Theater in der Kita: Ein Katalysator für Bildungsprozesse in der frühen Kindheit
Abstract
Der Beitrag von Damaris Nübel analysiert die Funktion von Theater in der frühkindlichen Bildung anhand des Stuttgarter Kita-Abo-Projekts und bewertet dessen Einfluss auf sprachliche, soziale und ästhetische Bildungsprozesse. Es wird dargelegt, dass Theater als Medium sowohl rezeptive als auch produktive Erfahrungsdimensionen eröffnet. Diese ganzheitliche Auseinandersetzung mit Theater fördert Selbstbildungsprozesse von Kindern und ermöglicht kulturelle Teilhabe unabhängig von der sozialen Herkunft. Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Nübel, Damaris (Hg.) (2024): Theater in der Kita. Die Kita ins Theater! Bildung, Kooperationen, Praxisimpulse. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
1. Einleitung
Kinder eignen sich ihre Welt im Spiel an, es ist ihr ureigenes Bildungsprogramm. Wenn es darum geht, die Bereiche Bildung und frühe Kindheit zusammenzubringen, ist das Spiel die geeignete Schnittstelle, es ist methodischer Zugang und didaktischer Rahmen zugleich. Jedoch das Theaterspiel im Kontext von Bildung zu sehen, führt regelmäßig zu Kontroversen. Befürchtet wird die Instrumentalisierung der Kunst für Zwecke, die außerhalb einer rein ästhetischen Erfahrung liegen. Dabei wird in der Regel ein Bildungsbegriff unterstellt, der einer Verwertbarkeitslogik folgt. Der Begriff Bildung ist allerdings – nicht nur in der frühen Kindheit – weitaus weniger eindeutig. Frühkindliche Bildung ist in erster Linie Selbstbildung, was die Vorstellung von Verwertbarkeit ganz anders lagert.
Dieser Beitrag hat zum Ziel, Theater im Feld der frühkindlichen Bildung zu verorten und begibt sich dafür am Beispiel des Stuttgarter Kita-Abo-Projekts auf Spurensuche in den Bereichen sprachliches, soziales und ästhetisches Lernen mit Theater. Kinder erleben Theater hier als Zuschauer*innen und Produzent*innen gleichermaßen. Sie lernen Theater als Institution und Ort kennen sowie als künstlerischen Darstellungsmodus, der von der Verwendung vielfältiger theatraler Zeichen lebt. Diese mehrdimensionale Herangehensweise beruht auf einer engen Zusammenarbeit von Jugendamt, städtischen Kindertageseinrichtungen und Theater (vgl. hierzu ausführlich Nübel & Brunster 2024). In die folgenden Ausführungen fließen u. a. die Ergebnisse vier schriftlicher Leitfadeninterviews ein, die im Rahmen eines Praxisforschungsprojektes geführt wurden. Das schriftliche qualitative Interview ist „eine vom Forscher stimulierte schriftliche Textproduktion, die der Interviewpartner unter Abwesenheit des Interviewers und in einer deutlich verzögerten Kommunikation vollzieht“ (Schiek 2014, S. 380). Es handelt sich um ein außeralltägliches und reflexives Schreiben mit dem Ziel der Erzeugung einer Datendichte (ebd.). Die Verwendung von Schriftsprache unterstützt den Reflexionsprozess, denn Schreiben, so Goody & Watt (2016, S. 114) ermöglicht „dem Individuum, seine eigene Erfahrung zu vergegenständlichen, und gibt ihm eine gewisse Kontrolle über die Umbildungen des Gedächtnisses unter den Einflüssen späterer Ereignisse.“ Die Interviews wurden mit Expertinnen geführt, die das Kita-Abo-Projekt auf unterschiedlichen Ebenen (künstlerisch, organisatorisch, pädagogisch) mitgestalten und diesem Bildungseffekte in den oben genannten Bereichen zuschreiben und sie dort auch beobachten.
Ein Kita-Abo-Projektzyklus beginnt in der Regel im Herbst mit einem Elternabend in der kooperierenden Kindertageseinrichtung. Hierbei geht es nicht nur um die Kommunikation von Zielen und Rahmenbedingungen. Vielmehr sollen auch die Eltern Begeisterung für das Vorhaben entwickeln, da die Anschlusskommunikation innerhalb der Familien Bildungseffekte verstärken kann. Im Verlauf der Projektteilnahme erleben die Kinder insgesamt vier Vorstellungen im Jungen Ensemble Stuttgart (kurz: JES) – drei davon mit ihrer Gruppe, eine mit ihren Eltern. Jeder Theaterbesuch wird von den begleitenden Theaterpädagog*innen vor- und nachbereitet. Über einen Zeitraum von zwölf Wochen besuchen diese die Kinder darüber hinaus in ihren Einrichtungen. In den wöchentlich stattfindenden Theaterstunden machen sie ausgehend von einem Material oder einer Thematik und unter professioneller Anleitung eigene Spielerfahrungen. Diese münden schließlich in eine Werkstattpräsentation für Angehörige, bei der die Zuschauenden aktiv einbezogen werden.
