Singen als Musizierform in der Ästhetischen Praxis: Verortung, Spezifika und Anwendungsmöglichkeiten
Abstract
Singen ist eine aktive Musizierform, bei der keine zusätzlichen Hilfsmittel notwendig sind: Der eigene Körper wird zum vielfältig einsetzbaren Instrument. Fast alle Menschen können problemlos singen. Singen ist somit eine nahezu ideale Form des Musizierens im Rahmen Ästhetischer Praxis.
Singen können fast alle Menschen überall. Singen ist unvergleichbar vielseitig, die stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten sind nahezu uneingeschränkt: Die Stimme kann melodiös klingen, schnarren, knarzen, instrumentale Klänge oder Geräusche imitieren. Es kann mit spezifischer Technik sogar Mehrstimmigkeit hörbar gemacht werden. Zum Singen braucht es keine externen Hilfsmittel, Instrumente oder Materialien, die Tonproduktion erfolgt mittels des eigenen Körpers. Singen ist für viele Menschen außerdem eine bedeutungsvolle Form des Musizieren: Als Singen in verschiedenen Lebensphasen von besonderer Relevanz ist – von der Kindheit bis in die Hochaltrigkeit, so dass Singen bei vielen Menschen an bereits bestehende Singerfahrungen anknüpft. Unter spezifischen Voraussetzungen können sich beim Singen zahlreiche Transfereffekte in außermusikalische Bereiche hinein ergeben, die für die Singenden wertvoll sein können.
Ästhetische Praxis, ist ein Teilbereich innerhalb der Tätigkeitsfelder Sozialer Arbeit: Es geht um praktisches Tun, das Wahrnehmungserfahrungen ermöglicht und alle Sinne anspricht. Ästhetische Praxis macht sich künstlerische Praktiken als Mittel zur Kommunikation zu eigen und reicht somit über die Möglichkeiten einer verbalen Kommunikation hinaus. Ästhetische Praxis kann zu Bildungsprozessen führen (vgl. Heß 2018:181) und kulturelle Teilhabe ermöglichen. Aufgrund der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten ist die Musizierform Singen hervorragend für eine Ästhetische Praxis geeignet.
Einführung: Singen
Singen kommt in menschlichen Kulturen ein besonderer Stellenwert zu: Singen gilt als erste und ursprünglichste musikalische Ausdrucksform der Menschen, die dem instrumentalen Musizieren bzw. der Entwicklung von Instrumenten vorausgegangen ist (vgl. Gembris 2017:11). Singen wurde im Laufe der Geschichte ohne Unterbrechung zu allen Zeiten praktiziert. Singen stellt somit eine anthropologische Konstante dar (vgl. Neus 2017). Der Musizierform Singen kann eine existentielle Bedeutung für Menschen zugesprochen werden.
Die ungebrochene Beliebtheit der Musizierform Singen im 21. Jahrhundert lässt sich an verschiedenen Aspekten ablesen: Zum einen werden die positiven Auswirkungen des Singens in zahlreichen Projekten wie „Jekits“ in Nordrhein-Westfalen, „Starke Kinderstimmen“ in Bonn oder „Singpause“ in Düsseldorf hervorgehoben und es singen unzählige Menschen in Chören. Zum anderen erfreut sich Singen eines großen Anklangs. Fast alle Musik im Populärbereich hat eine Gesangsstimme und auch das aktive Singen ist beliebt: Singen kann in unterschiedlichen Settings praktiziert werden. Es kann chorisch, solistisch bzw. solistisch mit instrumentaler Begleitung gesungen werden und es kann ohne spezifische Voraussetzungen und Vorkenntnisse in der Gruppe gesungen werden (Gruppensingen). Die Stimme ist jederzeit verfügbar und das am häufigsten genutzte Kommunikationsmittel des Menschen (vgl. Minkenberg 2004:103). Bis auf wenige Ausnahmen verfügen alle Menschen über die grundsätzliche Möglichkeit, mit ihren Stimmlippen unter Zuhilfenahme der Atmung Töne zu produzieren und somit zu singen – nur wenige Menschen können aufgrund ihrer individuellen körperlichen Voraussetzungen nicht singen wie etwa bei Menschen mit Locked-in-Syndrom oder bei Menschen im Wachkoma.
