Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis. Quo vadis Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen?
Abstract
Was sind Herausforderungen und Potenziale Kultureller Bildung in ländlichen Räumen? Auf kubi-online finden Nutzer*innen der Wissensplattform bereits eine Vielzahl von Artikeln zu diesen Fragestellungen. Um zum Wissenstransfer von Erfahrungen und Erkenntnisse der im Rahmen der BMBF-Förderrichtlinie „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“ geförderten Forschungsprojekte beizutragen, hat die kubi-online Redaktion Luise Fischer und Nina Kolleck um einen zusammenfassenden Nachdruck ihrer Einleitungs-und Schlussüberlegungen in der Publikation „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen. Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis“ (2023) gebeten. Zudem macht dieser Beitrag das 386-Seiten starke Buch als PDF-Dokument verfügbar.
Dieser von Kolleck/Fischer herausgegebene Sammelband eröffnet neue Wege und Formen der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit in der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen. Er präsentiert aktuelle Forschungsergebnisse aus 20 Einzel- und Verbundprojekten der BMBF-Förderrichtlinie „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“ hinsichtlich ihrer Relevanz für die Praxis. Es zeigt, dass die Praxis der Kulturellen Bildung im ländlichen Raum mit verschiedenen Ambivalenzen, Spannungen und Dilemmata konfrontiert ist. Das Buch hinterfragt einerseits, welche Verständnisse und Konzepte von „Kultureller Bildung“ unser Denken und Handeln beeinflussen und welche Potenziale im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation/Veränderung liegen können. Andererseits behandelt es individuelle, familiäre und strukturelle Rahmenbedingungen in ländlichen Räumen sowie Erfahrungen und Reflexionen über soziale Beziehungen, Erwartungen und Vertrauen in sich wandelnden Netzwerken.
In dem nachfolgenden Beitrag wird insbesondere auf das Warum des Buches eingegangen; und es werden die Fragen nach dem Wie komplementiert: Wie können wir die verschiedenen Potenziale weiter heben? Wie sollten und können wir in Zukunft gemeinsam daran arbeiten? Die drei Worte des Buchtitels „Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion“ stehen für die vielfältigen Beziehungskonstellationen und Bedeutungen, welche die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und kultureller Bildungspraxis annehmen kann.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ (Hermann Hesse, in Michels 1986: 79)
Mit diesen Worten begann Hermann Hesse eines seiner wohl bekanntesten Gedichte „Stufen“ in seinem Buch Das Glasperlenspiel (Hesse 1943, vgl. Michels 1986: 79–80). Solch ein Zauber umgab uns nicht nur mit Beginn der Förderrichtlinie im Jahr 2019, sondern auch mit der Idee dieses Buches im Winter 2021. Umfangreiche, mitunter auch kontroverse Diskussionen führten uns zu einem Buchkonzept, das dem Ziel folgte, das produzierte Wissen sowohl der wissenschaftlichen Community als auch der gesamten interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir möchten im Folgenden daher zum einen unser Wissen und praktische Anregungen mit Ihnen teilen. Zum anderen ist es auch unser Anliegen, mit diesem Buch einen Dialog anzustoßen. Was geht in Ihnen beim Lesen vor? Dieses Buch ist eine Einladung, mit Hilfe der verschiedenen Artikel und Perspektiven darüber nachzudenken, was Ihnen das Wissen nützt. Was kann Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen bewirken? Wie wollen wir in Zukunft gemeinsam arbeiten und kommunizieren? Sowohl diese Fragen wie auch unsere ersten Antworten und Ideen erfüllen uns mit Zauber. Wir hoffen, diesen Zauber mit Ihnen teilen zu können.
Warum dieses Buch? Warum Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen?
„Kulturelle Bildung umfasst sowohl die eigene produktive und kreative Auseinandersetzung mit den Künsten als auch die aktive Rezeption von Kunst und Kultur. Dabei verbindet sie kognitive, emotionale und gestalterische Handlungsprozesse. Kulturelle Bildung vermittelt zum einen künstlerisch-kreative Fertigkeiten. Zum anderen ermöglicht sie Bildungserfahrungen in zahlreichen weiteren Bereichen, beispielsweise bezogen auf soziale und emotionale Aspekte. Auch stellt sie wichtige Ressourcen zur Reflexion gesellschaftlicher Herausforderungen bereit. Kulturelle Bildung ist damit ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen Bildung und des lebenslangen Lernens.“ (BMBF 2019)
In Zeiten wachsender Unsicherheit, multipler gesellschaftlicher Veränderungen, ökonomischer Volatilitäten und andauernder Krisen kommt der Kulturellen Bildung zunehmend eine besondere Bedeutung zu. Wissenschaftler*innen und kulturelle Bildungspraktiker*innen diskutieren bereits seit Längerem die Potenziale der kulturellen und künstlerischen Bildung für individuelle und gesellschaftliche Transformationen. Sie machen dabei besonders auf ihre positiven Auswirkungen auf Empathievermögen und Reflexionsfähigkeit, das Aushalten von Komplexitäten und Ambivalenzen, soziale Teilhabe und Zusammenhalt sowie auch auf Demokratie- und Friedensbildung aufmerksam (vgl. Liebau/ Jörissen 2013; Keuchel 2020; Brenne et al. 2020). Sicher kann die Kulturelle Bildung nicht alle Herausforderungen lösen. Zudem haben ästhetische, kreative, emotionale Erfahrungen einen immanenten – nicht-utilitaristischen – Wert. Und doch wird die Kulturelle Bildung zunehmend wichtiger, ja ein Schlüssel, für die Entwicklung notwendiger Kompetenzen wie auch auf der Suche nach neuen, kreativen Lösungsansätzen für gesellschaftliche Partizipation, Integration und Transformation.
