Theaterpublikum in ländlichen Räumen: Zusammensetzung, Motivationsgründe und Audience Development
Abstract
Wie setzt sich das Theaterpublikum ländlicher Räume zusammen und wie gestalten sich Bindungsstrategien zwischen Anbietern und Zuschauer*innen? Aufbauend auf einer breit angelegten Publikumsbefragung stellt eine Studie der Universitäten Göttingen und Hildesheim erstmals empirische Daten über Besucher*innen professioneller und nicht-professioneller Theaterangebote in ländlichen Räumen vor und vergleicht diese mit Daten aus städtischen Räumen. Im vorliegenden Artikel werden zudem verschiedene Strategien des Audience Development der vielfältigen Bühnen Südniedersachsens sowie Nutzungsdimensionen und soziodemografische Profile der befragten Besucher*innen analysiert. Die identifizierten Publikumsbindungsprozesse sind stark geprägt von persönlichen Beziehungen und gemeinschaftsbildenden Ereignissen. Der untersuchte Theatermarkt zeigt sich als deutlich nachfrage- und teilhabeorientierter als in den Städten und bindet damit auch ein diverseres Publikum: so erreichen zum Beispiel allen voran die Amateurtheater mit populären Programmen auch Menschen mit niedrigerem formalem Bildungsniveau und geringerem Einkommen. In der aktuellen Diskussion um den Rückgang des Theaterpublikums kommt den untersuchten Formaten und Modellen ein wegweisender Charakter in Richtung einer stärkeren Teilhabeorientierung zu.
Einleitung
Seit einigen Jahren gerät der ländliche Raum in den Fokus kulturpolitischen Interesses unter der Frage, inwiefern die Bevölkerung im Sinne chancengerechter und gleichwertiger kultureller Teilhabe auch dort ausreichend kulturelle Angebote zur Verfügung hat (vgl. hierzu zum Beispiel Götzky 2012, Schneider et al. 2017, Wingert 2022 und siehe Norbert Sievers „Kulturpolitik für ländliche Räume“). Wie gestaltet sich das Theaterangebot jenseits der kulturell verdichteten urbanen Räume mit ihren Stadt- und Staatstheatern, wer sind die Anbieter? Und wer ist das Publikum in peripheren ländlichen Räumen, unterscheidet es sich in seinen Interessen, Bedürfnissen und seiner sozialen Zusammensetzung vom Publikum, das in Städten lebt?
Die meisten bislang durchgeführten Theaterpublikumsstudien beziehen sich auf das Publikum städtischer Institutionen (vgl. zum Beispiel Glogner/Föhl 2011, Reuband 2018 oder Weskamp/Waldhausen 2023), während gleichzeitig weniger als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung in städtischen Räumen lebt (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2022). Welches Theaterangebot Bewohner*innen ländlicher Räume nutzen und inwiefern sich ihre soziale Zusammensetzung und ihre Bedürfnisse von jenen städtischer Besucher*innen unterscheiden, ist bisher nur wenig untersucht. Kaum untersucht sind auch die Besonderheiten der Theateranbieter in ländlichen Regionen und gar nicht betrachtet wurden bislang ihre Strategien des Audience Development und der Vermittlung.
Um diese beiden Forschungslücken zu schließen, wurden sowohl das Angebot, als auch die Nachfrage des Theaters in ländlichen Räumen untersucht. Als Untersuchungsgebiet diente dabei die Region Südniedersachsen (Landkreise Göttingen, Holzminden und Northeim sowie zum Teil anschließende Gemeinden). Auf der Anbieterseite wurden professionelle Akteure wie die Landesbühnen, die privaten Tourneetheater und Freie Theater sowie nicht-professionelle Akteure wie Amateurtheater und Kulturvereine als Mittler befragt zu ihren Programmen, Publikumsstrategien und den Herausforderungen, mit denen sie in ländlichen Räumen bei der Publikumsbindung konfrontiert sind. Auf der Nachfrageseite differenzierte die Studie zwischen Publikum städtischer und ländlicher Theaterangebote sowie Publikum professioneller und nicht-professioneller Theaterangebote und analysierte in einer qualitativen und umfangreichen quantitativen Studie Unterschiede bei Theaternutzung, Interessen, Erwartungen, Motivationen und soziodemografischer Zusammensetzung des Publikums im Vergleich Stadt - Land. Als Kriterium für die Einordnung der beobachteten Theaterakteure wurde der Raumtyp Lage des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung genutzt, der geografische Standorte anhand der Erreichbarkeit der nächstgelegenen Großstadt von zentral bis peripher verortet (vgl. BBSR 2010). Mit Blick auf die beiden Forschungslücken, werden die Ergebnisse der Studie im Folgenden getrennt nach dem Theaterangebot (mit einem Überblick der Akteurslandschaft und einem Schwerpunkt auf teilhabeorientierten und publikumsbindenden Strategien) und der Theaternachfrage in ländlichen Räumen dargestellt:
Das Theaterangebot ländlicher Räume
Die Theater-Akteurslandschaft in ländlichen Räumen und ihre Publikumsstrategien
Die Theaterlandschaft ländlicher Räume zeichnet sich durch eine besonders hohe Vielfalt der Akteure aus. Während die innerhalb der Region ansässigen Institutionen und Vereine langfristige Bindungen zu ihren Zuschauer*innen aufbauen und ein verlässliches Programm gestalten können, sind die außerhalb der Region situierten Akteure stets auf der Durchreise und lediglich zu einzelnen Gastspielen vor Ort. Landesbühnen und Tourneetheater sind dabei meistens auf die Einladung bzw. Buchung der Gastspielstätten mitsamt ihren jeweiligen lokalen Netzwerken angewiesen, nur sehr vereinzelt existieren feste Kooperationen mit den Veranstaltenden in ländlichen Räumen oder direkte Verantwortlichkeiten bei den Landesbühnen für die Spielplanplanung vor Ort. Die Unterscheidung zwischen professionellen und nicht-professionellen Akteuren markiert ein entscheidendes Kriterium in der Analyse ländlicher Theaterlandschaften. Allen voran die Amateurtheater spielen hier eine große Rolle. So befinden sich 70 Prozent aller verbandlich organisierten Amateurbühnen in Deutschland in ländlichen Regionen (siehe Stephan Schnell „Amateurtheater im peripheren Raum von Ländlichkeit“). Dies verdeutlicht die Relevanz ehrenamtlichen Engagements außerhalb von städtischen Strukturen. Nicht unerheblich ist außerdem das Kriterium der Finanzierung. Während die Landesbühnen institutionelle Zuwendung erhalten und die Freien Theater Projektförderung, müssen die Privat- und Tourneetheater kostendeckend kalkulieren und sind auf die Buchungen durch lokale Kulturvereine und -ämter vor Ort angewiesen. Diese Vereine und Ämter agieren als Zwischeninstanz zwischen lokalem Publikum und den professionellen Theaterschaffenden. Obschon einzelne Kulturvereine zum Teil mit kommunalen Zuwendungen unterstützt werden, muss ein großer Teil des Gastspielprogramms in der untersuchten Beispielregion durch Ticketverkäufe eigenfinanziert werden. Die Amateurtheater dagegen arbeiten ehrenamtlich und verorten sich damit außerhalb der Wettbewerbsbedingungen des ländlichen Theatermarktes. Konkret konnten wir in der Beispielregion Südniedersachsen 41 Amateurtheater, elf Kulturvereine, vier Kulturämter, ein Festspiel und drei Freie Gruppen identifizieren. Hinzu kommen vier Landesbühnen und 19 private Tourneetheater, die innerhalb der letzten drei Jahre in der Region Gastspiele angeboten haben. Die unterschiedlichen Strukturen, Selbstverständnisse und Haltungen zur Programmgestaltung sowie zur Publikumsbindung der verschiedenen Akteure werden im Folgenden kurz skizziert.