Singen wird in allen Kulturen praktiziert. Da in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich gesungen wird, hat im interkulturellen Kontext insbesondere der Begriff Singpraktiken Bedeutung. Beispiele für Singpraktiken außerhalb des deutschsprachigen Kulturraums sind das vokale Musizieren von Menschen in Zentralafrika oder das vokale Musizieren im Rahmen der Peking-Oper (vgl. Neus 2017:44).
Innerhalb des deutschsprachigen Kulturraums ist Singen ebenfalls ein Sammelbegriff für vielfältige Erscheinungsformen vokaler Äußerungen. Hierzu gehören
- das sogenannte „klassische“ Singen
- der Pop-Gesang
- der Musical-Gesang, einschließlich der spezifischen Technik des „Belten“
- das chorische Singen
- der sogenannten „Schreigesang“ im Heavy Metal.
Für diese vokalen Äußerungsformen lassen sich kaum gemeinsame, verbindliche Merkmale finden. Die Entscheidung, ob eine vokale Äußerung als Singen bezeichnet werden kann, hängt vor allem mit den eigenen kulturell erlernten Kategorien zusammen (vgl. Seibt/Hamsch 2017). Eingedenk dieser Überlegungen meint Singen im Rahmen dieses Beitrags vokales Musizieren in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Unter „Musizieren“ kann die Aneinanderreihung verschiedener Schallerzeugnisse unter ästhetischen Gesichtspunkten verstanden werden. „Vokal“ meint dabei die praktische Verwendung der menschlichen Stimme.
Unterschieden wird zwischen Singen und Gesang: Singen meint einen Prozess, der als eine „ursprüngliche und natürliche Ausdrucksform, Ausdrucks- und Kommunikationsmittel“ (Jank 2008:324) verstanden wird. Gesang hingegen wird ein (Aus-)Bildungsanspruch zugeschrieben. Die Entwicklung gesanglicher und gestaltender Fähigkeiten und die Auseinandersetzung mit ästhetischen Aspekten sei dieser Musizierform eigen (vgl.Neus 2017).
Beim Singen im Kontext der Ästhetischen Praxis geht es insbesondere um zwischenmenschliche Kommunikation sowie darum, allen Menschen die Möglichkeit einzuräumen, voraussetzungsfrei und niederschwellig zu musizieren. Im Folgenden steht das Singen als Gegenstück zum hochkulturell konzipierten Gesang im Mittelpunkt der Überlegungen.
Spezifika für Singen im Kontext von Ästhetischer Praxis
Der Begriff ‚Ästhetik‘ stammt von dem altgriechischen Wort ‚Aisthesis‘ ab. ‚Aisthesis‘ lässt sich mit ‚Wahrnehmung‘ oder ‚Empfindung‘ übersetzen. Als Folge dessen geht es bei einer Ästhetischen Praxis um praktisches Tun, durch welches das Wahrnehmungserfahrungen ermöglicht werden. Die Sinne werden auf ganzheitliche Weise angesprochen: als spielerische, ergebnisoffene, anregende, experimentelle Prozesse und Tätigkeiten im Umgang mit künstlerischen Materialien oder künstlerischen Praktiken. Wie bereits dargestellt, steht außerdem der Aspekt der non-verbalen Kommunikation im Vordergrund: Ermöglicht werden spezifische Erfahrungen, die bei der Bewältigung des Alltags hilfreich sein und die Lebensqualität erhöhen können.
