Teilhabe durch Kulturelle Bildung: Kommunen und ihre Verantwortungsrolle für Bildungslandschaften
Abstract
Der Beitrag macht deutlich, dass es zu den Kernaufgaben kommunaler Bildungs- und Kulturpolitik gehört, integrierte Bildungslandschaften in der Vernetzung der vielfältigen Kulturlandschaft mit Schule zu gestalten. Er spricht sich dafür aus, die Verantwortung der Städte für Bildung und Schule zu stärken, um besser zur Implementierung von Bildung in den Lebensraum der (jungen) Menschen beitragen zu können. Ausgeführt wird, wie wichtig ein ganzheitliches Bildungsverständnis und kulturelle Bildungskooperationen sind, da gerade die Kulturelle Bildung Kompetenzen vermitteln kann, die als essenziell für Lernen und Teilhabe an Bildung anzusehen sind.
Die Diskussion um Bedeutung und gesellschaftliche Wirksamkeit von Bildung ist seit den irritierten Anfängen nach der ersten PISA-Studie zu einem der Hauptaktionsfelder politischer Reden geworden – zumindest soweit diese an Sonntagen gehalten werden. Den naheliegenden Rückgriff auf die Bildungsdebatte der 1970er Jahre scheuen die meisten Redner*innen allerdings – und tatsächlich besteht die Kontinuität zur damaligen Bildungsemphase eher in einer Fortschreibung der Problemlagen als der Lösungsansätze. Zu denen würden nämlich vorrangig die Fragen gehören, was heute Bildung ausmacht, wie man sie erwirbt und welche Rahmenbedingungen es dafür braucht. Dazu hat sich seit gut zehn Jahren die Forderung nach dem Aufbau kommunaler Bildungslandschaften in der politischen Diskussion behauptet, die durch die Zunahme von Ganztagsschulen noch an Bedeutung gewonnen hat.
Bildungslandschaften – ein Anspruch der Städte
Bildungslandschaft ist ein idyllischer Begriff: Es entsteht ein Bild von Orten, Bildungsorten wie Schule, Kita, Bibliothek, Volkshochschule … nett in einer Landschaft verteilt, und Wege dazwischen, auf denen man flanierend Bildung aufsucht – ein schönes Bild, aber in dieser einfachen Form leider wenig hilfreich. Der Begriff stammt aus der Aachener Erklärung des Deutschen Städtetags vom 23. November 2007. Darin drückten die Städte ihre Grundüberzeugung aus: „Die Verantwortung der Städte in der Bildung muss gestärkt werden.“ (Deutscher Städtetag 2007: 1)
In dieser Erklärung beschreiben die Städte (über alle Parteigrenzen hinweg!) eine Bildungslandschaft „im Sinne eines vernetzten Systems von Erziehung, Bildung, Betreuung“ (ebd.: 2). Ihre Hauptmerkmale sind:
- individuelle Potenziale der*s Einzelnen in der Lebensperspektive fördern
- verbindliche Strukturen der Bildungsakteure in Familie, Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Kitas, Kultur, Sport, Wirtschaft u. a. schaffen
- Eltern/Familien als Bildungspartner einbeziehen
- Kulturelle Bildung gerade von außerschulischen Einrichtungen und Personen als wichtigen Teil ganzheitlicher Bildung integrieren
- Übernahme von Steuerung, Moderation und Monitoring der zielorientierten Zusammenarbeit durch die Städte
- Forderung an die Länder, die kommunalen Zuständigkeiten für innere und äußere Schulentwicklung zu erweitern und neu zu ordnen – und dafür die finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen. „Die Städte sind bereit, dafür ihren Beitrag zu leisten.“ (ebd.)
Was bedeutet das?
- Individuelle Potenziale in der Lebensperspektive verweisen auf den Verlust der Bedeutung von abstraktem Wissen, das durch Google, Wikipedia u. a. immer, überall und vor allem aktueller zur Verfügung gestellt wird.
- Stattdessen geht es um die Entwicklung von Wissen und dessen Anwendbarkeit aus und in dem Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen, der Stadt also oder auch nur dem Stadtteil. Als Gegenbegriff zum abstrakten Wissen hat sich der Kompetenzbegriff etabliert, der genau diesen Bezug zur Lebensperspektive, zum Lebensraum einfordert.
