Undoing Age: Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text
Abstract
Der Artikel ist der dritte in einer Reihe von fünf Aufsätzen, in denen Miriam Haller Judith Butlers Geschlechter-Theorie von „Gender trouble“ (1990) auf die kulturelle Konstruktion des Alters und Alterns transferiert und die transdisziplinäre Tragweite eines Konzepts von „Ageing trouble“ (Haller 2020/2004) als kulturelle Performanz und Performativität von Altersidentitäten überprüft. In Auseinandersetzung mit dem Konzept der performativen Konstruktion des Alters (Doing Age) wird ein theoretischer Rahmen entworfen, der sowohl die Frage nach der sozialisierenden Macht von Altersbildern als auch die bildungstheoretisch relevante Frage nach Möglichkeiten autobiographischer Dekonstruktion sozialer Altersnormierungen (Undoing Age) umfasst. Daran schließen sich methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Körper, ‚alterndem Ich‘ und der Fiktion autobiographischer Repräsentation an. Am Beispiel von Susan Sontags Text The Double Standard of Aging (1972/1977) und Silvia Bovenschens Älter werden (2006) werden Schreibweisen des ‚alternden Ich‘ im Hinblick auf die eingesetzten narrativen Strategien von „Doing Age“ und „Undoing Age“ untersucht und die dabei hervortretenden zentralen Unterschiede gegenübergestellt.
Die Alternswissenschaften definieren den Forschungsgegenstand ‚Alter‘ disziplinär unterschiedlich: Differenziert werden das biologische Alter, das pathologische Alter, das kalendarische Alter, das psychologische Alter bzw. die Altersidentität und das soziale Alter. Kulturwissenschaftliche Alternsstudien (Haller/Küpper 2010) bereichern die Alternsforschung um Analysen der kulturellen Einschreibungen von Altersidentität, der kulturellen Konstruktion des alternden Körpers und nehmen die Macht der Altersnormen im Hinblick auf Identitätsregulationen und Körpernormierungen in den Blick. Bisher konzentrieren sich kulturwissenschaftliche Analysen vor allem auf die sozialisierende Macht des Altersdiskurses und der ihn leitenden Altersbilder (Göckenjan 2000). Doch in welchen diskursiven Praktiken kommt ein Unbehagen bzw. ein Aufbegehren gegenüber restriktiven Altersnormierungen zum Ausdruck? Lassen sich in Analogie zu Judith Butlers „Gender trouble“ (Butler 1990/1991) auch im Hinblick auf die soziale Normierung des Alter(n)s Praktiken von „Ageing trouble“ (Haller 2020/2004; 2020/2005) erkennen, die zu einer Erweiterung des Spektrums von Altersbildern und zu einer Erweiterung der Möglichkeiten führen, Alter(n) individuell zu gestalten?
Um dieser Fragestellung gerecht zu werden, geht es im Folgenden zunächst darum, in Auseinandersetzung mit dem Konzept der performativen Konstruktion des Alters („Doing Age“) einen theoretischen Rahmen zu entwerfen, der sowohl die Frage nach der sozialisierenden Macht von Altersbildern als auch die bildungstheoretisch relevante Frage nach Möglichkeiten autobiographischer Dekonstruktion sozialer Altersnormierungen („Undoing Age“) umfasst. Daran schließen sich methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Körper, ‚alterndem Ich‘ und der Fiktion autobiographischer Repräsentation an. Am Beispiel von Susan Sontags Text The Double Standard of Aging (1972/1977) und Silvia Bovenschens Älter werden (2006) werden Schreibweisen des ‚alternden Ich‘ im Hinblick auf die eingesetzten narrativen Strategien von „Doing Age“ und „Undoing Age“ untersucht und die dabei hervortretenden zentralen Unterschiede gegenübergestellt.
Doing und Undoing Age: Zur performativen Konstruktion und Dekonstruktion des Alters
Überträgt man die Performativitätstheorie Judith Butlers auf das Alter, wird deutlich, wie auch die Inszenierungen des Alters und des alternden Körpers (nicht nur des Geschlechts, auf das sich der folgende Satz Butlers bezieht) „sich insofern als performativ [erweisen], als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen oder andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind“ (Butler 1990/1991:200). Inwieweit Alter eine Art von Tun ist, hat Klaus R. Schroeter analysiert: Er verwendet in Analogie zum „Doing Gender“-Ansatz von West und Zimmerman (1987) den Begriff „Doing Age“ (Schroeter 2005; 2007), mit dem er die soziale Konstruktion von Altersdifferenz als eine Form von Performanz und Inszenierung fasst. Sein Verständnis von „Doing Age“ stützt sich auf ein theaterwissenschaftliches Performanz-Konzept. Unter ,Performanz‘ versteht er mit Fischer-Lichte „den vor körperlich anwesenden Zuschauern bewusst oder unbewusst vollzogenen Darstellungsakt durch Körper und Stimme“; unter ,Inszenierung‘ „den spezifischen Modus der Zeichenverwendung (also: aktuelles Design, Mode, Kosmetik usw.)“ und damit jene „‚Kulturtechniken und Praktiken‘ [...]‚ ‚mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird‘“ (Schroeter 2007:134f.; vgl. auch Fischer-Lichte 2000:20). Dieses Konzept von Alter als „Doing Age“ ermöglicht es, das Alter als soziokulturelle Aufführung zu denken, in der sozial normierte Altersbilder und altersbezogene Körperbilder ‚vorgespielt‘ und ‚nachgeahmt‘ werden. Das ist plausibel, lässt jedoch nicht nur die bildungstheoretisch relevante Frage nach den Möglichkeiten individueller Gestaltung von Altersperformanz in kritischer Auseinandersetzung mit sozial normierten Altersbildern außer acht, sondern ebenso die Frage nach den Möglichkeiten, den kulturellen Wandel von Altersbildern aktiv zu beeinflussen. Um diese Aspekte einzubeziehen, gilt es, auch nach Formen von „Undoing Age“ zu fragen, das heißt nach Formen von Altersperformativität, die sozial normierte Altersbilder unterlaufen oder verschieben.
