Üben und Musizieren mit ADHS im Erwachsenenalter – Herausforderungen, Chancen und Perspektiven
Abstract
Dieser Aufsatz beleuchtet aus instrumentalpädagogischer Perspektive heraus spezifische Herausforderungen für Erwachsene mit ADHS beim Üben eines Musikinstruments. Er richtet sich gleichermaßen an Hochschul- und Musikschullehrende sowie an Studierende der Instrumentalpädagogik.
Ausgehend von interdisziplinären Erkenntnissen aus Medizin und Psychologie werden Wege aufgezeigt, die das pädagogische Knowhow für den Instrumentalunterricht und für das eigenverantwortliche Üben mit ADHS bereichern können. Konkret geht es darum, die mit der Störung zusammenhängenden Verhaltensweisen und Lernschwierigkeiten bzw. -herausforderungen zu erkennen, zu verstehen und ihnen im Unterricht versiert zu begegnen. Hierzu werden didaktische Wege aufgezeigt und es wird eine Übe-Methode präsentiert, die das routinierte Üben im Alltag unterstützen kann.
Auftakt: ADHS im Erwachsenenalter
Nahezu die Hälfte aller Kinder, die mit ADHS diagnostiziert wurden, weisen die damit zusammenhängenden Symptome auch noch im Jugend- und Erwachsenenalter auf (vgl. ICD-11). Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung verliert oder verwächst sich also nicht – wie lange Zeit angenommen wurde (vgl. McNamara 2018). „Natürlich zeigen die wenigsten ADHS-Betroffenen als Erwachsene noch das gleiche Verhalten wie als Kinder. Die wenigsten klettern noch über Tische oder springen unvermittelt in einem Gespräch auf. Trotzdem erleben viele eine innere Unruhe und Getriebenheit und die Aufmerksamkeitsprobleme ändern sich meist auch nicht grundlegend“ (Haible-Baer, Kirsch 2023:19).
In den letzten fünf bis zehn Jahren ist das Thema ADHS im Erwachsenenalter durch Fachpublikationen und -vorträge, aber auch durch die Präsenz in den öffentlichen Medien immer populärer geworden (vgl. Haible-Baer/ Kirsch 2023, Lachenmann 2021, Ohlmeier/ Roy 2021, Krause/ Krause 2014 und 2018, Barkley 2017; Wieskerstrauch 2023 und Komenda 2019; Ahlers 2019). Mittlerweile existieren zahlreiche Podcasts von Betroffenen und Coaches (vgl. Rohweder 2021f.) sowie prominente Fallbeispiele: 2023 ‚outete‘ sich beispielsweise der Mediziner, Moderator, Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist Eckard von Hirschhausen oder 2018 der Radrennsportler Jan Ulrich (vgl. Hirschhausen 2023 und Apfel 2018). Das Selbstverständnis, Verstehen und die Akzeptanz für diese neuronale Diversität (Judy Singer 2016/17) wächst zunehmend und auch die Hilfsangebote haben zugenommen. So haben beispielsweise zahlreiche Universitätskliniken spezielle Ambulanzen für ADHS im Erwachsenenalter eingerichtet (vgl. Zentrales ADHS-Netz).
