Soziale Innovationen in Kunst und Kultur als Faktor für kulturelle Teilhabe in ländlichen Räumen. Diskurse und Impulse aus dem Forschungsprojekt SIKUL
SIKUL ist eine Initiative des CENTIM (Centrum für Entrepreneurship, Innovation und Mittelstand) an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und wird durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert
Abstract
Wenn Kulturelle Bildung sozial innovativ ist, flößen dann endlich mehr Mittel in die Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen? Der Begriff „Soziale Innovation“ ist in unterschiedlichen Politikfeldern, Wirtschafts- und Wissenschaftszweigen mit hohen Erwartungen und Hoffnungen verbunden. Als Containerbegriff verspricht er, diverse soziale Probleme unserer Zeit auf neue Weise anzugehen und zu lösen. Die Bedeutung, die beispielsweise die Bundesregierung Sozialen Innovationen zuschreibt, wird in der „Nationalen Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen“ (2023) sichtbar. Was genau der Begriff aber meint, bleibt häufig diffus. Im Forschungsprojekt SIKUL nutzen wir seine Offenheit und stellen ihn in Bezug zu unterschiedlichen Orten Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Auf Basis unserer empirischen Untersuchung von vier Kulturinitiativen stellen wir eine Definition von Sozialen Innovationen in Kunst und Kultur vor, die zum einen herausstellt, dass diese in hohem Maße auf das Engagement der Zivilgesellschaft angewiesen sind, ihr Gelingen und langfristiges Bestehen zum anderen aber politisch gewährleistete Strukturen wie öffentliche Räume und langfristig angelegte Förderungen braucht. Diese Definition kann anderen Forscher*innen und Praxisakteuren Kultureller Bildung dienen, gemeinsame Entstehungsursachen und -bedingungen sowie damit verbundene Schwierigkeiten (Ehrenamt, Förderlogiken, kulturelle Infrastrukturen etc.) unterschiedlicher Formen Kultureller Bildung sichtbar zu machen und bereits bestehendes Wissen unter einem Term zu bündeln, der es ermöglicht, den vagen politischen Erklärung, Soziale Innovationen fördern zu wollen, mit konkreten Handlungsaufforderungen zu begegnen. Denn Einsparmaßnahmen bedrohen heute im besonderen Maße Kultur und Soziales; Soziale Innovationen hingegen erleben einen Aufwind, den Akteure Kultureller Bildung nutzen könnten.
Einleitung
Ähnlich wie die großen Begriffe Resilienz oder Nachhaltigkeit erhält der Terminus Soziale Innovation in den letzten Jahrzehnten eine beständige, größer werdende Aufmerksamkeit – gerade auch in Abgrenzung und Ergänzung zu technischen Innovationen (Godin 2012; Meichenitsch et al. 2016; siehe auch die Sonderausgabe des Journals of Rural Studies 2023). Ganz allgemein lässt sich unter Sozialen Innovationen ein breites Spektrum an neuartigen Aktivitäten und Praktiken verstehen, die auf die Lösung sozialer Probleme ausgerichtet sind (European Commission 2017). In unterschiedlichen Forschungszweigen und -instituten, unternehmerischen Einrichtungen, politischen Richtlinien und Fördermaßnahmen ist Soziale Innovation zu einem geflügelten Wort geworden. Die Bundesregierung setzte im Jahr 2022 mit der Sozialunternehmerin Zara Bruhns eine Bundesbeauftragte für Soziale Innovationen ein und veröffentlichte ein Jahr später die „Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen“ (2023). Eine immense Verantwortung und Gestaltungskraft wird Sozialen Innovationen hierbei zugeschrieben. Nicht weniger als die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, gesellschaftliche, technologische, geopolitische und ökologische Veränderungen seien die Wirkfelder Sozialer Innovationen (vgl. ebd.). Soziale Innovationen sind demnach auf unterschiedlichen Ebenen – vom „Aktionsplan für die Sozialwirtschaft“ der EU-Kommission (2021) bis hin zur Landesebene mit Social Entrepreneurship Strategiepapieren aus Hamburg (2023) und Schleswig-Holstein (2022) – politisch gewollt und sollen besonders gefördert werden. In unserem Forschungsprojekt SIKUL gehen wir davon aus, dass der Begriff der Sozialen Innovation große Schnittmengen mit dem Ansatz der Kulturellen Bildung aufweist, folgt man beispielsweise Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss (siehe Reinwand-Weiss „Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung“). Kulturelle Bildung beschreibt mit seiner „sozialen und politischen Dimension eines breiten Kulturbegriffs“ (ebd.) demnach nicht nur Bildungsinhalte (die Künste) und kulturpädagogische Formate, sondern beinhaltet als Wesensmerkmal auch die Frage nach dem guten Leben für alle (ebd.). Ähnlich wie dies in der normativ-sozialen Dimension des Begriffs Sozialer Innovation implizit ist.
Sozial-innovative Orte Kultureller Bildung
Im Bereich der Kulturellen Bildung entstehen immer wieder neuartige, kreative, sozial ausgerichtete Initiativen, die sich, so die Annahme unseres Forschungsprojekts, unter dem Begriff Soziale Innovation subsumieren ließen. Unter den Schlagworten Möglichkeitsräume, Begegnungs-, Zukunfts-, Kreativ-, Dritte- oder Soziale Orte werden, gerade auf dem Land, physische Räume und temporäre, nicht an einen Platz gebundene Möglichkeiten beschrieben, in welchen meist ehrenamtlich Kulturelle Bildung geleistet wird (siehe hierzu bspw. Lehweß-Litzmann und Jaruszewski 2024). Viele von diesen Kreativorten wie Kulturbusse oder Dorftheater wären sicher auch mit dem Begriff Soziokultur zu umschreiben (siehe unten) – doch ist diese Bezeichnung unter anderem im Freistaat Bayern sogar förderungsverhindernd (Kegler 2024). Auf Basis unserer empirischen Befunde und Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt SIKUL möchten wir in diesem Beitrag ein Gedankenspiel spielen, und den Begriff der Sozialen Innovation in Kunst und Kultur als Oberbegriff für all diese kreativen, sozial ausgerichteten Kultureinrichtungen andenken, um ein größeres Bild der ihnen innewohnenden strukturellen Ähnlichkeiten, sozialen Absichten, auch gesellschaftlichen Herausforderungen und Gelingensbedingungen zu zeichnen. Diese Ausgangslage kann anderen Forscher*innen und auch Praxisakteuren Kultureller Bildung dienen, gemeinsame Strukturen und damit verbundene Schwierigkeiten (Ehrenamt, Förderlogiken etc.) unterschiedlicher Ausprägungen Kultureller Bildung sichtbar zu machen und der recht vage bleibenden politischen Erklärung, Soziale Innovationen fördern zu wollen, mit konkreten Handlungsaufforderungen zu antworten. Einsparmaßnahmen bedrohen heute im besonderen Maße Kultur und Soziales. Soziale Innovationen erleben hingegen einen Aufwind – vielleicht sollten Akteure Kultureller Bildung diesen nutzen.