Amateurtheater
Die befragten ländlichen Amateurtheatergruppen werden fast ausschließlich ehrenamtlich geleitet und verwaltet. Die meisten Entscheidungen werden kollektiv getroffen werden jenseits etablierter Hierarchien, durch die professionelle Theaterhäuser charakterisiert sind. Auch die Unterstützung durch passive Mitglieder oder Menschen außerhalb des Vereins trägt zum Gelingen der Veranstaltungen bei, wie zum Beispiel beim Aufbau, Catering, Kartenverkauf oder der Werbung. Die „helfenden Hände“ fungieren als wichtige Stütze der Theaterarbeit und verankern diese in der jeweiligen Dorfgemeinschaft. Das Paradigma des „Selbermachens“ erhält einen hohen Stellenwert in durchgängig allen Erzählungen der Vereinsmitglieder und findet Eingang in alle Bereiche der Theaterarbeit, wie zum Beispiel Bühnenbau, Textadaptation, technische Ausstattung, Catering, aber auch Finanzierung. Die Markierung der künstlerischen Arbeit als Freizeitbetätigung geht mit einer klaren Non-Profit-Orientierung der Vereine einher. Etwaige finanzielle Überschüsse werden häufig gespendet und letztendlich in die Dorfgemeinschaft zurückgeführt. Die lokale Verankerung und der Stellenwert werden dementsprechend als gewichtig beschrieben. Kooperationen bestehen in diesem Sinne vor allem zu lokalen Vereinen wie der Feuerwehr, Sportvereinen oder Kirche. Diese Erkenntnis knüpft an die Beschreibung Naemie Keulers von Amateurtheatern als „Vernetzungsbetriebe[n] im Dorf“ an (Keuler 2019).
Das Interesse an Kooperationen mit überregionalen kulturellen Akteuren ist äußerst begrenzt und insbesondere die Zusammenarbeit mit professionellen Theaterschaffenden stößt eher auf Ablehnung. Die Professionalisierung ihrer Freizeitbetätigung widerstrebt dem Selbstverständnis der meisten befragten Akteure, sie grenzen sich in den Interviews deutlich von städtischen Institutionen ab. Der persönliche Kontakt der Spielenden untereinander sowie zu den Besucher*innen und gemeinsame Unterhaltung sind zentrale Motivation für ihr Bestehen. Grillfeste, Umtrunke und Geselligkeit sind nicht nur fester Bestandteil der Probenarbeit, sondern rahmen auch die Theaterabende selbst. Auf ästhetischer Ebene wird das Kokettieren mit der eigenen Nicht-Professionalität zur künstlerischen Strategie, so zum Beispiel durch Improvisationen, Interaktionen mit dem Publikum und dem Herausfallen aus der Rolle. Die Relevanz der Theaterarbeit für die Dorfgemeinschaft wird gestärkt durch die Ritualisierung des zumeist jährlichen Events, das in einigen Regionen einen der letzten bestehenden Begegnungsanlässe überhaupt ausmacht. Herausforderungen bestehen demnach nicht etwa in der Finanzierung oder in einem schwindenden Publikumsinteresse, sondern eher im Wegbrechen von geeigneten Probe- und Aufführungsräumen sowie in der Generierung von Nachwuchs, was in einem engen Zusammenhang mit der Krise des Ehrenamts steht (Pfeiffer 2023).
Ehrenamtliche Kulturvereine und Kulturämter
Zentrale Vermittler von Gastspielen in Südniedersachsen sind ehrenamtliche Kulturvereine und kommunale Kulturämter, die Stadthallen, Aulen oder andere eigene Räumlichkeiten nutzen. Beide Akteure verfügen in der Regel über keine professionelle Expertise, da sie oftmals ehrenamtlich oder als Verwaltungsangestellte tätig sind, bringen aber viel Erfahrungswissen mit. Mit den von ihnen eingekauften Gastspielen wollen sie ein möglichst breites Angebot schaffen, das für verschiedene Zielgruppen gleichzeitig attraktiv ist. Als größter gemeinsamer Nenner ihres Programms lassen sich hier Komödien und Musiktheaterstücke identifizieren.