Wenn man den Überlegungen Butlers Konzept der ,Performativität‘ zugrunde legt, kommen diese Perspektiven in den Blick: Butler erweitert im Anschluss an Austins Sprechakttheorie und Derridas Konzept der „différance“ den Performanzbegriff um die politische Dimension der Performativität (Butler 2006).
Ihr Performativitätsbegriff dient sowohl als Instrument für die Analyse von Praktiken der Aufführung sozialer Normen als auch von Strategien ihrer Resignifikation. Die Butlersche Performativitätstheorie stellt somit auch das Instrumentarium für die Analyse von Resignifikationsstrategien in Bezug auf kulturelle Performanzen des Alters zur Verfügung. Jeder Wiederholung der Norm, das zeigt Butler im Anschluss an Derrida, ist ein Moment des Aufschiebens und Verschiebens inhärent, das Möglichkeiten kulturellen Wandels birgt: „Derridas Formulierung [bietet] die Möglichkeit, Performativität in Verbindung mit Transformation zu denken, mit dem Bruch mit früheren Kontexten, der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden müssen“ (Butler 2006:236). Auch hinsichtlich der soziokulturellen Konstruktion des Alters lässt sich zeigen, dass Zitate der traditionellen Alterstopik (Altersspott, Altersschelte, Altersklage und Alterslob) die Norm wiederholen, sie aber gleichzeitig resignifizieren und dekonstruieren können (Haller 2020/2004; 2020/2005). Performative Sprechakte können eben (zum Glück), je nach Kontextualisierung, ja, selbst bei gleicher Kontextualisierung, glücken oder – scheitern. Dies gilt auch für das oben zitierte Konzept von „Doing Age“, dem sich in der resignifizierenden Wiederholung ein ‚Un‘ einschreiben kann. Das wäre selbst wiederum eine Wiederholung bzw. ein Zitat, denn auch der „Doing Gender“-Ansatz wurde durch unterschiedliche Konzepte von „Undoing Gender“ resignifiziert und erweitert: Stefan Hirschhauer versteht unter ‚Undoing Gender‘ das Vergessen und Neutralisieren von Geschlechterdifferenz (Hirschauer 2001). Francine M. Deutsch schlägt hingegen vor:
„that we reserve the phrase ‘doing gender’ to refer to social interactions that reproduce gender difference and use the phrase ‘undoing gender’ to refer to social interactions that reduce gender difference.” (Deutsch 2007:122).
Ich beziehe die folgenden Überlegungen zu Praktiken von „Undoing Age“ auf die 2004 erschienene Essay-Sammlung Undoing Gender von Judith Butler (2004) und Judith Lorbers Überlegungen zum „Degendering“ (Lorber 2004). Butler versteht unter „Undoing Gender“ performative Strategien, die „restrictively normative conceptions of sexual and gendered life“ auflösen („to undo“) (Butler 2004:1). Prozesse des „Undoing Gender“ sind Butlers Verständnis nach nicht zwangsläufig positiv besetzt, sondern können auch negative Erfahrungen zeitigen. Im Gegensatz zu den Ansätzen von Hirschhauer (2001) und Deutsch (2007) bezieht sich ihr Ansatz weder auf Geschlechtsneutralität noch auf die Neutralisierung von Geschlechterdifferenz, geschweige denn auf die Abschaffung der Kategorie Gender. Diese Deutungen sind insofern unzulässige Vereinfachungen, als die Qualität von Butlers Ansatz gerade in der Berücksichtigung des Bedeutungsspektrums der Konnotationen von ‚to undo something‘ bzw. ‚someone‘ besteht: Das Spektrum reicht von annullieren, zurücknehmen, rückgängig machen, löschen und widerrufen über aufknoten, trennen, auflösen und öffnen, hin zu zerstören, jemanden zu Grunde richten oder etwas zunichte machen.
„Undoing Age“ meint deshalb in meinem Verständnis nicht, die Kategorie des Alters im Sinne einer alterslosen Gesellschaft abzuschaffen oder die Altersdifferenz zu neutralisieren. Mit dem Konzept von „Undoing Age“, wie ich es im Anschluss an Butlers Ansatz entwickele, lassen sich vielmehr die performativen Strategien untersuchen, mit denen bestehende Altersnormierungen und restriktive normative Altersleitbilder demontiert und dekonstruiert werden können und somit günstigenfalls neue Handlungsspielräume und neue Möglichkeiten, Altern zu gestalten, eröffnet werden. Mit dem Ziel, die Bedeutungsvielfalt von ‚to undo‘ – changierend zwischen Befreiung und Öffnung einerseits und Annullierung, Zerstörung, Löschung andererseits – zu wahren, versuche ich die Praktiken von „Doing Age“ und „Undoing Age“, der Konstruktion und der Dekonstruktion von normativ funktionalisierten Altersbildern, als ineinander verschränkte zu analysieren, als eine ,Politik des ,Performativen‘, die in direkter Weise die Bildung des ‚alternden Ichs‘ und seine diesbezügliche Handlungsmacht betrifft. Diesen Zusammenhang erläutert Butler folgendermaßen:
„If I am someone who cannot be without doing, then the conditions of my doing are, in part, the conditions of my existence. If my doing is dependent on what is done to me or, rather, the ways in which I am done by norms, then the possibility of my persistence as an ‚I‘ depends upon my being able to do something with what is done to me. This does not mean that I can remake the world so that I become its maker. [...] If I have any agency, it is opened by the fact that I am constituted by a social world I never chose. [...] As a result, the ‚I‘ that I am finds itself at once constituted by norms and dependent on them but also endeavors to live in ways that maintain a critical and transformative relation to them. This is not easy, because the ‚I‘ becomes, to a certain extent unknowable, […], with becoming undone altogether, when it no longer incorporates the norm in such a way that makes this ‚I‘ fully recognizable.“ (Butler 2004:3)
Ohne die für das ‚Ich‘ konstitutive Macht sozialer Normen in Zweifel zu ziehen, geht es nach Butler im Prozess der Ich-Konstitution insbesondere darum, eine kritische und transformative Beziehung zu den Normierungen anzustreben. Auch wenn sich die zitierte Passage auf die Relation zwischen kulturellem Geschlecht und ‚Ich‘ bezieht, scheint in der Formulierung des letzten hier zitierten Satzes die Temporalität der Inkorporation von Körpernormierungen auf: Das ‚Ich‘ wird erst dann ‚undone‘, im Sinne von unkenntlich, wenn es nicht mehr bzw. nicht länger die Norm in der Weise verkörpert, die es als ‚Ich‘ erst kenntlich und (an)erkennbar für andere macht.
