Die Umkehrung des Widerspruchs. Die Doppelrolle Forscherin–Kulturagentin als Resonanzraum künstlerisch-edukativer Prozesse
Abstract
Ein tiefgreifendes Unbehagen, das sich in der Praxis einer Kulturagentin für kreative Schulen und ausgehend von der Diskrepanz zwischen ihrer Vorannahme und situierten Erfahrung in der Schule manifestiert, ist Ausgangspunkt für eine qualitativ-empirische Praxisforschung. Wie begegnet die Kulturagentin diesem Unbehagen? Welche Rolle spielt es für ihre Forschung? Mit Hilfe der Konstruktivistischen Grounded Theory nach Kathy Charmaz (2006) wird die eigene Praxis ausgehend von der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin erforscht und das Unbehagen als etwas identifiziert, das als unauflöslicher Widerspruch in der Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, Künstler*innen und Kulturagent*innen erfahren wird (vgl. Spivak 2012/2023). In der Zusammenarbeit stellt sich die Frage, ob es möglich ist, diesen unauflöslichen Widersprüchen einen Handlungsspielraum entgegenzusetzen (Ballath 2024). Das Unbehagen ist Motiv und Ausgangspunkt dafür, dass die Kulturagentin sich entscheidet, mit dem Erforschen ihrer Praxis zu beginnen. Mit der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin wird es ihr möglich, der Frage nachzugehen: Wie wird Differenz zu einer Möglichkeit, um den Widersprüchen einen Handlungsspielraum entgegenzusetzen (Foucault 1978/1992; Gürses 2004; Haraway 1995; Sternfeld 2009, 2020)? Der Text stellt das methodische Vorgehen vor, das aus dem Resonanzverhältnis zwischen Kulturagentin–Forscherin entwickelt worden ist.
EINLEITUNG
Als ich 2011 meine Tätigkeit als Kulturagentin im Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen antrat, war ich fest davon überzeugt, dass nur subversive Sichtweisen und Praxen – die ich in den Künsten verortete – das Potenzial haben, solche Räume zu schaffen, mit denen die bestehenden kapitalistischen, Ungleichheit produzierenden und hegemonialen Strukturen (wie beispielsweise in Schulen) in Bewegung versetzt, hinterfragt und verändert werden können. Allerdings kollidierte diese Überzeugung zwischen 2011 und 2013 zunehmend mit den Praxiserfahrungen im Modellprogramm (vgl. Ballath 2024:199–204).
Das Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen
Das Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schule wurde 2011 durch die Stiftung Mercator und die Kulturstiftung des Bundes in fünf Bundesländern (Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Thüringen) initiiert. Das Ziel kultureller Teilhabe stand im Fokus. Teilnehmen konnten pro Bundesland 30 Schulen, die von zehn Kulturagent*innen begleitet wurden. In jeder Schule wurde ein*e Ansprechpartner*in, die sogenannte kulturbeauftragte Lehrperson ernannt, um gemeinsam mit der*dem Kulturagent*in ein kulturelles Profil in der Schule aufzubauen. Idee war gemeinsam mit Schüler*innen, Lehrpersonen, pädagogischen Fachkräften, Schulleitung, ggf. auch Eltern sowie Künstler*innen und Kulturinstitutionen künstlerische und pädagogische Methoden, Ansätze und Formate gemeinsam zu erforschen und langfristig zu etablieren. Der Fokus konnte auf dem Unterricht, dem Ganztagsbereich, einer fachübergreifenden Arbeitsweise, strukturellen Veränderungen im Curriculum und der Stundentafel und so weiter liegen. Werkzeuge wie ein Kulturfahrplan, eine Kulturgruppe sowie regelmäßige Austauschformate, zum Beispiel Netzwerktreffen und Weiterbildungen sollten dazu beitragen die Schulgemeinschaft in den kulturellen Schulentwicklungsprozess einzubeziehen. Kulturagent*innen kamen als Prozessbegleiter*innen, Projektmanager*innen, Projektleiter*innen, Künstler*innen, Pädagog*innen, Moderator*innen, Coaches, Mediator*in, Berater*innen, Buchhalter*innen, Trickster, Antragsschreiber*innen, Schulentwickler*innen und vieles mehr zum Einsatz. Sie wurden während der ersten vier Jahre pro Jahr zwei Wochen in einer bundesweiten Akademie fortgebildet und erhielten weitere Qualifikationen innerhalb der Länderstrukturen, um sich in dieser Vielzahl an Kompetenzen weiterzubilden.
Das Programm wurde zwischen 2015 und 2019 als Transferprogramm in allen Bundesländern weitergeführt. Ab 2019 übernahmen einige der Bundesländer das Programm in ihren Haushalt.