Somit fördert das BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) im Rahmen von Förderrichtlinien seit mehreren Jahren die Forschung zu Kultureller Bildung in Deutschland (BMBF 2018, 2019, 2022; vgl. auch Reinwand-Weiss 2020). Die Förderrichtlinie, welche den Hintergrund für den vorliegenden Sammelband darstellt, richtet ihren Fokus dabei besonders auf ländliche Räume und ihre vielfältigen Herausforderungen. Ziel ist es, die situierten Besonderheiten und entsprechenden Gelingensbedingungen für die oft benachteiligten und abgelegenen ländlichen Räume herauszuarbeiten (vgl. BMBF 2019).
Ausgehend von einem weiten Verständnis der Kulturellen Bildung, welches sämtliche kreative und soziokulturelle (Alltags-)Aktivitäten mit einbezieht (vgl. Kegler 2020), verdeutlicht dieses Buch die Vielfalt an räumlichen Bedingungen, Aktivitäten, (Bildungs-)Akteur*innen und Netzwerken. Die Forschungsergebnisse der 20 Einzel- und Verbundprojekte und die Perspektiven aus unserem Metavorhaben betonen einmal mehr die transformativen Potenziale der Kulturellen Bildung, welche es gerade in ländlichen Räumen noch stärker zu hebeln gilt. Die Autor*innen zeigen, dass in ländlichen Räumen oft die Voraussetzungen dafür noch gestärkt oder gar geschaffen werden müssen. Dies betrifft besonders (Infra-)Strukturen, die Unterstützung von Eltern, die Nutzung dritter Orte (Anm.: Mit dritten Orten meinen wir eine Form der Gemeinschaft außerhalb von Familie und Beruf, die an einem physischen oder virtuellen Ort lokalisiert sein kann (Oldenburg 1999; Hamman 2000; vgl. auch Flasche et al. 2023, in diesem Band).) den Ausbau digitaler und hybrider Formate, die Vernetzungsunterstützung in strukturschwachen Regionen wie auch die Stärkung personeller und finanzieller Ressourcen zur Durchführung kultureller Aktivitäten. Gleichzeitig verweisen die Autor*innen dieses Buches darauf, dass Kulturelle Bildung gerade in ländlichen Räumen oft auf die Bedürfnisse der Region ausgerichtet ist und die Gemeinschaft fördert.
Dieser Sammelband schließt an den ersten aus dieser Förderrichtlinie an (vgl. Kolleck/Büdel/Nolting 2022). Während das erste Buch mit dem Titel Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Methoden, Theorien und erste Befunde besonders das Ziel hatte, in die Forschungshintergründe und -ansätze einzuführen, möchten wir mit diesem zweiten Buch die (ersten) zentralen Ergebnisse dieser Förderrichtlinie kommunizieren. Darüber hinaus möchten wir auch den Dialog zwischen Wissenschaftler*innen, kulturellen Praktiker*innen und Bildungsakteur*innen intensivieren. Es ist eine zentrale Erkenntnis der aktuellen Förderrichtlinie, dass die nicht ausgeschöpften Potenziale gerade auch durch neue Formen der Zusammenarbeit der verschiedenen Expert*innen gehebelt werden können. Aus diesem Grund trägt dieses Buch den Titel Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen: Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis.
Wie (oft) lesen?
Vielleicht interessiert Sie dieses Buch aus einem bestimmten Grund. Vielleicht hat Sie der Titel angesprochen. Eventuell sind durch diesen auch bestimmte Erwartungen entstanden. Vielleicht gab es Motivationen, die bewusst oder unbewusst Ihre Entscheidung, dieses Buch aufzugreifen, mit beeinflusst haben. Was wird dieses Buch in Ihnen bewirken? Wie wird es Sie oder Ihre Arbeit(en), Ihre Perspektiven auf die Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen oder auf das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis verändern? Jede*r liest anders. Jede*r nimmt etwas anderes mit. Wenn wir davon ausgehen, dass unser Blick, unsere Perspektiven, unsere Lesarten alle geprägt sind von unseren bisherigen Erfahrungen, unserem verkörperten Wissen, dann beeinflusst dies auch unsere jeweiligen Erwartungen und Resonanzen (Haraway 1988; Bondi 2004; Rosa 2016). Manche Texte darf und möchte man vielleicht auch mehrfach lesen.
Vielleicht lesen Sie dieses Buch als Wissenschaftler*in, eventuell als Praxisakteur*in, als Mittler*in, als Bildungsakteur*in oder als politisch interessierte Person. Vielleicht gehen Sie aber auch mit einem ganz anderen Interesse an dieses Buch. Mit welchem Blick auch immer Sie dieses Buch gerade in der Hand „halten“: Wir möchten Hoffnung auf wirksame Veränderungen durch Kulturelle Bildung machen und gleichzeitig auf die Herausforderungen hinweisen, die es zu bewältigen gilt. Dazu sprechen viele Autor*innen und Stimmen. Die Wissenschaftler*innen teilen ihre Forschungsergebnisse und Forschungsprozesse. Dabei reflektieren viele von ihnen die Zusammenarbeit mit den Akteur*innen der kulturellen Praxis. Gegen Ende des Buches kommen auch Praktiker*innen und pädagogische Künstler*innen zu Wort und teilen ihre Perspektiven.