Wenn altersbezogene Körpernormierungen und -disziplinierungen sich zunehmend an auch im Alter aufrechtzuerhaltender Leistungsfähigkeit orientieren und als Ideal allein die jugendliche Schönheit anerkennen, so hat das Auswirkungen auf die Inszenierung von Altersidentität. Das Passing als ‚Ich‘ ist dann mit dem Aspekt der Temporalität insofern verknüpft, als die Anerkennung des ‚Ich‘ an die Verkörperungsmöglichkeit einer an Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit orientierten Körpernorm geknüpft ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass in den Inszenierungen von Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit im Alter keine Möglichkeiten liegen, in kritischer und transformativer Weise den Spielraum möglicher Altersidentitäten zu erweitern. Die Re-Iteration der Norm jugendlicher Schönheit kann durchaus auch ein subversives Potential entfalten, wie Thomas Küpper (2010) zeigt. Gerade im Alternsprozess und den damit verbundenen Körperinszenierungen sieht Butler Möglichkeiten der Resignifikation von Normen, die unsere Vorstellung von Realität neu bestimmen:
„These practices of instituting new modes of reality take place in part through the scene of embodiment, where the body is not understood as a static and accomplished fact, but as an aging process, a mode of becoming that, in becoming otherwise, exceeds the norm, reworks the norm, and makes us see how realities to which we thought we were confined are not written in stone.“ (Butler 2004: 29)
Das Altern des Körpers und die Inszenierungen des alternden Körpers unterliegen ebenso der sozialen Normierung wie die Konstituierung des ‚Ich‘. Aber der körperliche Alternsprozess und die diesbezüglichen Inszenierungen von Altersidentität eröffnen auch Möglichkeiten für Bildungsprozesse, verstanden als ein „Anderswerdenkönnen“ (Ricken 1999:409) des ‚Ich‘ durch diskursive Praktiken, die normative Alters- und Körperbilder transformieren und zur Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten, Altern zu inszenieren, beitragen.
Körper, Alter-Ego und die Fiktion autobiographischer Repräsentation
Der eigene Körper lässt sich nicht als ein ganzer sehen. So bleiben wir ohne einen Spiegel kopflos. Aber auch der Spiegel zeigt nur eine eindimensionale Oberfläche, und allemal die Spiegelung im Blick der anderen bleibt bruchstückhaft und trügerisch. Auch Schrift und Text helfen diesbezüglich nicht viel weiter und sind als Spiegel höchstens metaphorisch geeignet. Die Schrift ersetzt das Bild des Körpers, wie Christiaan L. Hart Nibbrig ausführt, „als Zeichen verweigerter Spiegelung“: „Wo das Auge, ein Körper-Bild erwartend, umspringen muß auf den Text, wird ihm die bildliche Erfüllung seiner Erwartung verweigert und zugleich negativ zurückgespiegelt, daß das, was es erwartet, der Körper, abstrakt geworden ist und daß es im Grund schon von ihm abgesehen hat. Lesen heißt dann: ihn suchen“ (Hart Nibbrig 1985:197). Das verweigerte Abbild des Körpers im Text wirkt nichtsdestotrotz performativ, insofern als auch die Konstruktionen und Dekonstruktionen des Körpers im Text die Normen für das regulieren, was wir überhaupt als Körper wahrnehmen und anerkennen.
Das gilt auch für das ‚Ich‘ im Text. Es ist im buchstäblichen Sinn ein ‚Alter-Ego‘. Deshalb ist der Versuchung zu widerstehen, vorschnell den „autobiographischen Pakt“ (Lejeune 1994) zu schließen, in dem das erzählte ‚Ich‘ mit der Autorin oder dem Autor identifiziert wird. Diese Identifikationsleistung ist, wie Philippe Lejeune im Anschluss an Benveniste ausführt, der performative Effekt, der gemeinhin eintritt, wenn wir ‚Ich‘ sagen oder schreiben: Die Funktion von Personal-, Possessiv- oder Demonstrativpronomen liegt nun einmal nicht im Begrifflichen, sondern ihre Funktion besteht darin, „auf einen Namen zu verweisen oder auf eine Ganzheit, die sich mit einem Namen bezeichnen läßt“ (Lejeune 1994:22). In einer Textanalyse kommt es nun aber gerade darauf an, diese Identifikation nicht zu leisten, also die Referenz zwischen ‚Ich‘ und Autor*in nicht vorschnell herzustellen, sondern vielmehr die Effekte, die das ‚Ich‘-Sagen oder -Schreiben auslöst, zu untersuchen sowie die Strategien, mit denen sich das ‚Ich‘ überhaupt als ‚Ich‘ positioniert. Diese methodische Zurückhaltung ist jedoch in der Biographie-Forschung umstritten, da viele Untersuchungen (z.B. narrativer Interviews) von der „Homologiethese“ ausgehen. Sie besagt nach Koller (einer der wenigen Erziehungswisssenschaftler, der dieser These nicht folgt), „daß die Struktur von Erzählungen (sofern es sich um die Erzählung selbsterlebter Erfahrungen handelt) der Struktur dessen, wovon erzählt wird, homolog sei – oder mit anderen Worten: daß solche Erzählungen mehr oder minder getreues Abbild tatsächlich vergangener Erfahrungen liefern“ (Koller 1999:171f.). Dieser „biographischen Illusion“ (Bourdieu 1990), vor der Bourdieu die Biographie-Forschung schon in den 1980er Jahren warnte, sollen die folgenden Textanalysen nicht erliegen. Es wird vielmehr in Anknüpfung an die bildungstheoretischen Überlegungen von Klaus Mollenhauer davon ausgegangen, „dass noch die wahrhaftigste Selbstoffenbarung eine soziale Inszenierung ist, die sich durch die geschichtlichen Formen hindurcharbeiten muss“ (Mollenhauer 1987:17).