2. Kitas als Bildungseinrichtungen
Kindergärten und Kindertageseinrichtungen erfüllen nicht nur einen Betreuungs-, sondern auch einen Bildungsauftrag. Dass dies keine Idee des 21. Jahrhunderts ist, zeigt der Verweis auf Friedrich Fröbel, der 1840 den ersten Kindergarten ins Leben rief. Im Bild des Gartens formulierte er sein Verständnis von Bildung, demnach Kinder „allseitig, alle Kräfte übend und bildend, […] für die Schule und kommenden Lebensstufen sich wahrhaft vorbereiten, wie die Gewächse in einem Garten […]“ (Fröbel 1843, S. 166). Doch erst der sogenannte PISA-Schock von 2001 führte zur Entwicklung elementarpädagogischer Bildungs- beziehungsweise Orientierungspläne. Ausgehend von der Initiative der damaligen baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan kam es 2004 zu einem länderübergreifenden Rahmenvertrag für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. In dem gemeinsamen Beschluss von Jugendministerkonferenz (JMK) und Kultusministerkonferenz (KMK) heißt es:
„Bildungspläne im Elementarbereich präzisieren den zu Grunde gelegten Bildungsbegriff und beschreiben den eigenständigen Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen, der in unmittelbarer Beziehung zu den weiteren Aufgaben der Erziehung und Betreuung steht“ (JMK/KMK 2004, S. 2).
In der Folge entstanden in allen 16 deutschen Bundesländern Bildungs- und Orientierungspläne für die Arbeit in Kindergärten und Kindertageseinrichtungen. Doch was bedeutet Bildung in der frühen Kindheit? Wie lässt sie sich fördern und warum sollte Bildung vor dem Schuleintritt überhaupt ein Thema sein?
Was bedeutet Bildung in der frühen Kindheit? Oder: Bildung ist Selbstbildung
Gerd E. Schäfer hat Mitte der 1990er Jahren aufgezeigt, dass Bildung in der frühen Kindheit zuallererst Selbstbildung bedeutet. Der Bildungsprozess eines Menschen beginnt mit seiner Geburt. Der Säugling ist „von Anfang an aktiv mit der Bewältigung seiner Umwelt und mit der Konstitution seines Selbst beschäftigt. D. h. der Säugling nimmt nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst wahr“ (Schäfer 2016, S. 26). Babys erschließen sich ihre Umwelt und den eigenen Körper durch ein forschendes Verhalten, sie experimentieren, überprüfen Zusammenhänge und erleben schließlich „Organisation“ (ebd.). Dabei agieren sie aus einem inneren Antrieb heraus und bedürfen weniger Anleitung von außen, als häufig angenommen wird. Für Schäfer stellt sich nicht die Frage, was Kinder lernen sollen, sondern wie eine Lernumgebung gestaltet sein muss, um Selbstbildungsprozesse anzuregen. Er setzt auf vielfältige, komplexe und sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten.
Wie entsteht Bildung in der frühen Kindheit? Oder: Bildung durch Ko-Konstruktion
Auch Wassilios E. Fthenakis (2009) versteht Bildung in der frühen Kindheit als konstruktivistischen Prozess, in welchem Kinder sich Wissen und Fähigkeiten aktiv aneignen. Anders als Schäfer hebt Fthenakis jedoch die Bedeutung von sozialer Interkation für Lern- und Bildungsprozesse hervor und meint damit sowohl den Austausch mit der Peer-Group als auch mit erwachsenen Fachkräften. Bildung vollzieht sich seiner Auffassung nach ko-konstruktiv und als diskursives Geschehen, in welchem es keine passiven Beteiligten gibt. Kinder begreifen ihre Welt, „indem sie sich mit anderen austauschen und Bedeutungen untereinander aushandeln“ (ebd., S. 6). Laut Fthenakis impliziert dies, dass sich die geistige, sprachliche und soziale Entwicklung von Kindern durch soziale Interaktionen fördern lässt (ebd.).
