Rahmung, Gegenstand und Praxis – Didaktische Überlegungen zum Theater in der Schule
Abstract
In welcher Form lässt sich Theater in der Schule so praktizieren, dass Qualitätsmerkmale der Kunstform Theater auch unter den institutionellen Rahmenbedingungen von Schule Gültigkeit haben? Wie können sich die bildenden Wirkungen des Theaterspielens in der Rahmung des schulischen Sozialraums entfalten und zu einer Erweiterung von Selbst- und Weltbildern beitragen? Über die theaterwissenschaftliche Untersuchung von Gemeinsamkeiten, Differenzen und Entwicklungen von professionellem Theater und Theaterarbeit in der Schule werden Thesen zur Qualität von Theater(-unterricht) herausgearbeitet und didaktische Grundlagen einer Theaterkunst im Kontext Schule diskutiert.
Die folgenden Überlegungen erwachsen aus meiner theaterwissenschaftlichen und pädagogischen Perspektive und sind wesentlich durch die Berliner Theaterlandschaft geprägt. Aufgrund meiner Tätigkeit als Dozentin für Theaterpädagogik und Darstellendes Spiel bin ich mit theaterpädagogischen Arbeitsfeldern innerhalb und außerhalb der Schule vertraut und weiß, wie unterschiedliche Rahmenbedingungen die Produktionsweise und die Form von Theater in den unterschiedlichen Kontexten von Theaterkunst und Schule bestimmen.
Karl-Josef Pazzini hat vor Jahren für diese Kontextbezogenheit den Begriff der „Anwendung“ vorgeschlagen und dabei auf die Aufwertung kunstpädagogischer Praxis gezielt: „Ich möchte behaupten, dass Kunst als solche nicht existiert, sondern nur in der Form der Anwendung. Dies gilt für die Produktion wie für die Produkte. Und ich behaupte, dass es unterschiedliche Formen der Anwendung von Kunst gibt. Eine davon ist die Kunstpädagogik.“ (Pazzini 2000:1).
Die konkrete Fragestellung meines Textes leite ich aus einem Text von Max Fuchs ab, in dem der Autor vor dem Hintergrund der Kontextbezogenheit von Kunst und künstlerischer Praxis (vgl. Fuchs 2014:2) die Forderung stellt, Qualitätsmerkmale einer künstlerischen Praxis nicht allgemein, sondern aus den Bedingungen des jeweiligen Anwendungsfeldes heraus zu begründen: „Es ist daher zu fragen, [welche Theaterkunst] überhaupt in welcher Form unter den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen so praktiziert werden [kann], dass bestimmte Qualitätsmerkmale, die möglicherweise für die professionelle Kunst außerhalb der Schule gelten, auch in dem Kontext von Schule eine Gültigkeit haben.“ (ebd.:4)
Entsprechend dieser Fragestellung möchte ich im Folgenden ausgehend von der Kunstform Theater untersuchen, wie bestimmte Grundfragen der Theaterkunst aktuell in der Schule diskutiert werden. Damit entscheide ich mich gegen eine – letztlich nur empirisch zu leistende – Untersuchung von konkreten Kontextbedingungen und für eine diskurskritische Betrachtung aktueller Reaktionen auf die Bedingungen des Theatermachens.
Mein Ziel ist, über die Gemeinsamkeiten und Differenzen zum professionellen Theater bzw. wissenschaftlichen Begriffsverständnis von Theater spezifische Fragen und Thesen zur Qualität von Theaterarbeit in der Schule herauszuarbeiten und damit einen Beitrag zur kulturellen Schulentwicklung zu leisten.
Was ist Theater? Fragen und Antworten der Theaterwissenschaft
Die große Herausforderung für Menschen, die sich professionell mit ästhetischer Bildung, der Vermittlung oder dem Lernen – von, im und durch – Theater verschrieben haben, besteht in der Tatsache, dass die Zeit eines gesellschaftlichen Konsens über den Theaterbegriff vorbei ist. „Eine grundsätzliche Vereinbarung, zwischen Agierenden und Schauenden, was Theater denn sei“ (Kotte 2005:62) existiert heute nicht mehr. Der für die pädagogische Anwendung der Theaterkunst notwendige Bezug auf die Kunstform muss deshalb immer wieder von Neuem konkretisiert und historisch gekennzeichnet werden. „Theater bleibt eine opake Kugel, für die – erfreulicherweise – ein Name existiert und damit ein Platz in der Gesellschaft, wenn auch der Name wie der Platz in der Gesellschaft historischer Dynamik unterliegen.“ (ebd.:63)
Wenn meine Betrachtungen von der Kunstform Theater ausgehen sollen, ginge es zuerst also darum, jene Fragen oder Bereiche zu skizzieren, die bei jedem Ereignis, das Theater genannt werden soll, zu konkretisieren wären. Für die Strukturierung meiner Untersuchungen sollen dafür drei Grundfragen ausgewählt werden:
- Was ist die Grundvoraussetzung für Theater?
- Was ist der Gegenstand von Theater?
- Wie wird Theater produziert?
Bei der jeweiligen historischen oder auch kontextbezogenen Konkretisierung ist es sinnvoll, sich auf bestimmte Parameter zu stützen, die die jüngere Theaterwissenschaft zur Verfügung gestellt hat. Diese beschreiben keine Norm, sondern bezeichnen grundlegende Faktoren, die in Abhängigkeit von historischen und sozialen Kontexten in differenten Verhältnissen zueinanderstehen und für die Konkretisierung von Theaterformen bestimmend sind.
Welche allgemeinen Parameter und Verhältnisse sind das?
