Qualität zeitgemäßer Tanzvermittlung

Artikel-Metadaten

von Nana Eger, Antje Klinge

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

In diesem Artikel wird für das Forschungs- und Praxisfeld Tanzvermittlung ein zeitgemäßes Verständnis von Qualität entwickelt, welches für diverse Settings als Folie für (Selbst-) Reflexion, Austausch und Weiterentwicklung genutzt werden kann. Dazu wird ein relationaler Qualitätsbegriff zugrunde gelegt, die Gegenstandsspezifik von Tanz beschrieben und der Begriff Tanzvermittlung spezifiziert. Die Autorinnen gehen davon aus, dass Tanzvermittlung nur dann als zeitgemäß bezeichnet werden kann, wenn die Situiertheit des Tanz-(Vermittlungs-)geschehens einbezogen und reflektiert wird.

Summary: In this article, a contemporary understanding of quality is developed for the research and practice field of dance education, which can be used for various settings as a foil for (self-)reflection, exchange and further development. For this purpose, a relational concept of quality is taken as a basis, the domain specificity of dance is described and the concept of dance education is approached. The authors assume that dance mediation can only be contemporary if the situatedness of dance (mediation) is included and reflected. (Anm.: Im Englischen wird der Begriff Tanzvermittlung (Dance Mediation) nicht verwendet, stattdessen werden je nach Ausrichtung Begriffe wie Dance Education, Participatory Dance, Community Dance, etc. genutzt.)

1_Vorbemerkung

Über Qualität zeitgemäßer Tanzvermittlung zu schreiben, ist ein ‚heißes Eisen‘. Denn was heißt hier Qualität? Wer bestimmt diese, mit welcher Legitimation und welchem Ziel? Von welcher Tanzvermittlung sprechen wir überhaupt? Und was ist daran zeitgemäß? Mit diesen Fragen befinden wir uns inmitten einer äußerst komplexen Diskussion und noch vielschichtigeren Praxis. Hier treffen verschiedene Akteur*innen, Anliegen, Bewertungen, Begrifflichkeiten, Bildungsverständnisse, Biografien, Förderlinien, Geschmacksfragen, Körper, Logiken, Professionen, politische Interessen, Qualitätskriterien, Tanzerfahrungen sowie Widersprüche aufeinander. Dabei geht es um Perspektiven und Positionierungen, Haltungen und Machtfragen, das Spezifische von Tanz und das Tanzvermittlungsgeschehen selbst – und dies nicht losgelöst, sondern unter den Bedingungen aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, weshalb hier die Rede von zeitgemäßer Tanzvermittlung ist.

Um den Blick für diese Gemengelage zu schärfen, bieten wir im Folgenden Begriffsklärungen und Differenzierungen an, die als Folie für (Selbst-)Reflexion, Austausch und Weiterentwicklung im Forschungs- und Praxisfeld der Tanzvermittlung genutzt werden können. Dafür legen wir einen relationalen Qualitätsbegriff zugrunde, beschreiben die Domänespezifik von Tanz und nähern uns dem Begriff Tanzvermittlung, indem wir seine Herkunft und Anwendung im Feld skizzieren. Daraus leiten wir ein zeitgemäßes Vermittlungsverständnis ab, das zugleich mögliche Antworten auf die Frage liefern kann, was Qualität kennzeichnet.

2 _Was heißt Qualität?

Anne Bamford hat 2006 als ein Ergebnis ihrer Studien die These aufgestellt, dass keine Kulturelle Bildung immer noch besser sei als schlechte Kulturelle Bildung. Spätestens damit hat sie den Diskurs um Qualität künstlerischer Angebote in Bildungskontexten in Gang gesetzt, so auch im Tanz. Im Zentrum stehen die Fragen, was eine gute Tanzvermittlung ausmacht, wie sie erfasst und (weiter-)entwickelt werden kann, und welche Implikationen mit der Qualitätsdebatte verbunden sind. Denn der Qualitätsbegriff wird oft mit betriebswirtschaftlichen Verfahren aus dem Qualitätsmanagement konnotiert und ist damit „keineswegs harmlos“ (Fuchs, 2018, S. 2); seine an Effizienz und Ökonomie ausgerichteten Logiken und Prinzipien spielen auch im Diskurs zur Kulturellen Bildung seit den 1990er Jahren eine Rolle (Unterberg, 2020/2018, S. 5). Im Bildungsbereich haben u. a. infolge der PISA-Studien neoliberale Denkweisen und Konzepte mit der Debatte um überprüf- und vergleichbare Standards Eingang in die Diskussion um Qualität in Schule und Bildung gefunden. Das „Erfolgsmodell“ Kulturelle Bildung (ebd., S. 1) ist davon nicht ausgenommen.