Wir haben das Buch in vier thematische Kapitel geteilt: Begriffe, Rahmenbedingungen, Identitäten und Netzwerke. Lassen Sie uns entlang dieser auch reflektieren, wie wir in Zukunft gestalterisch zusammen tätig werden können. Dieses Buch knüpft an bestehende (wissenschaftlichen) Diskurse an und eröffnet zugleich neue Wege und Formen der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit in der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen. An dieser Stelle möchten wir Ihnen als Mitarbeitende des Metavorhabens zur Förderrichtlinie einen Einblick in die Ergebnisse und einen Ausblick auf die Frage geben, wohin die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und kultureller (Bildungs-)Praxis gehen könnte.
„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“ (Hermann Hesse, in Michels 1986: 79–80)
Was eröffnen uns die Beiträge?
Vielleicht möchten Sie wie Hermann Hesse Stufe um Stufe, Artikel für Artikel durch dieses Buch schreiten. Vielleicht lesen Sie aber auch ganz frei und gezielt nach persönlichem Interesse. In jedem Fall hoffen wir, dass wir Sie mit diesem Buch inspirieren können und die Debatten, Initiativen und Projekte zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen weitergehen. Möglicherweise ist diese Inspiration auch verbunden mit einem Drang, aktiv werden zu wollen. Dieser Drang oder auch drängende Weltgeist ist vielleicht Ausdruck des Bedürfnisses, Erkenntnisse zu teilen oder Ideen zu verwirklichen.
Die verschiedenen Autor*innen werden ihre Ergebnisse, Prozesse und Reflexionen zur Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen mit Ihnen auf verschiedene Art und Weise teilen. In diesen einleitenden Betrachtungen möchten wir ein paar zentrale Aspekte besonders hervorheben: zum einen die vielfältigen Potenziale der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen, welche es kontextspezifisch und mit Blick auf die verschiedenen räumlichen Herausforderungen zu nutzen und fördern gilt. Damit meinen wir das Warum dieses Buches und dieser Förderrichtlinie. Zum anderen möchten wir die Fragen nach dem Wie kontemplieren: Wie können wir die verschiedenen Potenziale weiter hebeln? Wie sollten und können wir in Zukunft gemeinsam daran arbeiten? Am Ende dieser Einleitung möchten wir mit Blick auf den Buchtitel einige Postulate für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur*innen der kulturellen Bildungsforschung und -praxis aufstellen. Dabei argumentieren wir auch für eine größere Beachtung und Untersuchung der Rolle von Reflexivität, um uns diese Potenziale und Veränderungsprozesse (noch) stärker bewusst zu machen.
Die Potenziale Kultureller Bildung in ländlichen Räumen erkennen und nutzen
Dieser Sammelband illustriert das erwähnte breite Verständnis der Kulturellen Bildung (vgl. Hasselhorn et al. 2023, in diesem Band) und verweist auf ihre teils unerkannten oder ungenutzten Potenziale, z. B. für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung, besonders in ländlichen Räumen. Die vielen Akteur*innen, Initiativen und Netzwerke, welche in diesem Buch vorgestellt werden, bilden natürlich keine abschließende Liste. Sie zeigen jedoch, wie kulturelle Aktivitäten lokale und regionale Transformationsprozesse mit begleiten und beeinflussen können. Wenngleich die jeweilige Wirkung nicht abschließend erforscht ist, so lesen wir doch in den verschiedenen Beiträgen einmal mehr, welche Chancen Kulturelle Bildung in Zeiten gesellschaftlichen Wandels birgt. Lassen Sie uns zunächst einige Potenziale der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen zusammenfassend skizzieren: die Möglichkeit, kreativ eigene und andere Lebenswelten (anders) zu begreifen und zu gestalten, die Begleitung von Transformationsprozessen oder auch die Förderung von Empathie, Konfliktfähigkeit und regionaler Identität.
Kulturelle Bildung erleichtert den Weg dahin, ein tieferes und umfassenderes Selbst- und Weltverständnis zu entwickeln. Je nach persönlicher Neigung können die Aktivitäten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein Tor für die Entwicklung von Fähigkeiten sein, die zu einem differenzierteren und empathischen Verständnis für sich selbst und andere beitragen. Sie fördern eine aktive, neugierige und als selbstwirksam empfundenen Gestaltung des eigenen Lebens, der Gemeinschaft und ganzer Regionen. In Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen ist dies besonders bedeutsam. Doch was geschieht da genau?