Im Folgenden werden Schreibweisen des ‚alternden Ich‘ und deren Zusammenhang mit der Konstruktion und Dekonstruktion des alternden Körpers im Hinblick auf die eingesetzten Strategien von „Doing Age“ und „Undoing Age“ untersucht. Inwiefern auch die kulturelle Alterskonstruktion einer ‚Politik des Performativen‘ unterliegt und sich ihrer bedient wird am Beispiel von Susan Sontags Essay The Double Standard of Aging (1972) und Silvia Bovenschens Notizen über das Älter werden (2006) gezeigt. Die Analyse konzentriert sich 1. auf die Erzählperspektiven des alternden ‚Ich‘, 2. auf die körperbezogenen Alterstopoi und deren intertextuelle Resignifikation sowie 3. auf die unterschiedlichen Versuche von ‚Wahrheitsproduktion‘, die die Relation von Alter, Körper und ‚Ich‘ politisch aufladen.
Susan Sontags Erzählperspektiven: ‚Ich‘ und das Altern der Anderen
Sontags Essay The Double Standard of Aging beginnt mit der direkten Frage: „‘How old are you?‘“ (Sontag 1972/1977:285). Kein ‚Ich‘ beginnt den Text, sondern ein ‚Du‘ wird angesprochen und mit der Frage nach seinem Alter konfrontiert. Wer fragt, und wer wird gefragt? Dass es nicht der Erzähler/die Erzählerin ist, der/die die Frage an eine/n impliziten Leser/in richtet, markieren zunächst nur die Anführungszeichen, in die die Frage gesetzt ist. Dennoch scheint die Frage die Grenze des Textes in Richtung des Lesers/der Leserin zu überschreiten. Erst die beiden folgenden Sätze ziehen die Grenze wieder fest und markieren den fiktiven Raum, den der Leser/die Leserin imaginär ausgestalten kann: „The person asking the question is anybody. The respondent is a woman, a woman ‚of a certain age‘, as the French say descreetly“ (Sontag 1972/1977:285). Das erzählende ‚Ich‘ wird erst drei Seiten später eingeführt. Bis dahin dominiert das unpersönlich-objektivierende und verallgemeinernde ‚man‘: „At thirty, one pushes the sentence forward to forty. At forty, one still gives oneself ten more years“ (Sontag 1972/1977:288). Der Wechsel in die Perspektive des erzählenden Ich erfolgt jedoch nicht, um über eben dieses ‚Ich‘ und seinen Umgang mit dem eigenen Alter(n) zu erzählen. Im Fokus (der Kritik) steht vielmehr die um vier Jahre ältere engste College-Freundin, deren Verhalten von der Ich-Erzählerin/dem Ich-Erzähler bezeugt wird: „I remember my closest friend in college sobbing on the day she turned twenty one. ‚The best part of my life is over. I’m not young any more.‘ She was a senior, near graduation. I was a precocious freshman, just sixteen“ (Sontag 1972/1977:288). Nicht die Ich-Erzählerin/der Ich-Erzähler steht dafür ein, die These vom „double standard of aging“ zu beglaubigen, sondern der Topos der ‚besten Freundin‘ wird aufgerufen, um den Beleg für die gesellschaftliche Geschlechterdifferenz in Hinsicht auf Normierungen des alternden Körpers zu liefern. Rhetorisch gesehen, ein waghalsiges Unterfangen, denn dieser Topos wird leicht als Strategie des erzählenden ‚Ich‘ gelesen, sich selbst nicht offenbaren zu wollen und deshalb das ‚Ich‘ durch den Namen der/des Anderen zu ersetzen. Diese rhetorische Strategie unterläuft die Proklamation der Authentizität – dem an Frauen gerichteten Aufruf, zu ihrem kalendarischen Alter zu stehen und sich nicht am Ideal mädchenhafter Schönheit zu orientieren –, die der Text auf der konstativen Ebene beschwört. Hier zeigt sich, wie eng Strategien von „Doing Age“ und „Undoing Age“ verknüpft sein können: Wird auf der konstativen Ebene des Textes eine affirmative Identitätspolitik des Alters eingefordert, die sich gegen das für den alternden weiblichen Körper normierte Ideal mädchenhafter Schönheit richtet, so unterläuft die Schreibweise des Textes performativ eben diesen Aufruf, indem das ‚Ich‘ sich hinsichtlich seines Alters als ‚die Jüngere‘ inszeniert. ‚Alt‘ ist in diesem Text buchstäblich nur ‚die Andere‘.