Daher stehen wir bei der Klärung des Qualitätsbegriffs vor besonderen Herausforderungen. In klarer Abgrenzung zu Qualitätskategorien wie Ökonomie, Vergleichbarkeit, Kontrolle und Erfolg stellen wir für eine zeitgemäße Tanzvermittlung die Verhältnismäßigkeit von Qualität ins Zentrum. Denn inwieweit diese nun gut oder gelungen ist, lässt sich nicht unabhängig von den Akteur*innen, Zielen und Erwartungen sowie Kontexten und Bedingungen bestimmen. Vielmehr ist sie an die jeweilige Interessenslage gebunden (Mörsch, 2013, S. 192). Die BKJ (2020a) formuliert für Angebote Kultureller Bildung bspw. bestimmte künstlerisch-pädagogische und strukturelle Voraussetzungen, an denen gute Praxis erkennbar sein soll. Im Hinblick auf Schulentwicklung bietet sie ein umfassendes „Qualitätstableau“ (BKJ, 2020b) an. Andere unterscheiden in Struktur-, Prozess- und Produktebene (Mörsch, 2013, S. 194; Barthel, 2017, S. 80) oder setzen Qualität von Kooperationen, z. B. zwischen Bildungs- und Kultureinrichtung und Künstler*innen ins Zentrum (u. a. DKJS, 2008). Was unter Qualität verstanden wird, welche Dimensionen, z. B. pädagogische, künstlerische, organisatorische, finanzielle (Fuchs, 2014, o. S.), wie bewertet werden, unterscheidet sich demnach je nach Perspektive, aus der auf das Bildungsangebot geschaut wird. Hinzu kommt, dass diese Perspektiven immer auch von „biografischen und professionellen Hintergründen“ (Eger, 2014, S. 44) geprägt sind, die in jeweils unterschiedliche Qualitätsanliegen und -annahmen eingehen.

In der Tanzvermittlung zeigen sich damit auch verschiedene Qualitäten. Besteht z. B. das Anliegen darin, eine bestimmte Bewegungsabfolge zu vermitteln, um sie in eine Choreografie einbinden zu können, orientiert sich die Qualität sowohl an der Art und Weise, wie die Bewegung vermittelt wird, also am methodischen Vorgehen der vermittelnden Person als auch am Ergebnis, wie gut dieser Prozess gelungen ist.

Geht es z. B. um die Auseinandersetzungen mit Themen, die für die Teilnehmenden von Bedeutung sind (wie Zukunftsvisionen, Ausgrenzung, Mobbing etc.), dann entscheidet sich die Qualität daran, wie die Teilnehmenden eingebunden werden und sich mit dem Thema gestalterisch auseinandersetzen. Verschiedene Handlungsfelder, biografische Erfahrungen und Prägungen, strukturelle Verhältnisse, Orte und Zeiten spielen somit ebenso eine Rolle wie situative Bedingungen, so dass man von einem relationalen, offenen und in stetiger Entwicklung begriffenen Qualitätsbegriff sprechen muss.

„Quality is often a moving target – what counts as high quality in one context or at a particular moment in time may seem quite inadequate at another time or place“ (Hetland et al., 2009, S. 5).