Die Beiträge dieses Buches werden auf verschiedene Weise herausarbeiten, wie kulturelle Bildungsaktivitäten die neugierige Auseinandersetzung mit dem Leben und seinen Veränderungen fördern. Gaede et al. (2023, in diesem Band) argumentieren: „In den Kursen gibt es die Gelegenheit des Miteinander-Wachsens, des (kontroversen) Austauschs, des Entdeckens und Begreifens. Diese Bildungsprozesse tragen entscheidend zum Entwurf der eigenen Lebenswelt und zum Weltverständnis bei.“ Durch ein „empathisches Hineinfühlen“ verstärkten die Aktivitäten der Volkshochschulen den non-verbalen Zugang zu Veränderungen und ihren Wirkungen, wie die Autor*innen betonen: „Die Kraft kultureller Bildung zum aktiven Umgang mit Krisen und Transformation liegt im symbolischen Ausdruck, in Bildsprache, Körperlichkeit, Klängen, dem sinnlichen Erleben.“ Mallwitz und Nonte (2023, in diesem Band) verweisen ebenso auf die Bedeutung Kultureller Bildung speziell für Persönlichkeitsentwicklung wie auch für die Demokratiebildung.
Beetz und Jacob (2023, in diesem Band) heben die Rolle Kultureller Bildung als eine Gelingensbedingung gesellschaftlicher Transformation hervor. Die beiden Autoren zeigen, wie Kunst, Kultur und Kulturelle Bildung (in der Lausitz) zu zentralen Mitteln und auch Ausdruck der Verarbeitung des gesellschaftlichen Wandels werden, auch wenn diese oft noch nicht genug in Bildungsprozessen verankert seien: „Für uns selbst war es ein Erkenntnisprozess, dass sich die kulturell-künstlerische Verarbeitung gesellschaftlicher Veränderungen nicht immer so offensiv und prägnant im Kontext von einschlägigen Bildungsprojekten zeigt“. Dabei förderten sie das Bewusstwerden und die Verarbeitung verschiedener komplexer Emotionen. Bender et al. (2023, in diesem Band) arbeiten mit Verweis auf Veränderungsprozess im Umgang mit „dem Regionalen“ einen ähnlichen Aspekt heraus: Das Aushalten von Ambivalenzen und Spannungen wie auch Konfliktfähigkeit scheinen zentrale Kompetenzen für den Umgang mit Veränderungen zu sein. Kulturelle Bildung fördert und fordert die Fähigkeit, Widersprüche und Unsicherheit auszuhalten und Beziehungsgeflechte kreativ auszuhandeln.
Gumz et al. (2023, in diesem Band) beschreiben wiederum die Rolle und Vielfalt regionaler kultureller Bildungsnetzwerke für das Erkunden, Entdecken und Gestalten der (vernetzten) Lebenswelten, (vernetzten) Gemeinschaften und Community Building. Die Autor*innen weisen dabei noch einmal speziell auf die Bedeutung der Träger kultureller Bildungsarbeit in Regionen hin. Interessanterweise scheint dabei auch die von den Akteur*innen wahrgenommene Handlungsmacht eine zentrale Rolle zu spielen. Die Entwicklung und Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit sind damit wichtig für das gemeinschaftliche (hier kulturelle) Engagement.
Nicht immer ist die Wahrnehmung des Selbstwirksamkeitsgefühls oder der Empathie jedoch bewusst und selbstverständlich. Der Artikel von Bons et al. (2023, in diesem Band) um das Projekt MOkuB zeigt uns, dass gemeinsames Musizieren allein nicht unbedingt genügt. Es bedarf einer zusätzlichen Reflexionsebene – in ihrem Fall zur Förderung des intergenerationalen Dialogs und zur Betrachtung und zum Überdenken tradierter Rollenbilder und Praktiken in ländlichen Räumen. Genau zu dieser Reflexion könnten wiederum andere Aktivitäten beitragen. Der Künstler Jörg Tausch (2023, in diesem Band) betont die Bedeutung der Kunst und künstlerischen Bildung für die persönliche Identitätsreflexion. Ein ähnliches Bild skizzieren Seumel et al. (2023, in diesem Band) für die Wirksamkeit offener partizipativer künstlerischer Formate.
Durch die kreative – verbale und oft auch non-verbale körperliche Arbeit – kann Kulturelle Bildung innovatives, offenes Denken und Fühlen auch gegenüber Veränderungen begünstigen. Gleichzeitig deutet sich auch an, dass eine Begleitung durch Reflexionsprozesse diese Wirkungen verstärken kann oder gar erst ermöglicht. Die verschiedenen Aktivitäten können dazu beitragen, eine Nähe zum eigenen Selbst, den eigenen (vielleicht unbewussten) Emotionen und Vulnerabilitäten herzustellen, sich diesen zu öffnen und darüber zu kommunizieren. Gleichzeitig deutet sich an, dass ein tiefergehendes Verständnis der Rolle von Reflexivität helfen kann, die Wirkung zu verstärken und bewusst(er) zu machen. Ähnlich argumentieren auch verschiedene Autor*innen aus Counselling und Psychoanalyse. Serra Undurraga (2021) erörtert, dass ein Bewusstwerden über die eigenen Entwicklungen wiederum die Wirkungen dieser, also die Veränderungen selbst, beeinflussen können. Sie weist darauf hin, dass wir uns bereits in dem Moment verwandeln, in dem wir uns um Veränderungen kümmern, hineinspüren oder nachdenken. Diese Veränderung kann dann teils bewusst, teils unbewusst stattfinden. Eine Auseinandersetzung mit solchen Perspektiven könnte die Wirkungsforschung in der Kulturellen Bildung daher weiter voranbringen (vgl. auch Wyatt 2019; Althans et al. 2020).