Was genau es mit Sozialen Innovationen auf sich hat, welche Bandbreite es unter ihnen gibt, wer ein Interesse an der Zuschreibung als solche hat, bleibt in der breiten Verwendung des Begriffes zumeist diffus. Wie sähe eine konkrete Definition von Sozialen Innovationen für den Bereich der Kulturellen Bildung aus? Welche Bedeutung wird Kultur, im einem weiteren wie auch engeren Sinne, in Kultureinrichtungen wie etwa dem Dorfkino oder Kulturbahnhöfen zugeschrieben? Handelt es sich um künstlerisch innovative Prozesse oder um Einrichtungen, welche sich der Kunst als Medium sozialer Zwecke verschrieben haben? Was sind Soziale Innovationen im Spektrum von Kunst und Kultur und wie lassen sie sich fassen, um auf ihre Gestaltung konstruktiv einzuwirken?
Projekthintergrund SIKUL und Beispiele sozial-innovativer Kulturarbeit
Unsere folgenden Überlegungen leiten sich ab aus unserem Forschungsprojekt „Soziale Innovationen in Kunst und Kultur als Faktor für Resilienz und kulturelle Teilhabe in strukturschwachen ländlichen Räumen: ein Fallstudienansatz zur Erforschung von Wirkungsmechanismen“ (SIKUL). Das Projekt ist Teil des Forschungsvorhabens „Faktor K – Forschung zum Faktor Kultur in ländlichen Räumen“ der Förderrichtlinie BulePlus des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (2023-2026). Das Ziel dieser Förderung ist, „die ländlichen Regionen als attraktive, lebenswerte und vitale Lebensräume zu erhalten und gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen“ (ebd.).
Im Forschungsprojekt SIKUL versuchen wir zu verstehen, wie Soziale Innovationen im Bereich Kunst und Kultur in sozioökonomisch schwachen, sehr ländlichen Regionen entstehen und wie sie sich als solche – handlungsleitend für Politik und Zivilgesellschaft – definieren lassen. Wir stützen uns hierbei auf die Erkenntnisse aus unseren vier Fallstudien, die wir mittels qualitativer, leitfadengestützter Interviews, teilnehmender Beobachtung sowie der Analyse von Dokumenten (Dorfentwicklungspläne, Websites) und Social-Media-Beiträgen untersuchen. Weitere Informationen zum Forschungsprozess, einschließlich genauer Forschungsfragen, Sample und Methodik, entnehmen interessierte Leser*innen bitte dem Forschungsbericht SIKUL in der Anlage .
Wir untersuchen ein Kulturhaus, einen Dorfverein, ein ehrenamtlich durchgeführtes Festival sowie eine Musikreihe, die von Kommune und lokalen Vereinen getragen wird. Alle Initiativen liegen in Landkreisen, die laut dem Landatlas des Thünen-Instituts dem Typ „sehr ländlich/weniger gute sozioökonomische Lage“ entsprechen. Zu den Indikatoren für die Bestimmung dieses Raumtyps zählen unter anderem eine lockere Wohnbebauung, eine geringe Siedlungsdichte und ein hoher Anteil an land- und forstwirtschaftlicher Fläche sowie Arbeitslosen- und Wohnungsleerstandsquoten und die kommunale Steuerkraft (Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen und Thünen-Institut für Innovation und Wertschöpfung in ländlichen Räumen). Dennoch sind ländliche Räume heterogen (Wiegandt und Krajewski 2020; siehe: Maria Rammelmeier „Regionales Kulturmanagement“) und ebenso vielfältig zeigt sich ländliches Kulturangebot (Darian 2024).
Begrifflichkeiten von Kunst und Kultur in den untersuchten Fallbeispielen
Auch die von uns untersuchten Initiativen sind heterogen. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der beteiligten Akteur*innen, des Formats oder des inhärenten Kulturbegriffes. Sie befinden sich dabei im Spektrum von Breitenkultur (Kulturhaus und Dorfverein), Soziokultur (Festival) und Kulturplanung als Gemeindeplanung (Musikreihe).
Breitenkultur/grass root culture meint:
“dialect in songs and stories, May Day celebrations in the village community, music at home with the family, amateur theatre on the open stage, social evenings at the local heritage association, nativity scenes in the church, […] It is about common cultural and artistic activity with individual participation and civic engagement on a non-commercial, cross-policy level” (Schneider 2017:31).