Von der (!) oder einer bestimmten Qualität kann also nicht die Rede sein, vielmehr muss Qualität als ein Pluralbegriff (Fuchs, 2018) betrachtet werden, der die jeweiligen Bezüge hinsichtlich der Kontexte, Inhalte, Ziele und Strukturen berücksichtigt. Qualität zeigt sich daran, in welchem Maße ein Angebot diese Bezüge einbezieht und den daraus entstehenden Anforderungen entspricht. Qualitätsbestimmungen ergeben sich daher sowohl aus sichtbaren und wahrnehmbaren Merkmalen des Angebots als auch aus der subjektiven Einschätzung und Bewertung, inwieweit diese Merkmale den Anforderungen gerecht werden. Wer letztendlich darüber bestimmt, wie das Angebot oder der Prozess bewertet wird, ist keine inhaltliche Frage, sondern eine der Deutungsmacht (Fuchs, 2010; Mörsch, 2013, S. 192).

3_ Zur Gegenstandsspezifik von Tanz

Das vorgelegte Qualitätsverständnis bezieht sich auf das Verhältnis von Angebot und Anforderungen, wobei das Angebot nicht unabhängig von der Spezifik des Gegenstands gedacht werden kann. So gilt es im Folgenden zu klären, was den Gegenstand Tanz kennzeichnet und welchen Anforderungen, Erwartungen und Bedingungen die Tanzvermittlung gegenübersteht.

3.1 Tanz ist die körperlichste Form von Kunst

Im Vergleich bspw. zur Musik, bildenden Kunst, Literatur oder zum Theater kommt der Körper im Tanz in all seinen Facetten zum Tragen und ist Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsmedium zugleich (Eger & Klinge, 2021). Er ist Quelle und Speicher von Erfahrungen, die man macht bzw. gemacht hat. Daher spielen die verschiedenen Dimensionen des Körperlich-Leiblichen im Tanz eine zentrale Rolle.

Ob in Ruhe oder in Bewegung ist er die Voraussetzung und das Fundament sinnlicher Wahrnehmungen und Empfindungen – der Psychologe Bittner (1985, S. 302) spricht vom „Sinnenleib“. Sämtliche Erfahrungen lagern sich im Körperlichen ab und bilden als sensorische Erinnerung die Grundlage für weitere Erfahrungen. Diese Facette des Körpers verweist auf die Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Relevanz für die Orientierung des Menschen in der Welt und damit auf die Potenziale von Tanz im Kontext von Bildung und Vermittlung (Klinge, 2009).

„Dabei geht es um eine innere Wahrnehmung, als nicht immer außerhalb von sich zu agieren, sondern bei sich zu sein und zu sich zu kommen und zu spüren, wie der eigene Körper funktioniert. Aber auch die äußere Wahrnehmung, also wie bin ich mit dem Körper im Raum und zu den anderen, kann ich mich auf die anderen beziehen im Tanz, ist wichtiger Bestandteil dieser Arbeit“ (Hanna Hegenscheidt im Interview mit Bundesverband Tanz in Schulen, 2012, S. 27).

Sinnliche Erfahrungen lagern sich nicht nur im Privaten, Körperlichen ab, sondern werden auch im Außen sichtbar, womit eine weitere Facette des Körpers deutlich wird: der Körper als Medium für Ausdruck und Darstellung. Ob bewusst oder unbewusst, ist er als „Erscheinungsleib“ (Bittner, 1985, S. 302) immer präsent. Er wird bekleidet, geschmückt, in Szene gesetzt und stellt als Träger von Zeichen und Symbolen etwas dar.

„You are there in your body and your body always shows those around you something of what is happening inside of you. If there is someone else in the space with you, the act of dancing is always also a performative act. There is nothing to hide behind. There is no place where you can edit what someone else receives as communication form you“ (Parkes, 2022).

Der Körper und damit auch der Tanz ist immer auch Medium für Kommunikation und Mitteilung. Dabei sind auch die nicht-intentionalen Mitteilungen von Bedeutung, denn sie können weder versteckt noch verhindert werden, was die Vulnerabilität (Scham, Scheu, Angst) des Körpers als „Beziehungs- oder Sozialleib“ (Funke-Wieneke, 1997, S. 23) kennzeichnet. Diese Dimension bedarf in Vermittlungssituationen besonderer Aufmerksamkeit und Verantwortlichkeit.

„A collection of vulnerable people can experience something extraordinary together. On the other hand, vulnerable people need facilitators who take care and hold them safely, artists who can offer a care-filled space in which to be brave“ (Parkes, ebd.).

