lediglich aus der Übereinkunft des sozialen Gefüges zwischen Lehrenden, Lernenden und Reproduktion zur Kunst und ermöglichen auf diese Weise eine Rezeption des Werkes. Dieser Prozess fundiert sich unter anderem durch den Sprachgebrauch der Lehrperson, bspw. indem von der Reproduktion als ‹die Malerei dort› gesprochen wird (Nelson 2000, 416).
Dennoch geht das performative triangle nicht auf die kulturellen Voraussetzungen dieser Übereinkunft ein, sondern auf die Rezeptionssituation an sich. Gleichzeitig lassen sich die gegenwärtig vorherrschenden Medien nicht länger durch spezifische Einsatzmöglichkeiten definieren, sondern im Gegenteil durch ihre Multimedialität (Kerres 2020, 10f.). Sie bedingt, dass sich die Medienträger sowohl nach ihrer Materialität als auch nach den Handlungsmöglichkeiten unterscheiden, die sie eröffnen. Darüber hinaus finden diese Medienträger nicht länger allein in Lehr-Lern-Settings Verwendung. Computer, Tablets oder Videoprojektoren werden auch im Alltag verwendet (Feierabend et al. 2020, 12), sodass die Erfahrungen nicht allein im schulischen Setting gesammelt werden.
Tendenzen der gegenwärtigen kulturellen Bildpraxis
Die Multimedialität und die Nutzung digitaler Medien im privaten Umfeld ermöglichen den Lernenden, individuelle Erfahrungen zu generieren. Aus dem Besitz der Geräte kann hingegen nicht auf diese Erfahrungen und ihren Umgang geschlossen werden (Kerres 2020, 10). Potenziert wird diese Unklarheit dadurch, dass die Prozesse außerhalb des Unterrichts stattfinden. Die Lehrkraft kann daher nicht auf sie zugreifen oder unmittelbar auf sie einwirken. Für ein Verständnis, wie die Bildpraxis als kulturelle Handlung die Bildbegegnung im Kunstunterricht beeinflusst, gilt es daher, die Struktur digitaler Bilder in Verbindung mit den Möglichkeiten und ihrer kulturellen Praxis zu denken.
Waren es zu Beginn der Digitalisierung noch textbasierte Informationen, die zur Kommunikation genutzt wurden, sind es mittlerweile Bilder, die dafür verwendet werden (Gunkel 2018, 21f.). Diese Tendenz lässt sich bspw. in Plattformen zum kommunikativen Austausch wie Instagram oder TikTok nachzeichnen. Menschliches Handeln ist damit zunehmend durch bildliche Visualisierung und ihre spezifischen Anforderungen geprägt (Reißmann 2015, 1; Niehoff 2017, 100). Visuelle Kommunikation erfordert, dass besondere Kompetenzen und darüber hinaus ein übereinkommendes Verständnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft vorherrschen müssen, um die visuellen Zeichen lesen zu können (Schelske 1997, 11). Die Aufnahme bildlicher Informationen steht immer im Zusammenhang mit der eigenen Person (Regel 1986, 34). Für die Kunstrezeption steht daher fest, dass verschiedene Interpretationen Berechtigung erhalten und es keine allgemeingültige ‹Lösung› des Rezeptionsprozesses gibt (Kemp 1997, 20). Werden Bilder hingegen als mehr oder weniger eindeutige Kommunikation verwendet, so würden Interpretationen diese entweder erschweren oder unmöglich machen. Das außerbildliche Verständnis und Übereinkommen sichert daher die intersubjektive Kommunikation.
Aus der bildlichen Kommunikation entwickelt sich eine neue Ästhetik, die von einer Ambivalenz zwischen Unmittelbarkeit und Distanz geprägt ist und sich zu einer eigenen Kulturpraxis entwickelt hat. Nach Gunkel (2018, 307ff.) werden die Bilder in sozialen Netzwerken dadurch relevant, dass sie eine Aktualität präsentieren und so heranreichen an eine Art Dokumentation des eigenen Selbst. Gleichzeitig werden die Bilder derart stark nachbearbeitet, dass eine Stilisierung entsteht. Neben der Kombination von Bildern und Schlagworten durch Hashtags ist die Bearbeitung der Fotografien selbstverständlich und bewegt sich mittlerweile nicht mehr allein im Bereich der Farbwerte, sondern im Bildmotiv an sich. (Anm.: Wie tiefgreifend diese erweiterten Möglichkeiten sind, zeigt sich in der öffentlichen Diskussion um die AR-Filter von Instagram. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, in welchem Maße die Veränderung des eigenen Gesichts auf die Selbstwahrnehmung einwirkt; vgl. Rodulfo 2020; Ryan-Mosely 2021.)