Altern als Inszenierung: Körperbezogene Alterstopoi
Sontags Text kritisiert den gesellschaftlichen „double standard of aging“, das heißt den unterschiedlichen sozialen Maßstab, der an alte Männer im Unterschied zu alten Frauen angelegt werde. Während für den männlichen Körper zwei Schönheitsideale existierten (das des Jungen und das des reifen Mannes), gäbe es für Frauen nur das Ideal des mädchenhaften Körpers. In diesem Zusammenhang wird das hohe Alter (old age) vom Älterwerden bzw. Altern (aging) unterschieden. Altern wird nicht als biologischer Prozess, sondern als kulturelles Konstrukt verstanden – eine subjektiv imaginierte Krankheit und soziale Pathologie, unter der mehr Frauen als Männer leiden. Das hohe Alter hingegen gehöre in ein anderes Kategorienraster. Es sei eine objektive Kategorie des Schmerzes und des Leids: „the objective, sacred pain of old age is of another order than the subjective, profane pain of aging. Old age is a genuine ordeal, one that men and women undergo in a similar way. Growing older is mainly an ordeal of the imagination – a moral disease, a social pathology – intrinsic to which is the fact that it afflicts women much more than men” (Sontag 1972/1977:285). Im Gegensatz zur Hochaltrigkeit, sei das Älterwerden nur ein Problem der kulturell codierten Wahrnehmung – und zwar des Fremd- und Selbstbildes. In diesem Zusammenhang sei es insbesondere ein weibliches Phänomen, weil Altern in Bezug auf Frauen konventionell als Fehlen von Jugend wahrgenommen werde, hingegen bei Männern durchaus als Prestigegewinn (Sontag 1972/1977:286).
Weiblichkeit und weibliches Altern werden im Text mit Metaphern der Theatralität belegt: „To be a woman is to be an actress. Being feminine is a kind of theater, with its appropriate costumes, décor, lighting, and stylized gestures“ (Sontag 1972/1977:289). Ganz im Sinne des „Doing Age“-Ansatzes von Schroeter wird hier das Alter, insbesondere das weibliche Alter, als Performance verstanden, jedoch als Performance von Mädchenhaftigkeit. Kostüme, Bühnenbild, Licht und eine stilisierte Gestik seien die Medien des Theaters der alternden Weiblichkeit, in dessen Mittelpunkt der Körper steht. Das weibliche Gesicht wird zum „emblem“ oder „icon“, an anderer Stelle gar zur Leinwand: „A woman's face is the canvas upon which she paints a revised, corrected portrait of herself“ (Sontag 1972/1977:290). Auch an dieser Stelle ist Butlers Konzept der Performativität weiterführend, um die Resignifikationsstrategie beschreiben zu können, die hier wirksam wird. Die zitierte Passage lässt sich in dieser Perspektive als Intertext zu Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890/1986) lesen, in dem Grays Altersklage über die Vergänglichkeit jugendlicher Schönheit zitiert, aber auch resignifiziert wird: „Wie traurig es ist! Ich werde alt werden, häßlich, widerlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie über diesen Junitag hinaus altern... Wenn es nur umgekehrt sein könnte! Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe, und das Bild altern könnte! Dafür – dafür – gäbe ich alles. Ja, nichts in der Welt wäre mir dafür zu viel. Ich gäbe meine Seele als Preis dahin.“ (Wilde 1890/1986:36). Doch zeigt sich bei Sontag in der Wiederholung dieser Topoi der Altersklage die Differenz: In Sontags Text wird das Porträt der Jugend direkt auf die Haut gemalt. Die Haut selbst dient dabei als „canvas“, als Leinwand. Oscar Wildes Roman hingegen erzählt, wie anstatt des Dorian Gray sein auf Leinwand gemaltes Portrait altert. Die in Wildes Roman erzählte räumliche Distanz zwischen Porträt und Figur, zwischen Signifikant und Signifikat wird in Sontags Text verkürzt. Das Portrait jugendlicher Schönheit wird direkt auf das alternde Gesicht gemalt. Beide Texte implizieren eine moralische Infragestellung der am Ideal jugendlicher Schönheit orientierten Altersperformativität. Am Ende von Wildes Roman scheitert der Versuch eines an das Medium des Bildes „delegierten Alterns“ (Kampmann 2010) tragisch, so dass das Streben nach ewiger Jugend als Beginn einer langen Reihe moralischer Verfehlungen des Protagonisten erscheint. In Sontags Essay wird die moralische Verurteilung einer an Jugendlichkeit orientierten Altersperformanz explizit formuliert und mit dem pathetischen Aufruf „Woman should tell the truth“ verstärkt (Sontag 1972/1977:294).
Alter und Wahrheit: „Woman should tell the truth!“
Liest man Sontag gegen Sontag, so wird deutlich, dass in The Double Standard of Aging weibliche Altersinszenierungen anderen moralischen Maßstäben und anderen ‚ageing policies‘ unterzogen werden als die in Sontags Anmerkungen zu ‚Camp’ (1964/1968) – dort mit explizitem Bezug auf Oscar Wilde – vornehmlich männlich konnotierten Formen homosexueller Altersperformanz:
„Im Camp löst sich die Moral auf, wird die moralische Entrüstung neutralisiert. Camp fördert das Spielerische. [...] Wenn aber auch die Homosexuellen seine Vorhut gewesen sind, so ist der Camp-Geschmack doch weit mehr als Homosexuellen-Geschmack. Offenkundig ist die Metapher des Lebens als Theater besonders geeignet, einen bestimmten Aspekt der Situation der Homosexuellen widerzuspiegeln und zu rechtfertigen (zudem kommt das Beharren des Camp auf dem Unernsten, Spielerischen, dem Wunsch der Homosexuellen entgegen, jugendlich zu bleiben).“ (Sontag 1964/1968:283).