Definition und Symptomatik
Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert im ICD-11 drei Hauptsymptome bei einer ADHS: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität (vgl. ICD-11: 6A05 Attention deficit hyperactivity disorder). Zur Diagnose gehört die Feststellung durch Fachärzt*innen/ Psycholog*innen, dass diese Symptome das gesamte Leben oder mindestens seit sechs Monaten persistent sind, dass sie situationsübergreifend auftreten und dass sie direkte negative Auswirkungen auf Lern- und Arbeitsprozesse in Schule, Studium und Beruf sowie auf soziale Beziehungen und Bindungen haben. Die genaue Ausprägung der vielfältigen Symptome ist jedoch höchst individuell (vgl. Haible-Baer/ Kirsch 2023:20). ADHSler*innen (Bezeichnung nach Lachenmeier 2021:3f.) haben beispielsweise Probleme damit, sich zu konzentrieren und zu fokussieren, geduldig zu sein, stillzusitzen, sich nicht ablenken zu lassen, andere ausreden zu lassen, Impulse zu kontrollieren, Bedürfnisse aufzuschieben, Emotionen zu balancieren, zuzuhören, Gesprächen aufmerksam zu folgen, Flüchtigkeitsfehler zu vermeiden, verlegte Gegenstände wieder zu finden, Termine einzuhalten, … etc. (vgl. ICD-10 und ICD 11 und IQWiG 2022). Darüber hinaus können sie zusätzlich von weiteren Krankheitsbildern betroffen sein, wie beispielsweise von Angststörungen, sozialen Verhaltensstörungen, Tic-Störungen, Adipositas und/oder Depressionen (vgl. Haible-Baer/ Kirsch 2023:48f. und Reif 2019:2).
Es gibt außerdem eine geschlechtsspezifische Ausprägung der Symptomatik. So wird ADHS drei Mal häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert, was häufig mit der motorischen Hyperaktivität zusammenhängt (vgl. Barkley 2022:53). Die damit einhergehenden auffälligen Bewegungsmuster bzw. das andauernde In-Bewegung-Sein und das sprunghaft-impulsive Verhalten beeinträchtigt das (schulische) Lernen, die sozialen Kontakte und die Familie. Bei Mädchen hingegen kann die ADHS verdeckt sein: Sie verhalten sich motorisch unauffälliger, sind verträumter und können beispielsweise unter depressiven Verstimmungen leiden (vgl. Deus 2022). Daher wird zwischen hyper- und hypoaktiven ADHSler*innen differenziert. Auch gibt es die Beschreibung von so genannten „Subtypen“: So wird zwischen dem „vorwiegend hyperaktive[n] Typus“, dem „vorwiegend unaufmerksame[n] Typus“ und dem „ADHS Mischtyp“ unterschieden (Haible-Baer/ Kirsch 2023:26).
Ursachen und Therapie
Bei der Ursachenforschung werden verschiedene Aspekte für die Entstehung der ADHS ausfindig gemacht. So können – unter biologischer Perspektive betrachtet – beispielsweise Alkoholkonsum, Rauchen oder Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft, Schwangerschaftserkrankungen sowie eine zu frühe Geburt oder Sauerstoffmangel während der Geburt eine Rolle spielen. Unter genetischen Gesichtspunkten wird von einer Vererbung der Störung ausgegangen (vgl. IQWiG 2022:3). Neurophysiologisch betrachtet liegt eine Neurotransmitterstörung im Gehirn vor, die dazu führt, dass die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin nicht ausreichend oder unregelmäßig produziert werden. Infolgedessen ist die Reizweiterleitung zwischen den Nervenzellen gestört, so dass Informationen nicht oder nur verzögert weitergeleitet werden können. Der amerikanische Psychiater Russell A. Barkley beschreibt die Auswirkungen wie folgt:
„Ohne Hilfe dieser Neurotransmitter reagiert Ihr Gehirn nicht angemessen auf Stimulation [zum Beispiel durch ein Ereignis, eine Idee oder eine Emotion]. Die Impulskontrolle schaltet sich nicht ein, wenn sie sollte. Es werden keine Erinnerungen an die Vergangenheit geweckt und auch keine Zukunftsvisionen getriggert, die dafür sorgen, dass sie den Überblick behalten. Und selbst wenn, könnten sie nicht lange aufrechterhalten werden, und Sie vergessen, was Sie eigentlich tun wollten. Die motorische Kontrolle ist beeinträchtigt und hält Sie nicht davon ab, bei innerer Unruhe herumzuzappeln“ (Barkley 2022:129).