Körper können sowohl verstanden als auch durch vorschnelle Zuschreibungen und Interpretationen missverstanden werden. Der Soziologe Hartmut Rosa (2016) spricht dieser Dimension der körperlichen Kommunikation eine besondere Resonanzfähigkeit zu und ist daher auch für Vermittlungssituationen im Tanz von großer Bedeutung.

Schließlich ist der Körper die physische und physiologische Grundlage des menschlichen Daseins und Voraussetzung für Bewegungshandlungen jeglicher Art. Als „Werkzeugleib“ bzw. „Bewegungsleib“ (Bittner, 1985, S. 314) wird er im Alltag, in der Arbeit, in der Kunst, im Sport und im Tanz eingesetzt, verbessert, optimiert und beherrscht. Im Nachahmen und Einüben von Bewegungsformen und -techniken, Wiederholen und Automatisieren von Abläufen oder Erproben von Bewegungsräumen, -möglichkeiten und -grenzen kommt diese instrumentelle Dimension des Körpers besonders zum Tragen. Im Tanz dient „der instrumentelle Gebrauch des Körpers, die Funktionalität des Trainings dazu, das ästhetische Vermögen des Tanzkörpers zu befördern“ (Klein, 2017, S. 336).

Diese rein analytische Differenzierung in verschiedene Dimensionen hebt die Potenzialität des menschlichen Körpers in der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt hervor. Daraus lässt sich für unser Vorhaben ableiten, dass Tanzvermittlung als gelungen betrachtet werden kann, wenn die Potenziale des Körperlichen berücksichtigt und in Relation zur Vermittlungssituation und den jeweiligen Anforderungen gesetzt werden. Das muss und kann nicht immer mit gleicher Gewichtung der Fall sein. Die prinzipielle Vielfalt des menschlichen Körpers im Tanz erfahrbar und zugänglich zu machen, kennzeichnet im hier vorliegenden Kontext Qualität.

3.2 Historische und kulturelle Kontextualisierung von Tanz

Die unterschiedlichen historisch gewachsenen und kulturell geprägten Erscheinungsformen von Tanz lassen jeweils andere Erfahrungsräume und Auslegungen zu und bestimmen von daher auch die jeweiligen Qualitätsmerkmale. Das klassische Ballett z. B. ist gekennzeichnet durch seine hoch kodifizierte Präzision in Bewegungsausführung und Körperkontrolle, die bis heute Gegenstand der Vermittlung ist. Es repräsentiert eine vom Adel des 16. Jahrhunderts bestimmte autokratische Gesellschaft und Kultur, deren Prinzipien Disziplin, Körperbeherrschung, Leistungswille bis heute die Basis für die „tänzerische Erziehung“ sind. (Anm.: Aktuell machen sich einzelne Schulen und Ausbildungsstätte für eine Reform einer historisch bedingten und überlieferten „autoritären Tanzpädagogik“ (Ballettakademie der Hochschule für Musik und Theater, 2020, S. 4) im Klassischen Tanz stark.) Gesellschaftstänze (oder sog. Ballroom Tänze) sowie Volkstänze heben in ihren weitestgehend festgelegten Schritt- und Bewegungsfolgen das Gemeinsame und historisch wie kulturell Verbindende einer Gruppe hervor, während popkulturelle Tänze (von Hiphop, Streetdance bis Clubkultur) sehr unterschiedliche von Freizeit-, Musik- und Werbeindustrie überformte Lebensstile meist jugendlicher Gruppen wiederspiegeln. Vermittlung im Bereich gesellschafts- und popkultureller Tänze ist von daher immer auch an die genrespezifischen Prinzipien Gemeinschaft, Individualität, Hedonismus, Authentizität oder Selbstinszenierung (Klein, 2017; Klein & Friedrich, 2003, S. 80ff.) gebunden. Zeitgenössischer Tanz dagegen entzieht sich einer eindeutigen Definition. Dem Kulturwissenschaftler Johannes Odenthal zufolge versteht sich der zeitgenössische Tanz

„nicht auf der Basis nur einer Technik oder ästhetischen Form, sondern aus der Vielfalt heraus. Er sucht Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und bricht immer wieder mit vorhandenen Formen. Zeitgenössischer Tanz in diesem Sinne hat eine offene Struktur, die sich bewusst von festgelegten, linearen Entwürfen der Klassik und Moderne absetzt“ (Odenthal, o. J.).