Camp, als Form ästhetisierender (Selbst)-Inszenierung, die unter anderem das fortgeschrittene kalendarische Alter spielerisch unterläuft, wird hier als Emanzipationsstrategie der Homosexuellenbewegung beschrieben. In Bezug auf künstlich-künstlerische Selbstinszenierungen alternder Weiblichkeit wird die Inszenierung von Jugendlichkeit jedoch als Form der Lüge und des Selbstbetrugs verurteilt:
„Women have been accustomed so long to the protection of their masks, their smiles, their endearing lies. Without this protection, they know, they would be more vulnerable. But in protecting themselves as women, they betray themselves as adults. The model corruption in a woman’s life is denying her age. She symbolically accedes to all those myths that furnish women with their imprisoning securities and privileges, that create their genuine oppression, that inspire their real discontent. Each time a woman lies about her age she becomes an accomplice in her own underdevelopment as a human being.“ (Sontag 1972/1977:294)
Der Text schließt emphatisch mit dem Aufruf zu einer affirmativen Identitätspolitik weiblichen Alters: „Women should tell the truth“ (Sontag 1972/1977:294). Frauen sollen die ‚Wahrheit‘ ihres kalendarischen Alters bezeugen. Mit der Verleugnung des Alters hingegen seien sie selbst ‚Komplizinnen‘ der Aberkennung ihres eigenen Subjektstatus. Die traditionell topisch mit der Theater- und Maskenmetaphorik (vgl. Biggs 2004) verknüpften Signifikanten ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, ‚Betrug‘ und ‚Selbstbetrug‘ verweisen auf eine moralisch aufgeladene affirmative Identitätspolitik des Alters, die eng mit der Frage nach der Performativität von Altersidentität verknüpft ist. Diese Topik zeigt, dass die Performativität des Alters gouvernemental in „Technologien des Selbst“ (Foucault 1993) eingeübt wird und an Normalisierungsformen geknüpft ist, die über die Anerkennung der/des Alternden als Subjekt entscheiden. Wie sehr diese Topik jedoch einem historischen Wandel unterworfen ist, zeigt ein kurzer Seitenblick auf den Ansatz von Bryan S. Turner aus den 1990er Jahren, der die Topik von Betrug und Alter, die Sontags Texte bestimmt, geradezu permutiert: „With ageing the outer body can be interpreted as a betrayal of the youthfulness of the inner body“ (Turner 1995:257). In der deutschen Übersetzung bietet sich die Unterscheidung zwischen Leib und Körper an: Der alternde Körper wird von Turner als Betrug am Leib interpretiert, als Betrug an der ‚wahren‘, in diesem Fall als jugendlich konstruierten Altersidentität. In Susan Sontags Text hingegen wird die Inszenierung von Jugendlichkeit (zumindest im Hinblick auf weibliche Altersperformanz) als Betrug und das kalendarische Alter als ‚Wahrheit‘ stilisiert. Die Identitätspolitik in Turners Ansatz orientiert sich nicht am Maßstab des kalendarischen Alters, sondern an dem einer leiblichen Altersidentität. Beiden Ansätzen ist jedoch gemein, dass sie auf die Rede vom ‚wahren‘ Selbst rekurrieren, das daran gemessen wird, inwieweit es sich dem Prinzip geschlossener Altersidentität unterwirft.
Silvia Bovenschens Erzählperspektiven: vom essayistischen „Schutz der Begriffsnetze“ zum „Ich sagen“
In Silvia Bovenschens Der Essay und das Älterwerden aus dem Jahr 2001 wird die These vertreten, dass die der Altersthematik affine Gattung der Essay sei, da er in seiner „Mischung von Begriff und Anschauung, Mischung von Persönlichem und Allgemeinem, von sprachlicher Strenge und poetischem Umweg, von Tradition und Überraschung“ vor allem in der „Lebenserfahrung“ gründe (Bovenschen 2001:159). In Bovenschens 2006 erschienenem Text Älter werden. Notizen wird nicht mehr die Gattung des Essays, sondern die aus der Gebrauchsliteratur, den sogenannten Zweckformen, stammende Gattung der Notizen favorisiert. Dieser Gattungswechsel geschieht nicht stillschweigend, sondern wird problematisiert: „Ich ändere den Plan, gebe den Anspruch allgemeiner Gültigkeit, der dem Essay doch nicht ganz zu nehmen ist, auf. Das erzwingt eine andere riskantere Form. Ich muß den Schutz der Begriffsnetze verlassen, muß ‚ich‘ sagen. Auch gut. Was soll mir in meinem Alter noch passieren?“ (Bovenschen 2006:17). Die freiere Form der Notizen scheint die Möglichkeit zu geben, nicht nur Notiz vom „Älter werden“ zu nehmen, sondern auch vom ‚Ich‘. Die Notiz gibt als Gedächtnisstütze der erinnernden schriftlichen Vergegenwärtigung wechselnder Formationen des ‚Ich‘ eine Form, die die Freiheit lässt, sich der Gattung der Autobiographie anzunähern, ohne in ihr Korsett gepresst zu werden. Die im Argumentationsgang vergleichsweise geschlossenere Form des Essays wird zugunsten von thematisch oft heterogen zusammengesetzten, kurzen Kapiteln aufgegeben. An diesem Gattungswechsel vom Essay zum autobiographischen Text zeigt sich bei Bovenschen, so meine These, auch die enge Verschränkung der Schreibweisen mit unterschiedlichen Konstruktionen des alternden Körpers. In dem Essay von 2001 dominiert ein Körperbild, das von der Vorstellung geleitet wird, die Zeit, „in der der Körper noch Schicksal war“ (Bovenschen 2001:161) sei vorbei. „[U]nsere tradierten Vorstellungen von Lebensfrist und Lebenserfahrung“ seien „verwirbelt“ worden; „[d]er Anfang wird gelegentlich schon aus dem Leib ins Reagenzglas verlegt und die Vermeidbarkeit des Endes ernsthaft diskutiert“ (Bovenschen 2001:160). Dieses veränderte Körperbild, das von einer nahezu grenzenlosen biotechnologischen Gestaltbarkeit des Alternsprozesses und des menschlichen Körpers ausgeht, habe Auswirkungen auf die „Erzählungen der Wissenschaft, der Kunst und der Essayistik“ (Bovenschen 2001:161). Es erzwinge hinsichtlich der Thematisierung des Alterns geradezu eine essayistische Schreibweise. Jedoch verweigert sich im Schreibprozess von Älter werden anscheinend die Form des Essays, weil sich das Altersbild bzw. das Bild vom alternden Körper geändert hat:
„Für diese unerwartete Unzugänglichkeit [der Altersthematik im Schreibprozess eines wissenschaftlichen Essays, MH] suche ich eine Erklärung und glaube sie darin zu finden, daß ich mich – ganz im Gegensatz zu meiner kühnen These von einst [der nahezu uneingeschränkten biotechnologischen Gestaltbarkeit des Alternsprozesses, MH] – im essayistischen Spiel, wie ich es verstehe, eingeengt fühle durch die ehernen Eckdaten, die diese Thematik auszeichnen: der festgelegte Ausgang des Alterns (das, worin fortschreitendes Leben endlich mündet, im bislang unausweichlichen Tod) und die unumkehrbare Richtung des Älterwerden, dessen Zwangsläufigkeit. (Ein gutes Wort: der Zwang des Laufs.) – Diese Pointen stehen immer schon fest.“ (Bovenschen 2006:16f.)