So werden beispielsweise bei einer medikamentösen Behandlung durch den Hauptwirkstoff Methylphenidat die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin künstlich erhöht (vgl. IQWiG 2022:25). Denn Noradrenalin reguliert Schlaf- und Wachzustände und Dopamin ist für die „Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit“, die Steuerung des Motivations- und Belohnungssystems sowie für „motorische Aktivität, Neugierverhalten und Entwicklung von Handlungsstrategien“ verantwortlich (Krause/ Krause 2014:22).
Insbesondere bei Erwachsenen wird häufig eine Behandlung mit Medikamenten empfohlen. Diese regulieren und verbessern die Verhaltensstörung bei 70% bis 95 % der Behandelten (vgl. Barkley 2022:125). Bei mittleren und leichten Symptomen wird eine nicht-medikamentöse Herangehensweise mit Verhaltenstherapie, Coaching und/oder die Teilnahme an Selbsthilfegruppen empfohlen. Darüber hinaus ist regelmäßiger Sport ein Schlüssel zur Selbstregulation und Symptomkontrolle bei ADHS; auch eine Ernährungsanpassung kann die Symptome lindern (vgl. Barkley 2022:130, 234f.).
Zusätzlich zu der neurobiologischen und genetischen Ursachenforschung gibt es die psychoanalytische Perspektive, die die Einflüsse der Umwelt auf die Verhaltensstörung analysiert: „Die Bedeutung der Umwelt, der Beziehungen, des Bindungsverhaltens, der familiären Konfliktstruktur mit ihrer transgenerationellen Dimension und die Rolle gesellschaftlicher Erwartungen und Normen, die die Toleranzschwelle gegenüber störendem Verhalten bestimmen, werden von der [genetischen und neurobiologischen] Diagnose nicht berücksichtigt“ (Staufenberg 2011: 71). Diese Aspekte sind insbesondere für die Pädagogik bedeutsam.
Üben und Musizieren mit ADHS
Viele Probleme bei einer ADHS im Erwachsenenalter betreffen die (Arbeits-) Motivation, - Organisation, die Zeitstrukturierung und das Fokussieren auf eine Aufgabe (vgl. IQWiG 2022:8). Somit kann auch das tägliche/ regelmäßige Üben eines Instruments eine größere Herausforderung darstellen als für Erwachsene, die nicht von ADHS betroffen sind.
Instrumentallehrkräfte sollten daher über ein breit gefächertes Handlungsrepertoire verfügen, damit sie kurz- mittel- und langfristig Hilfestellungen anbieten können – sowohl im Unterricht als auch für das Üben zu Hause.
Zu den täglichen Herausforderungen mit Blick auf das Musiklernen gehört bei ADHSler*innen verstärkt die Fähigkeit, sich selbst zum Üben zu motivieren (Selbstmotivation), den Übeprozess sinnvoll zu strukturieren (Selbststrukturierung), sich beim Spielen nicht ablenken zu lassen (Fokussierung, Gedächtnis), Noten fehlerfrei zu lesen (Lesefähigkeit) und das Tempo beim Spielen beizubehalten sowie die (Fein-)Motorik zu kontrollieren (vgl. Huber 2011:1).
Selbstmotivation und Selbststrukturierung: Das Einüben von Routinen
Das Aufschieben von zu erledigenden Aufgaben ist für ADHSler*innen ein größeres Problem als für Menschen, die nicht von dieser Störung betroffen sind: Diese Prokrastrination erleben sie „als besondere Belastung in ihrem Leben, es führt auch häufiger zu Problemen bei der Arbeit oder erhöht die Depressivität“ (Haible-Baer/ Kirsch 2023:169). Ursachen für dieses Verhalten können beispielsweise ein zu starker Perfektionismus, die Angst zu versagen oder erfolgreich zu sein und unklare Prioritäten sein.