Privat- und Tourneetheater
Neben jenen Institutionen, die ihren Betrieb ausschließlich auf die Tourneetätigkeit konzentrieren, fallen in diese Akteurskategorie auch die Gastspielsparten privater Theater aus Großstädten. Ähnlich wie bei den Landesbühnen resultiert daraus eine Produktionsweise, die die Tourfähigkeit der Inszenierungen schon von Beginn an berücksichtigt und einen langen Planungshorizont erforderlich macht. Die Strukturen der Tourneetheater ähneln jenen der Stadttheater oder Landesbühnen. Die Akteure geben an, über eine große Reichweite von bis zu 200 Städten zu verfügen und eine hohe Anzahl von bis zu 1.000 Vorstellungen pro Jahr durchzuführen, was deutlich den Schnitt der befragten Landesbühnen übersteigt. Die tatsächliche Auslastung der Vorstellungen vor Ort spielt für die Tourneetheater nur indirekt eine Rolle. Ab dem Zeitpunkt der Buchung durch den Veranstalter übernimmt dieser die Verantwortung für die Zielgruppenansprache und wird von den Bühnen dabei lediglich durch das Bereitstellen von Kommunikationsmaterialien unterstützt. Relevant bei künstlerischen und programmatischen Entscheidungen ist daher in erster Linie die Verkäuflichkeit eines Titels, der sich in dieser Akteursgruppe primär aus dem Bereich „gehobene Unterhaltung“ und bekannte Titel und Namen speist. Gleichzeitig formulieren sämtliche befragte Anbieter auch einen Anspruch an künstlerische Innovation und an zeitgemäße Diskurse und Ästhetiken.
Landesbühnen
Das spezifisch deutsche Modell der Landesbühne stellt einen Hybrid zwischen Stadt- und Tourneetheater dar und kommt dem öffentlichen Auftrag nach, neben dem Programm am Hauptstandort auch ein Gastspiel-Angebot für die Spielstätten einer definierten Region (oft eines Bundeslandes) zu gestalten (vgl. Schröck 2020). Diese Aufgabe stellt im täglichen Betrieb eine Doppelbelastung dar, die einer der befragten Intendanten als „Drahtseilakt“ bezeichnet. Auch die Landesbühnen sind auf die Buchungen durch lokale Kulturämter und -vereine angewiesen, können sich aber aufgrund der öffentlichen Subventionen auf eine größere finanzielle Sicherheit verlassen und damit auch mehr künstlerische Risiken eingehen oder ihre Zuschauer*innen inhaltlich stärker herausfordern. Künstlerisch orientieren sich die Landesbühnen je nach Größe und Möglichkeiten an den Standards der Stadttheater und versuchen eher, sich von der Ästhetik der Privattheater und damit vermeintlich dem Boulevardtheater abzugrenzen. Der ästhetische Anspruch bleibt zwar zeitgenössisch und fordernd, muss aber immer mit dem Anspruch in Einklang gebracht werden, die Produktionen auch verkaufbar zu machen. Als Kompromiss wählen viele der Landesbühnen Stoffe, die einen bestimmten Anknüpfungspunkt haben, der die Inszenierungen leichter zugänglich macht, wie eine bekannte Vorlage, ein aktuelles Thema oder den vermehrten Einsatz von Musik. Allerdings stehen auch die Landesbühnen in der Netzwerkarbeit immer wieder vor dem gleichen Problem, wie auch die Tourneetheater: Sie sind lediglich auf der Durchreise vor Ort und können nur schwer nachhaltige Verbindungen über das gesamte Jahr hinweg aufbauen.
Theater innerhalb der Region (Stadttheater, Privattheater, Freie Szene)
Die in der Region ansässigen Theaterhäuser und Freien Gruppen sind eine in sich sehr heterogene Gruppe. Die in der Studie untersuchten Akteure verfügen alle über einen ausgeprägten theaterpädagogischen oder soziokulturellen Ansatz. Dazu zählen unter anderem Workshops, Spielclubs oder partizipative Projekte. Häufig ist die Förderung der Einrichtungen an einen dezidierten Bildungsauftrag gebunden. Die nachhaltige Arbeit mit verschiedenen Gruppierungen kann im Gegensatz zu den anderen Akteursgruppen aufgrund der räumlichen Nähe gewährleistet werden.
Programmpolitik und Teilhabeorientierung der Akteure
Eine Programmanalyse sämtlicher in ländlichen Räumen tätigen Theaterakteure in Südniedersachsen im Zeitraum 2017-2020 zeigt, dass das mit Abstand am meisten vertretene Genre stark unterhaltungsorientiert ist: 49 Prozent aller zur Aufführung gebrachten Inszenierungen lassen sich der Kategorie Komödie/Lustspiel/Schwank zuordnen. Damit wird dieses Genre außerhalb von städtischen Räumen genauso oft gespielt wie alle anderen Genres zusammen. Allen voran die Amateurtheater inszenieren bevorzugt Komödien; so konnte schon die Amateurtheaterstudie Niedersachsen 2014 nachweisen, dass 78 Prozent der befragten Bühnen Komödien, Lustspiele oder Schwänke auf die Bühne bringen (vgl. Götzky/Renz 2014). Unterhaltung markiert auch für viele der befragten Landesbühnen und Privattheater den entscheidenden Faktor ihrer Programmausrichtung, immer von der Bedingung geleitet, dass die Theaterproduktionen erst einmal auf dem Gastspielmarkt verkauft werden müssen.
Die Programmausrichtung der einzelnen Akteure und damit ihre Positionierung auf dem Markt sagt viel über ihre jeweilige Teilhabeorientierung und damit ihre Verortung im Feld der Kulturellen Bildung aus. Während Kulturämter und -vereine sowie Privattheater stark nachfrageorientiert agieren müssen, können Freie Theater, Stadttheater und Landesbühnen aufgrund ihrer Subventionen ihrem Auftrag entsprechend stärker angebotsorientiert agieren. Die Motivationshaltung bleibt dabei sehr deutlich durch den öffentlichen Auftrag begründet und führt dazu, dass teilhabeorientierte Formate als immanenter Bestandteil des Grundangebots verstanden werden. Bemerkenswert ist aber, dass auch Akteure, die nicht oder wenig öffentlich gefördert werden, wie zum Beispiel die befragten Privat- und Tourneetheater des Samplings, einen Bildungsauftrag wahrnehmen und teilhabeorientierte Formate anbieten. Dazu zählt das Ausweiten des eigenen Profils in Richtung weiterer Genres und Themen und das Experimentieren mit neuen Formaten und Aufführungsorten. Amateurtheater dagegen gestalten ihre Programme ausschließlich nach eigenem Geschmack und lehnen einen Bildungsauftrag klar ab. Sie verstehen ihr Angebot zwar als kulturelles, nicht aber als künstlerisches Ereignis.