Um den Kontext zwischen digitalen Bildern innerhalb der Bildpraxis zu erläutern, werden die drei inhärenten Faktoren der Digitalität nach Stalder herangezogen: Die Gemeinschaftlichkeit, die Referenzialität und die Algorithmizität, die im Folgenden näher erläutert werden. Die Faktoren beziehen sich nicht auf technische Möglichkeiten, sondern beschreiben die kulturellen Bedingungen in ihrer Gesamtheit. Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass Stalders Faktoren keine festen Grenzen oder Allgemeingültigkeit einfordern, sie sind vielmehr als Strukturierungshilfe der gegenwärtigen Tendenzen zu verstehen (Stalder 2016, 95).
Die Gemeinschaftlichkeit stellt den ersten Faktor dar, der die kulturellen Veränderungen der Digitalisierung umfasst. Es entstehen Formationen, die sich über ihren Austausch und interne Deutungsrahmen konstituieren, statt an äußerliche Faktoren, bspw. den Ort oder der Familie, gebunden zu sein (Stalder 2016, 130). Diese Gemeinschaften formen sich zunehmend informell und stehen global einer größeren Zahl von Personen zur Verfügung. Die Gemeinschaftlichkeit ist eng verknüpft mit der Etablierung des Selbst, da erst aus dem Feedback der Gruppe die eigene Identität bestätigt wird (Stalder 2016, 137). Folglich ist es nicht die Handlung des Präsentierens, sondern die Reaktion anderer auf diese Präsentation, die Identität schafft. Kommunikation kommt so eine konstituierende Funktion zu, die bei aktuellen Angeboten zunehmend das Bild und die digitale Fotografie als Ankerpunkt verwendet (Gunkel 2018, 21f.).
Gleichzeitig entsteht ein Bruch zwischen Authentizität und Manipulation digitaler Bilder. Am Beispiel von Instagram lässt sich nachzeichnen, dass die Fotografien durch ihre Suggestion zeitlicher Proximität scheinbar authentisch und dennoch durch die Bearbeitung mit Filtern und allgemeiner Inszenierung manipuliert sind (Gunkel 2018, 308).
Gemeinschaftlichkeit ist dementsprechend nicht allein als kommunikative Struktur aufzugreifen, sondern ebenfalls als Etablierung der eigenen Identität. Forschungsprojekte zeichnen nach, dass das Selbstwertgefühl durch die Nutzung sozialer Medien verstärkt oder vermindert werden kann, je nachdem, wie das Feedback auf die eigenen Inhalte ausfällt (Sabik et al. 2020, 412). Daran wird deutlich, wie stark der Umgang mit digitalen Bildern Denk- und Wahrnehmungsprozesse beeinflusst.
Der zweite Faktor der Referenzialität bezieht sich auf den Umgang mit digitalen Daten und Dateien. Durch die ständig mögliche Veränderbarkeit der Daten werden aus bestehenden Daten neue Bedeutungen erzeugt, indem auf sie referenziert wird. In Techniken wie Hyperlinks oder Remixen wird sich der Konnotation bestehender Daten bedient, um neue Aussagen treffen zu können. Die Referenzialität geht dabei noch über die Modifizierung der Daten hinaus und meint ebenfalls die Möglichkeit ihrer Rekontextualisierung. Durch die Menge an Material und die Verbreitung durch Strukturen wie das Internet werden so ebenfalls die Ordnungen von privatem und öffentlichem Raum umstrukturiert. Für den öffentlichen Raum bestimmte Inhalte, z. B. Nachrichtenmeldungen oder journalistische Fotografien, werden in scheinbar privaten Räumen geteilt, kommentiert oder aus ihrem ursprünglichen Kontext entbunden (Stalder 2016, 97-117).
Hinsichtlich der Bildpraxis bestehen die Möglichkeiten, die unter der Referenzialität gefasst sind, vordergründig aus Handlungen und Techniken der eigenen Gestaltung und des eigenen Ausdrucks. Gleichzeitig beeinflussen sie jedoch ebenfalls die Begegnung mit digitalen Bildern, da die Referenzialität ein verändertes Verständnis von Material fördert. Statt Bildern als unveränderbaren Gegenständen zu begegnen, die kulturell eingeschrieben sind, liegt in der Begegnung stets die Option der Veränderung. Dadurch nähern sich die eigene Gestaltung und die Begegnung mit Bildern weiter an, da in der Begegnung die Frage mitgedacht wird, wie das Wahrgenommene für die eigene Inszenierung genutzt werden kann.