Warum soll Bildung in der frühen Kindheit ein Thema sein? Oder: Bildungsungleichheit frühzeitig entgegenwirken
Die Struktur unserer Gesellschaft basiert nach Aladin El-Mafaalani (2021) auf sozialen Ungleichheiten. Ungleiche Bildungschancen und ungleiche Lebenschancen sieht er als wechselseitig miteinander verknüpft. Benachteiligende Lebensumstände führen zu geringeren Bildungschancen und geringere Bildungschancen erzeugen wiederum benachteiligende Lebensumstände. Erheblichen Einfluss auf die Lebensbedingungen eines Menschen hat seine Herkunft. Sie zeitigt langfristig messbare Effekte (ebd., S. 98). Das Bildungssystem, das trotz aller berechtigter Kritik weitgehend alle Kinder und Jugendlichen erreicht, ist grundsätzlich in der Lage ungleiche Startbedingungen auszugleichen. Unter Bezugnahme auf Bourdieus Habitustheorie erläutert El-Mafaalani, dass durch frühkindliche Bildung und „eine Ausweitung des Erfahrungshorizontes von Kindern“ Prägungseffekte, die vom familiären Umfeld ausgehen, abgeschwächt werden können (ebd., S. 47).
Zusammenfassend lassen sich das Was, das Wie und das Warum von Bildung in der frühen Kindheit folgendermaßen festhalten: Bildung in der frühen Kindheit ist Selbstbildung. Um Selbstbildungsprozesse zu fördern, bedarf es einer anregungsreichen Umgebung. In einer solchen Umgebung vollzieht sich Bildung in sozialer Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Kita muss sich als Bildungsort mit dem Ziel verstehen, den Erfahrungshorizont aller Kinder zu erweitern und sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken.
Welche Rolle kann nun Theater vor dem Hintergrund des Was, des Wies und des Warums von Bildung in der frühen Kindheit spielen? Theater öffnet vielfältige Lern- und Erfahrungsräume, in denen Selbstbildungsprozesse stattfinden können. Wichtig ist ein mehrdimensionaler Zugang zum Medium, wie er auch im Stuttgarter Kita-Abo-Projekt praktiziert wird. Das Individuum erhält hier buchstäblich seine Bühne und ist doch im selben Moment eingebunden in eine Gemeinschaft, ohne die Theater gar nicht erst stattfindet. Ko-Konstruktion ist ein entscheidender Aspekt sowohl in der Theaterrezeption als auch im gemeinsamen Theaterspiel mit Kita-Kindern. Nicht zuletzt ermöglicht Theater in der Kita unabhängig von der sozialen Herkunft die Anhäufung kulturellen Kapitals, indem es Teilhabe am kulturellen Leben des Sozialraums ermöglicht (vgl. hierzu auch Nübel & Brunster 2024).
Im Folgenden werden die Bildungsmöglichkeiten durch Theater am Beispiel des Kita-Abo-Projekts konkretisiert. Dafür wird Theater als Medium von sprachlicher, sozialer und ästhetischer Bildung betrachtet.
3. Theater als Medium der Sprachbildung
Die Sprache stellt einen der zentralsten Entwicklungsbereiche der Kindheit dar, denn Sprach- und Sprechfähigkeiten beeinflussen die kognitive, die emotionale und die soziale Entwicklung gleichermaßen und sind damit entscheidend für die spätere Bildungsbiografie (vgl. Sachse 2020, S. 135). Nicht alle Kinder haben jedoch ideale Startbedingungen, wie Karin Ehlert, Leiterin der Stabsstelle Qualität und Qualifizierung im Stuttgarter Jugendamt und in dieser Funktion Koordinatorin des Kita-Abo-Projekts, ausführt:
„Vielfach benötigen […] Kinder aus anregungsarmen Familien, Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Kinder, die Deutsch als weitere Sprache lernen, zur Verbesserung ihrer Zukunftschancen eine intensivere Unterstützung ihrer Sprachbildungsprozesse“ (ebd. 2021).
Sprache bildet sich innerhalb sozialer Interaktionen aus. Sofern ein Kind grundlegende physiologische (z. B. intakte Sprechorgane, intaktes Hörvermögen) und kognitive Voraussetzungen (z. B. Symbolfähigkeit) mitbringt, sind es in erster Linie äußere Faktoren, die die Qualität der Sprachaneignung beeinflussen. Sprachliches Lernen erfordert Interaktion und Dialog mit Gleichaltrigen ebenso wie mit erwachsenen Sprachvorbildern sowie ein anregungsreiches Umfeld, das sich an Interessen und Bedürfnissen der Kinder orientiert. Von Bedeutung sind außerdem ein responsives Verhalten der Bezugspersonen, das Kindern die Erfahrung von Selbstwirksamkeit vermittelt sowie das Herstellen eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus durch ein geteiltes Interesse an einer dritten Sache (vgl. Sachse 2020, S. 142 ff.).