Zwei unterschiedliche Bilder des alternden Körpers korrelieren hier mit unterschiedlichen Schreibweisen: Dem Konzept der biotechnologischen Manipulation des alternden Körpers und den daraus erwachsenden Möglichkeiten steht das Konzept der Zwangsläufigkeit und Unumkehrbarkeit des körperlichen Alternsprozesses gegenüber. Um letzterem Alters- und Körperkonzept dennoch den Anspruch individueller Handlungsmacht und Gestaltungsfähigkeit abzutrotzen, werden nun andere narrative Strategien gewählt: „Das Eigene [...] könnte ich allenfalls in der Besonderheit meiner individuellen Wahrnehmung dieses Zwangsgangs finden.“ Das „Ich sagen“ eröffnet jetzt die narrative Konstruktion eines individuellen Spielraums gegenüber dem „Zwangsgang“ des alternden Körpers, nicht mehr die allgemeinen „biotechnologischen Umbrüche“, die „längst schon unser Dasein überwölben.“ (Bovenschen 2001:161). Das „Ich sagen“ und die Formulierung der „Besonderheit der individuellen Wahrnehmung“ wird hier zur Praxis von „Undoing age“, die sich in einen reflektierenden Bezug zum Bild vom Alter als „Zwangsgang“ setzt und in dessen wiederholender Resignifikation das Spektrum möglicher Inszenierungen von Altersidentität dennoch erweitert wird.
„Kleine Schieflagen und Vergeblichkeitssignale in gekonnten Stilisierungen“: Körperbezogene Alterstopoi
Die Praxis wiederholender Resignifikation der Norm wird in den Notizen über das Älter werden am Beispiel der scheiternden Performanz eines normierten Bildes von jugendlicher Weiblichkeit geschildert: „Ich weiß nicht, woher das Bild in meinem Kopf kam. Es war detailgenau. Und ich – lassen wir mich elf oder zwölf Jahre alt sein – war darauf“ (Bovenschen 2006:14). Zur Realisierung dieses Bildes gehören ein amerikanisches „Button-down-Hemd“, eine „Pilotensonnenbrille“ und ein „Chevrolet“.
„Und dann kam die große Desillusionierung. Zur Erfüllung dieses Bildes gehörte nämlich unabdingbar, daß ich meinen Arm lässig aus dem heruntergekurbelten Fenster lehnen sollte. Dafür war ich aber zu klein. [...] Aus! Ich war zu klein für das Bild, oder das Bild war zu groß für mich. Vielleicht hatte ich Jean Harlow oder Ava Gardner in einem Film oder auf einem Plakat in dieser Pose gesehen. [...] Damals war das eine Niederlage. Heute aber liebe ich kleine Schieflagen und Vergeblichkeitssignale in gekonnten Stilisierungen“ (Bovenschen 2006:14f).
Die scheiternde Performanz einer Zwölfjährigen, die versucht, ein filmisch konstruiertes Frauenbild zu zitieren, lässt sich als poetologischer Kommentar zur Schreibweise des gesamten Textes lesen, der zwischen „gekonnte[r] Stilisierung“ und „Vergeblichkeitssignalen“, zwischen „Doing“ und „Undoing Age“, zwischen Konstruktion und Dekonstruktion des Alters als das ‚Ich‘ disziplinierende Kategorie changiert. Diese Ambivalenz zwischen Setzung einerseits und Relativierung andererseits wird auch hinsichtlich der Einstellung zu chirurgischen Eingriffen am alternden Körper deutlich: Das erzählende ‚Ich‘ kann
„die Frauen verstehen, die zum Chirurgen rennen und raffen, straffen und absaugen lassen, was das Zeug hält. Wäre ich gesund, wohlhabend und angstfrei, würde ich es wahrscheinlich auch tun. [...] Wäre es im Aufwand und im Risiko dem Zahnersatz vergleichbar, machten es dann nicht alle? Um mich zu läutern, wird mir von einer Vierzehnjährigen erzählt, die auf eine Brustvergrößerung spart. Vielleicht muß ich neu nachdenken“ (Bovenschen 2006:98f.)