Audience Development: Spezifika des Peripheren
Audience Development in den beobachteten ländlichen Räumen zeichnet sich durch die Kategorien Mobilität, Gastfreundschaft und Community Building, Ehrenamt, Eventisierung, Dezentralität und Regionalität aus. Diese Erkenntnisse basieren auf einer qualitativen Inhaltsanalyse einer Interviewserie mit 23 Theaterveranstaltenden der Untersuchungsregion. Die im Sample vertretenen Interviewpartner*innen wurden gemäß der oben vorgestellten Akteurskategorien ausgewählt.
Mobilität
Um Theaterproduktionen erreichbar zu machen werden häufig Theaterbusse oder Fahrservices angeboten. Umgekehrt lassen sich Beispiele für mobile Produktionen finden, die ihrerseits Theaterangebote in periphere Regionen tragen, wie zum Beispiel Formate von Freien Gruppen, die von Dorf zu Dorf ziehen oder Stationentheater inszenieren.
Gastfreundschaft und Community Building
Bezeichnend für ländliche Räume ist die Praxis, dass Veranstaltende explizit als Gastgebende auftreten, also als Ansprechpersonen begrüßen und private Gastfreundschaft inszenieren. Der persönliche Kontakt zu den Besuchenden und die Sichtbarkeit der Veranstaltenden selbst sind von hoher Bedeutung. Auch Austausch- und Begegnungsformate sowie das Einbinden lokaler Communities, zum Beispiel Vereine wie die Feuerwehr oder die Kirche tragen zum Community Building bei. Die Aufführung und ihre Rahmungen festigen zugleich die regionalen Gemeinschaften.
Ehrenamt
Dabei spielt das Ehrenamt eine große Rolle, stützt teilweise ganze Strukturen und bezieht nicht nur Vorstand oder Mitglieder der jeweiligen Vereine mit ein, sondern zahlreiche weitere Helfer*innen. Für Akteure, die nicht im jeweiligen ländlichen Raum ansässig sind, ist die Zusammenarbeit mit lokalen Multiplikator*innen unerlässlich, die das potentielles Publikum aktivieren und zum jeweiligen Anlass einladen.
Eventisierung
Die geringe Aufführungsdichte sowie die spezifische Infrastruktur in ländlichen Räumen tragen zu Effekten der Eventisierung bei. Theateraufführungen werden durch ihre feste Verankerung im Veranstaltungsjahr und die Verbindung mit gastronomischen Angeboten zu einem Erlebnis und Begegnungsort. Das Gesamtpaket aus künstlerischem Produkt und festlichem Rahmenprogramm findet zudem oft an theaterunüblichen Orten statt, wie zum Beispiel in eigens umgebauten Scheunen, Gaststätten, Freilichtbühnen, Burgen oder Kirchen.
Dezentralität und Regionalität
Einzelne Akteure wie Privattheater oder Freie Gruppen reagieren auf die weiten Entfernungen in ländlichen Räumen mit mobilen Programmen in Dorfkneipen, öffentliche Theater ziehen mit Gastspielen durch die lokalen Schulen und Kindergärten. Die Einbeziehung von regionalen Besonderheiten in die Programme bindet das jeweilige Theaterangebot lokal an und bietet ein Identifikationspotential für die Besucher*innen. Diese können von kleinen Adaptionen im Text mit Bezug zur Lokalgeschichte, den Einbezug eines lokalen Chors bis hin zu komplett partizipativen und ortsspezifischen Inszenierungen reichen, die eigens für ein bestimmtes Dorf entwickelt werden. Auch Dialekte oder kulturelle Bräuche können zu diesem identitätsbildenden Prozess beitragen und finden vor allem in Form der niederdeutschen Bühnen unserer Untersuchungsregion Verwendung.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass es Theatern in ländlichen Räumen häufiger gelingt, als „Dritte Orte“ wahrgenommen zu werden und eine temporäre kollektive Gemeinschaft zu konstituieren. Theateraufführungen werden als geselliges Ereignis und - häufig auch in Ermangelung an Alternativen - als soziale Treffpunkte wahrgenommen und genutzt. Es zeigt sich also, dass die rahmenden Faktoren mindestens genauso wichtig sind, um den Bedürfnissen der Zuschauer*innen gerecht zu werden wie das Bühnengeschehen. Und es kann hier die These aufgestellt werden, dass Theateraufführungen dann zugänglicher werden, wenn sie weniger als künstlerisches Produkt markiert, sondern stärker als gesellschaftliches Ereignis oder kulturelles Event wahrgenommen werden.
Die Nachfrage des Theaterpublikums ländlicher Räume
Ziel der quantitativen Publikumsbefragung war es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Theaterbesucher*innen ländlicher und städtischer Räume sowie zwischen professionellem und amateurbasiertem Theater herauszufinden. Zu diesem Zweck fanden in der Erhebungsregion Südniedersachsen (Landkreis Göttingen, Landkreis Northeim und Landkreis Holzminden) sowie in ausgewählten angrenzenden Ortschaften (Alfeld und Gronau) von Juni 2022 bis Januar 2023 schriftliche Befragungen mit Papierfragebögen bei 27 verschiedenen Theaterakteuren statt. Befragt wurden sowohl das Publikum professioneller als auch nicht-professioneller Theaterinstitutionen der städtischen und der ländlichen Räume, um jeweils aussagekräftige Vergleichsdaten zu generieren. Der Fragebogen kam bei insgesamt 87 verschiedenen Vorstellungen zum Einsatz und wurde jeweils dem gesamten Publikum per persönlicher Ansprache beim Einlass angeboten. Bei einer Rücklaufquote von 54 Prozent konnten somit rund 6.400 ausgefüllte Fragebögen gesammelt werden, von denen nach einer Datenbereinigung 5.985 Fragebögen in die Auswertung eingingen. Abgefragt wurden neben den klassischen soziodemografischen Faktoren auch die Besuchsmotivation, die sonstige Kulturnutzung, die Zugänge zum Theater und weitere Besuchsfaktoren. Die zentralen Ergebnisse dieser quantitativen Befragung werden im Folgenden getrennt nach ausgewählten Faktoren dargestellt und im Anschluss um die Ergebnisse der qualitativen Interviews mit Besucher*innen aus ländlichen Räumen ergänzt. Falls dabei Vergleichsdaten zur Bevölkerungszusammensetzung der ländlichen Räume genannt werden, beziehen sich diese hilfsweise auf den Landkreis Göttingen für das Jahr 2022, da für die beiden anderen Landkreise der Untersuchungsregion keine aussagekräftigen Daten vorlagen (vgl. Landkreis Göttingen 2023).