Natürlich hat auch jede Aktivität ihre Eigenheiten und bedarf einer eigenen Schärfe bzw. eines differenzierten Blicks. Ganz sicher kann und soll die Kulturelle Bildung auch nicht alle gesellschaftlichen Krisen lösen bzw. nicht Antworten auf alle kulturellen Herausforderungen bieten. Gewiss nicht. Doch mit diesem Buch wollen wir auch Hoffnung machen – für eine bessere Zukunft, für ein Zusammenleben in Gemeinschaft und Gesellschaft, das durch gegenseitiges Verständnis, Dialog und Zugehörigkeit geprägt ist. Wir wünschen uns eine Zukunft, in der u. a. durch Kulturelle Bildung Menschen kreativ und innovativ werden und das Aushalten von Unsicherheit möglich ist. Eine Zukunft, in der wir in gewisser Weise mit steigender Komplexität umgehen und dem Leben – auf diesem einzigartigen Planeten – mit Fürsorge und Verständnis entgegen gehen können. Eine Zukunft, in der Kulturelle Bildung Gemeinschaft schafft, Raum für Austausch bietet – Austausch auch sehr konträrer Positionen, deren Pluralität wir aushalten können, ohne uns der Versuchung der Einfachheit zu ergeben. Eine Zukunft, in der wir die Kraft und die Fähigkeiten haben zu wachsen – als Individuen, als (Welt)Gemeinschaft und als (Welt)Gesellschaft. Eine Zukunft, in der wir den Mut haben, die Probleme anzusprechen, Neues zu wagen und von gewohnten Pfaden abzuweichen.
Beachtung der Herausforderungen und plurale Kontexte ländlicher Räume – Gelingensbedingungen
Die angedeuteten Ergebnisse und Perspektiven lassen uns zugleich vermuten, dass noch mehr Menschen erreicht werden könnten und sollten. Dafür müssten wir allerdings teils die Rahmenbedingungen schaffen oder verbessern bzw. die Netzwerke und Akteur*innen stärker unterstützen – besonders in ländlichen Räumen. Dieses Buch soll zeigen, dass wir die Herausforderungen und Möglichkeiten ländlicher Räume kontextspezifisch betrachten müssen. Lassen Sie uns daher schon einmal auf zentrale Gelingensbedingungen blicken, die im vorliegenden Buch erörtert werden: die Unterstützung von Netzwerken, Einzelpersonen und Familien/Eltern, die Förderung informeller und digitaler Angebote und die sozioökomische Unterstützung von Regionen.
Mehrere Beiträge betonen die Bedeutung (translokaler) Netzwerke (vgl. die Artikel in diesem Band von Gumz et al., Wölfl, Bender et al., Grunert et al. und Beetz und Jacob, 2023). Wie wichtig die Beziehungspflege in ländlichen Räumen ist, zeigt der Artikel von Gittermann et al. (2023, in diesem Band). Gittermann et al. arbeiten die Bedeutung des Community Development als Mittel für Publikumsentwicklung heraus und heben die Rolle persönlicher Erwartungen und des direkten persönlichen Kontakts in ländlichen Räumen hervor. Gumz et al. (2023 in diesem Band) unterstreichen wiederum die Bedeutung der verschiedenen Netzwerkstrukturen wie auch der regional-historischen Prägung. Auch Bender et al. (2023 in diesem Band) heben die Rolle regionaler Identitätsmuster, ihre Ambivalenzen wie auch den möglichen Stress ihrer Veränderungen hervor. Die Kulturelle Bildung kann Teil und Begleiter solcher regionaler Veränderungsprozesse sein (vgl. Beetz/Jacob 2023, in diesem Band).
Mit einer etwas anderen Sichtweise erschließen Althans et al. (2023, in diesem Band) die Rolle von Landschaften, der Verzahnung und Reflexion räumlich-zeitlicher Veränderungen und der Wirkung von Affekten, d.h. den Erfahrungen, die einem Gefühl, einer Emotion oder einer Stimmung zugrunde liegen. Die Bedeutung der gemeinsamen historischen und regionalen Reflexion wird ebenfalls von der Autorin Helena Wölfl (2023, in diesem Band) skizziert. Sie verweist auf die Bedeutung einer „glokalen Perspektive“. Das Pflegen translokaler Netzwerke oder Verflechtungen sei dabei ebenso wichtig wie die Reflexion und das Bewusstmachen historisch-geographischer Prägungen. Dies sei besonders entscheidend, wenn es um die Entwicklung von (regionalen) Zukunftsvisionen geht, welche historische und traditionelle Einflüsse beachten sollten. Dass Kontexte bzw. Räumlichkeiten auch bei der Rezeption von Kunst eine Rolle spielen, deuten Gotthardt und Seitz et al. (2023, in diesem Band, gemeinsame Erstautorenschaft) an.