Die ersten beiden Faktoren werden nur möglich durch den Faktor der Algorithmizität. Personalisierung und Automatisierung bestehender Algorithmen bedingen eine Übernahme von vorher genuin menschlicher Intelligenz vorbehaltenen Tätigkeiten durch Maschinen. Gleichzeitig sind, aufgrund der Datenmenge, Handlungen ohne die vorherige Filterung und Sortierung von Algorithmen nicht länger möglich. Damit wirkt die Tatsache, dass maschinelle Entscheidungen vor den menschlichen stehen, auf die Handlung und damit auf kulturelle Prozesse ein. Neben den bewussten Entscheidungen, sich bspw. verschiedenen Gemeinschaftlichkeiten anzuschließen, werden die Unterschiede in den Entscheidungen ebenfalls von Algorithmen geformt und vergrößern die Heterogenität der Erfahrungen. Über die Filterung und Aufbereitung der Daten greifen Algorithmen noch weiter in die wahrgenommene Wirklichkeit ein. In den Plattformen, die einen Rahmen für den Austausch und die Konstitution von Gemeinschaft setzen, mischen sich automatisierte Beiträge mit realmenschlichen (Koch 2015, 189f.). Die Kommunikation mithilfe dieser Plattformen ist daher geprägt von einer Unsicherheit, ob die Gemeinschaft und schließlich die Etablierung der eigenen Identität aus einer Kommunikation mit realen Personen oder aus einer automatisierten maschinellen Rückmeldung entsteht. In Bezug zur Algorithmizität steht für Kerres (2020, 8f.) fest, dass sich das Verhältnis von Kontrolle gewandelt hat und folglich neu gedacht werden muss. Auf der einen Seite stehen alle Informationen, Hilfestellungen und sonstiges zur Verfügung, sodass bspw. die Wissensaneignung individuell kontrolliert werden kann. Auf der anderen Seite lassen sich die Strukturen nicht länger nachvollziehen, woraus Kontrollverlust resultiert. Für den Kunstunterricht bedeutet das, alle Bilder zur Verfügung zu haben. Angesichts des steigenden Interesses wirtschaftlicher Unternehmen an kulturellen Objekten ist nicht unbedingt ersichtlich, welche Strategien sie verfolgen.
Aus der Kombination der Faktoren der Digitalität und der Bedeutung digitaler Bilder ergeben sich mehrere Prinzipien, die die Bildpraxis beschreiben. Hervorzuheben ist die Konstitution von Identität und Gemeinschaft durch Bilder aufgrund ihrer Funktion als Kommunikationsmittel. Um mit ihnen kommunizieren zu können, muss es eine Übereinkunft zwischen Inhalt und Symbolik der Bilder geben. Es entsteht ein enges und umfangreiches Geflecht, das bspw. in dem Umgang mit sogenannten image macros deutlich wird. (Anm: Image macros bezeichnen Fotografien oder Zeichnungen, über die ein bestimmter Text gelegt wird. Den zuvor scheinbar nicht oder nur in sehr geringem Masse konnotierten Bildern werden auf diese Weise feste Regeln zugeschrieben. So wurde ein Pinguin, der nach links läuft und auf einem blauen Hintergrund gezeigt wird, zum Zeichen für fehlende soziale Kompetenz (vgl. Socially Awkward Penguin). Der gleiche Pinguin, zur rechten Seite ausgerichtet und auf einem roten Hintergrund, verweist hingegen auf besonders gelungene soziale Interaktion (vgl. Socially Awesome Penguin). Der socially awkward/awesome penguin stellt ein besonders radikales Beispiel dar, weil Farbe und Tier nicht auf bereits etablierte kulturelle Übereinkünfte verweisen. Es existiert ebenfalls kein Ursprung für das image macro, der die Verknüpfung erläutern würde.)
Gleichzeitig werden die Bilder nicht als unveränderbares, strikt personenbezogenes Objekt verstanden, sondern eher als Material. Die Grenzen zwischen einer distanzierten Nutzung und der eigenen Produktion verschwimmen daher zunehmend (Koch 2015, 188). (Anm.: Auch unter diesem Punkt lässt sich das Beispiel des Pinguins anbringen. Das Tier wurde zunächst in einem dokumentierenden Rahmen fotografiert, bevor es zum Meme wurde (vgl. Images of Antarctica's most charismatic wildlife 2020). Auch das Meme selbst wurde immer weiter verändert und mit neuen Konnotationen verknüpft.) Auf Instagram und TikTok ist es ebenfalls möglich, bestehendes Material zu zitieren. Beide Plattformen bieten Funktionen an, durch die die Videos anderer Personen mit einem eigenen Video ergänzt werden können. Es entsteht ein verändertes Verständnis von Autorschaft, das in seinen Strukturen noch zu erforschen ist.