Im Vordergrund steht die Suche nach neuen, individuellen wie sozialen Bewegungs- und Erfahrungsräumen. Kern ist die Improvisation, in der historisch gewachsene Tanzstile mit neuen Bewegungsformen gemischt werden, traditionelle Körper- und Gendernormen aufgebrochen und neue Ordnungen ausprobiert und hergestellt werden können. Ausgangspunkt sind die (Körper der) Teilnehmenden mit oder ohne körperliche Beeinträchtigung, aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen, ethnischen oder nationalen Kontexten, verschiedenen Alters und Geschlechts, mit ihren jeweiligen Erfahrungen und Potenzialen. Die aktive Beteiligung an der künstlerischen Auseinandersetzung, am Prozess und seiner Entstehung, Entwicklung, und Mitgestaltung ist aus diesem Grund ein wesentliches Prinzip von Vermittlung im zeitgenössischen Tanz. Dieses Beteiligungsprinzip wird bspw. in Bezeichnungen wie Participatory Dance oder Community Dance akzentuiert. Tanzvermittelnde machen den eigenen Erfahrungs- und Wissensvorsprung von Anfang an transparent, teilen ihre konzeptionellen Überlegungen, Recherchen und Visionen wie auch Zweifel mit den Beteiligten.

Der kurze Gang durch die historisch gewachsenen Tanzgenres und derzeitigen Ausprägungsformen macht deutlich, dass mit dem jeweiligen Tanzverständnis unterschiedliche Erfahrungsräume sowie die Herausbildung bestimmter Interaktionsmuster verbunden sind. Mit dem gewählten Tanzstil fließen also implizite (Bewegungs-)Traditionen und (Körper-)Normen in die Vermittlung ein. Gabriele Klein erläutert diese historischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Tanz sowie ihre Performativität aus soziologischer Sicht und hält fest,

„dass das Tanzen und die jeweiligen tänzerischen Interaktionsformen Bezug auf Normen, Konventionen, Regeln und Ordnungen nehmen: Ein Tanzstil muss – in Tanzschulen, autodidaktisch vor dem heimischen Spiegel, durch ‚Abgucken‘ in den entsprechenden Locations oder auch über Fernsehsendungen und Internetprogramme – erlernt werden. Damit werden nicht nur die körperlichen Konventionen des jeweiligen Tanzstiles weitergegeben, sondern auch die entsprechende individuelle Inszenierungspraxis (Outfit, Gestik, Haltung), die Regeln und Rituale der jeweiligen Tanzszene (Aufforderungsregeln etc.) sowie das szenespezifische Wissen um angesagte Locations“ (Klein, 2017, S. 339).

An der jeweiligen Tanzform bzw. dem Genre werden die sozialen Phänomene, Formen der Individualisierung wie Vergesellschaftung und Veränderungen des Gesellschaftlichen nicht nur sichtbar, sondern im tänzerischen Vollzug selbst immer auch „körperlich-sinnlich erfahrbar“ (ebd., S. 338). Insofern kann sich eine zeitgemäße Tanzvermittlung, die die Themen der Zeit aufgreift, dieser Reflexivität nicht entziehen. Zeitgemäße Tanzvermittlung bietet Raum für Erfahrungen mit sich, dem eigenen Körper, den anderen und der unmittelbaren Umwelt und ist als Ermöglichung individueller Auseinandersetzungen mit sich und der Welt im Medium des Körperlichen zu verstehen. Sie ist demzufolge immer in die Themen der Zeit involviert.