Sebening et al. (2023 in diesem Band) akzentuieren neben der Rolle der regional-räumlichen Spezifika und räumlich-kulturellen Vielfalt auch die zentrale Rolle von Vereinen und engagierten Einzelakteur*innen. Die Zentralität des Ehrenamts bringe jedoch auch eine Fragilität in die regionalen Netzwerkstrukturen und führe nicht selten zu Überbelastung und Erschöpfung einzelner Akteur*innen, wie es auch Stutz (2023, in diesem Band) ausführt. Stutz argumentiert ferner, dass die Kooperationsbereitschaft sinkt, wenn die Akteur*innen zu überlastet sind. Diese Überlastungen würden in ländlichen Räumen oft durch Herausforderungen in der Mobilität, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Personalmangel mitbedingt. Krüger und Schön (2023, in diesem Band) arbeiten die Gelingensbedingungen elterlicher Ansprechbarkeit heraus und zeigen die Bedeutung niedrigschwelliger Angebote und Kommunikation, wie die Organisation von Fahrgemeinschaften oder Beitragsstaffelungen. Wie entscheidend die Einstellung und die Aspirationen der Eltern für die Kenntnis und Teilnahme an Kultureller Bildung sind, betonen auch noch einmal Kopp und Lehmann-Wermser (2023, in diesem Band). Die Bedeutung elterlicher und familiärer Prägungen und Erfolgsaspirationen für die regionale Bindung erläutern Retzar et al. (2023, in diesem Band).
Einige Artikel betonen des Weiteren die Zentralität der Förderung informeller und digitaler Angebote. Die Autor*innen um Grunert et al. (2023, in diesem Band) führen verschiedene Lösungsstrategien der jeweiligen kulturellen Akteur*innen aus, die sie so oft selbst zu Regionalentwickler*innen werden ließen: Dabei spielten umfangreichere digitale Angebote eine ebenso wichtige Rolle wie die intensivere Kooperation und Vernetzung mit lokalen Institutionen (u. a. Schulen und Vereinen). Zugleich empfehlen die Autor*innen den politischen Akteur*innen, informale und non-formale Bildung stärker zu stützen und so die partizipative Beteiligung Jugendlicher zu fördern. Dass (post)digitale Teilhabe ein zentraler Teil der Lösung sein kann, zeigen ebenfalls Flasche et al. (2023, in diesem Band). Sie betonen, dass ländliche Bibliotheken als dritte Orte (Anm.: Mit dritten Orten oder auch „third spaces“ meinen wir eine Form der Gemeinschaft außerhalb von Familie und dem Beruf, die u. a. an einem physischen oder virtuellen Ort lokalisiert sein kann (Oldenburg 1999; Hamman 2000; vgl. auch Flasche et al. 2023 in diesem Band).) verstanden und gelebt werden können und eine Verschränkung von verschiedenen Perspektiven – lokal, regional, global – möglich ist. Dafür müssten jedoch die notwendigen personellen, professionellen, infrastrukturellen und materiellen Voraussetzungen geschaffen werden. Auch die Entwicklung und Umsetzung partizipativer Angebote sei ein wichtiger Gelingensfaktor. Otte et al. (2023, in diesem Band) unterstreichen ebenso die Bedeutung partizipativer – digitaler – Angebote, indem sie herausarbeiten, dass die digitale (private) Nutzung von Angeboten sich zwischen ländlichen und urbanen Räumen kaum unterscheidet.
Ein weiterer wichtiger, wenn auch wahrscheinlich bekannter Punkt betrifft die Bedeutung der sozioökonomischen Stärkung der Regionen. Grunert et al. (2023, in diesem Band) schlagen die Neuetablierung von Räumen in der Fläche (neue Raumstrukturen) gemeinsam mit einer größeren politischen Aufmerksamkeit für die Kulturelle Bildung als Lösungsansätze vor. Dies sei auch entscheidend, um regionalen Abwanderungen entgegenzuwirken. Retzar et al. (2023, in diesem Band) zeigen zudem, dass Heranwachsende mit Migrationshintergrund tendenziell eine größere Abwanderungsverpflichtung verspüren.
Dieses Verpflichtungsgefühl ruhe in ökonomisch-beruflichen Gründen der Familien und führe oft zu einem innerlichen Spagat der jungen Menschen. Auch Mallwitz und Nonte (2023, in diesem Band) deuten auf die multiplen verzahnten finanziellen und personellen Herausforderungen der Familien und Eltern in ländlichen Räumen hin.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Netzwerkförderung und Anerkennung komplexer heterogener regionaler Identitäten ebenso wichtig sind wie die Unterstützung von Eltern, Familien und Ehrenamt. Zudem wird die Bedeutung einer strukturellen Förderung von Regionen illustriert. Schließlich deutet sich an, dass wir in der Praxis und Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen in Deutschland zwar schon viele Antworten auf wichtige Fragen gefunden haben, viele Aspekte allerdings noch offen sind. Es gilt besonders das dynamische Wechselspiel aus Raum, Wissensproduktion und Kompetenzentwicklung besser zu verstehen und auch entsprechend positiv beeinflussen zu können (Haraway 1988; Soja/Hooper 1993; Massumi 2002, 2020; Gregg/Seigworth 2010). Wichtig ist: Es gibt nicht die eine Lösung. Wir müssen kontext- und zeitabhängige Strategien und Lösungen mit den Beteiligten vor Ort entwickeln. Wandel strengt an, Wandel kostet Kraft, aber Wandel bietet Perspektiven. Dies wird sich auch in der nächsten Förderrichtlinie des BMBFs zur expliziten Rolle Kultureller Bildung für gesellschaftliche Transformationen widerspiegeln (vgl. BMBF 2022).