Als Kulturagentin bestand meine Aufgabe darin, mit den Menschen einer Schule – zum Beispiel: Schüler*innen, Lehrpersonen, Sozialarbeiter*innen, Hausmeister*innen, Sekretär*innen, Schulleitung, Eltern – ein kulturelles Profil in der Schule aufzubauen. Ziel des Modellprogramms war es, kulturelle Schulentwicklung (Braun/Fuchs/Kelb 2010; Braun 2011; Fuchs 2012/2013) entlang der Figur der Kulturagent*in nachhaltig im Curriculum zu etablieren. Das heißt, Kulturelle Bildung soll im Schulkontext mittels strukturell integrierter künstlerischer Prozesse nachhaltig etabliert werden. Diesem Ziel liegt die Annahme zugrunde, dass zeitgenössische Kunstproduktion ein (zu) wenig genutztes Potenzial für die Entwicklung von Schulunterricht ist. Das Programm soll daher dazu beitragen, „die Teilhabe an Kunst und Kultur als festen Bestandteil des Alltags von Kindern und Jugendlichen“ (Kulturstiftung des Bundes 2019) zu stärken. Für mich war diese Aussage der wesentliche Motor, gemeinsam mit den Schulakteur*innen Rahmenbedingungen zu (er-)finden, um ein kulturelles Profil aufzubauen. Dieses wichtige Ziel des Programms – kultureller Teilhabe – ist zugleich das Hauptmotiv für das Unbehagen, das sich zwischen 2011 und 2013 zunehmend in mir manifestierte. Obwohl das Unbehagen aus einem vagen Eindruck aus der Praxis im Kulturagentenprogramm entstanden ist und sich kontinuierlich verfestigte, war ich lange nicht in der Lage, es zuzuordnen. Die Künstlerin Anja Steidinger beschreibt Unbehagen als brüchiges und beunruhigendes Gefühl, das einem Eindruck zugrunde liegt (vgl. Steidinger 2015:12). Als Ort des Widerspruchs wird Unbehagen von ihr in Anlehnung an die Philosophin Mareike Teigler ausdifferenziert: „Fasst man Unbehagen als Ort, der sich durch den Widerspruch erklärt, im Moment des Nicht-Wissens der Bewegung überlassen zu sein und gleichzeitig dazu animiert zu werden, neue, feinere Formen der Wahrnehmung entwickeln zu können, wird deutlich, dass Reflexion hier einer immanenten, nicht einer einordnenden Ebene entspringt. Diese Ebene ist jedoch nicht einfach da, sie muss entwickelt werden, bzw. erkannt werden, sie muss aus der Wirklichkeit sprudeln“ (Teigler 2011 in Steidinger 2015:11). Der Programmfokus auf kultureller Teilhabe (vgl. Ballath 2024:57–91) war ein erster Anhaltspunkt für mich, um meinem Unbehagen nachzugehen: Noch bevor ich die Entscheidung traf, mit einer qualitativen Forschung zu beginnen, beschäftigte mich zunehmend die Frage, ob ich mit der Tätigkeit und Rolle der Kulturagentin für kreative Schulen dazu beitragen würde, Kunst im Kontext von Schule zu funktionalisieren. Die Befürchtung nahm zu, den „affirmativ-neoliberalen Einbettungsflausch und die Vereinnahmung des subversiven Potentials von Kunst“ (Zitat aus einer unveröffentlichten Briefkorrespondenz mit einer Kolleg*in, in der ich Ende 2013 mein Unbehagen versuchte in Worte zu fassen) zu reproduzieren, anstatt die (selbst-)reflexive und kritische Haltung sowie das intervenierende Potenzial, die den Künsten inhärent sind, zu aktiveren. Mit den Pädagog*innen Mai-Anh Boger und Nina Simon wird eine erste Reflexion möglich: „Kunst und Kulturelle Bildung auf naiv-unschuldige Weise als etwas zu imaginieren, das Dekolonisierung unmittelbar vorantreiben kann, geht offensichtlich fehl. Sobald eine Analyse der ökonomischen Bedingungen miteinbezogen wird, wird deutlich, dass es sich bei Kultureller Bildung um eine Dienstleistung handelt, deren Ziel stets auch darin besteht, dem Staat so zu schmeicheln, dass dies bestmöglich zu dessen positiver Selbstdarstellung beiträgt“ (Boger/Simon 2023:391). Der Wunsch diesem Unbehagen – das die eigene Praxis betrifft – zu begegnen, hängt damit zusammen, dass mit jeder künstlerisch-edukativen Projektpraxis Formen von Gewalt sicht- und erfahrbar wurden: Zum Beispiel zeigte sich diese Gewalt ausgehend von hegemonialen Ungleichheitsverhältnissen in Gestalt von Diskriminierungsformen wie Klassismus, Rassialisierung, Sexismus, Antisemitismus, Ableismus, Trans- und Homophobie. Ich begann die Forschung, um einordnen zu können, ob die künstlerisch-edukative Praxis selbst die Gewalt reproduzierte und somit mein Intervenieren in den schulischen Kontext dazu beitrug und inwieweit mit einem künstlerisch-edukativen Selbstverständnis eine subversive Praxis aktiviert und umgesetzt werden könne. Steidinger formuliert, dass das Unbehagen benennbar werden muss, damit es zu einer Forderung werden kann, die Situationen verändert (vgl. Steidinger 2015:12): Ich wollte verstehen, woher die Gewalt kam, mit der ich mich konfrontiert sah, um ihr etwas entgegensetzen zu können.
Im folgenden Text wird die Wahl des methodischen Vorgehens, mit der Konstruktivistischen Grounded Theory (KGT) zu arbeiten, aus diesem beschriebenen Unbehagen heraus argumentiert. Mittels dreier Begriffe Verantwortung, double bind und Imagination werde ich einen theoretischen Rahmen spannen, aus dem heraus ich das methodische Vorgehen skizziere.
Voranstellen möchte ich den folgenden Ausführungen mein Praxisverständnis: Ich positioniere mich in einem Zwischenraum von Kunst und Bildung sowie im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten. Als weiße, weiblich gelesene Kunstvermittlerin und Kulturagentin mit den Pronomen sie/ihr suche ich beispielsweise nach Möglichkeiten, Widersprüche konstruktiv zu verhandeln. Als nicht-behinderte und europäisch sozialisierte Forschende bewege ich mich zudem in Macht- und Ungleichverhältnissen. Und in der Lehre reproduziere ich schließlich körperliche Einschreibungen und Erfahrungen performativ sowie im Aufeinandertreffen mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern (vgl. Ballath/Niemann 2025).