In Bezug auf die Grundvoraussetzung für Theater geht die Theaterwissenschaft davon aus, dass es „die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern [ist], welche eine Aufführung allererst ermöglicht, welche die Aufführung konstituiert“ (Fischer-Lichte 2004:47). Die spezifische Beziehung zwischen Agierenden und Spielenden (vgl. Kotte 2005:62) steht dabei nicht unveränderlich fest, sondern beruht auf einer situationsabhängigen Funktionsteilung. Damit Theater für beide soziale Gruppen stattfindet, braucht es eine übereinstimmende Interpretation des Geschehens als Theater. Der Theaterwissenschaftler Henri Schoenmakers verwendet dafür den Begriff der Rahmung:
„Wir können den Begriff ‚theatraler frame‘ verstehen als einen sozial erlernten Interpretationsrahmen. Das ermöglicht auch dann von Theater zu reden, wenn in einer theatralen Situation die Handlungen einer nicht theatralen Situation exakt gleichen. Die Tatsache, dass man eine Situation als theatral erkennt, bewirkt, dass andere Informationsverarbeitungsprozesse [...] und Bewertungen aktiviert werden, als wenn die gleichen Handlungen außerhalb der theatralen Situation betrachtet würden.“ (Schoenmakers zitiert nach Klepacki 2007:38)
In Bezug auf den Gegenstand gilt das Theater bekanntlich als diejenige Kunst, deren ästhetisches Zeichenrepertoire strukturell dem Zeichenrepertoire des sozialen Alltags gleich ist:
„Es hat diejenigen, die über Theater nachdenken zu allen Zeiten fasziniert, dass Theater sich im Vergleich mit anderen Künsten in spezifischer Weise von der Alltäglichkeit unseres Tuns nicht unterscheidet. Um es in einer starken These zuzuspitzen: Im Gegensatz zu allen anderen ästhetischen Praktiken, die je eine spezifische mediale Differenz implizieren – die Malerin malt auf eine Fläche, der Musiker spielt Töne vor, der Film ist auf der Leinwand –, scheint beim Theater diese Differenz auszufallen.“ (Scheidegger 2010:4)
Die Differenz zwischen Lebensrealität und Theater liegt damit nicht im prinzipiellen Charakter und der Struktur der Zeichen, sondern in ihrer Verwendung. Diese lässt sich nach Andreas Kotte in zwei Merkmalen beschreiben: a) der Hervorhebung – im Sinne eines „universellen Verfahrens, Aufmerksamkeit zu erregen und Gruppen von Agierenden und Schauenden zu bilden“ (Kotte 2005:31) und b) der Konsequenzverminderung im Sinne einer am Spiel orientierten Rahmung, die soziale Konsequenzen menschlichen Handelns verändert, ohne auf eine Ebene des Scheins oder Symbols auszuweichen (vgl. ebd.:43).
Beide Merkmale sind als „graduelle Unterschiede in einem Kontinuum“ (Kotte 2005:42) zu begreifen, müssen aber nach Kotte gleichzeitig vorhanden sein, wenn eine Praxis als Theater gelten soll.
In Bezug auf die Produktion von Theater kommt die Praxis des Schau-Spielens als Art und Weise der Erzeugung theatraler Zeichen in den Blick. Hier ist Theater dadurch gekennzeichnet, dass die Produktion theatraler Zeichen an den Körper des zeichenerzeugenden Subjektes gebunden bleibt. Die Darstellenden im Theater sind sowohl Autorin und Autor als auch Medium und Material der Darstellung. Das heißt Subjekt, Objekt und Material der theatralen Gestaltung sind nicht voneinander zu trennen. Damit ist eine Schauspielerin oder ein Schauspieler auf der Bühne immer gleichzeitig als gestaltende Person wie auch als gestaltete Figur anwesend. Diese Doppelexistenz wird semiotisch als Verhältnis von referenzieller und performativer Funktion der Darstellung diskutiert. Die referenzielle Funktion bezeichnet das Dargestellte (die Figur) und die performative Funktion bezeichnet das Darstellen im Sinne eines konkreten Handlungsvollzuges (vgl. Ulrike Hentschel 2007:7). Beide Ebenen werden auch von den Zuschauenden gleichzeitig wahrgenommen: „Sie [die Wahrnehmung, Anm. U. P.] gleitet oszillierend zwischen der Wahrnehmung des phänomenalen Leibes des Darstellers und ihrer Fokussierung auf eine Figur hin und her.“ (Fischer-Lichte 2004:150)
Dieses grundsätzliche gleichzeitige Vorhandensein zweier Ebenen, der Ebene der Darstellung und des Dargestellten, ist im theatralen Gestaltungsprozess, unabhängig von seinen jeweiligen Formen bzw. Spielweisen, unhintergehbar (vgl. Ulrike Hentschel 2007:7).
Aktuelle Ausrichtungen des professionellen Theaters
Ein grundlegendes Merkmal im Feld des professionellen Theaters lässt sich gegenwärtig mit dem Leitbegriff der Partizipation umreißen. Dies führt strukturell zu einer grundlegenden Hinterfragung der Beziehung zwischen Theatermacherinnen und -machern und Theaterbesucherinnen und -besuchern Angesichts von komplex ineinander wirkenden Prozessen von Medialisierung, Globalisierung und Migration werden sowohl die traditionelle Aufteilung in professionelle Akteure und (interessierte) Zuschauende wie auch die Selbstverständlichkeit einer Kommunikation innerhalb des theatralen Rahmens kritisch betrachtet:
„Der ‚Echoraum‘, auf den Kunst reagiert, ist schwerer erfassbar geworden. Es gibt einen grundsätzlichen Klärungsbedarf, für wen eine öffentliche Institution wie das Stadttheater überhaupt spricht, sprechen kann, auf welche Weise sie gesellschaftlich relevante Fragen spiegeln kann. Die Gesellschaft ist aufgespalten in viele, kulturell vielfältigere Teilgesellschaften, und die gesellschaftlichen Kommunikationswege sind medialisiert.“ (Hasselberg 2014:160)
Die Strategien, mit denen die Theater darauf reagieren, zielen auf die Veränderung der Beziehungen zwischen Akteuren und Publikum und lassen sich unter den Stichworten „Öffnung“ und „Partizipation“ zusammenfassen (vgl. Pinkert 2014:47). Ein Ergebnis dieser Strategien ist die gesellschaftliche Aufwertung des Theaterspiels von nicht-professionellen (d. h. nicht ausgebildeten) Darstellerinnen und Darstellern. So haben die Theaterformen mit „Expertinnen und Experten des Alltags“ (wie sie seit der Jahrtausendwende zuerst von der Gruppe Rimini Protokoll erprobt wurden), wie auch die Gründung von „Bürgerbühnen“ eine anhaltende Veränderung der deutschen Theaterlandschaft angestoßen.