Da mehr als ein Drittel aller Kinder unter zehn Jahren in Deutschland Deutsch als Zweit- oder Drittsprache erwirbt, ist Mehrsprachigkeit ein zentrales Thema in Kitas (ebd., S. 145). Sie ist als wertvolle Ressource von Kindern anzuerkennen und in ihrem identitätsstiftenden Potenzial wertzuschätzen. Pädagogische Fachkräfte sollten Eltern im Umgang mit Mehrsprachigkeit beraten können und sie ermutigen, zu Hause mit ihren Kindern in der Sprache zu sprechen, die sie selbst am besten beherrschen (Landeshauptstadt Stuttgart 2012, S. 11). So entsteht eine Bildungspartnerschaft, in welcher der Kita die Aufgabe zukommt, den Erwerb der deutschen Sprache im Kita-Alltag zu fördern und zu begleiten.
Die aufgeführten Aspekte gilt es sowohl im Rahmen von alltagsintegrierter als auch additiver Sprachförderung in Kitas zu berücksichtigen. Allerdings weisen nationale wie internationale Studien auf Mängel in der Anregungsqualität im Kita-Alltag hin (vgl. King/Metz 2020, S. 238 f.). Es spricht daher viel für die Zusammenarbeit mit externen Partner*innen wie Lese- und Literaturpädagog*innen, ehrenamtlichen Vorlesepat*innen oder eben auch Theaterpädagog*innen, die den Bildungsbereichen Sprache und Sprechen besondere Aufmerksamkeit widmen und bestenfalls über entsprechende Konzepte sowie Ausbildungen verfügen. Diesen Weg geht auch das Stuttgarter Jugendamt, das sich im Rahmen des Kita-Abo-Projekts als Auftraggeber des städtischen Kinder- und Jugendtheaters JES versteht (vgl. hierzu ausführlich Nübel & Brunster 2024). Im Kita-Abo-Projekt spiegeln sich die Zielsetzungen des ganzheitlich ausgerichteten Sprachförderkonzepts des Stuttgarter Jugendamtes wider, das dieses im Jahr 2000 etabliert und seither kontinuierlich weiterentwickelt hat. Dem Erwerb sprachlicher Kompetenzen wird darin erheblichen Einfluss auf eine gelingende Bildungsbiografie zugeschrieben und als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe bewertet. Da sich die Aneignung von Sprache nur selbsttätig vollziehen kann, wird die Sprechfreude als zentrale Voraussetzung betrachtet, die sich insbesondere durch das Schaffen von Sprechanlässen fördern lässt. Das Stuttgarter Sprachförderkonzept kommt diesem Aspekt durch die Öffnung der Kindertageseinrichtung zum kulturellen Leben der Stadt beziehungsweise des Stadtteils entgegen. Kooperationspartner*innen wie das Junge Ensemble Stuttgart bieten neue Erfahrungsspielräume und Sprachvorbilder (Stuttgarter Leitlinien zur Sprachentwicklung und Sprachförderung o. J., S. 4).
Die Passung von Kita-Abo-Projekt und dem städtischen Sprachförderkonzept wird von Verantwortlichen und Projektbeteiligten als hoch eingeschätzt. Das Junge Ensemble Stuttgart hat mit dem Kita-Abo-Projekt ein Programm entwickelt, das die sprachliche Bildung in den Mittelpunkt rückt und die Sprechfreude als zentrale Voraussetzung für die selbsttätige Aneignung von Sprache nutzt (vgl. vertiefend Rehm 2024 sowie Wilhelm 2024). Mit den Mitteln des Theaters wird ein spielerisches Lernen ohne Leistungsdruck ermöglicht. Die in der Konzeption verankerte Verbindung von Rezeptions- und Produktionserfahrung garantiert vielfältige Sprechanlässe. Diese werden im Folgenden vor dem Hintergrund der Theaterrezeption einerseits, dem aktiven Theaterspielen andererseits genauer dargestellt.
Theaterrezeption als Sprechanlass
Die Rezeption von Theater bietet Sprechanlässe, die insbesondere in den theaterpädagogischen Vor- und Nachbereitungen zum Tragen kommen, sich aber mitunter bereits während des Vorstellungsbesuchs in der Interaktion mit den Sitznachbar*innen vollziehen. Da die Themen der Theaterstücke eng an die Lebenswelten der Kinder anknüpften, so Ehlert, werde ihr Interesse und ihre Neugier geweckt. Beides sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Kinder sich äußern und an Gesprächen beteiligen. Wortschatz und Kommunikationsfähigkeit entwickelten sich in diesen Situationen gleichermaßen und das ganz „nebenbei“ (Ehlert 2021). Sprachbildung wird hier als Ko-Konstruktionsprozess sichtbar, der soziale Interaktion und aktive Beteiligung erfordert.