Jedes dieser Felder ist von Ungleichheitsverhältnissen durchzogen. Mir ist es stets ein Anliegen, meine Situierung in die jeweilige Praxis einzubeziehen, die daraus hervorgehenden Prozesse mit den beteiligten Akteur*innen zu reflektieren und gemeinsam Handlungsformen zu entwickeln, mit denen Verschiebungen, ein Nebeneinanderstellen und Bewusstwerden über die eigene Situierung in Beziehung zu weiteren Positionen möglich werden können. Aus diesem Selbstverständnis heraus hat mir die Forschung zunächst einmal ermöglicht, in Distanz zu meiner Praxis als Kulturagentin und folglich dem Unbehagen zu treten. Sie ist daher zuallererst von der Motivation getragen, der Sprachlosigkeit und damit einhergehender Handlungsunfähigkeit, die ich gegenüber meinem Unbehagen empfand, etwas entgegenzusetzen. Trotz der Befürchtung, Kunst zu funktionalisieren, nahm ich ab Winter 2013 sonach das Unbehagen zum Anlass, mich mit dem Kunst- und Bildungsbegriff zu befassen (vgl. Ballath 2024:57–91), der im Modellprogramm vertreten wird, sowie meinen eigenen zu definieren (vgl. Ballath 2024:57–147). Beides bildet – neben der Beschäftigung mit der Doppelrolle und im Spezifischen mit Donna Haraways Konzept des situierten Wissens (vgl. Haraway 1988/2007:305–322) – eine Grundlage dafür, das Feld und die Position zu kontextualisieren, in der das Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen etabliert wird (vgl. Ballath 2024:35–91). So gelingt es, künstlerisch-edukative Projekte zu situieren, die den Forschungsgegenstand der Studie darstellen (vgl. Ballath 2024:93–147). Das Selbstverständnis, das mit einer künstlerisch-edukativen Praxis einhergeht, beschreibt seit den späten 1990er Jahren Prozesse, die für ein verändertes Selbstverständnis in dem Zusammendenken zwischen Künsten und Bildung stehen. Die Kunstpädagogin Eva Sturm hat den Begriff künstlerisch-edukative Praxis eingeführt (Sturm 1999). Akteur*innen aus unterschiedlichen Feldern kommen zusammen und entwickeln gemeinsam Ansätze, Formate und Ideen für eine Zusammenarbeit. Im Fokus stehen politisierte, teilweise aktivistische Praxen, die von Kunst ausgehen, historische Diskurse und Alltagspraktiken einbeziehen und reflektieren sowie eigene künstlerische Praktiken und Ansätze im kollaborativen Austausch hervorbringen (vgl. Ballath 2024:16). Als solche verstanden und praktiziert wird in der Studie untersucht, wie eine künstlerisch-edukative Praxis Handlungsspielräume eröffnen kann, um den beschriebenen Widersprüchen etwas entgegenzusetzen (vgl. Ballath 2024:93–147). Die Kulturagentin–Forscherin fragt: Wie kann dieses Potenzial, das die Kulturagentin in einer künstlerisch-edukativen Praxis vermutet, für Bildungsprozesse aktiviert werden? Und ist es möglich, einen staatlich reglementierten Ort wie den der Schule mit dieser Praxis von innen heraus zu hinterfragen und sich gemeinsam eine Alternative zu der bestehenden vorzustellen? Oder neutralisiert die Kulturagentin mithilfe künstlerisch-edukativer Prozesse die Widersprüche, die sich aus der kapitalistischen Gesellschaftsordnung darstellen? Die Fragen sind mit dem dringenden Wunsch verbunden, der Gewalt, die diesen Widersprüchen eingeschrieben ist und die sich in der Praxis reproduzieren, in der künstlerisch-edukativen Zusammenarbeit zu begegnen (vgl. Ballath 2024:15–16). Das Ziel mit der Forschung war es herausfinden, wie in dem Zwischenraum von Kunst, Kultur und Bildung und entlang der beschriebenen Widersprüche gesellschaftliche Ordnungen destabilisiert werden und diese in der Praxis erlebten Widersprüche in der Organisation Schule spielbar werden.
DAS FORSCHUNGSDESIGN: RESONANZEN IM ZWISCHENRAUM DER DOPPELROLLE KULTURAGENTIN–FORSCHERIN
Das prozessorientierte und qualitativ-empirische Forschungsdesign mit der KGT hat den Forschungsprozess angeleitet. Dieses methodische Vorgehen wird als iterativ-zirkuläre Arbeitsweise beschrieben. Konstruiertheit, Prozesshaftigkeit, Komparation und Interaktion sind die wesentlichen Merkmale des gesamten Prozesses von der Datenerhebung bis zur Analyse. Der Verlauf einer künstlerisch-edukativen Praxis kann gleichermaßen als ein zirkuläres, sich verdichtendes, prozesshaftes und interaktives Verfahren beschrieben werden. Diese Korrespondenz ist der Grund dafür, warum ich die KGT als methodisches Verfahren für die Forschung gewählt habe. Charmaz positioniert die Konstruktivistische Grounded Theory in der Tradition der qualitativen empirischen Forschung und legt besonderen Wert auf methodische und analytische Ansätze, die in der qualitativen Forschung verwendet werden, wie zum Beispiel teilnehmende Beobachtungen, qualitative Interviews und das kontinuierliche Schreiben von Memos. Es ist ihr besonders wichtig, dass die Anwendung einer KGT damit einhergeht, dass Forscher*innen Interpretationen anbieten, die abhängig von ihrem eigenen Wissen über das Feld konstruiert sind (vgl. Charmaz 2011:186). Ein weiterer Aspekt ist, dass sie theoretische Vorannahmen und Konzepte von Anfang an in den Prozess einer KGT einbezieht (vgl. Ballath 2024:204–227).
Während der Forschung produzierte das besondere Verhältnis der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin „Beziehungsweisen“ im Sinne der Philosophin Bini Adamczaks (vgl. Adamczak 2017/2019:237). Sie zeigen sich entlang von Resonanzen und Dissonanzen. Geht es darum den eigenen Standpunkt zu befragen, kommt mit der Wissenschaftstheoretikerin und Biologin Donna Haraway zudem der Begriff Verantwortung ins Spiel. Sie formuliert: „Verantwortlichkeit hat für mich […] etwas damit zu tun, dass wir unter uns Verbindungen aufbauen, wie wir uns selbst zusammenfügen und wie wir zusammengefügt sind“ (Haraway 1995:110). Sie eröffnet damit zunächst drei Dimensionen auf Verantwortung – eine kollaborative, eine reflexive sowie eine historische – und spricht damit die Pflicht an sich an, für etwas Sorge zu tragen. Zudem tritt entlang des Zitats deutlich hervor, dass diese Dimensionen in Abhängigkeit zum situierten Wissen einer Person stehen. Situierung ist, wie Haraway argumentiert, eine Voraussetzung dafür, dass der Körper partiale Verbindungen eingeht und Verantwortung für diese übernimmt. Ich ging also zunächst von dem situierten Wissen der Kulturagentin, später auch dem der Forscherin aus. Situiertes Wissen wird von Haraway als eine Form der Lokalisierung beschrieben. Sie versteht diese als Verortung beziehungsweise als „Wendepunkt von Ausrichtungen“ und „Verantwortlichkeit für Differenz“ (Haraway 1995:89). Für Haraway ist Verortung daher keine fixierbare Figur. Sie ist der Versuch, einen Körper (menschlich oder nicht menschlich), der ein Vorher und ein Nachher hat, in einem bestimmten Moment zu situieren. Die Situierung bezieht die spezifische Geschichte dieses Körpers ein und entwickelt sich aus dieser weiter. Sie ist partial, nicht abgeschlossen und daher beweglich. Sie ist nicht beliebig und dennoch nicht zwangsläufig brauchbar (vgl. Haraway 1995:83). Sie ist konstruiert, sie ist unvollständig und im Voraus nicht planbar oder bekannt. Für etwas Sorge zu tragen, ist demnach eng verknüpft mit der Entwicklung eines Bewusstseins für die eigene Position – in Relation zu weiteren sozialen Kontexten und Körpern, um eben diese in Relation wahrzunehmen und zu reflektieren. Auf dieser Grundlage ist Verantwortung eine Praxis des Zusammenfügens und des-zusammengefügt-Seins.