Zusammenfassend kann man hier von einer Erweiterung der gesellschaftlichen Funktion des bürgerlichen Theaters sprechen, die auf die wieder zunehmende soziale Differenzierung der westlichen Gesellschaften zu reagieren sucht. Dabei geht es zum einen um die Erprobung von Strategien, mit denen zum einen auch nicht-bildungsbürgerliche Publikumsschichten erreicht werden können. Zum anderen ist es das Ziel, das institutionelle Theater als einen öffentlichen Ort mit einer unverwechselbaren gesellschaftlichen Funktion gleichermaßen zu zu legitimieren wie zu erneuern. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang,, dass das Theater einer pluralen Gesellschaft die Möglichkeit bietet, differierende sinn- und bedeutungsgenerierende Prozesse (nach Recherchen) öffentlich zugänglich, sinnlich nachvollziehbar zu machen und letztlich als beeinflussbar zu erleben.
Indem sich das institutionalisierte, professionelle Theater durch die mit diesen Zielen verbundenen Strategien von Öffnung und Partizipation, Darstellenden, Darstellungsformen und Inhalten zuwendet, die bislang eher dem Feld der Theaterpädagogik zugeordnet waren, bildet sich seit einigen Jahren ein Zwischenfeld zwischen professionellem Theater und Theaterpädagogik heraus:
„Mit der zunehmenden ‚Theatralisierung‘ der Theaterpädagogik und der ‚Pädagogisierung‘ des Theaters wird es auch deshalb immer schwieriger, beide Bereiche voneinander zu trennen, weil klare Unterscheidungsmerkmale wie die Zielgruppe und die (berufliche) Qualifikation der Beteiligten, die Arbeitsweisen und Methoden angesichts einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis verloren gehen.“ (Vaßen 2010:8)
Meine These ist, dass sich diese „integrierte Theater-Pädagogik-Praxis“ innerhalb der letzten fünfzehn Jahre als spezifisches Feld der „Anwendung von Theaterkunst“ (Pazzini) etabliert hat. In stetem Austausch mit Entwicklungen des professionellen Theaters und der Theaterpädagogik hat sich hier ein umfassendes implizites wie diskursives Wissen sowie ein entsprechendes Spezialistentum entwickelt. Die integrierte Theater-Pädagogik-Praxis fungiert deshalb als ein eigener Bereich innerhalb des zeitgenössischen Theaters, wird aber bislang begrifflich kaum als solcher markiert.
Theater im Kontext von Schule
Wendet man sich vor diesem Hintergrund dem Theater in der Schule zu, kann man zuerst einmal konstatieren, dass hier eine grundlegende Kontextbedingung des professionellen Feldes wegfällt: Theater in der Schule ist keinen Marktgesetzen unterworfen und muss nicht um Aufmerksamkeit und Beteiligung werben. Die Teilnehmenden sind Schülerinnen und Schüler, die zur aktiven Beschäftigung mit Theater im Rahmen eines Schulfaches, einer institutionellen Partnerschaft zwischen Theater und Schule oder innerhalb eines anderen Fachunterrichts (vgl. Hruschka 2012:166) verpflichtet sind.
Im Bereich der Schule wird Theaterkunst unter der Perspektive des pädagogischen Feldes betrachtet und entsprechend angewendet:
„Kunstpädagogik ist [...] als Pädagogik mit Bezug zur Kunst notwendig eine Anwendung, sonst ist sie lediglich Vermittlung von Kenntnissen über die Kunst oder die Nutzung künstlerischer Mittel außerhalb der Kunst, so wie ein Anstreicher auch Pinsel benutzt. Kunstpädagogik ist eine, zudem eine spezifische Form der Anwendung von Kunst, der Wendung an Kunst, der Wendung von Kunst.“ (Pazzini 2000:2)
Entscheidend für den pädagogischen Kontext ist die Vermittlung des Gegenstandes über eine Lehrperson (oder eine autorisierte Künstlerin bzw. einen autorisierten Künstler). Die Schülerinnen und Schüler sind in der Regel nicht selbst motiviert, sondern werden von der Lehrperson im Rahmen der gegebenen zeitlichen, organisatorischen und räumlichen Bedingungen zu Formen künstlerischer Praxis angeregt.
Ausgehend von diesen allgemeinen Kontextbedingungen von Theater im Feld von Schule soll im Folgenden entsprechend des ersten Kapitels zum professionellen Theater untersucht werden, wie die Fragen nach den Voraussetzungen, dem Gegenstand und den Produktionsweisen von Theater derzeit im Kontext von Schule diskutiert werden. Da ich als Lehrende in diesem Bereich eine Haltung zu den angesprochenen Fragestellungen habe, werde ich die Skizzierung von verschiedenen Positionen jeweils mit einem Fazit und dem Verweis auf aktuelle Forschungsfragen zusammenfassen.
Wie kann die Grundvoraussetzung von Theater – die Unterscheidung in Akteure und Zuschauerinnen und Zuschauer sowie die Etablierung eines theatralen Rahmens im Kontext von Schule ermöglicht werden?
Die Sprengkraft dieser Frage wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Selbstverständlich kann in der Schule von Personen vor anderen Personen etwas aufgeführt werden, schließlich ist jede Lehr-Lernsituation immer auch eine Art „kulturelle Aufführung“. Doch wenn man den theatralen Rahmen im Zusammenhang mit dem Gegenstand von Theater – der Aufführung von hervorgehobenen und konsequenzverminderten Handlungen – (vgl. Kotte 2005) betrachtet, wird eine Differenz sichtbar, die für Theater konstituierend ist – aber in der Schule keineswegs selbstverständlich.. Zu fragen ist, wie es in der Schule gelingen kann, Schülerinnen und Schüler zu Handlungen anzuregen, die in ihren Grundbausteinen auf Handlungen des sozialen Alltags basieren, aber durch aufmerksamkeitserregende und spielerische Umgangsweisen von diesen unterschieden sind. Anders formuliert: Wie gelingt es, in der Schule einen theatralen Rahmen zu etablieren, der von allen Beteiligten als gemeinsamer Interpretationsrahmen der (teilweise nur geringen) Differenz zwischen Alltagshandeln und Theaterhandeln anerkannt wird?