- Dazu sind freilich verbindliche Strukturen erforderlich. Sie sind die Wege in der Bildungslandschaft. Zur Orientierung braucht es zudem auch Wegweiser, wie sie Beratung und Monitoring darstellen.
- Es braucht an Einbeziehung aller Bildungsakteure, die vor Ort vorhanden sind. Das sind aber je nach Lebensraum unterschiedliche, auch unterschiedlich viele mit unterschiedlichen Professionen. Kulturinstitutionen und kulturelle Angebote freier Partner*innen oder einzelner Künstler*innen gehören bereits heute wesentlich dazu.
- Eltern sind Bildungspartner*innen. Freilich ist diese Partnerschaft abhängig von der Art der Partner*innen, von Bildungsstand der Eltern, sozialen Strukturen, Einkommen, Lebensgestaltung – also abhängig von den (lokal unterschiedlichen) Lebensräumen.
- Bildung ist ein ko-konstruktiver Prozess. Sie passiert nicht von selbst und auch nicht über Vorgaben und Anweisungen. Eltern, unterschiedliche Professionen, die Kinder, die Jugendlichen selbst und schließlich der gesamte Lebensraum mit Vereinen, Initiativen, den Kultureinrichtungen der Stadt und in der Stadt, „das ganze Dorf“ eben, tragen zur Erziehung eines Kindes bei.
- Diesen Prozess lokaler Bildungswege kann, davon sind die Städte überzeugt, niemand besser steuern als die Kommunen, weil sie die konkreten Lebensverhältnisse ihrer Bürger*innen am besten kennen und mit ihren kulturellen Einrichtungen und Angeboten differenziert darauf reagieren können. Sie brauchen dafür von den Ländern mehr Kompetenzen und auch mehr Geld.
Bildungslandschaften und Bildungsbegriff
Welche Bildungsorte für diese Bildungslandschaft notwendig sind, ist abhängig vom Bildungsbegriff: Bildung ist zunächst ein soziologischer Begriff, da seine Ausprägung bei uns in hohem Maß abhängig ist von der sozialen Position der Akteure. Als Bildungsverlierer*in galt in den 1950er Jahren das katholische Arbeitermädchen vom Lande, später der türkische Junge in der Großstadt. Heute ist es wohl am ehesten der islamische minderjährige Flüchtling in der Stadt.
Viele Menschen verbinden mit Bildung die Hoffnung auf sozialen Aufstieg. Wer das erwartet, bindet Bildung an Institutionen, die Aufstiegsberechtigungen (potenziell!) vergeben. Diese Erwartung beschränkt sich also auf den Bereich formaler Bildung. Dazu gehört heute auch die Kita, auch wenn das noch immer nicht selbstverständlich ist.
Non-formale Bildung findet sich in den weiteren Orten der kommunalen Bildungslandschaft, in der Volkshochschule, der Jugendkunstschule, der Musikschule, in Angeboten der Soziokultur und in den speziellen Pädagogiken der Museen, Theater, Bibliotheken usw. Diese Bildungsorte sind fast immer kulturell geprägt. Die kommunale Bildungslandschaft ist somit in ihrem Kern immer auch eine Kulturlandschaft (vgl. Wagner 2010: 137–208).
Die informelle Bildung ist an keine Orte in unserer Bildungslandschaft und an keine Zeit gebunden. Sie „liegt auf dem Weg“. Man lernt immer und überall, den ganzen Tag, aber was wir lernen, lässt sich weder beobachten noch messen, und oft bemerken wir es zunächst selbst nicht.
Lernen – informelles zumal – findet deshalb auch nicht nach festen Regeln statt, sondern wird motiviert durch Neugier, Impulse und institutionelle Anregungen. Sie geschieht also im sozialen Kontext. Deshalb ist die Schulpflicht nicht nur sozialpolitisch ein Fortschritt, sondern auch essenziell für den Bildungsprozess – auch wenn die Propheten des Homeschoolings das gern verdrängen. Bildung findet eben nicht über die Aneignung von Buch- oder Lehrerwissen statt, sondern im Kontext des eigenen Lebens- und Erlebnisraums.