Ein Forschungsdesign, das eine Doppelrolle – in diesem Fall Kulturagentin–Forscherin – einbezieht, muss mithin beachten, dass sich dieses Rollenverhältnis in ständiger Veränderung und Bewegung befindet. Das heißt, sowohl das Vorwissen, das mit beiden Rollen einhergeht, als auch die Interaktionen untereinander sowie mit weiteren Akteur*innen und nicht-menschlichen Körpern, werden als Teil des Forschungsprozesses verstanden. Die eigene Situiertheit als auch der Kontext, in dem agiert wird, sowie die historischen Einschreibungen in diesen Kontext spielen dabei eine maßgebliche Rolle. Ein sich verdichtendes, zirkuläres Vorgehen, wie das der KGT, kann auf ein solches Verhältnis reagieren, weil die Erhebung, Auswertung und Interpretation der empirischen Daten als spiralförmiger Prozess angelegt sind. So zeichnen sich zunächst die Resonanzen und Dissonanzen in der jeweiligen (forschenden oder kulturagentischen) Praxis ab, beispielsweise in Form von Widersprüchen, Zweifeln und Irritationen, aber auch von Übereinstimmungen und Fokussierungen. Mittels Aufzeichnungsformen (z.B. teilnehmende Beobachtungen, Memos) werden die Resonanzen und Dissonanzen abgebildet und ausgehend von dem zirkulären Vorgehen kontinuierlich verdichtet. Widersprüche und Zweifel, kurz das Unbehagen wird schließlich entlang der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin benennbar (vgl. Ballath 2024:173–193).
Der Impuls für die Forschung ist aus der situierten Praxis als Kulturagentin, aus ihren situierten Erfahrungen, den Präkonzepten und Vorstellungen entstanden. Mit der Erweiterung ihrer Praxisrolle ist es der Kulturagentin möglich, das Unbehagen zu benennen (vgl. Ballath 2024:193–197). Das heißt, die Bewegungen zwischen Praxisfeld und Forschungspraxis, die sich entlang des Resonanzverhältnisses der situierten Positionen von Kulturagentin und Forscherin abbilden, eröffnen eine Reflexionsebene, mit der die Handlungsweisen beider Rollen in den Blick geraten: Risse werden sichtbar und das Unbehagen als Widerspruch zwischen den Rollen, Erfahrungen, Kontexten u.a. benennbar. Die Reflexionen spielen zudem eine entscheidende Rolle für die Rückkopplung dieser Erkenntnisse in das jeweilige Praxisfeld. Für das Forschungs- und Praxisvorgehen wird das Unbehagen so als anleitendendes Motiv einsetzbar: die Forschungsfrage präzisiert, die Schwerpunktsetzung modifiziert und das methodische Vorgehen oder eine Codierung von Grund auf hinterfragt. Maßgebend ist, dass mit der KGT der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin und dem, was im Feld sichtbar wird, relational begegnet werden kann. Mit anderen Worten, es ist möglich, Position, Rolle, Konzepte, Codierungen, Datenmaterial und so fort, kontinuierlich im Abgleich zu den Praxisinteraktionen zu reflektieren und in Bezug zu aktuellen Diskursen des Feldes sowie darüber hinausführenden Theorien zu analysieren.
DIE UMKEHRUNG DES WIDERSPRUCHS ALS HANDLUNGSRAUM
Die Kunstpädagogin Christine Heil beschreibt: „Für jemanden, der gerade eine Erfahrung macht, ist das unter Umständen kein autonomes heroisches Erlebnis, sondern eher ein diffuser und schwer greifbarer Vorgang – Erfahrungsprozesse gehen durch uns und durch unsere Möglichkeiten des Seins und Handelns mitten hindurch – sie durchkreuzen unsere Erwartungen und unser bisheriges Wissen. Und sie verschieben auch unser ‚Bezugsgewebe‘ (Arendt 1967/2019:222–234), mit dem wir mit anderen sozial verbunden sind“ (Heil 2022: o. S.). Wie eingangs eingeführt, kommt das Verhältnis zwischen den Überzeugungen der Kulturagentin im Gegensatz zu ihren konkret gemachten Erfahrungen als Unbehagen zum Ausdruck und zeigt sich zunächst als nicht benennbarer Widerspruch. Zum Zeitpunkt, als das Unbehagen wiederum dazu führte, dass die Forschung aufgegriffen wird, war die Frage nach der Funktionalisierung von Kunst schlicht eine Reflexion. Entlang der Doppelrolle und mittels KGT wurde es jedoch möglich, das Unbehagen als Funktionalisierung von Kunst zu codieren (vgl. Ballath 2024:224–406). Mit der postkolonialen Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak konnte zudem ein erster Anhaltspunkt identifiziert werden – entlang ihrer Ausführungen wurde es möglich, das Unbehagen als Motiv zu erkennen, das sich in ein komplexes gesellschaftliches Gewebe einbettete. Sie spricht von einer gewebten Textur, die die Welt durchzieht und mit der das Wissen einer Gemeinschaft reproduziert wird (vgl. Spivak 2008:44). Als Kulturagentin–Forscherin interessierte mich also, wie in dieser gewebten Textur – also den Beziehungsweisen zwischen Körpern, Räumen, Dingen und Sprache – das Unbehagen entlang der Risse und Widersprüche sicht- und verhandelbar wird. Soll es darum gehen, sozialer Ungleichheit mit künstlerischen Mitteln zu begegnen, wie dies im Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen der Fall ist, muss zunächst das Produktionsverhältnis von Praxis und Theorie in Bezug auf seinen historischen Kontext in den Blick zu rücken. Bestehende hegemoniale Narrative werden nicht einfach durch den Einsatz künstlerischer Praxen dekonstruiert, wie ich mit Hilfe von Spivaks Konzept des „Verlernens“ (Spivak 1990:9) verstand (vgl. Ballath 2024:57–91). Mit dem Konzept zeigt Spivak, dass bestehende soziale Verhältnisse hegemoniale Machtkonstellationen und Privilegien reproduzieren. Wird ihr Gewordensein nicht reflektiert, werden Herrschaftsverhältnisse erneuert. Erst ein bewusster Umgang mit diesen Hegemonien eröffnet die Möglichkeit darauf, Perspektivwechsel auf bestehende Dynamiken zwischen Körpern, Räumen, Dingen und Sprache ein- und wahrzunehmen. Damit einher geht ein Ringen um Positionen. Es findet statt, wenn das vorhandene Muster ergänzt wird. Mit dem Prozess des Hinzufügens werden sowohl Gewohnheiten und bekannte Regeln hinterfragt als auch die Gewalt aufgedeckt, die mit dem Reproduzieren von Privilegien einhergeht. Der Prozess ist jedoch für alle Beteiligten schmerzhaft. Was bedeutet dies nun für eine künstlerisch-edukative Praxis, mit der kulturelle Schulentwicklungsprozesse aktiviert werden sollen? Spivak beschreibt diese gewaltproduzierenden Widersprüche als double bind (Spivak 2012/2023:31). Zusammengefasst wird damit eine nicht offengelegte Aporie unauflösbarer widersprüchlicher Anweisungen, die als Universalisierbarkeit des Singulären reproduziert wird. Ein double bind entsteht entlang antrainierter normierender Denkgewohnheiten und wirkt auf Einstellungen, Selbstverständnisse und Routinen ein. In der Praxis der Kulturagentin äußert sich ein solcher Widerspruch wiederholt Anfang/Mitte 2013 in der Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, Künstler*innen und Kulturagent*innen im Rahmen einer einjährigen Fortbildung (vgl. Ballath 2024:125–130). In einem Memoausschnitt zu der Fortbildung wird von der Kulturagentin zusammengefasst: „Zum Beispiel fand im Rahmen der Fortbildung ein Übergang von der Kulturinstitution in die Schule statt. Die Lehrpersonen erlebten diesen Übergang als schwierig. Sie beschrieben u.a., dass ihnen der Freiraum im Rahmen der Struktur Schule fehle, künstlerische Tätigkeiten zu praktizieren. Damit einher ging ihr Wunsch nach einem Methodenkoffer“ (Ballath 2024:493–494). Noch vor diesem Übergang formulierten die Lehrpersonen, dass sie keinen Methodenkoffer benötigen würden. Sie beschrieben ihn als Gerüst, das zwar Halt gibt, aber auch einengt und reguliert. Und obwohl sie überzeugt davon sind, ihn nicht mehr zu benötigen, verlangen sie nach dem Übergang in die Schule genau dieses Werkzeug zurück. Sie wollen nicht mehr selbst entscheiden, wie die Termine gestaltet werden, sondern Methoden vermittelt bekommen, die sie im Unterricht anwenden können. Nachdem im folgenden Termin diesem Wunsch entsprochen wird, fordern die Lehrpersonen mit dem nächsten Termin der Fortbildung erneut die freie und selbstbestimmte Arbeitsweise zurück, die sie zuvor in der Kulturinstitution kennengelernt hatten (vgl. Ballath 2016; Ballath 2024:253–344). In einem gemeinsam formulierten Text zwischen dem künstlerischen Leiter der Kulturinstitution, der Prozessbegleiterin der Fortbildung und der Kulturagentin formulieren diese: „Wir bedienten die formulierte Erwartung der Pädagog_innen nach mehr Führung und Autorität mit einem von uns gesetzten Szenario. Wir arbeiteten bewusst mit einem Bruch zu den bisherigen partizipativen Strukturen der Workshopreihe. Der Wunsch oder die Forderung, nicht selbst entscheiden zu wollen, wie ein Workshop gestaltet ist, war immer wieder Teil unserer gemeinsamen Auseinandersetzungen. Bewusst (über-)erfüllten wir die Forderung nach stärkerer Führung, um das permanente Changieren zwischen Selbstbestimmtheit und Dienstleistung zum Thema der künstlerischen Auseinandersetzung zu machen. Brüche und Widerstände sollten […] nicht als Belastung empfunden, sondern als notwendiger Bestandteil eines kreativen Prozesses wahrnehmbar und erlebbar werden“ (Ballath/Hummel/Steinkrauss 2015: 9). Das war nur nicht so einfach umsetzbar. In einem Reflexionsgespräch zu der Fortbildung formuliert die Kulturagentin schließlich: „Die Widersprüche, die man selber formuliert, die Wünsche und Erwartungen, die man hat, die verändern sich […], ich will einen Rucksack und am Ende merke ich vielleicht, dass dieser Rucksack, obwohl ich die ganze Zeit meckere, dass ich ihn nicht habe, gar nicht benötigt wird, und ich andere Wege finden kann“ (Ballath 2024:504). Während des Prozesses selbst stand oftmals auch der Unmut, die Wut oder eine Verletzung an erster Stelle und es ging darum, dafür eine Form der Aushandlung miteinander zu finden.