Zwischen Kommunikation und Kognition besteht eine Wechselwirkung (Petko 2014, 21), sodass die Prinzipien des Gebrauchs digitaler Bilder kognitive Prozesse, Normen, ästhetisches Verständnis oder Symboliken verändern (Koch 2015, 194). Sie lassen sich daher nicht als abgeriegeltes System verstehen, sondern wirken in alle Lebensbereiche hinein. Damit stehen der schulische Kontext und der Kunstunterricht ebenfalls in Verbindung mit den aufgezeigten Faktoren.
Konsequenzen aus der Verschränkung beider Perspektiven
Während der Bildbegegnung im Kunstunterricht überlagern sich die Funktionen und Aufforderungen von Kunstwerken mit den Erfahrungen von Bildern, denen die Lernenden tagtäglich begegnen. Diese Überlagerung lässt sich unter anderem durch den Einsatz der gleichen Medienträger erklären. Dennoch bestehen zwischen den Bildern als Kommunikationsmittel und dem Dialog zwischen Kunstwerk und Rezipierenden (Kemp 2008, 250) bedeutsame Unterschiede. Aus Kunstwerken kann keine allgemeingültige ‹Nachricht› herausgelesen werden, da ihr Potenzial nicht in der Offenlegung der Subjektivität der Kunstschaffenden, sondern des eigenen Selbst liegt. Die Begegnung mit einem einzelnen Bild statt eines unendlichen Streams führt die Unterschiede zwischen digitaler Bildpraxis und Rezeption im Kunstunterricht weiter. Durch die Masse an Bildern und die Frage nach ihrer Aneignung verliert das Einzelbild an Bedeutung (Meyer 2015, o. S.), sodass hier Irritationen entstehen könnten. Wie weit die Lernenden in diesem Prozess unterscheiden können, dass das digitale Bild, welches sich ihnen präsentiert, auf etwas anderes verweist und Stellvertreter für ein Objekt ist, bleibt offen. Das gilt ebenfalls für die Frage, welche Intention sie diesen Bildern zusprechen und wie stark ihre Haltung durch ihr eigenes Medien- und Bildhandeln geprägt ist. Geringstenfalls sollten diese Differenzen im Kunstunterricht thematisiert und ergründet werden. Viel mehr noch ist es Aufgabe der Kunstpädagogik, diesen Bereich zu erforschen, damit eine didaktisch fundierte Auswahl der Medienträger für rezeptive Prozesse getroffen werden kann.
Wird hingegen die kulturelle Eingebundenheit ignoriert und lediglich auf technische Aspekte innerhalb des Rezeptionsprozesses verwiesen, entstehen zweierlei Risiken. Zum einen entwickelt sich die Technik stetig weiter, sodass die Forschung, die gegenwärtige Formen und Möglichkeiten als Fundament ihrer Argumentation setzt, schnell an Relevanz verliert. (Anm.: Dieser Umstand wird bspw. am Bemühen der Kunstwissenschaft deutlich, die Unzulänglichkeit digitaler Reproduktion an ihrer Auflösung festzumachen (Reifenrath 1997, 37). Während dieses Argument vor zwanzig Jahren gegebenenfalls angemessen erschien, ist es in Anbetracht der gegenwärtigen Möglichkeiten nicht länger haltbar.) Zum anderen sollte die kulturelle Eingebundenheit in Bezug auf das performative triangle beachtet werden. Die Wahrnehmung dessen, was dort an der Wand oder direkt vor den Lernenden präsentiert wird, kann sich unterscheiden. Ob das Gemälde als Kunstwerk oder als weitere Selbstdarstellung durch digitale Bilder gesehen wird, muss thematisiert werden. Ansonsten können die Divergenzen das performative triangle im besten Fall stören, wenn sie es nicht sogar unmöglich machen.
Die Rolle des Kunstunterrichts wird unter dem Gesichtspunkt der Digitalisierung neu verhandelt. Bei der Debatte sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die Lernenden bereits an der Gesellschaft teilnehmen, sie prägen und von ihr geprägt werden. Ihre Ausgangslage verändert sich und damit auch der Punkt, an dem der Kunstunterricht anknüpfen muss.