Ästhetische Praxis ist ein Teilbereich der Sozialen Arbeit; Angebote im Bereich der Ästhetischen Praxis können folglich unter anderem für die Zielgruppen der Sozialen Arbeit konzipiert und durchgeführt werden (vgl. Lätzer 2019). Singen birgt die Möglichkeit der non-verbalen Kommunikation und kann als ein Medium zum wechselseitigen Beziehungsaufbau und zur Beziehungsgestaltung wirken (vgl. Hartogh/Wickel 2004:5): Eine Kontaktaufnahme zwischen den Singenden und/oder den Zuhörenden kann ohne Sprache erfolgen. Beim Singen wird aufeinander gehört, gemeinsam geatmet und es erfolgt ein wechselseitiges Aufeinander-Einstellen um beispielsweise eine gemeinsame Tonhöhe, eine Konsonanz – aus dem lateinischen: ‚con‘ für zusammen und ‚sonare‘ für klingen – oder einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Beim Singen kann so eine besondere Qualität der Kommunikation entstehen, die teilweise aufgrund von gesellschaftlichen Vorgaben, der individuellen Sozialisation oder der individuellen stimmlichen (Un-)Möglichkeiten – beispielsweise bei körperlich oder psychisch beeinträchtigten Menschen – auf sprachlichem Weg nicht möglich ist. Zwar ist Singen in der Regel eine Form des Musizierens unter Nutzung von Sprache, doch können sich die beschriebenen Aspekte der non-verbalen Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung zweifelsfrei beim Singen jenseits des gesungenen Textes vollziehen.
Singen muss im Zusammenhang mit Ästhetischer Praxis analog zu dem weit gefassten Musikbegriff von „Musik in der Sozialer Arbeit“ gedacht werden: Musik wird hier nicht als Erzeugnis einer Hochkultur verstanden, sondern jeder Mensch wird entsprechend seiner individuellen Möglichkeiten als musikalisch begriffen (vgl. Hartogh/Wickel 2004:45). Musik wird als eine individuelle, persönliche Ausdrucksmöglichkeit betrachtet, die allen Menschen möglich ist und offensteht. An diese Denkfigur anknüpfend kann einerseits jeder Mensch als singfähig verstanden werden und andererseits jede vokale Äußerungsform Singen sein, wenn sie durch den*die Singende*n als Singen gedacht wird und/oder von den Zuhörenden als Singen aufgefasst wird. Dass Singen in diesem Zusammenhang an kein spezifisches Genre gekoppelt ist, versteht sich als Folge der vorangegangenen Überlegungen nahezu von selbst.
Im Rahmen der Ästhetischer Praxis findet Singen idealerweise unter spezifischen Voraussetzungen statt, die sich von traditionellen künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Settings unterscheiden:
- Singen bzw. Singangebote sind in der Regel voraussetzungsfrei konzipiert. Alle Menschen können teilnehmen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Einkommen, (musikalischer) Bildung und (musikalischen) Vorerfahrungen, ethnischem Hintergrund sowie unabhängig von individuellen Möglichkeiten des Selbstmanagements wie Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit etc.
- Beim Singen steht eine Prozessorientierung im Mittelpunkt: Es geht vordergründig um das Erleben des gemeinsamen vokalen Musizierens und erst in zweiter Instanz um musikimmanente Ziele wie dem Erlernen von stimmtechnischen Aspekten, der Befähigung zum bewussten Umgang mit Musik, die Verbesserung von rhythmischen, harmonischen, melodischen und interpretatorischen Fähigkeiten.
- Es wird unter der Anleitung einer gesanglich und gesangspädagogisch geschulten Person gesungen. Trotz der geschilderten Prozessorientierung sind die klanglichen Ergebnisse keineswegs unbedeutend. Einerseits kann sich die persönliche Ausdrucksfähigkeit der Teilnehmenden nur dann entfalten, wenn sie die Möglichkeit haben, Einfluss auf die Klänge zu nehmen und diese ihrem eigenen Empfinden nach entsprechend zu modifizieren. Andererseits musizieren die meisten Menschen deswegen gern, weil ihr sängerisch-musikalisches Tun darauf abzielt, ansprechend zu sein (vgl. Grosse 2016). Um diesen klanglichen Anforderungen gerecht zu werden, braucht es eine stimmlich und musikalisch geschulte Person, die sensibel zwischen individuellen Möglichkeiten und musikalischen Zielen abwägen und vermitteln kann. Geeignet sind stimmlich (aus-)gebildete Sozialarbeiter*innen und insbesondere Gesangspädagog*innen. Sie haben gelernt, spontan zu arrangieren, Singende (Gruppen) musikalisch zu begleiten, Improvisationen zu steuern, musikalische oder gesangstechnische Impulse zu geben und selbst innerhalb der Gruppe engagiert und motivierend zu musizieren. Durch die Abkehr von den Zielen des traditionellen Gesangsunterrichts sind eine Nähe zur Elementaren Musikpädagogik und die Verknüpfung von Musik und Bewegung hilfreich.