Diese Erkenntnis ist auch ein wesentlicher Grund für den Ausbau von Ganztagsschulen. Diese dürfen freilich nicht nur eine verlängerte Halbtagsschule sein, sondern müssen als konsequente Weiterentwicklung dieser Einsicht die Chance wahrnehmen, alle drei Lernformen zusammen erlebbar zu machen. Ganztagsbildung findet immer statt. Ganztagsschule formalisiert das zusätzlich und öffnet damit vergleichbare Lernchancen für alle.
Und was hat die Kommunalpolitik damit zu tun?
Wenn das Erlernen lebenswichtiger Kompetenzen im konkreten Lebensumfeld erfolgt, kann die Gestaltung der Lernprozesse, das Angebot von Lernimpulsen, das Wecken von lernrelevanter Neugier nur im Bereich der Stadt (oder sogar nur des Stadtteils) erfolgen.
Bisher fällt Bildung offiziell in die Zuständigkeit der Länder; den Kommunen steht allenfalls eine Kann-Beteiligung zu. Die Realität sieht aber schon heute anders aus: Nicht nur Bildungsgebäude und Sachausstattung sind kommunal. Viel wichtiger ist, dass fast alle Kultureinrichtungen auch Orte Kultureller Bildung sind und fast alle sind kommunal. Die meisten Impulse vor allem des informellen Lernens ergeben sich aus dem Lebensumfeld der Stadt. Welchen Nutzen haben Schule und Kultur voneinander, wenn man sie zusammenführt?
Zunächst muss klar sein, dass ein Zusammenführen nicht heißt, dass der eine Bereich die Magd des anderen ist. Es geht auch nicht darum, Methoden oder pädagogische Ziele anzugleichen. Künstler*innen kommen nicht als Ersatzlehrer*innen in die Schule und Lehrer*innen delegieren ihre pädagogische Verantwortung nicht auf die Künstler*innen (die rechtliche schon gar nicht). Deshalb gehören Lehrer*innen auch in die Klasse oder Gruppe, wenn Künstler*innen ein Projekt durchführen – nicht als Aufsicht, sondern in komplementärer Funktion.
Und der Nutzen einer solchen Kooperation? Es geht bei dieser Frage nicht darum, Kunst oder Künstler*innen für Schule zu instrumentalisieren. Auch wenn Künstler*innen an eine Schule kommen (oder Schulen zu Künstler*innen) gilt, dass die Kunst erst einmal um der Kunst willen geschieht, nicht um irgendwelcher Lehrpläne willen. Aber die fast zwangsläufigen „Zusatzeffekte“ der Begegnung von Kunst und Schule sind doch einer Betrachtung wert (siehe: Lena Marie Freud, Maria Norrenbrock, Bettina-Maria Gördel „Kulturelle Bildung als Koproduktion – Wie unterschiedliche Akteursgruppen Kinder und Jugendliche* durch Kulturelle Bildungskooperationen fördern" ).
Kunst gewinnt über die allgemeine Pflichteinrichtung Schule Zugang zur Gesellschaft über die traditionelle Klientel hinaus. Sie gewinnt damit Wirksamkeit und die Chance auf Wertschätzung. Wertschätzung nämlich setzt Kenntnis und Akzeptanz voraus. Für Kunst, Kultur und kulturelle Einrichtungen wird sich später nur jemand interessieren, der vorher an der Hand anderer damit in Verbindung gebracht wurde. So sichert das Engagement von Künstler*innen und Kultureinrichtungen auch den Nachwuchs bei Publikum und Akteuren, trägt also zum eigenen Erhalt, zur eigenen Entwicklung bei.