Es sind diese unauflöslichen, teilweise existenziell empfundenen Momente, sich zwischen zwei oder mehr Positionen nicht entscheiden zu können, die im Kontext der kulturagentischen Tätigkeit Ende 2013 zu einer Hilflosigkeit der eigenen Praxis gegenüber führen. Die Befürchtung, dass ich mit dieser Tätigkeit dazu beitrug, die Künste zu funktionalisieren, anstatt die (selbst-)reflexive und kritische Haltung sowie das intervenierende Potenzial, die in den Künsten stecken, zu aktiveren, führten zu einer vorübergehenden Handlungsunfähigkeit: Ich spielte mit dem Gedanken, die Tätigkeit als Kulturagentin zu beenden. Dem gegenüber stand das Eingebundensein in eine Gruppe von Personen, die jeweils eine ähnliche Hilflosigkeit empfanden. Die Zusammenarbeit, zunächst im Rahmen der einjährigen Fortbildung und später an einer der Kulturagent*innen-Schule eröffnete mir und uns als Gruppe, gemeinsam arbeitender Akteur*innen einer Schule, die Möglichkeit, einen gemeinsamen Prozess des Aushandelns und Reflektierens zu beginnen (vgl. Ballath 2024:125–130;199–204). Ende 2013 notierte ich in einem Memo zur Zwischentagung des Modellprogramms mein Unbehagen: „[I]ch bin mir nicht mal sicher, ob es ratsam ist, Künstler*innen in die Schulen zu bringen unter einer politischen Prämisse, weil ich den Eindruck habe, dass es evtl. unbewusst um neoliberale Beweggründe geht, wenn ein Programm, wie das Modellprogramm Kulturagenten für kreative Schulen, künstlerische Prozesse […] in ein System speist, das stark hierarchischen Strukturen folgt. Ich beschreibe hier meine Befürchtungen und Zweifel, die aus der Zwischentagung und der Reflexion über diesen Vertiefungsworkshop entstanden sind: Ist das subversive Potenzial von Kunst nicht in Gefahr, wenn es für Bildungsprozesse eingesetzt wird? Es kann in Form von legitimierter Wissensvermittlung funktionalisiert werden. Damit würde aber die Künstler*in in ihrem Handeln immer aufgrund ihrer evtl. ‚anderen‘ Überzeugungen innerhalb von Arbeitsprozessen kritisiert werden können. Und vermutlich würde nicht hinterfragt werden, warum evtl. Reibungen in der Zusammenarbeit entstehen können. Das bestehende System Schule würde seine Werte als Maßstab ansetzen und sich selbst in seinem Handeln nicht hinterfragen. Aber kann so Veränderung stattfinden? Ist so ein nachhaltiges Arbeiten miteinander möglich? Wer ist dann Teil des Wertemaßstabs? Ich hege den Zweifel, dass Systeme von innen heraus veränderbar sind. Gleichzeitig arbeite ich in diesem Programm, weil ich glaube, dass die einzige Kraft, die ein System evtl. von innen heraus verändern könnte, Kunst ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass nur subversive Sichtweisen Räume schaffen und bestehende Strukturen in Bewegung versetzen, hinterfragen und eben nicht systemimmanent verändern können. Mich beschäftigt die Zwischentagung nach wie vor und meine Fragen sind nach wie vor nicht beantwortet. Ich empfinde nach wie vor einen großen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität“ (Ballath 2024:481–482). Aus diesen Überlegungen geht die Codierung Funktionialisierung von Kunst hervor. Und aus der weiterführenden Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen, Künstler*innen und Kulturagentin im Modellprogramm formt sich die Frage: Wie ist es möglich, diesen unauflöslichen Widersprüchen einen Handlungsspielraum entgegenzusetzen?
Spivak spricht von dem Spielen des double bind. Neben diesem Spielen schlägt sie vor, „that the training of the imagination that can teach the subject to play – an aesthetic education – can also teach it to discover (theoretically or practically) the premises of the habit […]” (Spivak 2012/2013:10). Es kann also formuliert werden, dass künstlerisch-edukative Prozesse die Vorstellungskraft stärken und damit eine Form des Spiels vermittelt wird, durch das Risse und Widersprüche sichtbar und verhandelbar werden (können). Wird zudem davon ausgegangen, dass künstlerisch-edukative Prozesse innerhalb eines „unüberprüften Universalismus“ (Spivak 2008:41) stattfinden, kann mit der Einführung des double bind angenommen werden, dass die Praxis Widersprüche (re‑)produziert und dass die Bedingungen der Teilnahme auf ungleichen Verhältnissen, Voraussetzungen und (kolonialen) Kontinuitäten beruhen. Die postkolonialen Theoretiker*innen María do Mar Castro Varela und Leila Haghighat heben zudem hervor: „Die Theorie und Praxis von Kunst und Kultureller Bildung profitieren von der Erklärungsstärke des double bind. So stabilisieren Arbeiten und Praxen, die durchaus transformativ angelegt sind, dennoch hegemoniale Verhältnisse. [Dem Philosophen Gregory] Bateson zufolge kann die Auseinandersetzung mit Ästhetik zur Veränderung von Gewohnheiten führen. Diese Erkenntnis aufnehmend, plädiert Spivak für eine ästhetische Erziehung, die die Subjekte dazu in die Lage versetzt, den double bind zu spielen. Dies lässt sich übersetzen als die Fähigkeit, innerhalb nicht zu lösender Widersprüche handlungsfähig zu bleiben“ (Castro Varela/Haghighat 2023:12; Herv. i. O.). Das heißt, im Kontext der Praxis als Kulturagentin und im Rahmen dieser Forschung beispielsweise: Um eine Handlungsfähigkeit den gewaltproduzierenden und unauflöslichen Widersprüchen gegenüber zu entwickeln, ist es notwendig, den sozialen Kontext, das situierte Wissen der Kulturagentin–Forscherin, sowie die damit einhergehenden kolonialen Verflechtungen und eine diskriminierungskritische Perspektive in die künstlerisch-edukative Praxis und in die Forschung einzubeziehen. Es geht darum, ein verändertes Selbstverständnis in dem Zusammendenken zwischen Künsten und Bildung zu entwickeln und die Vielstimmigkeit der Akteur*innen zu nutzen, um gemeinsam Ansätze, Formate und Ideen für die künstlerisch-edukative Zusammenarbeit zu (er-)finden. Ausgehend von Kunst soll es also darum gehen, historische Diskurse und Alltagspraktiken zu befragen, zu reflektieren und neue Formen des Miteinanders zu imaginieren und zu experimentieren (vgl. Ballath 2024:93–108).