Hier bietet es sich an, Routinen einzuüben, die dabei helfen, sich zu strukturieren. Als erster Schritt ist hierfür nötig, etwas scheinbar Selbstverständliches zu managen, um ein gutes kurz-, mittel- und langfristiges Zeitmanagement zu etablieren: Sich einen individuellen Tages-, Wochen- und Monatsplan zu kreieren, in den alle privaten, familiären, beruflichen und Freizeit-Aktivitäten sowie Pausen und Regenerationszeiten eingeplant werden (vgl. Rohweder 3/2024). Hier kann dann täglich oder jeden zweiten Tag für das Üben am Instrument eine bestimmte Zeitspanne eingebaut werden.
In diesem Zeitfenster beginnt die Übe-Routine, die dabei helfen soll, strukturiert vorzugehen und ‚wohltemperiert‘ zu üben. Dabei ist es wichtig, auf das tagesaktuelle sowie momentane Energielevel zu achten und damit zu arbeiten: sich also nicht zu über- und auch nicht zu unterfordern (vgl. weiterführend hierzu: Burzik 2006) und möglichst ausgeruht zu üben (vgl. Altenmüller 2006:63f.). Dies ist zwar auch für Nicht-ADHSler*innen sinnvoll, doch Erwachsenen mit ADHS fällt diese grundsätzliche (Selbst-)Einschätzung und das daraus resultierende Handeln schwerer. Zudem sollte klar sein, wie geübt werden kann und welche Vorbereitungen für das Üben getroffen werden sollten.
Hierfür können die einzelnen Schritte, die zum Üben führen und die beim Übeprozess ausgeführt werden, aufgeschrieben oder in einer App eingestellt werden. Ebenfalls ist eine ablenkungsarme Arbeitssituation zu empfehlen, da schon kleinste Ereignisse (die nichts mit dem Instrumentalspiel zu tun haben) den Fokus unterbrechen können (vgl. Huber 2011:3). Die einzelnen Übeschritte können individuell angepasst werden und bei Bedarf mit dem Stellen eines Timers kombiniert werden, so dass das Zeitfenster, das für das Üben reserviert ist, auch eingehalten wird.
Für die Konzeption einer solchen Übe-Routine bietet sich beispielsweise die speziell für Erwachsene mit ADHS konzipierte Brili-App an. Hier visualisiert ein so genannter Habit Tracker, welche und wie viele Arbeitsschritte für das Ausführen einer bestimmten Tätigkeit nötig sind und wie lange diese jeweils dauern. Beim Starten der jeweiligen Routine werden die geplanten Handlungsabläufe angezeigt – parallel hierzu läuft ein Timer. Dies ermöglicht jeder/jedem, die/der die App benutzt, an alle geplanten Tätigkeiten zu denken und nicht länger als nötig bei diesen zu verweilen. Sobald der Timer für die erste Tätigkeit abgelaufen ist, sollte die nächste Tätigkeit beginnen. Die Zeiteinheiten und auch die Aufgaben beziehungsweise übergeordneten Routinen lassen sich individuell einstellen.
Die folgende Abbildung zeigt ein Beispiel für eine Übe-Routine, die aus mehreren Handlungsabläufen besteht und die das Üben zu Hause unterstützen kann. Die in den einzelnen Spalten stehenden Handlungsschritte können jeweils in weitere Mikro-Timereinheiten untergliedert werden.
Die hier aufgeführten selbstverständlich erscheinenden Handlungsabläufe sollen Erwachsenen mit ADHS helfen, eine Routine in der Abfolge der zu übenden Inhalte zu etablieren. Diese kann im wöchentlichen Unterricht zusammen mit der Lehrkraft regelmäßig überprüft, aktualisiert und angepasst werden. Ziel sollte es sein, dass alle geplanten Übeeinheiten im Verlauf der Woche selbständig erarbeitet und regelmäßig wiederholt werden können sowie dass genügend Zeit für alle Inhalte zur Verfügung steht.