Diese Differenz zu erzeugen, erfordert eine zumindest teilweise Lockerung von sozialen Rollen und eine Akzeptanz bzw. spielerische Entdeckung des „Anderen“.
Hier liegt eine Problematik von Theaterarbeit in der Schule, die oftmals unterschätzt wird. Denn die herrschenden Sozialbeziehungen zwischen Kindern und Jugendlichen untereinander und zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen liegen quer zu einer theatralen Rahmung und zu einer Etablierung einer eigenständigen theatralen Wirklichkeit, da das Einlassen aller schulischen Akteure auf ein darstellendes Spielen und Betrachten eine gewisse Aufgabe von Kontrolle und eine Reduzierung des (selbst-)bewertenden Blickes erfordert.
Auch in einer Aufführung bleiben die Darstellenden Schülerinnen und Schüler und werden entsprechend wahrgenommen: „Die immer öffentliche, nie ganz private Präsenz im Schulleben lässt kein Versteckspiel der Schüler zu, sie sind auf der Bühne noch erkennbar als Mitschüler, aber in einer Rolle, die sie verwandelt, bis an psychologische und physische Grenzen bringt und sie auch angreifbar macht.“ (Dams 2015:33)
In der Fachwissenschaft wird diese Fragestellung eher am Rande diskutiert. Leopold Klepacki tritt dafür ein, das Schultheater als eine eigenständige Kunstform zu begreifen, die „ein Teil der gesellschaftlichen Institution Schule und deshalb ein Medium des Unterrichtens, der Bildung und der Sozialisation sowie der Erziehung“ ist (Klepacki 2007:62). Die angesprochene Problematik wird in seinen Betrachtungen implizit als Widerspruch zwischen verschiedenen, an das Schultheater herangetragenen Anforderungen lesbar.
„Drei im System Schule miteinander verknüpfte Ebenen wirken [...] auf das Schultheater ein: Erstens die von der Gesellschaft herangetragenen Aufgaben und Funktionen, zweitens die institutionellen Merkmale und Organisationsformen der Schule und drittens die Inhalte und Formen schulischen Arbeitens, sowie, damit zusammenhängend spezifische, institutionell geprägte regelhafte Verhaltensweisen der daran beteiligten Personengruppen.“ (Klepacki 2007:63)
Als vierte, quer dazu liegende Ebene wertet Leopold Klepacki die „Subjektivität und Individualität der Akteure in der Institution Schule“ (ebd.), die einerseits nicht in schulischen Rollen aufgeht, aber andererseits durch schulische Rollen stark bestimmt wird, sodass es immer „Lehrer und Schüler [sind], die Theater machen, nicht einfach Amateure in einem allgemeinen Sinn“ (ebd.). Es kann vermutet werden, dass der Autor in der Akzeptanz dieser Tatsache die Spezifik des Schultheaters quasi in einer doppelten Konsequenzverminderung sieht: „Die Schule tut so, als ob sie ein Theater wäre. In diesem ‚Als-ob-Theater‘ agieren nun Kinder oder Jugendliche, die so tun, als ob sie Schauspieler wären, vor einem Publikum, das so tut, als ob es ein Theaterpublikum wäre.“ (Klepacki 2007:75 f.)
Eine Gegenposition zu dieser, eher vom System Schule ausgehenden Argumentation, findet sich bei dem Theaterlehrer Hans-Joachim Wiese. Ausgehend von einer radikal kulturkritischen Haltung vertritt dieser die Auffassung, dass anspruchsvolle, d. h. experimentelle Theaterarbeit in der Schule erst dann möglich ist, wenn alle Beteiligten die Alltagstheatralität ihrer sozialen Rollen überwunden haben. Denn „die in den Instrumentalbeziehungen zum ‚Pokerface‘ oder zum scheinfreundlichen ‚Grinsen‘ erstarrte Mimik, die ‚coole‘ und gepanzerte Körperhaltung entsprechen der lust- und lebensfeindlichen Einstellung eines Überlebensmodus, der sich der unmittelbaren Sinnlichkeit verschlossen hat“ (Wiese 2005:276). Theaterarbeit in der Schule verortet Wiese deshalb in einem Raum, „der durch keine Alltagskontexte definiert ist – Exterritorialität“ (ebd.:277). Um diese Erweiterung von Ausdrucksmöglichkeiten und „das Vertrauen in die nicht-wertende, nicht-urteilende Einstellung der Gruppe“ (ebd.:276) zu erreichen, sieht Wiese „die Arbeit an der Ausgangshaltung, an der Spielbereitschaft [als] unumgänglich“ (ebd.). „Es ist also Training gefragt als das Abtrainieren subjektiv zurechtgelegter Überlebensstrategien.“ (ebd.:277)
Fazit
Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Kommunikationsbeziehung und die Rahmung von Theater im Sozialraum Schule selbstverständlich herstellbar sind. Aber ohne die Etablierung eines Raumes, in dem die in der Schule herrschenden Sozialbeziehungen zumindest teilweise außer Kraft gesetzt sind, kann sich die bildende Wirkung des Theaterspielens nicht entfalten. Diese besteht im spielerischen und reflektierenden Entwurf anderer Selbst- und Rollenbilder und im Erproben von bislang unbekannten Spielarten menschlicher Beziehungen (vgl. Hruschka 2012:169) und zielt letztlich auf die Erweiterung von Selbst- und Weltbildern.