Und die Schule überschreitet (endlich!) die Grenze der bloßen Nützlichkeit, wie sie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihren PISA-Studien im Wirtschaftsinteresse beschreibt. Sie zieht mit der Öffnung hin zur Kulturellen Bildung die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass bloße Wissensvermittlung, losgelöst von den persönlichen Bedingungen und Perspektiven, längst ihre Bedeutung verloren hat – zum einen wegen der sinkenden Halbwertszeit von Wissen, zum anderen wegen dessen zeitloser und ubiquitärer Verfügbarkeit im Internet. Ziel der Schule muss es vielmehr sein, Kompetenzen im Umgang mit Wissen und kreative Handlungsfähigkeit zu entwickeln (siehe: Olaf-Axel Burow „Mit kultureller Schulentwicklung zu mehr Bildungsgerechtigkeit“). Eigentlich ist das nicht neu. Herbert Spencer, ein britischer Philosoph (1820–1903) hat bereits festgestellt: „Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern Handeln.“ (Rossmeissl/Przybilla 2006: 4)
Kultur schafft Bildung, Freiheit motiviert
Wer im Musikunterricht lieber Hausaufgaben macht, geht nachmittags oft freiwillig in die Musikschule. Wer die Dramenlektüre im Deutsch- oder Englischunterricht für langweilig hält, geht in den Jugendclub des Theaters oder engagiert sich in der Schultheatergruppe. Das ist zugleich der Weg von der Staatseinrichtung Schule ins kulturell geprägte Erlebnisfeld der Stadt. Nicht das Verstauen von Wissen im Kopf, sondern das entdeckende Lernen mit neuen eigenen Erfahrungen ist der wichtigste Motor für immer neue Neugier und damit für die Lust am Lernen (siehe: Stefan Wolf „Kunst kann das! Schulentwicklungsprozesse basierend auf einem künstlerisch-kulturellem Bildungsmodell“).
Was Kulturelle Bildung, die von außerhalb des Unterrichts und seiner Fixierung auf Lehrpläne kommt, über kulturelle Kompetenz im engeren Sinn hinaus vermitteln kann, ist essenziell für das, was Lernen und damit die Teilhabe an Bildung ausmacht:
- Kulturelle Bildung weckt Neugier auf Neues. Nicht nur lernen, was ist, sondern erproben, was möglich ist – das ist eine der zentralen Kompetenzen Kultureller Bildung. Schule muss hungrig machen, nicht satt! Kinder und Jugendliche sollen den alltäglichen Lebensraum als Lernressource erfahren (was vor allem für Ganztagsschulen wichtig ist), in der sich non-formales und informelles Lernen mit dem traditionellen formalen Lernen verbindet. Kulturorte, wo das geschieht, sind deshalb ein wesentliches Element der kommunalen Bildungslandschaft, die aber erschlossen werden müssen.
- Kulturelle Bildung fördert Kreativität, um neue Lösungen für neue Probleme zu finden – jenseits der schlichten Dichotomie von „Richtig“ und „Falsch“. Kultur kennt diese pauschalen Kategorien nicht. Von ihr und mit ihr kann man lernen, mit differenzierteren Unterscheidungen umzugehen, sie auf die Entwicklung der eigenen Person und der Gesellschaft anzuwenden. Wo „Richtig“ und „Falsch“ keine verlässlichen Kategorien sind, muss das eigene Tun immer wieder kritisch befragt werden, um sich der eigenen Position zu versichern. Diese Fähigkeit zur Selbstkritik stärkt zugleich die Resilienz, die in einer stetig Anpassung fordernden Welt zur Überlebensqualifikation wird.
- Soziale Kompetenzen sind ein Kernelement einer Kultur, die offen ist für Vielfalt, Konflikte und Gemeinsamkeiten. Deshalb gehören übrigens neben Künstler*innen auch Schulsozialpädagog*innen an jede Schule.
- Und schließlich: Wir kennen alle den hoffnungsvollen Spruch „non scholae sed vitae discimus“ („Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“). Aber selbst der schreibt die Trennung von Schule und Gesellschaft gedanklich fort. Es kommt darauf an, mit der Verbindung von Kultur in der Stadt und in der Schule diese Trennung zu überwinden. Dafür ist ein neuer, integrierter Bildungsbegriff ist nötig!
Parzellierung oder Kooperation: Bildungslandschaften im föderalen Gefüge
Das Standard-Gegenargument der Länder gegen die Integration von Schule in die kommunale Bildungs- und Kulturlandschaft lautet, Schulbildung verfalle damit einer Parzellierung des Lernens und Wissens, in der jeder Wohnortwechsel zur Bildungskatastrophe zu werden drohe.