Die Kombination mit einem Timer hilft, sich an die Zeit erinnern zu lassen, die bereits vergangen ist und die noch zur Verfügung steht. Sonst kann es passieren, dass beispielsweise die Etüde gründlich geübt wird, aber keine Zeit, Energie und Konzentration mehr für die Hauptstücke übrigbleibt. Oder das Üben findet unstrukturiert nach ‚Lust und Laune‘ statt – dann bleiben mitunter die Etüden auf der Strecke.
Die jeweiligen Zeitangaben sind dennoch tagesformabhängig als Orientierung zu verstehen – sobald eine Aufgabe erledigt ist, wird diese in der Brili-App mit dem Daumen zur Seite weggewischt und die daran anschließende Aufgabe erscheint. Auch besteht hier die Möglichkeit, den Timer anzuhalten – alle Übeschritte können also je nach Bedarf auch kürzer oder länger dauern. Abseits der App kann auch mit eigenen Timern und einem Schreibheft gearbeitet werden, in das die Übeschritte und Übetage eingetragen werden. Wenn eine Übeeinheit vollbracht ist, kann diese abgehakt werden. Auch verschiedenfarbige Stifte können hierbei zum Einsatz kommen – diese können zusätzlich motivieren.
Übe-Erfolg und Selbstbewusstsein
Wenn die Überoutine vollbracht ist und regelmäßig in den Wochenrhythmus eingeplant und durchgeführt wird, stellt sich bald ein Übererfolg und die damit verbundene Motivation ein. Denn Übefortschritte motivieren, ermöglichen ein erfolgreicheres Musizieren und mindern somit die Angst vor Misserfolgen, geben positives Feedback, stärken das Selbstbewusstsein und ermöglichen sicherer und schneller ein gutes Zusammenspiel im Duo, Ensemble oder in einer Band (vgl Gellrich 1997:107, 104 und 113f.). Der tägliche und/oder wöchentliche Übefortschritt führt zudem zu positiven Selbstwirksamkeitserfahrungen, die gerade für Menschen mit ADHS wichtig sind. Denn sie sind es gewohnt, sich aufgrund ihrer besonderen Aufmerksamkeitsprozesse und Verhaltensweise anders zu fühlen als Menschen ohne ADHS und stoßen immer wieder an innere und äußere Grenzen: „Viele Betroffene erleben […] in ihrem Alltag Unverständnis oder sogar Ablehnung“ (Haible-Baer/ Kirsch 2023:19).
Zudem hat das Musizieren selbst positive Auswirkungen auf Emotion, Motivation und Kognition. Dies belegen wegweisende Erkenntnisse zur Bedeutung der Musik bereits im Kindesalter:
„Kinder mit ADHD […] profitieren von Instrumentalunterricht, da durch die Musikausübung positive emotionale und kognitive Prozesse im Gehirn aktiviert werden. Das Gehirn wird umfassend stimuliert und in seiner Konzentrationsfähigkeit gleichzeitig fokussiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die individuelle Unterrichtung. Die volle Aufmerksamkeit des Lehrenden auf seinen einzelnen Schüler fördert auch durch positive Übertragung die Lernmotivation und Konzentration des Schülers (vorausgesetzt wird eine gute Schüler-Lehrer-Beziehung)“ (Linnenbach von Wedel in: Kurrle 2021:88).
Auch kann das Instrumentalspiel die Impulskontrolle positiv beeinflussen, da die Musik durch ihre zeitliche Gliederung in Metrum, Takt und Rhythmus eine besondere Strukturierung erlebbar macht. Das psychomotorische Lernen kann somit gefördert werden, insbesondere, weil es ADHSler*innen schwerfallen kann, das Metrum zu halten (vgl. Huber 2011:1). Auch die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben und geduldig zu sein, kann durch das Instrumentalspiel besser gelingen – bis ein Stück zum Vorspielen und Konzertieren bereit ist, vergeht einige Zeit.