Und so werden im Kulturhaus und Dorfverein, situiert in alten umgenutzten Gemeindegebäuden, getragen von Ehrenamtlichen, jeweils seit 2023 traditionelle lokale Festivitäten wie der St. Martins-Umzug organisiert, ein Klöhntreffen des ortsüblichen Plattdeutschs, Kürbisschnitzen angeboten oder der Weihnachtsmarkt im Dorf organisiert. Beide Einrichtungen gestalten einen offenen physischen und immateriellen Raum, welcher alle Bürger*innen, unabhängig von der Exklusivität eines spezifischen Hobbies, einlädt, zusammenzukommen. Sowohl in der Gemeinde des Kulturhauses als auch des Dorfvereins fehlte der Ort, an dem sich unterschiedliche Menschen regelmäßig begegnen konnten. Der demografische Wandel, das heißt, die Abwanderung junger Leute und die Überalterung im Ort (Schubert 2018), sowie Veränderungen im Freizeitverhalten, so die Interviewpartner*innen, ließen alte Festivitäten einschlafen. Es gab zum Beispiel niemanden mehr, der das Weihnachtsfest ausrichtete, die damit zuvor betraute Feuerwehr findet keinen Nachwuchs mehr. Beide Initiativen richten sich, wie es der Einladungsflyer des Dorfvereins beschreibt, auf das Gemeinwesen innerhalb des Ortes: „[Unser Dorf] so wie jedes Dorf, [sic] lebt von den Zusammenkünften, Veranstaltungen und Begegnungen, in denen Menschen zusammenkommen. Dadurch entstehen ein Gemeinschafts- und auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl. […] Alle die Lust und Zeit haben, weiterhin in [Dorf] etwas für die Dorfgemeinschaft zu tun, sind herzlich […] eingeladen“ (Flyer Dorfverein 2023).
Soziokultur wiederum lässt sich begreifen als
“a concept which has established itself as referring to a form of participatory cultural work which orients its events, projects and participation formats towards bringing people from different walks of life together for collective cultural activity. One of the basic criteria of socioculture is its modern orientation towards societally relevant issues, which are directly related to the situation of the local and regional population. […] During the course of the alternative movements of the 1980s, socioculture also established itself in rural areas and has since then been trying to establish contemporary and society-shaping cultural work based on local needs and conditions” (Kegler et al. 2017:22).
In Abgrenzung zur Breitenkultur ist Soziokultur also als inhärent gesellschaftspolitischer zu verstehen, als darauf ausgelegt, möglichst partizipativ und teilhabeorientiert kreative Kulturarbeit zu machen und anzuregen (Kegler 2020). Das ehrenamtlich organisierte und mittels eines Vereins institutionalisierte Festival findet mit Unterbrechungen seit Ende der 1970er Jahre statt. Von Anfang an politisch verstanden, taten sich junge Menschen in einem als sehr konservativ bis politisch rechts empfundenen Umfeld zusammen, um etwas für die Jugend anzubieten. Getreu dem Motto „Nichts los hier. Dann mach selber was" (C2, 24f.). Gegen den Widerstand des Bürgermeisters, der die Verrohung der Sitten unter den Jugendlichen fürchtete, und am ersten Spielort nicht länger geduldet, blieb die Gründungsgeneration beharrlich und baute über die Jahre ein Jazz-, Blues- und mehr-Festival auf, das auch politische Podiumsdiskussionen beinhaltete.
Kulturplanung als Gemeindeplanung
Dass der gezielte Einsatz von Kulturangeboten von der Gemeindeverwaltung als Teil der Gemeindeerneuerung, zur Stärkung der eigenen sozio-kulturellen Identität und zur strukturellen Weiterentwicklung verstanden werden kann (Knaps und Herrmann 2018; Metzendorf 2011), ist im Fall der von uns untersuchten tourenden Musikreihe zu erkennen. Hier setzte die Gemeinde eine Kulturmanagerin ein, die ein neues Konzept zur Integration der unterschiedlichen Gemeindeteile sowie zur Stärkung der nach Corona eingeschlafenen Vereine erstellen sollte. Im dritten Jahr nun treten von der Gemeinde bezahlte Bands an verschiedenen historisch bedeutsamen Orten auf. Ein jeweils dort ansässiger Verein, wie ein Musikverein, ein Sportverein oder ein Dorfförderverein, übernimmt die Patenschaft und Versorgung der Besucher*innen vor Ort mit Getränken und erhält Aufmerksamkeit und die Einkünfte der Gastwirtschaft. Die Bürger*innen sind kostenfrei dabei. Die Kulturmanagerin erklärt die Idee so: „Mit solchen Aktionen und vor allen Dingen mit einem hohen guten Kulturangebot hält man die Leute hier im ländlichen Raum und das ist unsere Herausforderung, dass wir hier nicht komplett veröden, […] dass wir attraktiv bleiben“ (B1, 580ff.).
Überlegungen zur Verortung der vier Fallbeispiele als Soziale Innovationen
Die Formate und Akteur*innen der Fallstudien unterscheiden sich also zumindest graduell in Hinblick auf Gründer*innen, Kulturangebot und Format – warum haben wir sie als potentielle Soziale Innovationen ausgewählt? Eine erste Literaturarbeit gab den Ausschlag: Soziale Innovationen, lasen wir, sind selten etwas absolut Neues, sondern beinhalten häufig Altes, das neu kombiniert wird (Christmann 2020). Für die Auswahl entscheidend war also neben der sozialräumlichen Typisierung nach dem Thünen-Landatlas die Wahrnehmung der Menschen vor Ort: Was gibt es Neues, Anderes, sozial Ausgerichtetes bei euch an Kunst und Kultur? Alle Interviewpartner*innen der vier Fallstudie empfinden ihre Initiative als Novum, als so nicht dagewesen. Warum entsteht Neues vor Ort, was erzählt uns dies von Wandlungsprozessen in Dörfern und damit verbundenen Schwierigkeiten? Das Festival sieht zunächst nach einer Ausnahme aus, besteht es doch fast 50 Jahre. Erfolgreiche Soziale Innovationen, die nicht nach kurzer Zeit in der Versenkung verschwinden, tradieren, sie institutionalisieren. Für uns entscheidend war die Wahrnehmung der Gründer*innen und von Interesse die Fragen: Was geschieht nach der Aufbruchsstimmung? Wie erhält sich eine Neuerung auch nach Jahrzehnten? Eine anschließende Validierung der Beispiele durch unseren critical friend, Institutsleitung einer Forschungseinrichtung zu Sozialen Innovationen, bestätigte die Auswahl.