Wäre die Sache nicht zu ernst, ließe sie sich als Treppenwitz einstufen: Eben die Länder, die einer Beteiligung des Bundes und bundesweiter Vereinheitlichung bisher am meisten widersprechen und die Fahne des Föderalismus hochhalten, drängen am meisten auf einen innerstaatlichen Zentralismus (vom Zentralabitur bis zu den Lehrplänen und Schulbüchern).
Die Vernetzung der Bildungslandschaften und ihre Offenheit gegenüber Neuem ist jedoch gerade ihre Sicherung gegen die befürchtete Parzellierung. Tatsächlich ist es nicht das Ziel kommunaler Bildungspolitik, basale Gemeinsamkeiten aufzukündigen. Schon der Appell an Bund und Länder zur Zusammenarbeit mit den Städten macht das deutlich. Ziel ist vielmehr die neugiergestützte Kompetenz, immer neue Lernfelder für sich zu erschließen – lebenslang. Kommunale Bildungspolitik bedeutet deshalb nicht Zerstückelung von Bildungsinhalten, sondern Implementierung von Bildung in den Lebensraum der (jungen) Menschen und damit in die Kulturlandschaft in all ihrer Differenziertheit und Vielfalt.
Diese Implementierung gelingt nicht von selbst. Deshalb ist Schulsozialarbeit für alle Schulen von zentraler Bedeutung und für Ganztagsschulen unverzichtbar. Sie dient in diesem Kontext nicht als Feuerwehr, die bei bereits brennenden Problemen löschen soll, sondern als Brücke für die Verbindung von Schule und urbanem Lebensraum, von Lernen und Erfahrung, von Kompetenz und Kultur (vgl. Rossmeissl/Przybilla 2006: 116ff.).
Der Begriff Kommunale Bildungslandschaften ist eine Metapher – aber eine mit hohem Erkenntniswert. Eigentlich ist Landschaft nämlich ein irreführender Begriff. Mit ihm verbindet man unbewusst nämlich meist nur einen Ausschnitt, wie die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts deutlich zeigt, die Landschaft immer nur als Ausschnitt aus der Wirklichkeit darzustellen vermag. Deren Weite hängt dann von der Aufmerksamkeit der Betrachter*innen ab.
In Wirklichkeit sind Landschaften unendlich, immer vernetzt mit anderen. Viele Wege in einer Landschaft führen über den engen Bereich hinaus. Kommunale Bildungslandschaften sind keine Inseln, sondern Erlebnisräume und Übergänge in immer neue Bereiche, die mit der Perspektive derer wachsen, die sich darin bewegen.
Auch die Orte markieren nicht einfach Einrichtungen, sondern sind Angebote im Lebensraum, von dem auch Schule ein Teil sein sollte, der aber weit über sie hinaus reicht.
Die Wege zwischen den Orten und über die lokale Landschaft hinaus sind Vernetzungen mit der Tendenz zu einem ganzheitlichen Bildungsbegriff. Sie stellen Verbindungen her über die traditionellen Bildungsanstalten hinaus zu Kultureinrichtungen, Künstler*innen, Soziokultur u. v. m.
Berge und Täler dieser Landschaft (bleiben wir ruhig in der Metapher) öffnen immer wieder neue Perspektiven. Das Motiv, diese zu erkunden, sind nicht der Lehrplan, Noten oder Abschlussprüfungen, sondern die Neugier als eigentliches Movens jedes Lernens.
Der Begriff Bildungslandschaft bezieht sich eben nicht auf eine Struktur der Orte in der Stadt, sondern zielt auch auf die Struktur von Bildung selbst. Die Menschen in dieser Landschaft gehen Bildungswege als individuelle Lebenswege, in sozialer und kultureller Vernetzung und mit Blick auf die vielfältigen Ressourcen, die Kultur bereitstellt.
Kompetenzen für die eigene Lebensperspektive
Für den Bildungsweg von der Kita bis zur Ganztagsschule ist ein neuer integrierter, ganzheitlicher Bildungsbegriff nötig!
Der rasche Wandel der Gesellschaft legt in der Schule das Schwergewicht auf lernmethodische Kompetenz. Sie erlaubt den Erwerb zusätzlicher Bildungselemente im Laufe des ganzen Tages und eines ganzen Lebens.