Anders formuliert: Da Theaterspielen an das Vorhandensein einer vom Alltag unterschiedenen Situation gebunden ist, die sich durch das Vorhandensein von hervorgehobenen wie konsequenzverminderten Handlungen auszeichnet, welche von ihren Produzenten gleichzeitig darstellend gestaltet und in ihrer Gestaltung erfahren werden können, braucht es einen akzeptierten Rahmen, der diese Situation von anderen sozialen Situationen abgrenzt sowie eine Bereitschaft aller Beteiligten zum Spiel. Im Rückgriff auf die Ritualtheorie Victor Turners (vgl. Turner 1989) wird diese spezifische Situation des Produzierens von Theater (in Probe wie Aufführung) auch als liminale bzw. liminoide Phase eines auf Transformation ausgerichteten Bildungsprozesses beschrieben (vgl. u.a. Nickel 1998:76ff.; Klepacki/Zirfas 2013:125). Diese prinzipielle fachwissenschaftliche Übereinstimmung in der Nutzung ritualtheoretischer Kategorien für die strukturelle Beschreibung schulischer Theaterarbeit stützt sich bislang auf bildungs- und spieltheoretische Theorien und Konzepte. Notwendig wären Forschungen, die der Frage nachgehen, ob bzw. in welcher Weise Theaterlehrerinnen und -lehrer für die Etablierung eines konsequenzverminderten Raumes auch konkret rituelle Praxen anwenden (vgl. Pinkert/Meyer 2006). Es fehlt an fachspezifischem Wissen, wie es in einem guten Theaterunterricht gelingen kann, „die SpielerInnen zweimal über die Schwelle zu geleiten“ (Nickel 1998:77). Und selbstverständlich wäre auch zu fragen, wie sich ein solcher temporärer antistruktureller, liminoider Raum in der Schule auf die Schulkultur insgesamt auswirkt.
Welche Konzeption bzw. welche Dimensionen von Theater können und sollten zum Lehr- Lerngegenstand der Schule werden?
Eine grundlegende Unterscheidung des Gegenstandes spiegelt sich bereits in der Benennung des Schulfaches: Wenn die Bezeichnung „Darstellendes Spiel“ in zwei Ausrichtungen verstanden werden kann, nämlich einerseits als „ein ‚Mittel sozialen Lernens [...], das in allen Bildungs- und Unterrichtsprozessen einzusetzen ist‘ und andererseits als ‚eine künstlerische Tätigkeit [...], die dem ästhetischen Aufgabenbereich‘ zuzuordnen sei“ (Hruschka 2012:167), klassifiziert die neuere Bezeichnung „Theater“ das Schulfach eindeutig als einen Gegenstand des künstlerisch-ästhetischen Bereiches. Für die vorliegende Betrachtung soll nur die letztere Bedeutung in den Blick genommen und danach gefragt werden, wie in der Fachliteratur der Gegenstand Theater im künstlerisch-ästhetischen Fach Darstellendes Spiel bzw. Theater diskutiert wird.
Meiner Übersicht nach besteht in der Fachliteratur mittlerweile Einigkeit darüber, dass sich das Theater mit Schülerinnen und Schülern nicht in der Nachahmung von Spielweisen der etablierten Theaterbühnen erschöpfen soll: „Das Schultheater als Darstellendes Spiel sieht sich in einer deutlichen Distanz zum Staatstheater, zum Ausstattungstheater, zum Regietheater und behauptet seine künstlerisch-ästhetische Eigenständigkeit.“ (Klepacki 2007:71).
Wie die von Leopold Klepacki benutzen Begriffe belegen, geht es dabei um die Ablehnung von bestimmten Spielweisen und Ästhetiken. Denn die Orientierung an der Theaterkunst und dem „zeitgenössischen Theater“ ist in fast paradox anmutender Weise ein ebenso fest vertretener Grundsatz in der Fachwissenschaft: „Nicht formale Bildung, sondern ästhetische Bildung im engen Bezug zur Kunst des Theaters ist das Ziel.“ (Hentschel/Hilliger 2015:21)
„Der Bezug zu und der produktive Umgang mit künstlerischen Verfahren des zeitgenössischen Theaters – hier immer in dem Bewusstsein, dass die Rede vom zeitgenössischen Theater ein Konstrukt ist – regt im theaterpädagogischen Bereich die Arbeit mit Materialien und Verfahren verschiedener Kunstformen an, bis hin zu Ergebnissen, die sich nicht mehr einer spezifischen Kunstform zuordnen lassen.“ (Ulrike Hentschel 2010:19)
Es lässt sich jedoch nur implizit erschließen, auf welche Kategorien sich die Konstruktion eines für den Kontext Schule relevanten Begriffes von „zeitgenössischem Theater“ stützt. Legt man beispielsweise die seit 2001 erscheinende Publikation „Fokus Schultheater“ in der edition koerber zugrunde, wäre – so die These – nachzuweisen, dass der hier präferierte Theaterbegriff eine große Nähe zu den Merkmalen eines performativ sowie sozial- und spielorientierten intermedialen Theaters aufweist, das das Feld einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis konstituiert.
Die in der Begriffskonstruktion des „zeitgenössischen Theaters“ offen bleibende Konkretisierung des Theaterbegriffes wird in der Fachdidaktik mit der Spezifik der jeweiligen Bedingungen der Theaterarbeit in der Schule begründet:
„Selbstverständlich lässt sich mit Bezug auf die Fachlichkeit nicht essentialistisch von der Kunst des Theaters sprechen bzw. von einer damit verknüpften Darstellungskonvention. [...] Angesichts der historischen und kulturellen Bedingtheit von Theater, der Vielfalt seiner Erscheinungsformen und Darstellungskonventionen und angesichts der Eigensinnigkeit ästhetischer Erfahrungen lassen sich Möglichkeiten ästhetischer Bildung nicht allgemein bestimmen, sondern sind für jede Theaterarbeit zu konkretisieren.“ (Hentschel/Hilliger 2015:21)
Im Idealfall einer pädagogischen Theaterpraxis gelingt es, innerhalb des Prozesses eine von allen Beteiligten gemeinsam vertretene Theaterauffassung zu entwickeln und ein aus der Besonderheit der jeweiligen Gruppe erwachsendes Formergebnis zu schaffen:
„Im Verlauf der schrittweisen Erarbeitung, also mit einem starken Bezug zur Praxis, entsteht auf der Seite der SchülerInnen ein zunehmendes Verständnis von den Gestaltungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen dieser Kunstform, auf der Seite der TheaterlehrerIn ein zunehmendes Wissen über die Besonderheit und die Anliegen einer Gruppe. In diesem szenisch geprägten, dialogischen Erarbeitungsprozess kommt es zu Gestaltungsvorschlägen, die nur von dieser speziellen Gruppe gemacht werden konnten.“ (ebd.:22)
Dieser idealtypischen Beschreibung stehen Erfahrungen gegenüber, die von Diskrepanzen bezüglich des im Unterricht geltenden Theaterbegriffs geprägt sind. Da, wie Andreas Kotte (2005 63) beschreibt, für Theater „ein Name existiert und damit ein Platz in der Gesellschaft“, lässt sich nicht verhindern, dass auch alle Mitglieder der Gesellschaft eigene Vorstellungen zu diesem „Namen“ entwickeln: „Aufgrund von Vorerfahrungen (oder aber z. B. auch aufgrund medialer Prägungen) besitzen Schüler teilweise vorgefertigte Meinungen darüber, wie Theater ästhetisch oder methodisch zu sein hat.“ (Klepacki/Zirfas 2013:121) So ist die Begegnung von theaterunerfahrenen Schülerinnen und Schülern und theaterinteressierten Lehrkräften in der Regel durch sehr unterschiedliche Theaterbegriffe geprägt. Wenn Schülerinnen und Schüler mit dem – kulturell mehr oder weniger marginalisierten – Feld einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis nicht vertraut sind, orientieren sie sich an Ästhetiken von Fernsehsoaps, Kabarett und historischem Ausstattungstheater und treten damit in unmittelbaren Widerspruch zu Grundsätzen der Fachtheorie (s.o.).