Geschlecht
Aus der bisherigen Forschung ist hinlänglich bekannt, dass mehr Frauen im Theater anzutreffen sind als Männer (vgl. Keuchel/Hill 2012, Mandel/Steinhauer 2020). Dieser Effekt lässt sich mit unseren Daten replizieren, da sich rund zwei Drittel der befragten Personen an professionellen Theatern in der Stadt als weiblich identifizieren. Unsere Vergleichsdaten aus den ländlichen Räumen zeigen darüber hinaus, dass dieser Effekt nicht nur ein typisches Phänomen der Stadt ist, sondern auch hier für ländliche Regionen gilt: Sowohl bei professionellen als auch bei Amateurtheatern in ländlichen Räumen sind rund zwei Drittel der Zuschauer*innen weiblich.
Alter
Auch hier werden Ergebnisse vorangegangenen Studien bestätigt: Etwas mehr als 60 Prozent der befragten Personen an städtischen professionellen Theatern sind 50 Jahre oder älter. Vor allem die mittlere Altersgruppe im erwerbstätigen Alter (30 bis 49 Jahre) ist unterrepräsentiert. Vergleicht man das Durchschnittsalter der Besucher*innen aus ländlichen Räumen mit denen aus der Stadt zeigt sich ein deutlicher Stadt-Land Unterschied: Mit durchschnittlich 57 Jahren (professionelle Theater in ländlichen Räumen) und 54 Jahren (Amateurtheater in ländlichen Räumen) sind Theaterbesuchende der ländlichen Räume um acht Jahre bzw. um fünf Jahre älter als in der Stadt, wo das Durchschnittsalter bei 49 Jahren liegt. Das langjährig bekannte Ergebnis aus städtischen Untersuchungen, dass eher älteres Publikum im Theater anzutreffen ist, gilt für den ländlichen Raum also umso stärker.
Auch wenn sich dies zum Teil damit erklären lässt, dass in ländlichen Räumen vergleichsweise weniger junge Menschen wohnen als in der Stadt (der Anteil der 10- 29-Jährigen im Landkreis Göttingen lag 2022 bei rund 24 Prozent und damit 7 Prozentpunkte unterhalb des Anteils dieser Gruppe in der Stadt Göttingen), lässt sich insgesamt feststellen, dass das junge Publikum in ländlichen Räumen dem Theater noch häufiger fern bleibt, als dies in der Stadt der Fall ist: So sind im Publikum städtischen professionellen Theaters rund 23 Prozent der Personen zwischen 10 und 29 Jahre alt, in ländlichen Räumen sind es hingegen nur noch rund 8 Prozent (und damit 15 Prozent weniger).
Bildungsabschluss
Auch beim Bildungsabschluss gibt es klare Unterschiede zwischen dem Publikum professioneller Theater der ländlichen und der städtischen Räume: Insgesamt ist das formale Bildungsniveau im Publikum der städtischen Theater deutlich höher als jenes des Publikums ländlicher Theater. Bestätigt wird das Ergebnis vorangegangener Studien, dass das formale Bildungsniveau des hier befragten Publikums städtischer Theater sehr hoch ist: rund 80 Prozent der Befragten bei haben mindestens das Abitur oder die Fachhochschulreife abgeschlossen.
Auch das Publikum ländlicher professioneller Theater weist häufiger höhere formale Bildungsabschlüsse auf als niedrigere. So sind es auch hier noch rund 56 Prozent der Befragten, die mindestens das Abitur oder die Fachhochschulreife besitzen. Insgesamt ist dieses Publikum aber heterogener in der Verteilung. Die größte Gruppe bilden die Personen mit mittlerer Reife oder Realschulabschluss. Mit rund 32 Prozent sind es hier doppelt so viele Personen wie in der Stadt. Personen mit Hauptschulabschlüssen sind mit rund zehn Prozent mehr als fünfmal so häufig vertreten wie in der Stadt, machen aber auch hier den geringsten Anteil aus. Auch innerhalb des Landpublikums lassen sich hier klare Unterschiede erkennen: Das Publikum des Amateurtheaters in ländlichen Räumen weist nochmals eine deutlich geringere formale Bildung auf als das des professionellen Theaters auf dem Land. Der Anteil der Akademiker*innen (Personen mit mindestens (Fach-)Hochschulabschluss) ist mit nur noch 13 Prozent mehr als halbiert, der Anteil der Personen mit Hauptschulabschluss mit rund 24 Prozent mehr als verdoppelt. Entsprechend stark ist daher der Unterschied zum Publikum städtischer professioneller Theater: Ist dort eine klare Verschiebung hin zu den höheren Bildungsabschlüssen zu erkennen, ist es bei Amateurtheatern in ländlichen Räumen genau umgekehrt.
Insgesamt bleibt somit festzuhalten, dass das Publikum des professionellen Theaters in Stadt und Land eher über formal höhere Bildungsabschlüsse verfügt, dies in städtischen Räumen jedoch deutlich stärker ausgeprägt ist. Das Publikum des Amateurtheaters der ländlichen Räume weist verstärkt niedrige formale Bildungsabschlüsse auf. Ob sich auch dieser Unterschied auf eine unterschiedliche Verteilung dieser Bildungsmerkmale zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung zurückführen lässt, ist aufgrund fehlender Daten nicht zu beurteilen.