- Es herrscht eine fördernde, wohlwollende und wertschätzende Atmosphäre und es wird nach Möglichkeit auf spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der Singenden mit ihren gesanglich-musikalischen Möglichkeiten Rücksicht genommen. Andernfalls wirkt Singen auf andere Weise: Das Bloßstellen von einzelnen Singenden wie etwa „Brummern“ (Singende, die sich nicht dem Gesamtklang und der Melodie anpassen können und „brummen“), die Einforderung von stimmlicher Leistung (insbesondere bei der kulturellen Hochform von Singen, dem Gesang) und der Verlust der Freude am Singen etwa durch das Herausstellen von stimmlichen Mängeln oder die Erzeugung eines Leistungsdrucks kann die positiven Wirkweisen des Singens ins Gegenteil umschlagen lassen. Auch eine Überforderung einzelner kann eine Störung der Singfreude bewirken: Wenn beispielsweise ein Kind eine solistische Rolle bei einem Kinder-Musical übernehmen soll, ohne dass das Kind professionell angeleitet wird, kann eine nachhaltige Scheu vor dem Singen und vor der eigenen Stimme entstehen.
Transfereffekte: Außermusikalische Aspekte, die sich durch Singen ergeben
Musik werden zahlreiche Effekte zugeordnet, die in außermusikalische Bereiche hineinreichen. Christian Rittelmeyer spricht in diesem Zusammenhang von Transferwirkungen oder -effekten (vgl. Rittelmeyer 2012). Im Zusammenhang von Singen und Lebensqualität können allerdings viele Studien aufgrund der konzeptuellen Vielfältigkeit nicht miteinander verglichen werden (vgl. Neus 2017:13). Verbindliche Aussagen zu den Transfereffekten des Singens und insbesondere zu den Auswirkungen des Singens auf die Lebensqualität können aus diesem Grund derzeit nicht getroffen werden.
Allerdings gibt es Studien zu Transfereffekten von Musik im Allgemeinen. Da Singen als eine Form des Musizierens oder als ein „Modus von Musik“ (vgl. Neus 2017) betrachtet werden kann, werden im Folgenden Transfereffekte auf Singen übertragen, die Musik im Allgemeinen zugeordnet werden. Durch Singen können folgende Transfereffekte erzeugt werden:
- Singen kann Differenzerfahrungen entstehen lassen. Es können eingefahrene Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster aufgebrochen, überdacht und umstrukturiert werden (siehe: Ursula Brandstätter: Ästhetische Erfahrung).
- Singen kann zur Steigerung des Selbstwertgefühls führen.
- Singen kann eine Verbesserung sprachlicher und motorischer Fähigkeiten zur Folge haben. Kinder profitieren insbesondere vom Singen bei der Sprachanbahnung (vgl. Kreutz 2014:58).
- Singen kann zur Veränderung des Sozialverhaltens beitragen.
- Singen kann ein intensives Erleben eines spezifischen Körpergefühls bewirken.
- Singen kann Konfliktfähigkeit trainieren (vgl. Kapteina/Kröger 2004:429 und Wickel 2004:437).
- Singen fördert die „Sensibilität bei der Identifikation emotionaler Botschaften in der sprachlichen Kommunikation“ (Rittelmeyer 2012:49), was die zwischenmenschliche Kommunikation und die Beziehungsgestaltung wesentlich erleichtert.