Unsere Fallbeispiele lassen sich nicht eindeutig dem weiten oder engen Kulturbegriff zuordnen, d.h. weder nur der kulturwissenschaftlichen Ausprägung aller Lebensvollzüge einer Gesellschaft, noch dem reinen hochkulturellen Verständnis von Kunst (Ermert 2009). In den untersuchten Projekten wird gesungen, musiziert und Musik gehört, gekocht, gebacken, gefeiert, geklöhnt und Theater gespielt. Es ist eng verstandene bildende Kunst mit Gemäldeausstellungen und weit gefasstes lokales Brauchtum wie Frühschoppen dabei. Da die Trennlinie gerade in Bezug auf breiten- und soziokulturelle Erscheinungen selten explizit zu ziehen ist (Kegler 2021), und die Frage der Notwendigkeit einer Eingrenzung für eine empirische Anwendung somit in Frage steht, nutzen wir im Weiteren das große Ganze, „Kunst und Kultur“ in offener Auslegung, um den viel verwendeten, wabernden Begriff der Sozialen Innovationen mit Bezug zu Kunst und Kultur zu schärfen.
Hierzu sollen zunächst allgemeine Definitionen und vier Merkmale zur Klassifizierung einer Neuerung als Soziale Innovation vorgestellt und mit Bezug zu den vier Fallbeispielen diskutiert werden.
Beschreibung Sozialer Innovationen allgemein
Klassische Beispiele Sozialer Innovationen sind Carsharing-Angebote, Mikrokredite, Wohngenossenschaften oder die solidarische Landwirtschaft. Ein diffuses, gemeinsames Verständnis herrscht allerorten, wenn der Begriff fällt. Weitergehende Beispiele zu finden fällt oft schwerer oder es stellt sich gar die Frage, ob nicht jede Innovation, die im weitesten Sinne sozial, also auf das menschliche Zusammenleben ausgerichtet ist, oder zumindest auf dieses auswirkt, eine Soziale Innovation ist – wenn der Innovator oder die Forscherin dies so sehen möchte. Oder ob nicht jede Erfindung, die nicht technik-konzentriert ist, sozial ist. Die Abgrenzung technischer von Sozialen Innovationen, so Werner Rammert, sei nie so klar, wie es auf den ersten Blick scheine. So stünden technische Innovationen nicht für sich alleine, sondern bedürfen sozialer Neuerungen, um zu entstehen und sich durchzusetzen. Und andersherum. „So könnte sich eine sogenannte ‚technische’ Innovation bei näherem Hinsehen als eine ‚soziale’ Innovation oder als ein gemischtes Bündel von Innovationen verschiedener Art erweisen“ (Rammert 2010:28). Auch die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft ist sich uneins, was der Begriff genau meint.
Der wohl meist zitierte und bekannteste Soziale Innovations-Forscher in Deutschland, Jürgen Howaldt, beschreibt in Co-Autorenschaft eine Soziale Innovation „as a new combination and/or new configuration of social practices in certain areas of action or social contexts prompted by certain actors or constellations of actors in an intentional targeted manner with the goal of better satisfying or answering needs and problems than is possible on the basis of established practices. An innovation is therefore social to the extent that it, conveyed by the market or ‘non/without profit’, is socially accepted and diffused throughout society or in certain societal sub-areas, transformed depending on circumstances and ultimately institutionalized as new social practice or made routine” (Domanski et al. 2019:6).
Soziale Innovationen sind demzufolge Veränderungen sozialer Handlungen, seien sie aus alten Praktiken neu kombiniert oder gänzlich neu erschaffen.
Das Forschungsprojekt SIMRA (Social Innovation in Marginalised Rural Areas), gefördert vom Europäischen Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 benennt ebenfalls das Umgestalten sozialer Praktiken als Soziale Innovation: Eine Soziale Innovation ist „the reconfiguring of social practices, in response to societal challenges, which seeks to enhance outcomes on societal well-being” – sie führen allerdings eine zwingende Bedingung ein: „and necessarily includes the engagement of civil society actors“ (Polman et al. 2017:4).
Dagegen stellt die Expertenkommission Forschung und Innovation gleich eine Vielzahl scheinbar ebenbürtiger SI-Innovatoren vor und definiert allgemein: „soziale Innovationen als neue individuelle und kollektive Verhaltensweisen sowie Organisationsformen, die zur Lösung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Probleme beitragen und damit einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen. Sie werden von unterschiedlichen Akteuren wie Einzelpersonen, Haushalten, Gruppen und Unternehmen entwickelt. Sie können, müssen aber nicht, mit technologischen Innovationen im Zusammenhang stehen“ (EFI 2024:97).
Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können sei darauf verwiesen, dass zur Beschreibung des Werdegangs Sozialer Innovationen in der Fachliteratur mehrere Prozessstufen unterschieden werden (vgl. EFI 2024; Howaldt et al. 2021). Bezogen auf die untersuchten Fallbeispiele im Projekt SIKUL identifizieren wir drei unterschiedliche Prozessstufen: Wo das Kulturhaus und der Dorfverein gerade erst entwickelt und kurze Zeit getestet sind (Phase 1), befindet sich die Musikreihe im dritten Jahr nach seiner Gründung bereits in Phase 2 (Etablierung), wohingegen das Festival nach vierzig Jahren als tradiert gelten kann (Phase 3).