Die Formulierung von Ambivalenz als performative Strategie wird in einer anderen Notiz geradezu zur postmodernen Narratologie des alternden ‚Ich‘:
„Irgendwann fiel mir auf, daß ich mein Älterwerden in zwei kraß unterschiedenen Versionen erzählen könnte: als gesundheitliche Katastrophenabfolge. Eine Horrorgeschichte. [...] Zugleich aber kann ich mein Leben in eine helle Erzählung bringen. Ich kann viele Momente des Glücks, der Liebe und der freudigen Erregung in ihr bergen. Ich stelle fest, daß ich die Berechtigung beider Geschichten anerkenne, daß sie sich [sic!] völlig unversöhnt, unvermittelt, gewissermaßen parallel geführt, in meinem Gemüt [...] Raum haben.“ (Bovenschen 2006:104)
Diese Ambivalenz zweier heterogener Erzählungen des Alterns, die gleichzeitig den Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Authentizität erheben, da sie beide „Raum im Gemüt“ des ‚Ich‘ beanspruchen, zielt nicht auf die Formation eines geschlossenen, mit sich identischen ‚Ich‘.Vielmehr wird durch diese narrative Strategie ein ‚Ich‘ konstruiert, das sich in der Differenz verortet, nicht aber in der Identität. Das führt zu einer besonderen Form narrativer Wahrheitsproduktion.
Wahrheitsproduktion
Die Ich-Erzählerin entlarvt sich im Text als unzuverlässige Erzählerin des eigenen ‚Ich‘. Gerade durch diese narrative Strategie wird allerdings Authentizität inszeniert. Das erzählte ‚Ich‘ fragt sich selbst nach dem Grund dieser „Kontinuitätsveranstaltung“, dem Grund für das „Lügengespinst meiner erinnerten Ich-Legende“: „Ich glaube eigentlich (?) nicht an diese Ich-Behauptungen, jedenfalls nicht in ihren essentialistischen Varianten, und muß doch, wenn ich an mich und meine Alterungen zurückdenke, bis zu einem gewissen Grade an sie glauben, um überhaupt zurückdenken zu können“ (Bovenschen 2006:153). Mit „Als ob“ ist diese Notiz überschrieben. In diesem ‚So-tun-als-ob‘, diesem Schreiben „Als ob“, mit dem das erzählte ‚Ich‘ immer wieder in Frage gestellt wird, zeigt sich nicht nur die Verschränkung von „Doing“ und „Undoing age“, sondern auch die Verschränkung von „Doing“ und „Undoing“ des Körpers sowie „Doing“ und „Undoing“ des ‚Ich‘:
„Die Selbstverständlichkeit einer naiven Ich-Behauptung, im Sinne dessen, was man heute mit dem Wort ganzheitlich meint, waren mir schon früh erschwert. [...] Zu viele Gefährdungen und Behinderungen an und in mir (zu denen dann noch das Alter trat). Die nichtfunktionierenden Gliedmaßen haben mich befremdet. [...] Die Unzuverlässigkeit meiner Teile. Um aus diesem Kampf gegen mich selbst wenigstens zeitweise – illusionär, das wußte ich schon – herauskommen zu können, etablierte ich befreite Zonen: um mein Ich nicht völlig in Krankheit und Behinderung aufgehen zu lassen, mußte ich mich gewissermaßen parzellieren, den Körper abgekoppelt betrachten. [...] Eine lange Zeit gönnte ich mir eine Geist-Heimat (gestattete mir einen uneingestandenen Körper-Geist-Dualismus). [...] Jetzt aber mit dem immer unzuverlässigeren Gedächtnis [...] wird mir bewußt, was ich immer schon wußte: Auch mein Geist ist Teil dieser unzuverläßlichen Veranstaltung. [...] Ich bin ein bündelndes rückkoppelndes Als-ob, das sich eine fragwürdige Erinnerungsgeschichte schafft, um dann aus ihr zu bestehen ...“ (Bovenschen 2006:153f.)
So wird ein erzähltes ‚Ich‘, das so tut „Als ob“, diese Fiktionalität aber kritisch reflektierend beschreibt und sein Tun in der Beschreibung gleichzeitig ironisch in Frage stellt, zum Paradebeispiel von performativen Resignifikationsstrategien des alternden Körpers im Text, die nicht auf eine affirmative Identitätspolitik des Alters setzen – wie sie Sontags Text zumindest auf der konstativen Ebene propagiert. Stattdessen wird die Ambivalenz von „Doing Age“ und „Undoing Age“ stark gemacht. Die Norm eines ganzheitlichen, autonomen, mit sich identischen alternden ‚Ich‘ wird als illusionär dekonstruiert, aber dennoch als „notwendige Illusion“ (Pichler 2007:212) in der Erzählung und durch sie aufrechterhalten. Pichler begreift in Anlehnung an Käte Meyer-Drawes bildungstheoretisches Konzept von Autonomie als Illusion das Altersleitbild des ‚autonomen Alters‘ zwar als ein in seinen Allmachtsansprüchen zu kritisierendes Konzept, aber dennoch als „notwendige Illusion“, die eine bildende Kraft entfalten kann: „Die Illusion von Autonomie kann als Illusion begriffen werden und gerade deshalb maßgebliche Kraft entfalten, weil sie sich kritisch gegen reale Verstrickungen wendet“ (Meyer-Drawe 2000:12). Während die Schreibweisen in Sontags The Double Standard of Aging die Topoi der Rede vom ‚wahren‘ Selbst affirmativ zitieren und das alternde (weibliche) Subjekt daran messen, inwieweit es sich dem Prinzip geschlossener (Alters-)Identität unterwirft, unterlaufen die Schreibweisen, mit denen das ‚Ich‘ in Bovenschens Älter werden erzählt wird, die Formation eines geschlossenen, mit sich identischen ‚Ich‘. Damit ist nicht gesagt, dass der Strategie einer Selbstdefinition mittels offensiver Nennung des kalendarischen Alters nicht auch ein kritisches, Altersnormen transformierendes Potential inhärent sein kann. Schlägt die Strategie jedoch in eine normative Festschreibung um („Women should tell the truth!“), so zielt sie nicht mehr auf eine Erweiterung des Spektrums der Möglichkeiten, Altern zu inszenieren, sondern vielmehr auf Begrenzung.