Die Strategien, die seitens der Fachliteratur für den Umgang mit dieser Diskrepanz diskutiert werden, zielen in zwei Richtungen: Zum einen wird empfohlen, die Theaterkonzeption zu Beginn der Arbeit bewusst offen zu halten, „um nicht von vorne herein eine bestimmte Art von Theater zu prädeterminieren“ (Klepacki/Zirfas 2013:121). Zum anderen wird für eine projektbegleitende Rezeption von Theater plädiert denn „um dem Anspruch eines am zeitgenössischen Theater orientierten Theaterunterrichts gerecht zu werden, sind das Theater sehen und die gemeinsamen produktiven Auseinandersetzungen mit dem Gesehenen unverzichtbar“ (Ulrike Hentschel 2015:23).
Wenn dabei selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass das Theaterverständnis der Schülerinnen und Schüler als „starr konventionalistisch oder stark traditionalistisch“ (Klepacki/Zirfas 2013:121) zu kennzeichnen und damit zu verändern sei, wird damit ein Herrschaftsdiskurs fortgeschrieben, der über formale Inhalte eines Schulfaches hinausgeht: Denn individuelle Theaterbegriffe im Sinne einer Vorliebe für bestimmte ästhetische Formen sind nach Pierre Bourdieu (vgl. 1987) immer auch Geschmacksurteile, wie sie aus Sozialisationserfahrungen erwachsen und soziale Hierarchien vermitteln. Deshalb muss auch im Kontext einer ästhetischen Bildung in der Schule davon ausgegangen werden, „dass nichts, was uns gefällt und nichts, was wir beschreiben, frei von Normierungen ist – und daher ständig Vorstellungen und Klischees von Geschlecht und Phantasien von Klasse und Zugehörigkeit reproduziert werden“ (Smodics/Sternfeld 2015:2).
Fazit
In der Schule wird Theater zum Gegenstand angestrebter Lern- bzw. Bildungserfahrungen, was die Auswahl von bestimmten Konzeptionen bzw. Spielweisen von Theater für den Unterricht bestimmt. Im Bereich der produktiven, spielerischen Auseinandersetzung mit Theater herrscht in der Fachdiskussion weitgehend Übereinstimmung darin, dass sich das Theater in der Schule von traditionellen Spielweisen des Stadt- und Staatstheaterbetriebes distanzieren soll. Die Abgrenzung richtet sich vor allem auf eine übermäßige (naturalistische) Ausstattung, die Unterordnung des Gestaltungsprozesses unter eine dominante Regiehandschrift und mitunter auch auf Formen einer am realistischen Schauspiel orientierten Spielweise. Das Theater in der Schule wird als eine „Anwendung“ von Theater in seiner Eigenständigkeit betont und in der Orientierung an einer bewusst offen gehaltenen Konstruktion von zeitgenössischem Theater begründet. Es wäre zu untersuchen, inwieweit diese präferierten Formen des zeitgenössischen Theaters mit den oben beschriebenen Trends in der Theaterentwicklung (Orientierung am Sozialen, Spielorientierung und Deep Play sowie intermediale Theaterformen) übereinstimmen. Außerdem wäre der Frage nachzugehen, wie die Tradition des Schultheaters in das Feld einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis eingegangen ist und welchen Einfluss dieses Feld einschließlich seiner Akteure und Diskurse wiederum auf die Theaterarbeit in der Schule ausübt.
Notwendig wäre ein veränderter Umgang mit differierenden Theaterbegriffen in der Schule, der auf einer grundlegenden Anerkennung verschiedener Wissensformen basiert. Unter einer kritischen Perspektive würden ästhetische Entscheidungen, wie z. B. diejenige für oder gegen einen bestimmten Theaterbegriff, auch im Hinblick auf Machtbeziehungen und Ausschlüsse untersucht.
Die Reflexion von sozialen Bezügen und den Machtdynamiken von Geschmacksurteilen in der Schule bildet dabei eine besonders große Herausforderung. Deshalb liegt hier m. E. ein struktureller Vorteil von Partnerschaften zwischen Schulen und außerschulischen Partnern vor: Wie das Beispiel des Kooperationsprojektes „Jump and Run. Schule als System“ (Berlin 2011/12) zeigt, ist es in der Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern und einer außerhalb von Unterricht angesiedelten Projektstruktur leichter, eine „kritische Distanz“ (vgl. PWC-Stiftung) zum System Schule einschließlich seiner dominanten ästhetischen Normen einzunehmen.
Wie kann man Theater lehren und lernen?
Mit dieser Fragestellung wird der umfassende Bereich einer Didaktik und Methodik des Theaterunterrichts angeschnitten. Bevor ich hier auf eine aktuelle Diskussion eingehe, wären Merkmale von Theaterunterricht zu nennen (über die in der Fachliteratur grundlegend Konsens besteht), die mit den Stichworten Integration verschiedener Teilaspekte, Gruppenorientierung und Lebensweltbezug beschrieben werden können.