Vier definitorische Merkmale von Sozialen Innovationen und ihre Anwendung auf unsere Beispiele
Erstens: Das Neue der Sozialen Innovation
Zur Vieldeutigkeit des Begriffes gehört die Frage, was die Neuheit der Sozialen Innovation ist und wie absolut diese verstanden wird. So schreibt Gabriele Christmann, welche ebenfalls zu Sozialen Innovationen in ländlichen Räumen forscht, mit Bezug auf Katrin Gillwald: „Ein zentrales Kriterium für die Bestimmung von Innovationen ist also die Neuheit, und zwar als Bruch mit etwas Gewohntem. Allerdings ist eine Innovation in der Regel nicht etwas zum ersten Mal absolut neu in die Welt Kommendes, sondern eine <<relative>> Neuheit“ (Christmann 2020:229). Nach Katrin Gillwald ist für Soziale Innovationen also eine „relativierte Vorstellung von Neuartigkeit“ sinnvoll, sie spricht von „,anders als bisher`“ und „,in gewisser Weise neu kombiniert`“ anstatt „,absolut neu´“ (Gillwald 2000: 11), beschreibt aber auch die Gefahr der Beliebigkeit, die diese weiche Sichtweise auf das Neue mit sich bringt. Andere Autor*innen sprechen von radikalen gegenüber inkrementellen Neuerungen, also leichten Änderungen des Bestehenden (Vercher 2022). Im Sammelband „Neu! Besser! Billiger“ von Meichenitsch, Neumayr und Schenk (2016) kritisieren die Herausgeber*innen den Anspruch an Entwicklungen, immer neu sein zu müssen und stellen heraus: „Verbessern soziale Leistungen durch ihren Gebrauch das Leben der Menschen, so ist es unerheblich, ob diese im Nachhinein als innovativ tituliert werden […] Das Neue allein ist jedenfalls nicht gut genug. Für Obdachlosenbetreuung, Flüchtlingsarbeit, Pflege oder Bildung ist nicht das Neue, sondern das Bessere entscheidend“ (S. 12).
Unsere Untersuchungsbeispiele Sozialer Innovationen im Bereich Kunst und Kultur sind keine absoluten Neuheiten im Sinne von nie und nirgends dagewesen. Kulturhäuser gibt es bereits andernorts, selbstorganisierte Festivals sind keine Seltenheit, Bürgervereine für die Gemeinschaft eines Stadtteils beispielsweise sind häufig anzutreffen. Für ihren Entstehungsort und -zeitpunkt sind sie eine Neuerung und werden von den Bewohner*innen des Ortes oder im Fall des Festivals von der Region als erstmalig und andersartig als bisher Bestehendes – traditionelle Vereine, Blasmusik, Weinfeste – wahrgenommen (siehe hierzu auch (Müller et al. 2023)). Über ihren gesellschaftlichen Mehrwert hinsichtlich eines „besser als bisher“ ist erst nach einiger Zeit etwas auszusagen (siehe Punkt Normativität).
Zweitens: Die soziale Ausrichtung der Sozialen Innovation
Was genau ist das Soziale im Begriff Soziale Innovation? Welcher Denklogik folgt die Zuschreibung? Meint sozial, A, dass die Innovation ein Produkt eines menschlichen Kollektivs ist, einer sozialen Einheit oder Mehrheit, etwa des notwendigen Einbezugs zivilgesellschaftlicher Akteur*innen? Oder ist, B, die Zielrichtung der Innovation gemeint – dass sie sich auf ein gesellschaftliches Anwendungssetting ausrichtet, wie etwa das gemeinschaftliche Wohnen bei vielen Genossenschaften? Oder ist es, C, normativ gemeint? Die Innovation ist sozial im Sinne von dem Gemeinwohl dienend oder einer in welcher Art und Weise auch immer schwächeren Gruppe? Oder ist sozial einfach das Gegenteil von technischer Innovation und eine Soziale Innovation ein Gegen-Konzept zu technologischer Innovation (Godin 2019), D? Hier gibt es auch keine eindeutigen Antworten.
Für die Fallbeispiele entscheidend ist aus unserer Sicht, dass sie Logik A folgend, unter Einbezug weiter sozialer Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, das heißt sowohl Kommunalverwaltung als auch Zivilgesellschaft, für Bürgerinnen und Bürger entstanden sind und dass sie nach Logik C einen normativ verstanden sozialen Mehrwert haben. Sprich, keine rein kommerziellen Produktinnovationen sind oder nur einem Individuum einen Vorteil bringen, sondern ein konkretes sozial verortetes Problem angehen möchten: die oft fehlende Möglichkeit von Bürger*innen in ländlichen Räumen, Gemeinschaft im Dorf zu erleben, wenn traditionelle Orte des Zusammenkommens ausbleiben – so wie es auch im Soziale-Orte-Konzept aus anderen Fallregionen herauskristallisiert wurde (Kersten et al. 2022). Wir schließen uns hiermit also der These Elmar Schülls an, der die sozial-normative Ausrichtung einer neuen Initiative als notwendige Bedingung für ihre Klassifikation als Soziale Innovation sieht (Schüll 2022).
Drittens: Intentionalität
In der Forschung gibt es widersprüchliche Meinungen zur Intentionalität Sozialer Innovationen. Einige Definitionen nehmen eine gewisse Planbarkeit der Neukonfiguration mit auf (Schwarz et al. 2010; Domanski et al. 2019). So schreiben Schwarz et al. von „intentionaler, zielgerichteter Neukonfiguration sozialer Praktiken“ (2010174). Andere lehnen dies dezidiert ab: “While intentionality may be part of the network building that seeks to enhance outcomes on societal well-being, and underpins SI at later stages in the realisation of the “project”, it cannot be seen as a defining characteristic in the beginning” (Polman et al. 2017:11).