Zu den Kompetenzen, die dafür erforderlich sind, gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- Kognitive Kompetenzen: Wissen ist immer noch nötig – und sei es als Lernfeld für die Kompetenz, damit umzugehen, Neues mit Bekanntem zu verbinden („Lernen heißt vergleichen!“), Einzelnes in Zusammenhänge einzuordnen.
- Kommunikative und mediale Kompetenzen: Die Fähigkeit zur mitgestaltenden Teilhabe an Gesellschaft setzt die Fähigkeit zur Interaktion mit dieser Gesellschaft voraus. Das kann losgelöst von Zeit und Raum im virtuellen Bereich geschehen, wird aber den realen Raum brauchen, wenn sie wirksam werden soll.
- Kulturelle und soziokulturelle Kompetenz: Wer die Chiffren einer Gesellschaft nicht versteht, versteht auch die Gesellschaft nicht. Dieses Verständnis aber ist Voraussetzung für Teilhabe. Diese Erfahrung haben sicher schon einige in Urlaubsländern gemacht. Es ist auch die Erfahrung zahlreicher Migrant*innen nach ihrer Ankunft in Europa.
- Historisch-politische Kompetenz ist die Basis für Demokratie und die Fähigkeit, diese mitzugestalten.
- Instrumentelle Kompetenzen sichern die Überlebensfähigkeit in Lebensumfeld – von der U-Bahn-Karte bis zum Behördengang.
- Personale und emotionale Kompetenzen schließlich sind Kern jeder Bildung.
Wohl das Wichtigste, was Kulturelle Bildung lehrt, ist die Fähigkeit, in Alternativen zu denken. „Alternativlos“ ist in der Regel eine geistige Bankrotterklärung. Um Alternativen zu ermöglichen, müssen Entscheidungen revidierbar sein – und man muss lernen, den Mut zu haben, das zu tun. Peter Bieri – Philosophie-Professor an der FU Berlin, den viele sicher besser unter seinem Künstlernamen Pascal Mercier als Autor von „Nachtzug nach Lissabon“ kennen – fordert: „Zur Bildung gehört die Einsicht in die historische Zufälligkeit […]. Es hätte alles auch anders kommen können.“ Er folgert daraus als seine „Lieblingsdefinition“ von Bildung: „Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.“ (Bieri 2007: 6–9)
Diese Fähigkeit, sich in Alternativen zu denken, sich selbst, das eigene Urteil und den eigenen Standpunkt immer wieder infrage zu stellen, ist nicht nur Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch Überlebensqualität in einer sich verändernden Welt. Jugendkunstschulen, Musikschulen, Theaterclubs, Workshops mit Künstler*innen, Lesecafés und viele andere Orte kultureller Arbeit sind die Erlebnisfelder, in denen diese Fähigkeit erprobt und entwickelt werden kann. Das „sapere aude!“ („Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) der Aufklärung wird in den immer neuen Gestaltungsmöglichkeiten kultureller Tätigkeit wie kultureller Rezeption sinnfällig erlebbar.
Ins Politische übersetzt entspricht das der visionären Forderung Willy Brandts, „mehr Demokratie zu wagen“. Deshalb ist Kulturelle Bildung nicht nur Voraussetzung, an Kultur teilzuhaben. Sie ist notwendig zur Teilhabe an Gesellschaft – für eine demokratische Gesellschaft zumindest.
Dimensionen der Bildungslandschaft
Die Bildungslandschaft in einer Stadt oder Region ist von fünf Dimensionen geprägt:
- Pädagogische Dimension: Es bedarf der Vernetzung der (in Ausbildung, Bezahlung und Selbstverständnis zunächst getrennten) pädagogischen Professionen: Schulpädagogik, Sozialpädagogik und Kulturpädagogik, die sich gegenseitig ergänzen.
- Zeitliche Dimension: Lernen findet ohnehin lebenslang und ganztags statt. Das eng getaktete Korsett des tradierten Schulbetriebs wird deshalb weder den Bedürfnissen der Kinder noch den Anforderungen effektiven Lernens gerecht. Erst die Ganztagsschule öffnet die Möglichkeit, mit anderen Zeitmodellen zu experimentieren, Platz zu schaffen fürs Spielen, für Förderung, Beratung, Erziehungshilfen und Therapie.