Der erste Aspekt bezieht sich auf die Tatsache, dass in der theaterpädagogischen Fachliteratur die verschiedenen Dimensionen theatraler Bildung „Produktion und Rezeption, Gestalten und Reflektieren, eigenes künstlerisches Tun und kulturelle Teilhabe [...] nicht unterschiedlich gewichtet oder gegeneinander ausgespielt, sondern im Prinzip als gleichberechtigte Teilaspekte ‚theaterästhetischer Handlungskompetenz‘ verstanden“ werden (Hruschka 2013:168). Der zweite Aspekt beschreibt die spezifisch gruppenbezogene Produktionsweise von Theater, die dieses Fach von anderen künstlerischen Fächern unterscheidet:
„Steht in der Kunst die individuelle Leistung im Vordergrund, ist beim Theater der Schwerpunkt das Ensembleergebnis. Von der Aufgabenstellung über die Begleitung bis zur Bewertung sind die methodischen Aspekte spezieller Natur. Im Theaterunterricht entwickelt ein Ensemble ein Projekt im Plenum, oft vorbereitet in Arbeitsgruppen [...] und steht in der Aufführung gemeinsam auf der Bühne.“ (Dams 2015:32)
Der dritte Aspekt ergibt sich aus der Spezifik der theatralen Zeichen, die, wie oben beschrieben, die größte Nähe zur Zeichenverwendung innerhalb des sozialen Alltags aufweisen. In der Produktion von Theater sind Kinder und Jugendliche deshalb aufgefordert, „sich mit ihrer gesamten Lebenswirklichkeit in einen Spiel- oder Theaterprozess ein[zu]bringen“ (Hruschka 2013:169). Damit ist Theater immer auch „Erfahrungsmedium und Lernform“ (ebd.).
Als vierter Aspekt wäre der im vorigen Abschnitt besprochene Gegenstandsbezug zu Formen eines zeitgenössischen Theaters bzw. zum Feld einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis zu nennen.
Ausgehend von diesen Grundlagen gibt es in der Fachdidaktik gegenwärtig eine Auseinandersetzung über die didaktische Ausrichtung des Faches, die sich an der Frage entzündet, ob sich das Schulfach Theater eher an den Bedingungen von Unterricht oder an den Produktionsbedingungen einer Theaterpraxis ausrichten soll.
Für Ersteres treten Leopold Klepacki und Maximilian Weig ein: „Mit dem Ausgangspunkt bei dem Verständnis für Unterricht soll [...] von den schulischen strukturellen Gegebenheiten ausgegangen werden, in denen Theater stattfindet bzw. aus denen sich Fragen der Didaktisierung von Theater ergeben.“ (Klepacki/Weig 2015:16) Diese Perspektive geht von einem „strukturellen Unterschied zwischen der Kunstform Theater und Theater als Unterrichtsgegenstand [aus]“, womit „die Struktur des Phänomens Theater [...] nicht mehr ausschließlich von seiner artifiziellen Phänomenalität, sondern primär von seiner Lernbarkeit und Lehrbarkeit her gedacht“ wird (ebd.). Dieser Ansatz führt zu einer Selektierung und Reduzierung komplexer Zusammenhänge wie z. B. dem zwischen Theater-Produktion, -Rezeption und -Theorie und zu einer impliziten Favorisierung von sprachlich vermittelbaren Wissensformen:
„Geht man nun wiederum davon aus, dass Theaterunterricht theatrale Lern- und Bildungsprozesse ermöglichen soll, und dass Theaterunterricht theoretisch, rezeptiv und handlungsbezogen gedacht werden muss, dann folgt daraus, dass jede dieser Unterrichtsformen spezifische inhaltliche Ordnungs- und Selektionsprozesse bezüglich des Gegenstandes Theater zur Folge hat. Das Resultat derartiger Komplexitätsreduktions- und Neuordnungsprozesse sind beispielsweise Lehrpläne und Schulbücher.“ (Klepacki/Zirfas 2013:108)
Die Folge einer solchen „Komplexitätsreduktion“ ist die Reduzierung von Verfahren der darstellenden Künste auf so genannte „ästhetische Mittel“ (vgl. u. a. Pfeiffer/List 2009). Oftmals unter dem Vorzeichen einer selbstbestimmten („partizipativen“) Arbeit, lernen Schülerinnen und Schüler dabei, wie sie gezielt ästhetische Mittel für bestimmte Effekte einsetzen können. Der Produktionsprozess ist entsprechend kontextlos konzipiert und konzentriert sich auf eine handwerklich ‚richtige‘ Abfolge einzelner Arbeitsschritte zur Herstellung eines anerkannten Theaterproduktes. Auseinandersetzungen mit einem Thema, verschiedenen Interessen und einem Gegenüber (als Spielpartner, Lehrperson oder Publikum) spielen in solchen Lehrwerken nur eine untergeordnete Rolle.
Eine andere didaktische Richtung, u. a. vertreten von Ulrike Hentschel und Dorothea Hilliger, plädiert hingegen für einen grundsätzlich projektorientierten Unterricht, der als Wechselspiel zwischen methodisch geplanter Rahmung und emergenten Prozessen von Spiel und Forschung konzipiert wird (vgl. Hentschel/Hilliger 2015:21). In diesem Ansatz wird das Bekenntnis zur Komplexität des Gegenstandes Theater durch das Plädoyer für eine gruppenbezogene Arbeitsweise ergänzt: „Offenheit und Beteiligung sind die zentralen Faktoren für das Gelingen. Die Entscheidung für eine Ausgangsfrage, einen Stoff, ein Thema sowie für verwendete Materialien, Medien und Spielformen wird im Zusammenspiel mit der Gruppe entwickelt, die das Projekt trägt.“ (Ebd.:22) Die Arbeitsform, die für diese offene Projektarbeit empfohlen wird, ist die „devising performance“ (vgl. ebd.), der eine bestimmte Methodik eingeschrieben ist: „Der Findungsprozess beginnt immer mit der Generierung von Spielmaterial in Form von Recherchen, von Improvisationen, ersten freien Gestaltungselementen, Ortserkundungen u. a. m. Die Gestaltung wird schrittweise entwickelt, indem das Material verdichtet, strukturiert, aussortiert, weiterentwickelt und Regeln zur Präsentation gefunden werden.“ (ebd.) Die Arbeitsweise der Devising Performance (bzw. des Devising Theatre) ist historisch unmittelbar mit der oben erwähnten integrierten Theater-Pädagogik-Praxis verbunden, weshalb sich dieser Ansatz vornehmlich auf sozial orientierte, spielbasierte und intermediale Theaterformen stützt.