Für unsere Initiativen gilt, dass die Akteur*innen motiviert waren, soziale Problemlagen zu lösen und sie aktiv anzugehen. Aus unserer Sicht zu berücksichtigen ist bei der Frage nach der Intentionalität aber die persönliche Motivation der Beteiligten sowie das Unvorhersehbare, das nicht zu Planende, der Zufall: So hatte beispielsweise eine junge Mutter im Ort das Bedürfnis, mit anderen Eltern und Kindern zusammenzukommen und den Nachmittag nicht alleine zuhause zu verbringen. Ihr Wunsch war ein offener Raum mit kreativem Angebot, außerhalb der eigenen vier Wände. Ähnliche Einzelmotivationen standen bei den anderen Gründer*innen im Vordergrund – eingebunden sind diese Beweggründe aber natürlich in eine soziale Problemlage. Der Kontext ist der oben beschriebene demografische Wandel im Dorf und die Leerstelle eines Sozialen Ortes im Dorf. Zudem spielte der Zufall bei der Entstehung des Kulturhauses eine große Rolle. So ging seiner Entstehung beispielsweise ein jahrzehntelanger Dorfentwicklungsprozess voran, in dessen Zuge mehrfach die Einrichtung von Gemeinschaftsräumen gefordert und wieder verworfen wurde. Ein Jahr vor Gründung des Cafés dann zog der Mieter der Räumlichkeiten aus und Bürger*innen und Gemeinderatsmitglieder griffen zu und überführten sie der gemeinschaftlichen Nutzung. Nun stellt die Gemeinde den Raum kostenfrei zur Verfügung. Auch im Fall des Dorfvereins waren Überlegungen aus einem Dorfentwicklungskonzept zur Aufwertung des Gemeindelebens jahrelang im Sande verlaufen. Erst die starke Eigenmotivation einiger Weniger sowie die große Unterstützung hinsichtlich Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsorganisation durch eine Angestellte in der Kulturverwaltung der Gemeinde gaben den Anstoß zur Umsetzung eines konkreten Projekts. Eine entsprechende Offenheit in Bevölkerung und Verwaltung sind demnach nötig, Innovationen zu verwirklichen (Mayer und Woltering 2024). Glasklar intendiert, geplant und durchgeführt waren diese Sozialen Innovationen in ihrer Erscheinung also nicht. Allen geht ein langer Prozess voraus, auf den viele Unwägbarkeiten einwirkten. Wir schließen uns daher wiederum Schüll (2022) an und sehen eine relative Intentionalität, die durch die Motivation von Ehrenamtlichen, aber auch die unterstützende Kraft der Kommunalverwaltung postuliert ist und das Entstehen Sozialer Innovationen wahrscheinlicher macht.
Viertens: Normativität hinsichtlich Verbesserung und Wirkung
Spricht die Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen Sozialen Innovationen die Kapazität zu, positiv auf eine resiliente, zukunftsfähige und nachhaltige Gesellschaft einzuwirken (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) 2023), so wird ihnen damit ein gesamtgesellschaftlicher Wert beigemessen und damit unserer Logik C) gefolgt. Soziale Innovationen sind demnach gut für viele, sind wertvoll an sich und leisten Verbesserungen, die andere Ideen oder technische Innovationen nicht leisten oder leisten konnten. Hofbauer kritisiert diesen Wertbezug und fragt nach den Autoritäten der Inwertsetzung: „Wer entscheidet, was besser ist und wann der Status des ,wertvollen Anderen` erreicht ist?“ (Hofbauer 2016:12). Wenn der Gedanke weitergeführt wird, so könnte es hierbei nicht nur um Nutzen für die einen und Nicht-Nutzen für die Anderen gehen, sondern vielleicht sogar um eine Schädigung der anderen: „However, because of their social nature, social innovation processes might be beneficial to some, while they might lead to disadvantages to others or exclude some social actors from the process” (Ammaturo und Schmidt 2024). Die große Leere, die die Nicht-Besucher-Forschung (Renz 2016) in puncto Teilhabe füllen möchte, sei hier ergänzend erwähnt. Wer partizipiert denn eigentlich nicht und aus welchen Gründen?
Benoît Godin macht klar, dass die uneingeschränkt positive Bewertung von Innovationen als besser als Bestehendes und unbedingt anzuwenden gerade auch im akademischen Diskurs zu hinterfragen ist: „Being critical means: […] Questioning our representation of innovation, especially when it is called an ´alternative´ representation, and asking to what extent our assumptions are normative and performative. Placing innovation as a solution into balance with other possible (but less fashionable) means to achieve ´progress´. Innovation may appear to not always be the best solution.” (Godin 2019:15)
Unsere Fallbeispiele werden von ihren Träger*innen als Möglichkeit der Verbesserung eines bestehenden Mangels – Möglichkeiten zusammenzukommen – verstanden. Die Perspektive ist hiermit auf die Ideengeber*innen, Unterstützer*innen und Nutzer*innen verengt. Wie die Beispiele in den Augen ihrer Nicht-Besucher*innen oder auch expliziten Kritiker aussehen oder auch nach jahrelanger Existenz und gegebenenfalls Transformation, wird und kann mit unserem Forschungssetting nicht wahrgenommen werden. Hiermit kommen wir auch zur Frage der Wirkung Sozialer Innovationen und den Schwierigkeiten, die mit dem Versuch, ihre Auswirkungen zu erfassen, verbunden sind:
Zur Frage der Wirkung Sozialer Innovationen – Schwierigkeiten der Wirkungsmessung
Die Narrative um Soziale Innovationen sind verführerisch: Kleine Ideen von engagierten Einzelpersonen oder Gruppen skalieren sich zu Bewegungen, die sich positiv auf Mensch und Umwelt auswirken. Doch auch wenn die Forschung zu Sozialen Innovationen in den letzten Jahren weiter fortschreitet, bleibt die Analyse ihrer tatsächlichen Wirkungen recht vage und wenig behandelt, was unter anderem an fehlenden oder nur schwer vergleichbaren Konzeptualisierungen des Begriffs liegt (Weber et al. 2024).