4_Zeitgemäße Tanzvermittlung

Der Begriff der Vermittlung ist im Bereich von Tanz seit Anfang der 2000er relativ unkommentiert übernommen worden. Dazu haben unterschiedliche Entwicklungen beigetragen: Mit der Etablierung von Kultureller Bildung in Schulen und weiteren (Bildungs-)Einrichtungen hat sich ein neues Arbeitsfeld entwickelt, in dem unterschiedliche Akteur*innen (Tänzer*innen, Tanzpädagog*innen, Tanzkünstler*innen, Choreograf*innen) aktiv sind. Mit ihren jeweiligen Anliegen und künstlerischen Arbeitsweisen setzen sie Akzente gegen eine Pädagogisierung kultureller Bildungspraxen. Darüber hinaus ist der Vermittlungsbegriff durch den Diskurs der kritischen Kunst- und Kulturvermittlung beeinflusst (u. a. Mörsch, 2012; Sternfeld, 2014), indem bestehende Versprechen, Legitimationsweisen und Machtverhältnisse hinterfragt und gesellschaftliche wie soziale Bedingungen thematisiert werden. Daher wird die bis dato eindeutige Bezugnahme auf Tanzerziehung und Tanzpädagogik zugunsten eines zwar unscharfen, aber offenen Begriffs aufgegeben. Der Begriff der Tanzvermittlung findet dabei vor allen Dingen im Bereich des zeitgenössischen Tanzes Verwendung.

4.1 Vermittlung

Etymologisch hat Vermittlung unterschiedliche Bedeutungen: sie reichen von übermitteln und überbringen sowie zusammenbringen zweier Teile über das Einigen von Auseinanderliegendem bis hin zur Verständigung und Überwindung von Widersprüchen (Barthel, 2017, S. 77ff.). Im Sinne der Weitergabe von Information, Fertigkeiten und Fähigkeiten war Vermittlung immer schon Bestandteil des Kunst- und Kulturbereichs (Wagner, 2005, S. 133), zunächst auf individueller Ebene, dann institutionell an professionell Kunstausübende, später auch an Laien und im Rahmen von schulischer Ausbildung. Da die Künste „zunehmend nicht mehr als ‚selbsterklärend‘ (…) begriffen“ (ebd., S. 135) wurden, trat der Vermittlungsgedanke hinzu (ebd., 134). „Grundlage dieser Vermittlung ist in Deutschland eine besondere Verbindung von Kultur und Bildung“ (ebd.), bei der der Kulturbegriff sowohl ästhetisch als auch pädagogisch aufgeladen wird. Dies wirkt sich bis heute auf den Vermittlungsbereich aus. Kunst- und Kulturvermittlung sind dabei keinesfalls (nur) als Weitergabe von Wissen oder Informationen von „vermeintlich Wissenden hin zu vermeintlich Unwissenden“ (Mörsch, 2013, o. S.) zu verstehen.

„Der in ihr wirkende Streit darüber, wer jeweils das Recht und die Möglichkeit hat, die Künste zu besitzen, zu sehen, zu zeigen und über sie zu sprechen, ist fast so alt wie die Künste selbst“ (ebd.).

Hier zeigt sich eine Wende, in der Vermittlung nicht ohne die Reflexion des Verwobenseins in gesellschaftliche Kontexte und ihre jeweiligen Machtverhältnisse zu denken ist (Mörsch, 2013; Sternfeld, 2014). Diese Reflexivität ist in der kritischen Kulturvermittlung „konstitutiver Teil des Vermittlungskonzeptes“ (Barthel, 2017, S. 100). Zentral dabei ist, Spannungsverhältnisse und Widersprüche nicht auszublenden, sondern transparent zu machen und sie als Diskussionsanlass (Eger, 2015) zu nutzen.

4.2 Tanzvermittlung

Im Bereich von Tanz wird der Begriff Vermittlung oft als Synonym für „Lehren und Unterrichten“ (Barthel, 2017, S. 79) verwendet. In der Analyse der Vielfalt des Gegenstands Tanz, der Heterogenität der Akteur*innen und Kontexte betonen die Tanzwissenschaftler*innen Barthel (2017), Hardt et al. (2020) oder Stern et al. (2020) die „Komplexität tänzerischer Vermittlungskonstellationen“ (Hardt et al., 2020, S. 371). Hardt et al. (2020) verfolgen in ihrer Forschung die empirische Erfassung von „Vollzugswirklichkeiten“ (369) der Tanzvermittlung und setzen damit das Wie des Vermittlungsgeschehens in den Mittelpunkt. Barthel (2017) betont die Dynamik und Offenheit des „Containerbegriffs“ (ebd., 77) Tanzvermittlung. Für sie ist der Begriff zu einem

„Label für ein Diskurs- und Praxisfeld mit heterogenen Ansprüchen, mit Bildungskonzepten, Aktionsfeldern und Personengruppen [geworden], dessen Spannungsverhältnisse Positionierungsbewegungen erfordern, die gegenwärtig noch anhalten“ (ebd., S. 99).