„Wenn man Kinder beobachtet, wie sie im Theater den Stücken folgen und im Nachhinein darüber sprechen, ist das ein gelebtes Beispiel von Sprachförderung durch die Aktivierung aller Sinne“ (ebd.).
Das JES verzichtet in seinen Produktionen für die Zielgruppe der unter Fünfjährigen häufig ganz oder teilweise auf Verbalsprache und einen stringenten Erzählstrang, etwa in „Unsere große Welt“ (Uraufführung: 14.01.2017, Inszenierung: Grete Pagan), einer Inszenierung, die den Prinzipien eines Wimmelbuches folgt. Auch gesellschaftskritische Themen wie Hunger und Nahrungsmittelüberfluss („Vesper“, Uraufführung: 09.03.2019, Choreographie: Nicki Liszta) oder das Aufwachsen in stereotypen Geschlechterrollen („entweder und“, Uraufführung: 12.11.2016, Inszenierung: Hannah Biedermann) werden am JES in Szene gesetzt. Neben der inhaltlichen Ausrichtung ist es vielfach auch die Form (z. B. eine performative Spielweise, Tanzchoreographie), die in den Vor- und Nachbereitungen besprochen, aber auch ganz praktisch erprobt wird. In anderen Stücken werden neben dem Deutschen weitere Sprachen einbezogen (z. B. „Unbändig“, Uraufführung: 04.12.2021, Inszenierung: Grete Pagan; „Leichte Turbulenzen“, Uraufführung: 21.01.2023, Choreographie: Felix Berner). Für Kinder, die diese Sprache(n) nicht sprechen, entsteht in der Rezeption eine Leerstelle, die im Nachgespräch durch Rückfragen oder die Formulierung eigener Annahmen gefüllt werden kann. Für die anderen eröffnen sich unerwartete Möglichkeiten der sprachlichen Identifikation und die Erfahrung, dass die eigene Mehrsprachigkeit einen Vorsprung verschaffen kann. Gemeinsam ist allen JES-Produktionen eine Deutungsoffenheit, die vielfältige Varianten der Anschlusskommunikation ermöglicht.
Theaterspielen als Sprechanlass
Das eigene Theaterspiel, das im Kita-Abo-Projekt neben der Theaterrezeption die zweite Säule darstellt, wird zum Labor, in dem mit Sprache und ihrer Anwendung experimentiert werden kann. Reime, Rhythmen oder auch der Einsatz von Fantasiesprache (vgl. Onay, Röwert & Wilhelm 2024) reduzieren Hemmschwellen und laden unabhängig vom Stand der Sprachentwicklung zum Mitmachen ein. Der sprachliche Entwicklungsprozess, den die Kinder im Rahmen des Projekts durchlaufen, ist höchst individuell und äußert sich in den Theaterstunden auf unterschiedlichste Art und Weise, wie Jurate Matikaite, Leiterin einer städtischen Kindertageseinrichtung in Stuttgart, an einem Beispiel verdeutlicht:
„Ein Highlight für mich war, als ein Kind, das in der Kita nicht gesprochen hat und auch seinen eigenen Namen nicht aussprechen konnte, beim dritten oder vierten Treffen [mit der Theaterpädagogin; D. N.] statt seines Namens ganz kräftig ‚Bus‘ in den Kreis hineingerufen hat, als es an der Reihe war“ (Matikaite 2022).
Eng mit der Entwicklung von sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten ist auch die Herausbildung von Selbst- und Körperbewusstsein verknüpft. Fachkräfte beobachten und hören regelmäßig von Eltern, dass die Kinder durch die Projektteilnahme an Selbstsicherheit gewinnen. Im Ergebnis entsteht eine Selbstpräsentationskompetenz, die Kinder befähigt, sich zu ‚zeigen‘. Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich zum einen verbal zu äußern und beispielsweise an Gesprächen oder Diskussionen zu beteiligen, zum anderen in einer Bühnensituation die eigene körperliche Präsenz und die Aufmerksamkeit eines Publikums auszuhalten. Sigrid Eppstein, Leiterin einer städtischen Kita in Stuttgart, ist überzeugt:
„Die Kinder stärken ihr Selbstbewusstsein. Sie nähren sich von diesem Projekt. Dies wird jedes Jahr in jeder Vorschulkindgeneration beobachtet und in den jeweiligen Portfolios dokumentiert“ (Eppstein 2022).