Anders als im ersten didaktischen Ansatz, in dem versucht wird, von einer konstruierten „Ordnung“ des Gegenstandes Theater auszugehen, richtet sich die methodische Auswahl der Verfahren innerhalb dieses Ansatzes nach der „jeweiligen Form des Theaters“ [...] und [...] den je besonderen ästhetischen Erfahrungen, die in der produktiven Auseinandersetzung damit zu gewinnen sind“ (Hentschel/Hilliger 2015:21). In der Orientierung an dem Erfahrungsgehalt von künstlerischen Verfahren wäre diese Richtung als „erfahrungsorientiert“ zu beschreiben. Entsprechende Forschungen richten sich demzufolge auf den Zusammenhang von Symbolisierungsweisen und entsprechenden Erfahrungs- oder Bildungspotenzialen. Ausgehend von dieser Perspektive gibt es seitens der Fachdidaktik eine bildungstheoretische Begründung für den Einsatz von performativen Theaterformen (s. o.) auch in der Schule:
„Die Akteure erfahren sich im Prozess der theatralen Gestaltung immer in doppelter Weise, als Spieler und Figur, als Material, Produzenten und Produkte ihres Gestaltungsprozesses, also als Ausführende und gleichzeitig als Aufführende. Wesentlich dabei ist, dass das gleichzeitige Vorhandensein sowohl des einen als auch des anderen für die Akteure immer bewusst sein muss, mit anderen Worten, dass es nicht nur um die Wahrnehmung der doppelten Existenz, sondern auch und vor allem um die Wahrnehmung der Differenz zwischen den beiden Wirklichkeitsebenen geht. Diese Erfahrung lässt sich in der theaterpädagogischen Arbeit gerade und insbesondere durch performancenahe Verfahren vermitteln. Zeitgenössisches Performancetheater zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass es mit dem Raum zwischen dem Darstellenden und dem Dargestellten, zwischen Alltag und Fiktion spielt, ihn vergrößert, beweglich hält, ihn häufiger (oder sogar immer) sichtbar ausstellen oder aber gegenüber der sozialen Realität scheinbar unsichtbar werden lässt(…).) Dadurch wird die Differenzerfahrung für die Produzenten und Rezipienten radikalisiert.“ (Ulrike Hentschel 2005:140)
Ausgehend von dieser verallgemeinerten Beschreibung des Erfahrungspotenzials performativer Theaterformen gibt es hier noch einen großen Forschungsbedarf, Verfahren der darstellenden Künste auf ihre Potenziale hinsichtlich von Selbst- und Weltbildungsprozessen zu untersuchen.
Fazit
Wie in den vorhergegangenen Abschnitten, führt hier die verschiedene Bewertung des Kontextes Schule zu verschiedenen Konsequenzen. Meine These ist, dass die beiden zuletzt skizzierten didaktischen Richtungen wesentlich auf diametralen Zuschreibungen an das System Schule und ihre Akteure basieren: Die didaktisch und handwerklich orientierte Richtung reduziert Schule auf einen „Schutzraum“ für Kinder und Jugendliche, in dem mit doppelter Konsequenzverminderung Wissen über die wirkliche Wirklichkeit vermittelt wird. Theaterkunst kann an diesem Ort nicht anders als ein „Kulturgut“ konzipiert werden, das – anderen fachlichen Unterrichtsgegenständen vergleichbar – in eine didaktisierbare Ordnung gebracht und von der aus entsprechend „Reproblematisierung, Segmentierungen, Sequenzierungen, Vereinfachung oder Elemtentarisierung“ (Klepacki/Weig 2015:18) vorgenommen werden können. Eine Theaterpraxis, die entsprechend „in eine prozessual-logische Ordnung“ (ebd.) gebracht wird, ist schwerlich als Anwendung im Sinne Pazzinis denkbar, da sich in ihrem engen methodischen Netz kaum Phänomene von Emergenz auf formaler und Grenzerfahrung auf subjektiver Seite entfalten können. Die größte Herausforderung für diese didaktische Ausrichtung liegt „in der spezifischen didaktischen Struktur eines praktisch-produktorientierten Theaterunterrichts, da hier Wissens-, Wahrnehmungs-, Handlungs-, Reflexions- und Kommunikations-Lernen integrativ verbunden werden müssen“ (ebd.).Die erfahrungsorientierte Richtung eines Theaterunterrichtes sieht die Schule im Gegensatz dazu als einen realen Lebensraum von Kindern und Jugendlichen, in dem diese eine Haltung zu sich selbst, zueinander und zu ihrer Wirklichkeit entwickeln. Vorausgesetzt wird weiterhin, dass diese Kinder und Jugendlichen ein wenigstens ansatzweise vorhandenes Bedürfnis haben, diese Haltung zu erforschen, zu bearbeiten und vor allem anderen mitzuteilen. Auf der Grundlage dieses Bedürfnisses oder Interesses können im Unterricht entsprechend Fragen generiert und innerhalb von „aus Kenntnis der Kunst und im Einsatz der eigenen Fähigkeiten“ (Pazzini 2000:9) gebildeten methodischen Rahmungen bearbeitet werden: „Wenn ich das aufs Kunstpädagogische übertrage, heißt dies, dass ich Methoden üben muss, viele Methoden in unterschiedlichem Material, Methoden, die zeigen, dass sich ein Weg finden lässt, auch wenn man nicht ans Ziel kommt. Es geht um das ‚Weg-finden‘ und die Weitergabe der Erzählung vom Weg und das ist das Produkt, das unbedingt erforderliche Produkt.“ (Ebd.:10) Wenn „die Arbeit der performativen Künste im theaterpädagogischen Kontext in dem Prozess [liegt], Bedeutungen gemeinsam zu entdecken, zu befragen, zu verhandeln und neu zu gestalten“ (Hentschel/Hilliger 2015:24), dann hat das Theaterspielen in der Schule notwendigerweise Auswirkungen auf die Schulkultur und bildet einen wesentlichen Faktor innerhalb der kulturellen Schulentwicklung.