- Singen kann als Bewältigungsstrategie für herausfordernde Situationen und individuelle Zustände des Befindens genutzt werden (vgl. Adamek 1996:199 ff). Singen kann somit zum geistigen und körperlichen Wohlbefinden und somit zur Gesundheit beitragen. Die für das Singen notwendige Tiefenatmung kann entspannende und befreiende Wirkung entfalten. Studien belegen, dass Singen positiv auf Körperhaltung und auf Herz- und Immunsystem einwirken kann (vgl. Kreutz 2014:106). Singen wirkt außerdem altersbedingten Veränderungen am Kehlkopf und an den Stimmlippen entgegen und stärkt bzw. erhält die Lungenfunktion (vgl. Kreutz 2014:130 und Koch 2017:121).
Über diese Transfereffekte hinaus können Singen weitere Wirkweisen zugeordnet werden. Wie oben bereits beschrieben, enthält Singen im Vergleich zu instrumentalem Musizieren die Besonderheit der Tonproduktion mit der eigenen Stimme, dem eigenen Körper. Insbesondere bei Amateursänger*innen sind die beim Singen musizierten Töne noch enger mit dem situativen Befinden und den individuellen Umständen verbunden, als es bei instrumentalem Musizieren der Fall ist. Singen ist somit ausgesprochen nah an der persönlichen Existenz (vgl. Gembris 2017:12). Der Musikwissenschaftler Gunther Kreutz fasst diese Besonderheiten des vokalen Musizierens folgendermaßen zusammen: „Jeder Mensch hat eine einzigartige, unverwechselbare Stimme. Sie verrät erstaunlich viel über die eigene Person wie das Geschlecht, das ungefähre Alter, den momentanen Gemütszustand, die Herkunftsregion, aber auch die momentane psychische und körperliche Befindlichkeit des Menschen“ (Kreutz 2014:29).
Tatsächlich verändert sich der Klang einer (Sing-)Stimme bei Glücksgefühlen, Schlafmangel, Unlust, Überanstrengung oder ähnlichem (vgl. Maier 2017:263): Kraft und Vitalität zeigen sich in einem vollen, satten Klang. Eine Erkältung äußert sich entweder durch einen nasalen oder einen rauen und brüchigen Klang der (Sing-)Stimme und eine depressive Stimmung manifestiert sich in einem matten Klang der (Sing-)Stimme und einer unsauberen Intonation. Bei einer Erkältung kann somit die (Sing-)Stimme sehr deutlich Auskunft über das Befinden geben, während beispielsweise mit Maracas oder mit einer Geige nahezu ohne Einschränkungen musiziert werden kann.
Singen hat weitere positive Effekte: Durch die Tonproduktion mit der eigenen Stimme, dem eigenen Körper erfahren Singende eine Selbstwirksamkeit, die das Selbstwertgefühl in besonderem Maß steigert. Singen enthält außerdem durch das Singen eines meist vorgefertigten Textes die Möglichkeit, Emotionen auszudrücken, die im Sprechen oder instrumentalen Musizieren weniger deutlich erkennbar sind (vgl. Kreutz 2014:23).
Singen in verschiedenen Entwicklungsphasen
Singen ist für alle Menschen eine der ersten Formen des Musizierens. Babys und Kinder lernen teilweise schon früh das Singen durch ihre Eltern kennen: Manche werdenden Eltern beginnen bereits in der Schwangerschaft, ihren Kindern vorzusingen (vgl. Mastnak 2017:125 ff.). Da das Ohr des ungeborenen Babys ungefähr ab dem siebten Schwangerschaftsmonat entwickelt ist, kann Gesungenes – genau wie Gesprochenes – vom ungeborenen Baby bereits wahrgenommen werden; neuronale Reaktionen konnten bereits nachgewiesen werden (vgl. Hallam:105). Nach der Geburt werden vielen Babys von ihren Eltern (Schlaf-)Lieder vorgesungen. Dieses Singen prägt nachhaltig. Gunter Kreutz hat sich mit verschiedenen Facetten des Singens ausgiebig beschäftigt und stellt fest, dass Singen vermutlich „ein wirksames und schwer verzichtbares Mittel der elterlichen Fürsorge“ darstellt (Kreutz 2014:57).