Darüber hinaus bietet das Musizieren, aber auch Musikhören einen Rückzugsort an, um sich in Situationen der Überforderung zu erden, sich bei Unterforderung zu stimulieren, durch Lieblingsstücke die Emotionen zu regulieren und um besser im Hier und Jetzt zu sein (vgl. Rohweder 5/2023, ab Minute 1‘00‘37´´).
… und im Unterricht?
Aufgrund der oft schwankenden Tagesform im Leben mit ADHS ist es wichtig, eine Lehrperson zu finden, die grundsätzlich positiv gegenüber dem Störungsbild und den damit verbundenen Herausforderungen eingestellt ist und die bereit ist, mit und von den erwachsenen Schüler*innen zu lernen.
„Eine vertrauensvolle, herzliche und wohlwollende ‘Beziehung‘ ist das A und O und zwingend für einen entspannten und erfolgreichen Instrumentalunterricht, speziell im Umgang mit ADHS-Betroffenen. Sie wirkt sich u.a. auch stimulierend auf die Motivation zum Üben aus“ (Huber 2011:3).
Zur pädagogischen Professionalität speziell mit Blick auf ADHS gehört zudem ein höheres Maß an Geduld sowie eine große Fehler- und Frustrationstoleranz. Dies betrifft beispielsweise auch das eigene Perfektionsstreben, das zu überzogenen Ansprüchen an die Fähigkeiten oder die Leistung der Schüler*innen führen kann. In diesem Falle gilt: „Sturheit bremst und blockiert!“ (Huber 2011:2).
Darüber hinaus sollten Stimmungsschwankungen nicht persönlich genommen und konstruktiv in Unterrichtsprozesse eingebaut werden (vgl. Huber 2011:4). So kann eine zu Beginn der Stunde stehende gemeinsame Improvisation zum Thema ‚schlechte Laune‘ bereits musikalisch interpretiert und aufgegriffen werden: Wie klingt ‚schlechte Laune‘? In welcher Lage sollten wir sie am besten spielen? Welche Tonart passt dazu, welche Taktart? Welches Tempo wird hierfür als angemessen empfunden? Soll es eher wütend oder deprimiert klingen? etc. Hieraus kann eine Klanggeschichte entstehen, mit der im Laufe der Zeit alle Emotionen verklanglicht werden.
Gerade die Lernfelder Improvisation und Komposition sind aufgrund ihres Ausdruckspotenzials sehr geeignet für die musikalische Arbeit mit ADHSler*innen im Unterricht. Zudem motivieren sie besonders, da sie unmittelbar an die Erfahrungen der Schüler*innen anknüpfen und Gefühle veranschaulichen können. Diese werden durch die Übertragung in Musik gerahmt und nicht nur aus der Betroffenheitsperspektive erlebt, sondern im besten Sinne objektiviert beziehungsweise musikalisch sublimiert.
Ausblick
Zusätzlich zu den Herausforderungen, die Erwachsene mit ADHS beim Üben und Musizieren haben (können), gibt es aber auch viele Vorteile! So können ADHSler*innen eine schnellere Fingergeläufigkeit als Nicht-ADHSler*innen erreichen (vgl. Huber 2011:2). Durch ihre besondere Fähigkeit, im Hyperfokus hochkonzentriert zu arbeiten, wenn sie für eine Sache richtig begeistert sind, erledigen sie bestimmte Aufgaben oft schneller als andere. Sie können sich „bei gegebenem Interesse“ sogar „besser und länger konzentrieren als Nicht-ADHSler“ (Lachenmeier 2021:19).
Auch kann das Instrumentalspiel in Verbindung mit ADHS zu musikalischen Höchstleistungen führen, wie bei der Weltklasse-Pianistin Hélène Grimaud. Sie bekam als Kind die Diagnose ADHS und die Eltern versuchten ihre unbändige Hyperaktivität zunächst mit Sport zu begegnen – jedoch erfolglos. „But then music came along!“ (Weiss 2024)