Besonders Kinder, die sich im Übergang zur Grundschule befinden, profitierten von diesem zusätzlichen „Sprachbad“ (ebd.), denn schließlich bestimmt Sprache den Schulunterricht über alle Fächer hinweg. Insofern ist die Förderung von Sprach- und Sprechkompetenz eine zentrale Aufgabe der frühkindlichen Bildung und ein „Schlüssel für den erfolgreichen Besuch der Schule“ (Orientierungsplan Bildung und Erziehung Baden-Württemberg 2015, S. 138).
Für die Theaterrezeption und die Theaterproduktion als die beiden Säulen des Kita-Abo-Projekts bleibt festzuhalten: In der Begegnung mit Theaterpädagog*innen und Schauspieler*innen finden Kinder neue Sprachvorbilder. Die Verbindung von Theaterrezeption und Theaterproduktion eröffnet eine Vielzahl unterschiedlicher Sprechanlässe. Dabei ist auch Mehrsprachigkeit ein Thema. Im gemeinsamen Theaterspiel, aber auch in den theaterpädagogischen Vor- und Nachbereitungen von Vorstellungsbesuchen wird die Interaktion mit Gleichaltrigen gefördert. Nicht zuletzt unterstützen der gemeinsame Theaterbesuch mit den Eltern sowie die Werkstattpräsentation der Kinder für ihre Angehörigen die Anschlusskommunikation innerhalb der Familie.
4. Theater als Medium sozialer Bildung
Die Entwicklung sozialer Kompetenzen vollzieht sich in den Bereichen Kontakt, Kooperation, Konflikt und Perspektivenübernahme. Für Kinder im Kita-Alter bedeutet dies im Ergebnis etwa Freundschaften eingehen zu können (Kontakt), Hilfe anzubieten und anzunehmen (Kooperation), Konflikte auszuhalten beziehungsweise Kompromisse einzugehen (Konflikt) und sich in Mitmenschen hineinzuversetzen und beispielsweise deren Interessen im eigenen Handeln zu berücksichtigen (Perspektivenübernahme) (vgl. Roux 2020, S. 275 f). Soziale Kompetenzen sind bedeutsam für die spätere Bildungsbiografie, bei Eintritt in den Kindergarten aber bereits höchst unterschiedlich entwickelt. Einer Studie von Rudolph et al. aus dem Jahr 2013 zufolge weisen z. B. 12 % der Schulanfänger*innen in Mecklenburg-Vorpommern sozial-emotionale Entwicklungsverzögerungen auf (Roux 2020, S. 278). Das soziale und emotionale Lernen darf in der frühkindlichen Bildung also keinesfalls unterschätzt werden, im Gegenteil kann die Kita sogar frühzeitig eine ausgleichende Funktion übernehmen. Neben der Bedeutung der pädagogischen Fachkraft, die sowohl Bindung als auch Beziehung ermöglicht, ist es das kindliche Spielverhalten, das sich zur Entwicklung sozialer Kompetenzen gezielt fördern lässt (vgl. ebd., S. 279 ff.). Denn im Rollenspiel – egal ob im freien Sozialspiel, angeregt durch die Materialien eines Rollenspielbereichs oder im angeleiteten Theaterspiel – werden Regeln sozialer Kommunikation, die Übernahme fremder Perspektiven und Rollen, symbolisches Denken und die Regulation von Gefühlen eingeübt.
In der Theaterarbeit mit Kita-Kindern wird auf das Auswendiglernen von Texten, aufwendige Kostümierung und überbordenden Einsatz von Materialien bewusst verzichtet. Im Mittelpunkt steht nicht die Erarbeitung einer Aufführung, sondern mittels Improvisationen ins Spiel zu kommen. Als-ob-Situationen ermöglichen, sich selbst als jemand anderes (Perspektivenübernahme) sowie Worte und Dinge als Zeichen (symbolisches Denken) zu erleben. Diese Erfahrungen finden in einem festgelegten Rahmen, einer Art Schutzraum, statt. Dieser erfordert die Einhaltung von Spielregeln, etwa abzuwarten, bis man selbst an der Reihe ist (soziale Kommunikation). Darüber hinaus setzen Kinder sich im Theaterspiel intensiv mit eigenen und fremden Gefühlen auseinander. Petra Paula Marquardt (2010) erläutert, dass Kinder
„über die theatertypische Nachahmung lernen, wie sie Emotionen über Mimik, Gestik und Körperhaltung ausdrücken können, und hierüber sichtbar mehr emotionale Ausdrucksfähigkeit und Verständnis für die Emotionen anderer gewinnen“ (ebd., S. 40).