- Räumliche Dimension: Die bauliche Gestaltung gehört ohnehin zu den Aufgaben der Kommunen als Träger der „äußeren Schulangelegenheiten“: Mensa, Funktionsräume, Möblierung, Lernmaterial sind Rahmenbedingungen für Lebensräume in der Ganztagsschule.
- Strukturelle Dimension als Konzept bedeutet, die drei Systeme Schule, Jugendhilfe und Kultur gleichberechtigt zu integrieren. Die Schwierigkeit besteht freilich in den unterschiedlichen Aufgaben der Systeme: Schule ist auf Objektivität angelegt und hat gesellschaftliche Anforderungen zu erfüllen, Jugendhilfe muss parteiisch sein für das Wohl des Kindes und Kultur muss sich neben aller Bedeutung der Kulturellen Bildung auch den zweckfreien Raum künstlerischer Freiheit erhalten. Diese Unterschiedlichkeit kann allerdings in anderen Strukturen auch die Chance gegenseitiger Ergänzung öffnen, wenn die Partner ihre Ergänzungsbedürftigkeit erkennen.
- Sozialräumliche Dimension: Sie nimmt Bezug auf das urbane (oder ländliche) Wohnumfeld, also die Kommune, verbunden mit der Chance, vom Bildungsort aus Formen kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe zu entwickeln.
Alle diese Dimensionen entziehen sich staatlich-zentraler Steuerung, weshalb ihre Gestaltung Kernaufgabe einer kommunalen Bildungs- und Kulturpolitik ist. Die relevante Frage ist nicht, ob dies geschieht, sondern wie und mit wem.
Die Städte bringen ihre kulturellen Kompetenzen im Rahmen des gemeinsamen Bildungsauftrags gern in die Schulen ein. Sie dürfen (und müssen aufgrund ihrer Finanzlage) aber auch erwarten, dass die Länder diese Angebote nicht einfach dankend kassieren und die Städte auf ihren Kosten sitzen lassen. Und: Die Städte wollen dann auch bei der Ausgestaltung des pädagogischen Konzepts der Schulen mitreden und mitentscheiden – nicht als „Juniorpartner“, sondern gleichberechtigt gegenüber dem Staat. Eine so inhaltlich erweiterte Schulträgerschaft brächte viele Entscheidungen näher an die eigentlichen pädagogischen Akteur*innen heran und wäre so auch ein Beitrag zu deren verbesserten Teilhabe und damit zur Demokratie.
Integrierte Bildungslandschaften als kulturelle Aufgabe
Zur Gestaltung solcher Bildungslandschaften in der Stadt braucht es
- Bildungskonzepte als lebenslange persönliche Zukunftsperspektive mit Integration kultureller Angebote als notwendige Elemente des Lernens und Erlebens (Lernen ist immer zukunftsorientiert!),
- die Einsicht aller Akteure, Städte wegen ihrer kulturellen Vielfalt und ihrer pädagogischen Kompetenzen als Orte zur Realisierung dieser Bildungskonzepte zu begreifen,
- die Fähigkeit der Städte, ihre Bildungs- und Kulturorte zu Bildungslandschaften zu vernetzen und den Mut, diese zu gestalten,
- ein Bildungsmonitoring, das sich nicht auf Schule beschränkt, sondern den gesamten Bildungsbereich mit allen Facetten Kultureller Bildung umfasst und Basis sein kann für die künftige Steuerung und Beratung,
- die Bereitschaft des Staats, diese Entwicklung zu fördern: rechtlich wie finanziell,
- gemeinsame Projekte, z. B. Weiterbildung für Erzieher*innen als Hilfe beim Ausbau der Kindertageseinrichtungen zu Bildungseinrichtungen oder für Lehrkräfte im Umgang mit Künstler*innen.
Lokal erlebbare Bildungslandschaften sind eine intellektuelle Heimat und damit die Basis, sich die globalisierte Welt zu erschließen. Die Gesellschaft der Zukunft ist kein Zufallsprodukt. Sie wird so sein, wie wir sie heute bilden. Die Städte sind die Landschaften, in denen das vor allem geschieht.