WIDERSPRÜCHE SPIELEN: RAUM DER MÖGLICHKEIT DES UNMÖGLICHEN | RAUM DER KRITIK
Die Kunstvermittlerin und Kuratorin Nora Sternfeld spricht von einem Raum für die Möglichkeit des Unmöglichen (Sternfeld 2009:129), den sie als Raum der Kritik im Foucault’schen Sinne herleitet. Mich interessiert im Anschluss daran, ob es also möglich ist – entlang einer künstlerisch-edukativen Praxis und ausgehend von dem double bind, dem ich mit der Codierung Funktionalisierung von Kunst begegnet bin – einen Raum der Möglichkeit des Unmöglichen zu imaginieren. Wird Kunst und künstlerisch-edukativer Praxis das Potenzial zugeschrieben, bestehende Machtmechanismen kritisch auf ihre Machteffekte hin zu befragen (wie dies die Kulturagentin dieser Forschung tut), könnte mit dem Philosophen Michel Foucault formuliert werden, dass Kunst und künstlerisch-edukative Praxis eine „reflektierte Unfügsamkeit“ produzieren können, mit der Funktion der „Entunterwerfung“ (Foucault 1978/1992:9). Mit Foucault gilt es, künstlerisch-edukative Praxis und Kunst „als eine Beziehung in einem Feld von Interaktionen zu betrachten, sie in einer unlöslichen Beziehung zu Wissensformen zu sehen und sie immer so zu denken, daß man sie in einem Möglichkeitsfeld und folglich in einem Feld der Umkehrbarkeit, der möglichen Umkehrung sieht“ (Foucault 1978/1992:25). Das heißt, der beschriebene Widerspruch, der das Unbehagen hergestellt hat, wäre als Ausgangspunkt von Beziehungsgefügen partialer Sichtweisen zu betrachten, die es entlang ihrer Interaktionen (hier: Kulturagentin–Forscherin im Kontext ihrer Doppelrolle mit weiteren Akteur*innen) umzukehren gilt. Der Erziehungswissenschaftler Hakan Gürses hat den vierten Typus einer (Gesellschafts-)Kritik, die „ortlose Kritik“ (Gürses 2004:153) eingeführt. Dieser Typus wurde im Kontext der Forschung in Beziehung zu Haraways Konzept des situierten Wissens gesetzt, um der Frage nachzugehen: Wie wird der Widerspruch zwischen einer künstlerisch-edukativen Praxis als Herrschaftstechnik und einer künstlerisch-edukativen Praxis als „reflektierter Unfügsamkeit“ als Umkehrung möglich? Die Frage wurde zunächst bezugnehmend auf das Resonanzverhältnis der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin konzeptualisiert (Ballath 2024:241–245). Gürses bezieht sich mit diesem vierten Typus – der „ortlosen Kritik“ – auf Foucault (Foucault 1978/1992:8) und formuliert damit ein Handlungskonzept, welches das Subjekt der Repräsentation und das Handlungs-Subjekt voneinander löst. Seine Idee dahinter ist, (Gesellschafts‑)Kritik dadurch von dem normativen Ort einer (Subjekt‑)Zugehörigkeit zu lösen. Haraways Konzept des situierten Wissens wiederum hebt explizit hervor, dass Verortung erst die Möglichkeit schafft „Wendepunkt von Ausrichtungen“ und „Verantwortlichkeit für Differenz“ zu eröffnen. Werden beide Konzepte in Beziehung zueinander gestellt, geht daraus ein Handlungskonzept hervor, mit dem der oben genannte Widerspruch umgekehrt wird: Das Handlungskonzept der situiert-ortlosen Kritik. Es stellt sich die Frage: Eröffnet die Umkehrung des Widerspruchs als situiert-ortlose Kritik einen Raum der Möglichkeit des Unmöglichen? Verstanden als „Wendepunkt von Ausrichtungen“, eröffnet die Umkehrung des Widerspruchs zuerst einmal eine neue Perspektive auf das Unbehagen, das er hervorruft, und macht ihn sichtbar. In der künstlerisch-edukativen Praxis der Kulturagentin eröffnet die Umkehrung als situiert-ortlose Kritik einen Handlungsspielraum:
- Im gemeinsamen Experimentieren zwischen Lehrpersonen, Künstler*innen und Kulturagent*in können beispielsweise Widersprüche als bewegliches Gewebe erfahrbar werden.
- Widersprüche legen Formen des gesellschaftlichen Miteinanders wie dominantes Wissen und bestehende Ungleichheitsverhältnisse offen.
- Das Nebeneinanderstehen widersprüchlicher Positionierungen wird im Experimentieren als Möglichkeiten erkannt sowie machterhaltende Prozesse benennbar und dem Unbehagen ein Spiel mit anderen Körpern entgegensetzen.
- Normativen und machterhaltenden Setzungen, Vorgaben und Reproduktionen wird ein möglicher Spielraum entgegengesetzt.