Damit wird deutlich, dass auch der Vermittlungsbegriff ähnlich dem Qualitätsbegriff als ein relationaler gedacht werden muss und nicht unabhängig von den Kontexten, insbesondere der gesellschaftlichen und sozialen Eingebundenheit denkbar ist.

Um der Frage nach Qualität zeitgemäßer Tanzvermittlung näher zu kommen, bedarf es weiterer Konkretisierung. Aufgrund der verschiedenen Konstellationen und Komponenten, die das Vermittlungsgeschehen bedingen und hervorbringen, nehmen wir seine jeweilige Situiertheit in den Blick.

4.3 Situiertheit von Tanzvermittlung

Situiertheit betont das Eingebettetsein und die Bedingtheit des Vermittlungsgeschehens. Damit rückt die gesellschaftliche, soziale, kulturelle und schließlich auch institutionelle Verankerung jedweder Lern- bzw. Vermittlungssituationen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Vermittlung

„zu situieren bedeutet (…), sie [die Situation, den Gegenstand, ein Kunstwerk oder künstlerische Prozesse, Anm. der Autorinnen] in ihrer historischen Spezifik zu erfassen, in ihrem Eingebettetsein an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit, in einem Netzwerk spezifischer Akteur:innen, Körper, Materialien und Medien. Aber auch in bestimmte soziopolitische Hintergründe oder in die in seinem Umfeld präsenten Diskurse und künstlerischen Ansätze, mit dem dieser Gegenstand Dialoge eingeht“ (Magauer, 2021, o. S.).

In dieser praxeologischen Auslegung gibt es keine körperlose, voraussetzungslose oder neutrale Vermittlung. Sie ist immer in bestimmten Kontexten situiert und gleichzeitig situiert sie sich auch selbst im konkreten Vollzug des Geschehens. Durch die jeweiligen Aktivitäten der Beteiligten und ihre Wahrnehmungen sowie Interpretationen der Bedingungen entstehen bestimmte und je spezifische Vollzugswirklichkeiten. Sie sind beeinflusst durch das Interaktionsgeschehen, prägen die Beziehungsstrukturen und damit die Möglichkeitsräume für Entwicklungen, Erfahrungen und Lernprozesse. Mit der Perspektive von Situiertheit und Situiertsein kann der Blick auf die Komplexität und Bedingtheit des Vermittlungsgeschehens gerichtet werden.

Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs findet der Begriff der Situiertheit seine Anwendung im Ansatz des „situierten Lernens“. Der Begriff geht auf den amerikanischen Pragmatismus von John Dewey, die Entwicklungs- und Lernpsychologie von Jean Piaget sowie kognitionspsychologische Lerntheorien zurück (Schmohl, 2021). Ihm liegt das sozial-konstruktivistische Paradigma zugrunde, dass Lernen ein wechselseitiger Konstruktionsprozess ist, der grundsätzlich in spezifische soziale Kontexte eingebettet ist. Demzufolge fokussiert er eine entsprechende methodische Inszenierung, in der die Gestaltung von Interaktions- und Lernprozessen sowie Lernumgebungen maßgeblich ist. In klarer Abgrenzung zu scholastischen Vermittlungsverfahren (wie z. B. Frontalunterricht im Klassenzimmer oder Bewegungsdemonstrationen im Tanzsaal) stehen partizipative Verfahren der „Teilnahme an Reflexions- und Diskurspraktiken mit dem Ziel einer wechselseitigen Co-Konstruktion“ (Schmohl, 2021, S. 302) im Mittelpunkt.