Nettoäquivalenzeinkommen
Das Nettoäquivalenzeinkommen (im Folgenden Einkommen) unterscheidet sich zwischen dem Publikum professioneller Theater in städtischen und ländlichen Räumen nur leicht. Liegt das durchschnittliche Einkommen des Publikums des professionellen städtischen Theaters bei 2.403 Euro, ist jenes des Publikums professioneller ländlicher Theater mit 2.535 Euro leicht höher. Eine deutliche Abweichung des durchschnittlichen Einkommens ergibt sich hingegen bei den Besucher*innen des Amateurtheaters in ländlichen Räumen. Mit durchschnittlich nur 2.057 Euro fällt es deutlich geringer aus als bei den beiden Publika des professionellen Theaters. Gerade bei unteren Einkommenskategorien bis 2.300 Euro ist der Anteil der Personen beim Amateurtheaterpublikum deutlich erhöht, was auch mit dem niedrigeren formalen Bildungsstand korreliert.
Migrationshintergrund
Nur etwas mehr als jede*r zehnte Besucher*in des städtischen professionellen Theaters in unserer Befragung hat einen Migrationshintergrund (rund zwölf Prozent), womit nach dem statistischen Bundesamt eine Person gemeint ist, die selbst oder bei der mindestens ein Elternteil nicht mit der deutschen Staatsangehörigkeit geboren ist. Vergleicht man dies mit aktuellen Bevölkerungszahlen, wird schnell deutlich, dass Menschen mit Migrationshintergrund deutlich weniger im städtischen, professionellen Theaterpublikum vertreten sind als in der Bevölkerung: Sowohl in der deutschen Gesamtbevölkerung 2021 als auch in der Göttinger Stadtbevölkerung 2022 ist der Migrationsanteil mit 27 bzw. mit 34 Prozent deutlich höher (Statistisches Bundesamt 2023, Stadt Göttingen 2023). Beim Publikum der ländlichen Räume ist der Migrationsanteil im Vergleich mehr als halbiert und macht bei professionellen und amateurbasierten Anbietern nur noch fünf bis sechs Prozent aus. Auch wenn sich dieser Unterschied selbst vermutlich darauf zurückführen lässt, dass in den ländlichen Räumen der Untersuchungsregion weniger Menschen mit Migrationsanteil leben (im Landkreis Göttingen waren es 2022 18 Prozent), sind auch hier deutlich weniger Menschen mit Migrationshintergrund im Publikum als in der Bevölkerung ländlicher Räume vertreten.
Gruppengröße und Begleitpersonen
Insgesamt kann festgehalten werden, dass Theaterbesuche fast immer eine gemeinschaftliche Aktion sind und mehrheitlich in kleinen Gruppen von drei bis fünf Personen stattfinden. Amateurtheater werden verhältnismäßig deutlich öfter in noch größeren Gruppen (ab sechs Personen) besucht, als dies beim professionellen Theater der Fall ist. Die häufigsten Begleitpersonen bei allen Gruppen sind (Ehe-)Partner*innen oder Freund*innen bzw. Bekannte.
Besuchsmotivation und Erwartungshaltung
Für das Publikum städtischer professioneller Theater lassen sich drei vorrangige Besuchsmotivationsgründe identifizieren: Im Wesentlichen geht es den Besucher*innen um eine Auszeit vom Alltag bzw. den Genuss eines Kulturerlebnisses (spirituell – 81 Prozent sind stark oder sehr stark hierdurch motiviert), um das Erleben einer Live-Aufführung (sinnlich – 80 Prozent) und um eine gemeinschaftliche Erfahrung bzw. eine gute Zeit mit Freund*innen und Familie (sozial – 78 Prozent). Die Besuchsmotivationen des Publikums ländlicher professioneller Theater sind ähnlich ausgeprägt und spirituelle, sinnliche sowie soziale Gründe sind hier mit Abstand am wichtigsten. Etwas wichtiger ist es diesen Besucher*innen vergleichsweise zudem, die Leistung der beteiligten Menschen mit ihrem Besuch wertzuschätzen und zu unterstützen. Die Solidarmotivation wird entsprechend häufiger als starker oder sehr starker Motivationsgrund genannt.
Starke Unterschiede gibt es hingegen in der Besuchsmotivation zwischen dem Publikum professioneller und nicht-professioneller Theater ländlicher Räume. Emotionale und intellektuelle Beweggründe sind für das Publikum des ländlichen Amateurtheaters deutlich weniger wichtig und motivieren nur noch 36 bzw. 29 Prozent der Befragten zum Theaterbesuch (zehn bzw. 14 Prozent weniger als bei ländlichen professionellen Theatern). Dem gegenüber wachsen die Zustimmungswerte der Solidarmotivation, der Wunsch die Akteure zu unterstützen, hier deutlich an, sodass sie zusammen mit den sozialen Besuchsgründen die wichtigsten Motivationen darstellen (jeweils 81 Prozent). Besucher*innen des Amateurtheaters kommen daher hauptsächlich, um die Beteiligten mit ihrem Besuch wertzuschätzen bzw. zu unterstützen und eine gute Zeit mit Freund*innen, Familie oder Bekannten zu verbringen bzw. Teil einer gemeinschaftlichen Erfahrung zu sein. Insgesamt lässt sich feststellen: Die wenigsten Theaterbesucher*innen kommen, um neue inhaltliche oder emotionale Erfahrungen zu machen, sondern um gemeinsam mit anderen eine Live-Aufführung zu erleben, sich eine Auszeit vom Alltag zu nehmen oder um eine gemeinschaftliche Erfahrung mit Freund*innen und Familie zu machen. Der Vergleich zeigt zudem, dass das Publikum der Amateurtheater stärker aus solidarischen und sozialen Gründen kommt und weniger eine Bildungserfahrung anstrebt, als das Publikum professioneller Anbieter.