Das Konzept einer situiert-ortlosen Kritik trifft zudem mit Spivaks Vorschlag zusammen, dem Unbehagen im Spiel mit anderen Körpern zu begegnen, um Widersprüche mittels ästhetischer Bildung sichtbar zu machen und Handlungsräume zu imaginieren (vgl. Spivak 2012/2013:116). Es wird also möglich, die Umkehrung des Widerspruchs als Möglichkeit des Unmöglichen zu erleben. Die daraus entstehende Handlungsfähigkeit eröffnet zunächst die Möglichkeit, im Rahmen künstlerisch-edukativer Praxen Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, Bewusstsein und Dialogfähigkeit zu entwickeln und Widersprüche als Möglichkeit für Konflikte zu praktizieren (vgl. Ballath 2024:145–147;358–360;376–385). Wie sieht so ein Imaginieren von Handlungsräumen aus, in dem Widersprüche wirksam sind? Wird Imaginiation mit dem Handlungskonzept situiert-ortlose Kritik zusammengelesen, kann ein Gedanken der feministischen Literaturwissenschaftlerin Adrienne Rich in den Fokus rücken. Mit diesem wird es möglich, das Resonanzverhältnis zwischen Kulturagentin–Forscherin als Raum für die Möglichkeit des Unmöglichen zu praktizieren. Rich sagt, dass die Vorstellungskraft, wenn sie Erfahrungen verändern und erweitern soll, die Erfahrungen infrage stellen lernen muss, um Alternativen und Visionen zu den bestehenden Darstellungen denkbar zu machen (vgl. Rich 1972:18–23). Mit anderen Worten: Um eine Vorstellung davon zu entwickeln, was noch nicht ist, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, was war und was (aktuell) ist. Allerdings ist das Sehen mit neuen Augen erst möglich, wenn dies mit anderen zusammen geschieht. Denn, allein geht das sicher nicht, und um Nora Sternfeld zu zitieren, „[…] also ich kann mir jetzt nicht vorstellen, was ich mir nicht vorstellen kann. Aber ich glaube, gemeinsam mit anderen ist es möglich, in kleinen Schritten“ (Sternfeld im Gespräch mit Gila Kolb, Duygu Örs, Konstanze Schütze und Katja Zeidler 2020: unveröffentlichte Mitschrift von Silke Ballath). Richs Vorschlag, im Akt des Zurückschauens ein Sehen zu praktizieren, mit dem ein neuer Blick auf die vorhandene Erzählung möglich wird, konnte im Rahmen der Forschung als Methode etabliert werden, um das Konzept einer situiert-ortlose Kritik als Handlungsspielraum zwischen Kulturagentin–Forscherin zu etablieren und zu praktizieren. Eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielen der Prozess des Schreibens und des re-reading. Zwei Methoden im Forschungsprozess, die dabei helfen, ein Bewusstsein für Widersprüche zu entwickeln, sie zu dekonstruieren, die eigene Perspektive zu verschieben sowie als unvollständig und damit als erweiterbar zu erleben. Für mich war dies entlang der Interaktionen in der Doppelrolle Kulturagentin–Forscherin (aber natürlich auch mit weiteren Akteur*innen) möglich. Widersprüche wurden sichtbar und ihre Umkehrung als Möglichkeit entlang der Interaktionen erlebt (vgl. Foucault 1978/1992:25; vgl. Sternfeld 2009:129). Rich beschreibt den Prozess des re-reading als eine kritische Re-Vision eines vorhandenen Textes. Und mit Bezug zu Spivak wird die „gewobene Text‑ilie“ (vgl. Spivak 2008:44) dabei zur Metapher für gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Re-reading ist also eine kritische Re-Lektüre der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
ZUSAMMENFASSUNG
Eingangs habe ich gefragt, wie Differenz zu einer Möglichkeit wird, um dem Unbehagen in der Praxis konstruktiv zu begegnen. Zusammenfassen möchte ich, dass das Resonanzverhältnis Kulturagentin–Forscherin mir die Möglichkeit eröffnet hat, widersprüchliche Erfahrungen im Kontext ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen infrage zu stellen. Ich konnte die Forschung dazu nutzen, die Aufmerksamkeit zu verschieben und sie neu zu orientieren. Im doppelten Blick zurück wurde es möglich, Differenz wahrzunehmen und zu benennen. Und die Doppelrolle eröffnete mir zudem Spielräume, mit Differenz zu experimentieren. Anleitend dafür ist im Rahmen des vorliegenden Forschungs- und Praxisprozesses das Motiv des Unbehagens. Die Technik des re-reading unterstütze mich dabei, dem Unbehagen auf die Spur zu kommen (Rich 1972:18). Ferner konnte ich eine Reflexivität der eigenen Position und Rolle gegenüber entwickeln sowie schließlich ein zirkuläres Handeln zwischen Kulturagentin–Forscherin im Kontext der Konstruktivistischen Grounded Theory praktizieren. Die sich dabei eröffnenden Handlungsspielräume können, wie bereits ausgeführt, als Raum für die Möglichkeit des Unmöglichen beschrieben werden und eröffnen im Blick zurück eine Vorstellung davon, was es noch nicht gibt. Ein wichtiges Arbeitsprinzip ist dabei die eigene Situiertheit im Kontext ihrer Relationen zu erfahren, sie in Beziehung zu stellen, zu kontextualisieren und nicht zuletzt auch zu reflektieren. Für die Frage des Transfers heißt dies, dass sowohl Methoden und Vorgehensweisen als auch Rollenverständnisse jeweils spezifisch an den Kontext der eigenen Forschung und Situierung angepasst werden müssen.
Allgemeiner bietet die hier in Ausschnitten besprochene Studie (Ballath 2024) für die Forschung und Praxis Kultureller Bildung neue Erkenntnisse und Handlungsformen kollektiver Zusammenarbeit an, mit denen insbesondere aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Herausforderungen in den Spannungsverhältnissen von Praxis- und Theorieproduktion begegnet werden kann. Ein besonderes Potenzial liegt dabei in den Möglichkeiten, die künstlerische Prozesse in der Zusammenarbeit eröffnen können, um zum Beispiel Perspektivwechsel zu aktivieren, partizipative Vorgehensweisen und Haltungen und eine kollaborative Wissensproduktion zu experimentieren (Haraway 2018) sowie das Befragen von Rollenverständnisse und Lernbeziehungen anzuregen (Mörsch 2012a, b; Mörsch 2014; Spivak 2012/2013; Castro Varela/Haghighat 2023). Die Potenziale und Bedingungen, die künstlerische Herangehensweisen in einen kulturellen Bildungsprozess einbringen – mit Blick auf eine diskriminierungskritische Lerngemeinschaft und den daraus hervorgehenden strukturellen Voraussetzungen –, sind ein weiterer möglicher Fokus. Auch wenn diskriminierungskritische Praxen im Kontext Schule und darüber hinaus derzeit viel diskutiert werden, so fehlt es größtenteils noch an konkreten Handlungsstrategien. Für das Praxisfeld eröffnet das Prinzip der Doppelrolle (hier: Kulturagentin–Forscherin) überdies hilfreiche Anschlüsse, um eine kunstbasierte Praxisforschung in die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteur*innen und vielstimmiger Prozesse zu integrieren. Forschungsansätze, die das Verhältnis zwischen Theorie und Praxisfeld aktiv in ihr Forschungsdesign aufnehmen, könnten dazu beitragen, disziplinübergreifendes, vernetzendes und prozessorientiertes Denken in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Praxisakteur*innen praktisch und theoretisch zu fokussieren. Ein Dreiklang von Praxisforschung, kultureller Schulentwicklung sowie kunstpädagogischer Theoriebildung ermöglicht davon ausgehend, Forschungsmethoden ausgehend von den Künsten zu stärken und für die Wissenschaft einzusetzen und verhandelbar zu machen.