Wie wollen wir in Zukunft zusammenarbeiten? Quo vadis „Transfer, Ko-Konstruktion, Interaktion“?
Lassen Sie uns nun noch einen Ausblick in die Zukunft der Projekt- und Forschungsarbeit zu Kultureller Bildung geben und dabei auch auf Desiderate und mögliche neue Formen der Forschung und Projektzusammenarbeit eingehen. Die drei Worte des Buchtitels „Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion“ stehen für die vielfältigen Beziehungskonstellationen und Bedeutungen, welche die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und kultureller Bildungspraxis annehmen kann. Wie wir in Beziehung treten und miteinander arbeiten und wachsen, kann sehr verschieden sein. Sicher lassen sich viele verschiedene Begriffe dafür finden.
Mit den Worten „Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion“ versuchen wir zum einen, die Pluralität der möglichen Beziehungskonstellationen abzubilden: von gemeinsamer Ideen- und Bedarfsfindung/Projektdefinition bis hin zu paralleler Projektarbeit und sporadischer Kommunikation. Die Wahl der Begriffe – ihre Pluralität – verdeutlicht demnach ebenfalls die Pluralität der Förderrichtlinie. Dieses Buch hat diese Vielfalt durch die verschiedenen Themen, Forschungsansätze, Methoden und Begrifflichkeiten veranschaulicht. Der plurale Titel symbolisiert zum anderen den kollektiven Aushandlungsprozess, den wir durchlaufen und in dem wir viel dazu gelernt haben. Wir sind allen beteiligten Forschenden und Praxispartner*innen dankbar, sich auf diesen gemeinsamen Weg und auf die Interaktionen eingelassen zu haben. Aus der Metaperspektive und der vermittelnden Rolle, die wir als Herausgeberinnen dabei einnehmen, zeigt sich, wie wichtig es ist, die richtigen Worte zu finden, offene Ohren für Frustration zu haben und teils auch Missverständnisse aufzuklären. Wie in der Kulturellen Bildung ist der Kompromiss – der vermittelnde Dialog – zentral, um ein Projekt wie dieses Buch erfolgreich durchzuführen. Alle abzuholen, dabei unterschiedliche Gleichzeitigkeiten einzufangen und doch eine Synthese zu schaffen, war und ist bedeutsam. Die transparente Reflexion dieses Prozesses wird uns sicher auch über dieses Buch hinaus weiter bewegen.
Dies gilt besonders für die vielfältigen Forschungsansätze und Formen der Zusammenarbeit. Wir möchten den Dialog zwischen Wissenschaft und kultureller Bildungspraxis, den Transfer-Diskurs, hier nur andeuten. Wir haben uns an anderer Stelle dazu ausführlicher geäußert (vgl. Fischer/Kolleck 2023). Mit Transfer beziehen wir uns auf das Verständnis eines „‚Zweibahnstraßen‘-Wissenstransfers“ (Reinwand-Weiß 2020, S.167; vgl. auch Fischer/Kolleck 2023). Nach unserer Auffassung handelt es sich dabei stets um einen (mehr oder weniger) partizipativen Prozess, der in Wechselwirkung mit den entsprechenden Beziehungsgeflechten, den „Relationierungsprozessen“ (Schmiedl 2022, 13), steht. Denn selbst die Rezeptionen und Reflexionen von Wissen wirken nach und verändern uns, wenn auch vielleicht indirekt (vgl. auch Kühn et al. 2023, in diesem Band).
Der Begriff der Ko-Konstruktion, der vielleicht auf den ersten Blick noch mehr Augenhöhe impliziert, betont das gemeinsame Schaffen durch die verschiedenen Akteur*innen – oft schon mit Beginn einer Projektidee – und greift ebenfalls auf Erkenntnisse der Partizipationsforschung zurück (vgl. Ehm/Weigl 2020). Der dritte Begriff, die Interaktion, ist vielleicht der vermeintlich offenste Begriff, vielleicht auch der am wenigsten diskutierte, und soll die verschiedenen möglichen Austausch- und Beziehungsformen symbolisieren. Diese Vielfalt kommt in den verschiedenen Beiträgen mitunter explizit zur Sprache. Waburg et al. (2023, in diesem Band) arbeiten für uns die Bedeutung von gemeinsamer Reflexion der Erwartungsbilder und Rollen heraus, welche zu einer Änderung der Beziehungsebenen der beteiligten Personen führen kann. Sie betonen besonders die Rolle der Mittler*innen, welche ein neues Betätigungsfeld sein und auch den Forschenden zugeschrieben werden könnte. Die Rolle der Reflexion wird auch von Kühn et al. (2023, in diesem Band) hervorgehoben. Sie argumentieren, dass partizipative Kommunikationsformen von Ergebnissen ein Teil von Transfer sein müssten. Dabei gelte es, die lokalen Identitäten zu beachten. Dass geeignete Formate notwendig sind für eine vertrauensvollen Zusammenarbeit – hier für offene partizipative Formate in der Kunst – unterstreichen ebenso Seumel et al. (2023, in diesem Band). Die Wichtigkeit der Kontinuität gegen Überlastung betont Frau Stutz (2023, in diesem Band). Diese sei essenziell für die Zusammenarbeit, aber oft nicht in der Förderlogik verankert. Die Rolle der Medien und der lokalen/regionalen Berichterstattung erörtern Irmer et al. 2023, in diesem Band. Althans et al. (2023, in diesem Band) zeigen uns wiederum, welche Rolle historisch-räumliche Erfahrungen und Verschränkung im Forschungsprozess und der damit eingehenden Beziehungsarbeit erwirken können. Auch Beetz und Jacob (2023, in diesem Band) reflektieren solche Veränderungsprozesse.