In der Evaluation von Wissens- und Technologietransfer allgemein wird zwischen Input und Output und dem Outcome und Impact einer Aktivität unterschieden. Daldrup et al. (2022) beziehen sich in ihrer Differenzierung dieser Dimensionen auf weitere Autor*innen und beschreiben als Input „alle finanziellen und Sachressourcen“ (S. 6), die in ein Projekt gegeben werden, als Output „das direkte Produkt“ (ebd.), wie zum Beispiel eine Erfindung oder die Feste, die der Dorfverein veranstaltet. Die Autor*innen beschreiben als Outcome oder direkte Wirkung einer Aktivität den Mehrwert, den diese für die Zielgruppe(n) oder die Stakeholder bietet. In unserem Fall wären das beispielsweise die Vernetzungsmöglichkeiten, die sozialen Beziehungen, die sich aus der Teilnahme an einer kulturellen Aktivität für die Besucher*innen ergeben. Als Impact oder indirekte Wirkung soll analysiert werden, welche Veränderungen die Transferaktivität für weitere Teile der Gesellschaft, zum Beispiel in der Region oder auch für die nationale Ebene mit sich bringt. Ein größeres Gemeinschaftsgefühl innerhalb eines Ortes könnte beim Kulturhaus die Folge sein, was wiederum Menschen dazu bewegt, vor Ort wohnen zu bleiben oder zurückzukehren. Negative, unvorhersehbare Effekte wie die Verdrängung andere Kulturprojekte aber auch.
Ammaturo & Schmidt (2024) setzen den Inwertsetzungs-Moment schon vorher an und stellen fest, dass bereits vor der eigentlichen Umsetzung einer Aktivität oder Anwendung einer Neuerung, im kollektiven Aushandeln seines Entstehens, Reflektierens und Diskutierens Mehrwerte geschaffen werden. Hierzu gehört, dass die Ideengeber*innen von Beginn an ihren Anspruch an das Produkt kritisch reflektieren und ihm damit Wert zuschreiben – Vorgänge, die auf individueller Ebene schon auf ländliche Entwicklung einwirken können (Ammaturo und Schmidt 2024).
Das aktuelle vom BMBF geförderte Projekt „Impact Sozialer Innovationen (ISI)“ (2022-2024) um Georg Mildenberger und Filip Zieliński entwickelt neben einer ausdifferenzierten Sozialen Innovations-Definition ein Instrument zum Wirkungsmonitoring Sozialer Innovationen. Auch hier liegt eine Grundproblematik darin, Soziale Innovationen von anderen Innovationsformen abzugrenzen (Zielinski et al. 2023). Die Ergebnisse bleiben dabei bislang aber primär auf der theoretischen Ebene und haben weniger praktischen Anwendungsbezug (Zielinski et al. 2024).
Wie sieht es um die Erreichung der sozialen Absicht, um die gewünschte und mitlaufende Wirkung unserer Fälle aus? Im weiteren Forschungsverlauf werden wir uns auf die tradierte Soziale Innovation, das Festival, konzentrieren, um zu erfahren, wie sich diese Kulturinitiative auf die beteiligten Akteure (Gründer*innen, Vereinsmitglieder, Unterstützende) auswirkt und welche Netzwerke sie in die Region herein gebildet hat (nähere Überlegungen zur Methodik entnehmen interessierte Leser*innen bitte dem Forschungsbericht).
…und die Kultur? Was beschreiben Kulturakteur*innen als das spezifisch Kulturelle Sozialer Innovationen in den untersuchten Fallbeispielen?
Unsere vorhergehenden definitorischen Überlegungen sind auch auf andere Soziale Innovationen, die nicht im künstlerisch-kulturellen Milieu verortet sind, anzuwenden. Was also macht das spezifische Kulturelle dieser Beispiele aus? Die Initiator*innen der Kulturinitiativen bedienen sich Kunst und Kultur aus drei miteinander verwobenen Gründen.
Zum einen schreiben sie Kunst und Kultur im weitesten Sinne demokratische Eigenschaften zu. Das heißt, sie sind niederschwellig zugänglich, für Besucher*innen kostenfrei und eingängig, und damit teilhabeorientiert. Künstlerisch-kulturelle Praktiken resonieren in Menschen: Mit ihnen, so die Annahme der interviewten Akteure, erreiche man möglichst viele Bürger*innen der Ortsgemeinde mit dem Ziel, das Gemeinschaftsgefühl zu verbessern. Gemeinsam, in der Gruppe künstlerisch aktiv sein, zu schnitzen, zu kochen, zu singen, oder auch nur passiv zu partizipieren, verbinde Bürger*innen. Musik, so beispielsweise die Kulturmanagerin der Musikreihe, sei nicht erklärungsbedürftig, „Musik geht immer" (B1, 315).
Gerade in ländlichen Räumen, so ein Gründer des Kulturhauses, die von antidemokratischen Kräften bedroht seien und in ihrem Landkreis erstarkten rechte Kräfte, brauche es „offene und vielfältige Angebote, die undemokratische Dinge ausschließt“ (A2, 217). Das Kulturleben wird hier als ein stabilisierender Faktor für eine offene, demokratische Gesellschaft verstanden. Ähnlich empfunden wird es von den Mitgliedern des Festivalvereins, welches sich in den 1970er Jahren auch dezidiert gegen rechtes Gedankengut in der Region richtete „[Der Ort] hatte schon vor ´33 extrem hohe NSDAP-Werte bei den Wahlen und […], der Wunsch war drängender, der Wunsch anders zu sein und sich von den Eltern zu distanzieren“ (C3, 126f.). Kultur, so ein anderes Mitglied, ermögliche dabei, „einen anderen Blick auf die Welt zu haben“ (C1, 804f.) und damit Widerstand.
Ergänzend dazu spielt die eigene Leidenschaft für Kunst und Kultur bei den Gründer*innen eine große Rolle. So durchzieht das Musizieren das Leben eines Vereinsmitglieds und Sängers, der das Festival seit Jahrzehnten begleitet. Auch im Member Checking (Birt et al. 2016), also der Rückmeldung der Interviewpartner*innen zu unseren ersten Analyseergebnissen, wurde dies nochmals hervorgehoben: „Aber der Selbstzweck/das Eigeninteresse scheint mir für die eigene Motivation ebenso wichtig. Vielleicht machen wir das als Kunstschaffende auch trotzdem vor allem für uns, weil wir eine Kulturlandschaft oder in unserem Fall einen Raum haben wollen […] weil es ihn noch nicht gibt, schaffen wir ihn für uns und für andere“ (Interviewpartnerin, Member Checking 2024).