Ein für die Spielplangestaltung der Theater relevantes Ergebnis der qualitativen Interviews ist das Bedürfnis der Besucher*innen nach Kalkulierbarkeit. Das empirische Material zeigt, dass Menschen auch aufgrund der längeren Anreisewege in ländlichen Räumen weitgehend sicher sein wollen, dass sich der Weg zum Kulturangebot für sie lohnt und im Vorfeld möglichst gut einschätzen können, was sie erwartet. Die Hemmschwelle, etwas Experimentelles auszuprobieren, ist noch größer, wenn es nur selten Angebote gibt, man wenig Erfahrungen mit Kunstrezeption hat und dafür weite Strecken bis zur Spielstätte überwinden muss. In der Bewertung des Theaterbesuchs spielt also die Bestätigung von Erwartungen eine große Rolle. Der Wunsch nach Bekanntem gewinnt in der ländlichen Theaternutzung daher an Bedeutung. Vor allem Gelegenheitsbesucher*innen streben weniger eine Differenzerfahrung im Sinne einer Irritation an als vielmehr eine Positiverfahrung und die Bestätigung eigener Haltungen. Romanadaptionen und tradierte Theaterästhetiken werden daher deutlich häufiger ausgewählt und als lohnenswert beschrieben als experimentelle Theaterformen oder den Besucher*innen ferne Themen und Diskurse, die das bestehende Kunstverständnis oder den eigenen Horizont herausfordern.
Die Besuchsentscheidung für die Amateurbühnen basiert auf persönlichen Bekanntschaften, mündlichen Empfehlungen und jahrelangen (sozialen) Gewohnheiten und weniger auf Interesse an einem bestimmten Theaterstück.
Kulturelle Bildung (Zugang und Anspruch)
Die Frage nach dem biografischen Zugang zum Theater und dem Anspruch der Besucher*innen an eine Bildungserfahrung durch den Theaterbesuch wurde im quantitativen Fragebogen erhoben durch Abfrage des Alters beim Erstkontakt mit Theater und durch die Frage, wer sie an Theater im Allgemeinen herangeführt hat. Die Mehrheit aller Besucher*innen ist im Kindesalter unter 14 Jahren erstmalig mit Theater in Berührung gekommen. Deutliche Unterschiede ergeben sich jedoch in der Gruppe von Personen, die erst mit über 24 Jahren erstmalig mit Theater in Verbindung gekommen ist: Sind dies im Publikum städtischer professioneller Theater nur rund acht Prozent, steigt dieser Wert auf rund 14 Prozent im Publikum ländlicher professioneller Theater und sogar auf rund 19 Prozent bei den Besucher*innen des ländlichen Amateurtheaters an.
Die Schule stellt den wichtigsten Einflussfaktor dar und wird von fast jede*r Dritten als am prägendsten genannt. Zweitwichtigster Einfluss stellt in städtischen Räumen das Elternhaus (24 Prozent) und in ländlichen Räumen das eigene Interesse dar (23 Prozent). Freund*innen und Bekannte werden bei beiden Publika an vierter Stelle genannt, machen jedoch in ländlichen Räumen fast einen ähnlich wichtigen Faktor wie Elternhaus und eigenes Interesse aus (19 Prozent). Das eigene Elternhaus, welches bei Besucher*innen professioneller Theater einen wichtigen Zugang darstellt, ist beim Amateurtheaterpublikum kaum noch relevant (zwölf Prozent), hingegen sind Freund*innen und Bekannte hier neben der Schule der wichtigste Einflussfaktor und eine sehr wichtige Voraussetzung um für Theater zu interessieren.
In der Analyse des qualitativen Materials lässt sich eine tiefere biografische Beschreibung der Theatersozialisierung nachzeichnen: Unabhängig von der Person oder der Verortung des Erstkontakts ist die Voraussetzung für eine regelmäßige Theaternutzung vor allem die frühe Prägung durch eine Bezugsperson im Kinder- oder Jugendalter (das kann ein Elternteil, aber auch eine engagierte Lehrperson sein). Diese Erkenntnis deckt sich mit bereits vorhandenen Studien ohne Fokus auf eine ländliche Verortung der Befragten (vgl. Keuchel/Wiesand 2006 und Keuchel/Hill 2012).
Wenn es um Bildungserwartungen geht, so ist der größte Unterschied zwischen Nutzer*innen professioneller und nicht-professioneller Theateranbieter der jeweilige Anspruch an den Theaterabend und die vorhergehende oder nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Nennen sämtliche Nutzungstypen in den qualitativen Interviews den sozialen Austausch mit ihrer jeweiligen Begleitung als essenziellen Bestandteil des Theaterabends, so ist die intellektuelle Nachbesprechung der Aufführung eher bei regelmäßigen Besucher*innen professioneller Anbieter Gegenstand der Gespräche als bei jenen nicht-professioneller Angebote oder bei Gelegenheits-Besucher*innen, bei denen das gemeinschaftliche Erlebnis eine noch größere Rolle spielt. Langfristige, durch Theater angestoßene Transformationsprozesse von Selbst- und Weltverhältnissen oder prägende ästhetische Erfahrungen und neue Perspektiven lassen sich dagegen vor allem in den Erzählungen von Besucher*innen professioneller Aufführungen finden. Vor allem ungewohnte oder überraschende Theatererlebnisse außerhalb des tradierten Rahmens lösen prägende Erfahrungen aus, die den Besucher*innen lange im Gedächtnis bleiben.
Zusammenfassung und Fazit
Es gibt auch auf dem Land vielfältige Theater-Anbieter. Neben den öffentlichen Landesbühnen, den privaten Tourneetheatern und den Freien Theatergruppen sind es vor allem die vielen Amateurbühnen, die Theater auch in peripheren ländlichen Regionen vorhalten und sich dabei durch ihren partizipativen Ansatz in der Gestaltung des Theaterangebots wie der Organisation der Rahmenbedingungen auszeichnen. Das zeigt einmal mehr die hohe Bedeutung ehrenamtlichen Engagements außerhalb von städtischen Kulturstrukturen und zwar nicht nur als Kulturproduzent*innen, sondern ebenso in der Organisation der professionellen Gastspiel-Angebote, die häufig von ehrenamtlichen Kulturvereinen übernommen wird. Unterschätzt wurde das Engagement privater Tourneetheater für ländliche Räume, die in unserer Beispielregion deutlich mehr nachgefragt werden als die öffentlichen Landesbühnen. Auffällig ist, dass auch einige dieser privaten Theateranbieter in ländlichen Räumen Vermittlungsformate entwickeln, um ihr Publikum zu binden und zu bilden, ohne dass ein öffentlicher Auftrag sie dazu verpflichten würde.