Doch nicht nur Eltern, sondern auch Babys und (Klein-)Kinder selbst nutzen ihre stimmlichen Möglichkeiten: Sie babbeln, lallen und spielen mit ihrer Stimme und den dabei entstehenden Tönen. Aus diesen vokalen Äußerungen entwickelt sich allmählich sowohl das Sprechen als auch das Singen (vgl. Gembris 2017:13). Bis zum Schuleintritt verbessert sich sukzessive die Singfähigkeit von Kindern in verschiedenen Entwicklungsphasen. Ab dem Schuleintritt lässt die Singfreunde jedoch häufig nach (vgl. Gembris 2017:22).
Sukzessive verliert sich die Lust am Musizieren mit der eigenen Stimme bei vielen Menschen im Laufe des Lebens. Die Singfähigkeit eines ungeübten Erwachsenen entspricht ungefähr der eines achtjährigen Kindes (vgl. Neus 2017:28). Aus diesem Befund kann geschlossen werden, dass manche Jugendliche und Erwachsene nur noch wenig oder gar nicht mehr singen. Allerdings kommt Singen nach wie vor Bedeutung zu wie medial beachtete Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar oder The Voice of Germany illustrieren. Andere Erwachsene singen viel und häufig. Beispielhaft gezeigt werden kann dies am Chorwesen: Viele Singende treten in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter in einen Chor ein und verbleiben lange Zeit in Chören (vgl. Koch 2017:279): Über „eine Million singende und fördernde Mitglieder in rund 15.000 Chören“ (Deutscher Chorverband) vereint der Deutsche Chorverband. Es gibt Chöre mit unterschiedlichstem Repertoire, sodass viele der Singenden einen ihrem Musikgeschmack entsprechenden Chor finden können.
Singende Menschen singen oft ein Leben lang bis ins hohe Alter hinein: Singen ist meist ein selbstverständlicher Teil der Lebenswelt von hochaltrigen Menschen. In vielen Fällen kommt Singen zentrale biografische Bedeutung zu (vgl. Hartogh/Wickel 2004:366).
Es gibt es sowohl Chöre, die aufgrund eines Leistungsanspruchs mit Überalterung zu kämpfen haben, als auch Chöre, die sich ausschließlich an Senior*innen richten (Senior*innenchöre). Diese Chöre passen sich den Bedürfnissen ihrer Mitglieder hinsichtlich Probenzeit, Beleuchtungssituation, Repertoirewahl und Notendruck an: Ein sensibler Umgang seitens der Chorleitung mit körperlichen und vor allem stimmlichen Veränderungen der Singenden sowie ein sensibler Umgang mit Krankheiten und Todesfällen von Chormitgliedern ist von zentraler Bedeutung für gelingendes Singen mit Senior*innen (vgl. Koch 2017:449). Das Singen im Chor hat für Senior*innen große Bedeutung und sie versuchen, den Probenbesuch verbindlich und regelmäßig zu gestalten (vgl. Koch 2017 und siehe: Singen im Alter).
Anwendungsmöglichkeiten: Singen im Rahmen von Ästhetischer Praxis
Anknüpfend an die Bedeutung von Singen in verschiedenen Entwicklungsphasen kann Singen im Rahmen von Ästhetischer Praxis in den verschiedenen Formen und mit diversen Gruppen eingesetzt werden: In der Familienhilfe oder mit werdenden Eltern kann Singen die Bindung zum noch ungeborenen Kind festigen. Eltern von Babys und (Klein-)Kindern kann durch das Singen von Schlaf-, Bewegungs- und Spaßliedern eine Möglichkeit aufgezeigt werden, gemeinsam mit dem Kind sinnerfüllte Zeit zu erleben. Durch das Singen erfolgt eine enge und zugewandte Kommunikation, bei der kindliche und erwachsene Stimme(n) gemeinsam und jeweils individuell miteinander Harmonien und Dissonanzen finden können. Gleichzeitig kann eine Grundlage für kulturelle Teilhabe im weiteren Verlauf des Lebens gelegt werden.