Fazit: Perspektive der ländlichen Kulturforschung auf den Begriff der Sozialen Innovation im Bereich von Kunst und Kultur
Im vorliegenden Beitrag haben wir uns dem viel untersuchten, doch diffusen Begriff der Sozialen Innovation aus der Perspektive der ländlichen Kulturforschung angenähert, seine unterschiedlichen Dimensionen diskutiert und mit den empirischen Befunden und Erfahrungen aus unseren Fallstudien verknüpft. Unser Begriffsverständnis von Sozialen Innovationen im Bereich von Kunst und Kultur lässt sich danach wie folgt definieren:
Von den beteiligten Akteuren (Gründer*innen, Aktive und Unterstützer*innen) als lokal neu und anders wahrgenommene Initiativen, die auf ein konkretes sozial verortetes Problem abzielen und damit einen gesellschaftlichen Mehrwert jenseits kommerzieller und individueller Interessen und Nutzen beabsichtigen: Die Akteure können aus der Bürgerschaft, aber auch aus der Verwaltung kommen. Soziale Innovationen im Bereich Kunst und Kultur bedienen sich künstlerischer-kultureller Mittel, a) um durch die integrative Funktion von Kunst und Kultur breite gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und b) um des Werts der Kunst und Kultur selbst. Soziale Innovationen in Kunst und Kultur sind nicht vollständig planbar, der Zufall spielt eine Rolle in ihrem Entstehen. Doch politisch beeinflussbare Strukturen wie kostenfrei bespielbare Räume oder aktiv eingesetzte Kulturbeauftragte machen ihr Entstehen wahrscheinlicher.
Cui bono? Ausblick für Forschung und Praxis
Wir hoffen, mit dieser sicher auch allgemeinen Definition einen Aufschlag gemacht zu haben, der anderen Forscher*innen und Akteuren der Praxis der Kulturellen Bildung nutzt, bereits bestehendes Wissen um Gelingensbedingungen Sozialer Innovationen in Kunst und Kultur unter einem Term zu bündeln und Neues zu ergänzen: Warum bedienen sich Kulturakteure anderer, neuartiger Formen als bisher? Welche gemeinsamen, aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen verbergen sich dahinter? Welche Partnerschaften von Bürger*innen und Kulturverwaltungen sind denkbar? Und welche Zukunftsideen vom guten Leben für alle (vgl. Reinwand-Weiss 2012/2013) werden in ihnen sichtbar?
Gleichwohl wir die allgegenwärtige Verwendung des Begriffs Soziale Innovation und vorauseilende positive Bewertung, ohne Wissen um Wirkung, kritisieren möchten, kann der Begriff für Forschende eine Brille sein, vielfältige neue Kreativorte und -erlebnisse auf dem Land, aber nicht nur dort zu betrachten und sich den unterschiedlichen Phänomen strukturiert anzunähern. Praktiker*innen der Kulturellen Bildung könnte das im Projekt SIKUL erarbeitete Begriffsverständnis helfen, weitere Fördermöglichkeiten, die der Sozialen Innovationen, mitzudenken und zu akquirieren. Die zusammenfassenden Publikationen zu öffentlich geförderten Land-Forschungsprojekten betonen die Bedeutung von neuartigen, offenen Kulturinitiativen für die Kulturelle Bildung, soziale Dorfentwicklung und damit Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse von Stadt und Land und dies schon seit Jahren. Hierzu gehören beispielsweise die Ergebnisse der vom BMEL geförderten Projekte „LandKULTUR: kreativ und engagiert“ (BMEL 2024b), „Hauptamt stärkt Ehrenamt“ (BMEL 2024c), „Soziale Dorfentwicklung stärken“ (BMEL 2023) oder das im Rahmen des vom BMBF geförderten Forschungsprojekts „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“ jüngst erschienene Policy Paper (MetaKlub 2024). Es ist klar, dass Kulturinitiativen auf dem Land vom Engagement der Bevölkerung leben – gleichwohl braucht es für ihr Entstehen und Bestehen kulturpolitisch gewährleistete Strukturen wie öffentliche Räume (siehe: Maria Rammelmeier „Freiwilliges kulturelles Engagement in ländlichen Räumen“), nachhaltige und prozessorientierte Finanzierung (Kolleck/Yildirim 2024; BMEL 2024a) und eine breit verstandene kulturelle Infrastruktur mit regionalen Kulturbüros und Kulturverwaltungen der Landkreise und Kommunen (Wingert et al. 2023; Siehe: Maria Rammelmeier „Regionales Kulturmanagement“). Eine weiter ausgearbeitete Definition von Sozialen Innovationen in Kunst und Kultur, die für viele Anwendungsfelder nutzbar ist, kann Träger- und Förderstrukturen sichtbar machen, problematisieren und konstruktiv anders denken. Dies könnte dazu beitragen, Einzelaspekte kultureller Bildung in übergreifende gesellschaftspolitische Diskurse einzubinden – so wie auch im Beitrag von Kerstin Hübner (2023) (siehe: Kerstin Hübner: „Partizipation und Teilhabe“) hier auf kubi online gefordert. Kulturelle Bildung kann, wie es unsere Initiativen beabsichtigen, ein Standbein gegen rechte Eingriffe in strukturell benachteiligten ländlichen Regionen sein. Sie muss aber politisch stabilisiert sein und darf nicht auf dem Ehrenamt allein beruhen (siehe hierzu auch den Artikel von Nils Zimmer und Felica Selz: „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen – Impulse aus der kritischen Raum- und Landforschung“). Soziale Innovationen entstehen nicht nur, aber auch durch Zivilgesellschaft; ihr Gelingen und langfristiges Bestehen braucht aber die politisch gewährleisteten Strukturen (siehe auch Schubert 2018).
Denn, wenn „Politik und staatlichen Entscheidungsinstanzen tatsächlich daran gelegen ist, gleiche Bildungschancen herzustellen, […], dann sind diese auch darauf hinzuweisen, dass sie es sind, die strategisch Einfluss auf gesellschaftliche Felder nehmen“ (Aderhold 2016).