In den vergangenen Jahren haben wir schließlich auch von den verschiedenen Krisen und besonders der Covid19-Pandemie viel gelernt – gerade auch mit Blick auf die Formen der Zusammenarbeit. Die Herausforderungen ermutigten uns auf sehr verschiedene Art und Weise, einen kreativen Umgang mit den sich ständig verändernden und nicht vorhersehbaren Situationen zu finden. Jede Forschungsfrage eröffnete uns unterschiedliche Antwortmöglichkeiten und jede Frage sollten wir zugleich hinterfragen. Welche Fragen haben wir beantwortet und welche nicht? Welche Fragen entstehen aus den hier vorgestellten Antworten? Woher wissen wir, dass wir die richtigen Fragen stellen? Was heißt es, die „richtigen“ Fragen zu stellen? Für uns zeigt sich, dass wir immer wieder aufs Neue geeignete, bedarfsorientierte plurale Formen der Zusammenarbeit zwischen den Regionen, (kulturellen) Bildungsakteur*innen und Wissenschaftler*innen finden müssen. Diese Formen können und müssen alle nebeneinander existieren, denn sie haben alle ihre Berechtigung.
Vielleicht bedarf es des Mutes und zusätzlicher Möglichkeiten, wenn es darum geht, neue Formen der Zusammenarbeit und Wissensproduktion auszuprobieren, zu experimentieren und unsere Annahmen zu hinterfragen. Die Wissenschaft ist im Umbruch – auch in Deutschland. Die wissenschaftlichen Identitäten, Rollen und Erwartungsbilder sind im Wandel, genau wie unsere Gesellschaft(en) insgesamt. Und so verändern sich zum Teil auch die Fragen und Bedarfe, welche die Wissenschaft beantworten soll und kann. Dafür braucht es mehr Experimente, mehr Räume – gerade in den Sozialwissenschaften und der Forschung zu Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. So ermutigt uns die amerikanische Bildungswissenschaftlerin St. Pierre:
„I believe inquiry should be provocative, risky, stunning, astounding. It should take our breath away with its daring. It should challenge our foundational assumptions and transform the world. We must, even so, be vigilant in analyzing the consequences of human invention and the structures it endlessly creates. Humanism’s projects created spectacular failures that the ‘turns’ identified half a century ago. Why not try something different?” (St. Pierre 2011: 623)
Es ist jedoch entscheidend, dass wir uns bewusst bleiben, dass die Wissenschaft doch nur den letzten Zweifel hegt und beschreibt (Popper 1985), wenn wir davon ausgehen, dass Wissen situiert und kontext-spezifisch ist (Haraway 1988).
Abschließende Worte
Wir stellen Ihnen hier in diesem Buch Ergebnisse, Prozesse und Methoden vor, die auf ganz diversen Annahmen beruhen. Ziel ist es, den Raum zu öffnen für Perspektiven, die besonders praxisrelevant sind. Jetzt fragen Sie sich vielleicht, was wir als Herausgeberinnen als praxisrelevant verstanden haben? Denn natürlich gibt es nicht die eine Praxis, sondern viele kulturelle Bildungspraktiker*innen, Bildungsakteur*innen oder interessierte Politiker*innen. Zum einen möchten wir hier anregen, darüber nachzudenken, wer für Sie in der Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen die relevanten Akteur*innen sind. Vielleicht sind es noch ganz andere als jene, die hier besprochen werden. Was erwarten Sie vielleicht ganz unbewusst von diesen Personen? Und warum ist dies so?
Zum anderen wollen wir nicht nur von praxisrelevanter, sondern von bedarfsrelevanter oder bedarfsorientierter Arbeit bzw. Forschung sprechen. Natürlich können Sie wiederum berechtigterweise fragen, wer jeweils gehört wird. Wenn wir von bedarfsorientiert sprechen, dann brauchen wir (mehr) Dialog, mehr Austausch, um uns zu verstehen und zu erkennen, was wir jeweils zu der Lösung eines Problems, zur Änderung des Blickwinkels oder zur Bearbeitung einer Herausforderung beitragen können. Oft wissen wir einfach nicht genug voneinander oder kommen zu selten miteinander ins Gespräch. Wir hoffen, dass wir mit diesem Buch einen Schritt hin zu mehr Dialog gehen.
Was wünschen wir uns zum Schluss? Wir wünschen uns, dass Sie lesen und weiterziehen – hoffentlich inspiriert, irritiert, informiert, zum Nachdenken angeregt. Wir möchten Sie einzuladen, dieses Buch wirken zu lassen. Denn dieses Buch ist auch eine Ermutigung, selbst tätig zu werden. Nehmen Sie Kontakt auf, treten Sie in Beziehung – mit Menschen, die vielleicht anders Wissen produzieren und weitergeben als Sie selbst.
PDF DokumentKolleck, Nina [Hrsg.]; Fischer, Luise [Hrsg.] Opladen • Berlin • Toronto : Verlag Barbara Budrich 2023, 386 S. |