Bei der Analyse der professionellen öffentlichen, privaten und gemeinnützigen Theater des Gastspielmarktes zeigte sich, dass diese ihre Programme für ein ländliches Publikum deutlich stärker nachfrageorientiert gestalten als öffentlich geförderte Theater in städtischen Räumen. Grund dafür sind die Wettbewerbsorientierung des Gastspielmarktes sowie die finanzielle Situation der Akteure. Produktionen müssen sich zunächst an die Gastspielstätten verkaufen, die wiederum einem höheren finanziellen Risiko ausgesetzt sind und daher stark nachfrageorientiert agieren.
Die von bürgerschaftlichem Engagement getragenen Amateurtheater erreichen ihr Publikum über eigene persönliche Ansprache, aktive Mitwirkung und indem sie Theater als zentrales soziales Ereignis feiern. Sie haben keine Probleme, Publikum zu finden und grenzen sich in ihrer Arbeitsweise klar von professionellen Akteuren ab, indem sie sich primär an eigenen Interessen orientieren und ihre Theaterpraxis als Freizeitbeschäftigung verstehen. Größte Herausforderung für die Amateurtheater ist das Finden geeigneter Probenräume sowie vor allem das Generieren von jüngeren Nachwuchs-Spieler*innen.
Vor allem die Amateur-Bühnen, aber auch die professionellen Theaterschaffenden wenden vielfältige Strategien eines teilhabeorientierten Audience Development an: Direkte und persönliche Kommunikation, Zusammenarbeit mit Multiplikator*innen, Einbindung von Menschen in der Region, Outreach, Gestaltung gastfreundlicher Rahmenbedingungen, Programme, die bei den Interessen des potentiellen Publikums ansetzen. Generell liegt das Potential für Publikumsbindung hier weniger in inhaltsorientierter Vermittlung, sondern eher bei Austausch- und Begegnungsformaten.
Die Besucher*innenbefragung von Theatern in städtischen und in ländlichen Regionen in Südniedersachsen zeigt, dass das Publikum in ländlichen Regionen durchschnittlich älter ist als das städtische und vor allem junge Erwachsene bis 29 Jahre kaum dazu gehören. Anders als beim städtischen Publikum, das mehrheitlich aus formal Hochgebildeten besteht, sind im ländlichen Publikum Menschen unterschiedlicher Bildungsniveaus vertreten. Das Publikum von Amateurbühnen weist einen nochmal deutlich niedrigeren formalen Bildungsgrad auf als das Publikum professioneller Theateranbieter auf dem Land und verfügt insgesamt auch über niedrigere Einkommen. Beim befragten Publikum sowohl der städtischen und noch mal stärker der ländlichen Räume in Südniedersachsen sind Menschen mit Migrationshintergrund deutlich unterrepräsentiert. Das Ergebnis, dass das Publikum von Theateraufführungen auf dem Land im Vergleich zum Publikum in der Stadt vielfältiger in Bezug auf Bildungsabschluss und Einkommen ist und vor allem die Amateurtheater auch Menschen mit niedrigem formalem Bildungsniveau und geringem Einkommen erreichen zeigt, dass vielen Bühnen dort gelingt, was die Theater in den großen Städten nicht schaffen und unterstreicht ihr großes Teilhabepotential. Bisherige Studienergebnisse zur Kulturnutzung in ländlichen Räumen (vgl. Allmanritter 2019, Otte et al. 2022) können somit um die Erkenntnis erweitert werden, dass eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Theaterformen und -akteuren durchaus einen Mehrwert in der Analyse soziodemografischer Merkmale liefert. So kann beispielsweise die Aussage, dass es in Bezug auf die sozioökonomische Zusammensetzung des Publikums hochkultureller Angeboten nur wenig maßgebliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen gibt (vgl. Allmanritter 2019), um Daten zu pop- und breitenkulturellen Angeboten erweitert werden.
Eine Auszeit vom Alltag, das Erleben eines Live-Kulturereignis und die gemeinsame soziale Aktivität mit anderen sind sowohl für städtisches wie ländliches Publikum stärkste Motivation für einen Theaterbesuch; am wenigsten motiviert die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Theaterstoff und der Wunsch, sich intensiv mit einer Thematik auseinanderzusetzen. Beim Amateurtheater-Publikum sind emotionale und intellektuelle Beweggründe noch geringer ausgeprägt, dafür die sozialen Motive noch bedeutender. Auch die Solidarmotivation, also der Wunsch, die Theaterakteure zu unterstützen, ist beim Theaterpublikum der ländlichen Räume signifikant größer und zeigt, dass die Besucher*Innen den deutlich seltener stattfindenden Angeboten eine hohe Wertschätzung entgegenbringen.
Das Bedürfnis nach Unterhaltung ist zentral und wird von sämtlichen Anbietergruppen auf dem Land vor allem mit humorvollen Stücken bedient, um eine ausreichende Nachfrage zu generieren. Das Publikum erwartet Anknüpfungspunkte an Bekanntes und ist weniger risikofreudig. Publikum in ländlichen Räumen geht es vor allem darum, ein schönes, bestätigendes Theatererlebnis zu haben und weniger um Irritationen oder herausfordernde Themen. Der Wunsch nach bekannten Stoffen und Akteuren, denen man vertrauen kann, ist höher. Zugleich verdeutlichen die qualitativen Befragungen, dass vor allem ungewohnte oder überraschende Theaterlebnisse außerhalb des tradierten Rahmens prägende Erfahrungen auslösen.
Die Verortung der Theaterlandschaft in ländlichen Räumen schafft Herausforderungen, aber auch Potentiale. Weite Entfernungen, sich ausdünnende Infrastruktur und unzureichende Förderungen bedingen das kulturelle Angebot und seine Nachfrage in direktem Maße. Die Studie konnte jedoch zeigen, dass sowohl Anbieter*innen als auch Nutzer*innen Strategien finden, mit diesen Bedingungen produktiv umzugehen. Das Potential liegt hier deshalb in innovativen und kreativen Formaten der Angebotsentwicklung und Publikumsbindung, mit der es gelingt, ein sozial deutlich homogeneres Publikum als in städtischen Räumen zu erreichen und aktiv einzubinden.
„Theater im Off. Publikum und Audience Development in der Theaterlandschaft ländlicher Räume”