Hinsichtlich der eigenen Gefühlswelt kann das Theaterspiel einen Freiraum darstellen, in welchem im Alltag sanktionierte Emotionen (z. B. Wut) ausgelebt werden können (ebd.).
Soziale Bildung findet notwendigerweise in Kontakt mit anderen statt. Da das Theaterspiel von Interaktion und Handlung lebt, sind soziale Bildungsprozesse hier besonders fruchtbar. Im Rahmen des Kita-Abo-Projekts beobachtet Eppstein (2021), dass die individuelle und die kollektive soziale Entwicklung aufeinander bezogen sind:
„Im sozialen Miteinander stärkt sich das Kind durch sein eigenes Handeln in der Gruppe. Solidarität wird gefördert, der eine hilft dem anderen. Paarübungen stärken die Vielfalt an Partnererleben. Die Gruppe entwickelt Zusammenhalt und hat ein bleibendes Erlebnis miteinander“ (ebd.).
Regisseurin und JES-Intendantin Grete Pagan (2021) sieht das Kita-Abo-Projekt in diesem Zusammenhang auch als Schulung von Demokratiefähigkeit. Kinder werden ermutigt, ihre Meinungen, Wünsche, Gedanken und Gefühle zu kommunizieren und erleben, dass sie gehört werden. Das gemeinsame Theaterspiel, die Theaterrezeption sowie die theaterpädagogischen Vor- und Nachbereitungen von Vorstellungsbesuchen werden in der Gesamtheit zum Proberaum, in dem erfahren werden kann, dass sich zwischenmenschliche Kommunikation und gesellschaftliche Prozesse gleichermaßen gestalten lassen.
5. Theater als Medium ästhetischer Bildung
Ästhetische Bildung und ästhetische Erziehung, ästhetische Praxis und ästhetische Erfahrung sind Begriffe, die schwer voneinander abzugrenzen sind, sich überlappen und mitunter sogar synonym gebraucht werden. Ästhetische Erfahrungen werden im Folgenden als Momente der Selbstbildung verstanden. Es sind Differenzerfahrungen, die altersunabhängig eine Distanz zum eigenen Alltag bewirken und individuelle Auffassungen von Leben und Welt verändern können (vgl. Jäger/Kuckhermann 2000, S. 17 f.). In der Rezeption von Kunst wie auch im aktiven Hervorbringen ästhetischer Produkte eröffnen sich Momente der Selbstreflexion, in denen sich das Individuum neue Wahrnehmungs- und Handlungsweisen aneignen kann. Doch der bloße Einsatz von ästhetischen Medien führt keineswegs automatisch zu ästhetischen Erfahrungen (ebd., S. 18) und damit zu Selbstbildungsprozessen. Gerade in der frühen Kindheit bedarf es zusätzlich einer ästhetischen Alphabetisierung, die Klaus Mollenhauer (1990) als Metapher für eine „Sprachfertigkeit“ versteht, die sich nicht auf Wörter und Buchstaben, sondern auf „Zeichen anderer Art“ bezieht (ebd., S. 485). „Die zu lernende Fertigkeit ist dann […] das ‚Codieren‘ und ‚Decodieren‘ von Informationen, die im Medium der ästhetischen Ereignisse transportiert werden“ (ebd.). Im Kita-Abo-Projekt ist eine solche Alphabetisierung integraler Bestandteil. Sie findet nicht als vorbereitende Schulung, sondern beiläufig statt. Gefördert wird insbesondere eine differenzierte Wahrnehmung theatraler Mittel und der Produktionsweise von Theater. Dazu gehört das Entschlüsseln von auf der Bühne dargebotenen Zeichen, aber auch der aktive Einsatz theatraler Zeichen im eigenen Theaterspiel. Marquardt (2010) formuliert die These, dass Explorationsspiele von Kita-Kindern durch den Einsatz künstlerischer Mittel fließend in Als-ob-Spiele überführt werden können (ebd., S. 30). An diesen Übergängen, so Marquardt, vermittele sich den Kindern Theaterkunst in ihrer Entstehung (ebd.). Im Darstellen werden insbesondere Körper und Stimme als theatrale Werkzeuge erprobt. Kinder lernen auf diese Weise das Handwerkszeug von Schauspieler*innen kennen und begreifen, dass sich mit Gestik, Mimik, Stimme usw. Wirkungen erzielen lassen. Im Rahmen der Theaterstunden in der Kita wird für Kinder also nachvollziehbar, was sie als Zuschauer*innen im JES erleben.