Im Schulalter stehen oft chorische Angebote gemeinsam mit Gleichaltrigen im Fokus: Mit Kindern können verschiedene Lieder gesungen werden, lautmalerisch mit der Stimme Geschichten gestaltet werden und Singen kann in andere künstlerische Praktiken bereichern wie bei Theateraufführungen, Krippenspiele, Tanzereignisse (vgl. Minkenberg 2004:107). Inga Mareile Reuther fasst zusammen: „Wie keine andere musikalische Betätigung besitzt das Singen integrative Qualitäten und eröffnet allen Kindern eine aktive Teilhabe an Musik. Singen ermöglicht kulturelle Identität, fördert den interkulturellen Dialog und die soziale Interaktion. Es stärkt das Selbstbewusstsein des Einzelnen, belebt und erfrischt die Körperfunktionen wir Atmung, Eigenwahrnehmung und Konzentration und sorgt im Gehirn für die Ausschüttung von Glückshormonen“ (vgl. Reuther 2017:217).
Im Rahmen von Jugendarbeit bietet Singen vielfältige Einsatzmöglichkeiten: Beispielsweise können Karaoke-Nachmittage für Jugendliche Freude am Singen und am gemeinsamen Tun bedeuten oder das Nachsingen beliebter Popsongs mit Gitarrenbegleitung. Für junge und ältere Erwachsene bieten sich offene Singangebote an unter dem Motto „Sing along“, die sich in ihrer Konzeption an die sogenannten „Drum Circle“ anlehnen. Darüber hinaus sind die vielfältigen chorischen Angebote im deutschsprachigen Kulturraum von Interesse für Singende aller Altersgruppen: Kinderchöre, Jugendchöre, Pop-, Jazz- und Rockchöre, Kantoreien, Senior*innenchöre und vieles mehr. Die Chöre richten sich hinsichtlich ihres Repertoires und ihrer Ausrichtung in der Regel nach den Singenden.
Im Umgang mit hochaltrigen Menschen bietet Singen zahlreiche Möglichkeiten wie den Einstieg in Biografiearbeit, bei der mittels Musik Erinnerungen und emotionale Zustände zurückgeholt bzw. hervorgerufen werden. Vielen Menschen sind Liedtexte wesentlich länger zugänglich als die gesprochene Sprache. Häufig verfügen Senior*innen über ein außerordentlich großes Liedrepertoire (vgl. Filler 2017:286). Gemeinsames Singen ermöglicht hochaltrigen Menschen ein Gemeinschaftserleben, selbst wenn dieses Erleben in anderen Zusammenhängen schwierig geworden ist; gemeinsames Singen führt in vielen Fällen zu einem positiven Gruppenerlebnis (vgl. Minkenberg 2004:110). Selbst bei dementiell veränderten Menschen ist Singen oft sogar dann eine Kommunikationsmöglichkeit, wenn die Kommunikation über das Medium Sprache aufgrund der dementiellen Veränderung bereits nicht mehr gelingt (vgl. Gembris 2017:13).
Fazit
Insgesamt kann Singen für alle Menschen wichtige Funktionen erfüllen. Im Rahmen von Ästhetischer Praxis stellt Singen eine Kommunikationsmöglichkeit dar, die im non-verbalen Bereich wirken kann und Menschen auf eine Weise anspricht, die über verbalen Möglichkeiten hinausreicht. Singen kann außerdem zahlreiche positive Effekte bewirken und hat somit auf viele Menschen einen ausgesprochen positiven Einfluss.
Zusammenfassend lässt sich mit den Worten des Musikers und Musikpädagogen Wolfhagen Sobirey feststellen, dass Musik und damit auch das Singen als eine Form des Musizierens „das emotional wirksamste künstlerische Medium“ ist (Sobirey 2017:293).