Nach Ulrike Hentschel (2010) liegt in der Verkörperung einer Rolle jedoch ein Bildungspotenzial, das weit über eine ästhetische Alphabetisierung hinausgeht und sich in „der Differenz zwischen ‚Körper-Haben‘ und ‚Körper-Sein‘“ ausdrückt (ebd., S. 224). Es ist die eingangs beschriebene Differenzerfahrung, die daher rührt, dass sich das Individuum im Theaterspiel gleichzeitig als Produzent und Produkt erlebt, indem es nicht nur als Material für eine Rolle fungiert, sondern diese bewusst gestaltet.
„Die Tätigkeit des Spielens ist immer verbunden mit dem Konstituieren und Akzeptieren unterschiedlicher, nebeneinander möglicher Wirklichkeiten. Voraussetzung dabei ist allerdings, daß Theaterspielen nicht als Darstellen einer Wirklichkeit im Sinne des Abbildens/Repräsentierens dieser Wirklichkeit verstanden wird. Erst die Bedingung, daß im Spiel eine eigenständige theatrale Wirklichkeit erzeugt wird, führt zur Erfahrung des ‚Dazwischenstehens‘“ […]. (ebd., S. 238).
In diesem ‚Dazwischen‘ realisiert sich nach Hentschel Theaterspielen als ästhetische Bildung. Allerdings handelt es sich dabei um „dezidiert subjektive Prozesse, die in pädagogischer Absicht nicht herstellbar und steuerbar sind“ (ebd., S. 244). Vielmehr muss es darum gehen, Anregungen bereitzuhalten, die individuelle ästhetische Bildungsprozesse zulassen. Bestandteil dieser Anregungen sollte m. E. immer auch eine ästhetische Alphabetisierung sein, da sie die ästhetische Erfahrung und damit letzten Endes eine ästhetische Bildung erst ermöglichen.
Abschließend soll ästhetische Bildung als ein „Hineinwachsen in ein Milieu“ (El-Mafaalani 2021, S. 43) beziehungsweise als Aneignung einer Kultur diskutiert werden. Eine so verstandene ästhetische Bildung berührt nicht nur die Entwicklung von Geschmack und Stil, sondern auch die Ausbildung von Gewohnheiten und Routinen (ebd.), etwa in der Freizeit gelegentlich ins Theater zu gehen. Über alle Beteiligungsebenen des Stuttgarter Kita-Abo-Projekts hinweg ist man sich einig, dass Kinder Theater hier als kulturelles Gut und unabhängig von ihrer sozialen Herkunft kulturelle Teilhabe erleben. Weltwissen und Sozialraum erweitern sich durch den ganzheitlichen Vermittlungsansatz gleichermaßen: Theater wird als Gegenstand der Rezeption und der Produktion, als Kunstform und als Institution erfahrbar. Ob, wieviel und welche Kultur Eltern in ihre Kinder „investieren“ können, ist höchst unterschiedlich und von vielen Faktoren abhängig. Dementsprechend unterschiedlich sind Kinder mit kulturellem Kapital ausgestattet. Das Kita-Abo-Projekt macht Kunst und Kultur elternunabhängig für alle Kinder einer Vorschulgruppe zugänglich und leistet damit einen kleinen Beitrag für mehr soziale Gerechtigkeit. Die verschiedenen Erfahrungsmodi des Projekts (v. a. Theater rezipieren, darüber sprechen, selbst Theater spielen) ermöglichen die Entwicklung kulturellen Kapitals, das gleichbedeutend ist mit Bildungskapital (Bourdieu 1982/2021, S. 115 f.).
6. Fazit
Das Medium Theater ist für die frühkindliche Bildung in hohem Maße anschlussfähig, da es die Selbstbildung des Individuums fördert, zugleich aber von sozialer Interaktion lebt. Wie Schäfer und Fthenakis aufgezeigt haben, handelt es sich dabei um wesentliche Merkmale frühkindlicher Bildung. Anhand des Stuttgarter Kita-Abo-Projekts konnte herausgearbeitet werden, dass sich innerhalb einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit dem Medium Theater (spielend, rezipierend, reflektierend) zentrale Bildungsprozesse ko-konstruktiv in den Bereichen Sprache, Soziales und Ästhetik abspielen. Ästhetische Bildung wurde dabei als Differenzerfahrung bestimmt, die untrennbar mit einer ästhetischen Alphabetisierung sowie der Aneignung der Kultur des Sozialraums im Sinne der kulturellen Teilhabe verbunden ist.