Mit dem Fokus auf die Situiertheit von Tanzvermittlung setzen wir einen zentralen Ausgangspunkt für die Qualitätsdebatte und -zuschreibung. Ziel ist es, die Komplexität des Vermittlungsgeschehens und seine wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Akteur*innen (Vermittelnden wie Teilnehmenden), Auslegung des Gegenstands Tanz, den materiellen, räumlichen, zeitlichen und medialen Bedingungen sowie den äußeren institutionellen wie sozialen und gesellschaftlichen Kontexten und den Erwartungen anderer (Förderer, Arbeitgeber, Leitungskräften, Eltern …) sichtbar zu machen. Mit dieser Sichtweise auf Tanzvermittlung sind aktuelle Diskurse und Kontexte sowie individuelle Erfordernisse ebenso Bestandteil der Situation.

Wir richten den Blick im Folgenden auf die vermittelnde Person, da diese in den meisten Settings eine zentrale, oft machtvolle Rolle innehat. Entscheidend ist, welche Haltung und damit auch Position sie einnimmt. „Im Begriff der Situiertheit ist somit sowohl die kritische, künstlerische Beschäftigung mit einem spezifischen Umfeld impliziert, als auch die Bedingtheit durch dieses“ (Magauer, 2021, o. S.).  So ist davon auszugehen, dass die Erfahrungen, Biografien und Fähigkeiten der im Feld Aktiven als „situated knowledges“ (Haraway, 1988) verstanden werden können. Haraways Analysen beziehen sich zunächst auf den Bereich des wissenschaftlichen Wissens und seine jeweiligen Kontextbedingungen. Mit Blick auf die soziale Verortung der Forschenden betont ihr (sozialkonstruktivistisches) Konzept des situierten Wissens, dass Wissen immer lokal und sozial begrenzt ist und niemals für andere sprechen kann. Dieser Grundsatz ist übertragbar auf andere Situationen der Wissenserzeugung und -weitergabe, wie in unserem Fall der Tanzvermittlung. Sich als vermittelnde Person der eigenen Wissensposition und Macht bewusst zu sein bzw. diese immer wieder kritisch zu prüfen, ist daher grundlegend.

5_„Entscheidend ist auf ’m Platz“

Der damit verbundene Anspruch an Erfahrungsoffenheit, Orientierung an den Teilnehmer*innen und dem Umfeld, aktuellen Bedingungen und der Prozesshaftigkeit des Vermittlungsgeschehens setzt Fähigkeiten der Vermittelnden voraus, die in ihrer Sensibilität für die jeweilige Vermittlungssituation evident sind. Qualität von zeitgemäßer Tanzvermittlung entscheidet sich letztendlich am konkreten Umgang der Vermittler*innen mit den Erwartungen, Bedingungen und Anforderungen an die Situation.

„Das flexible Hin- und Her-Bewegen [zwischen den externen Anforderungen und internen Bedingungen und Fähigkeiten, Anm. der Autorinnen] macht nur Sinn, wenn es gelingt, mitten in der Projektsituation wahrzunehmen, was gerade den größten Einfluss auf die Situation nimmt“ (Wiebke Dröge im Interview mit Bundesverband Tanz in Schulen, 2012, S. 14).

Damit genau dies gelingen kann, das Vorhandene wahrzunehmen und in den Vermittlungsprozess einfließen zu lassen, bedarf es der Entwicklung und Ausbildung von Reflexivität im Hinblick auf

  1. die Position, die eine vermittelnde Person im Feld einnimmt (ob als freischaffende*r Künstler*in, Pädagog*in, angestellte*r oder verbeamtete*r Lehrer*in, Dozent*in etc.) und die Erwartungen, die an sie gestellt werden. Inwieweit solche Rollenerwartungen erfüllt werden können, ist abhängig von der
  2. die Expertise, über die die vermittelnde Person verfügt: ihre künstlerischen, fachlichen, tanzpraktischen, pädagogischen, methodischen sowie organisatorischen Kompetenzen (Bundesverband Tanz in Schulen e. V., 2012). Expertise zeigt sich u. a. als ein „Hin- und Her-Bewegen“ (ebd., S. 14) zwischen den Kompetenzbereichen, als aufmerksame Wahrnehmung und Beobachtung des Geschehens und schließlich
  3. als eine kritische Selbstreflexion über das eigene Gewordensein, das eigene (Nicht-) Können, (Nicht-)Wissen und (Nicht-)Handeln und die möglichen Folgen des Vermittlungshandelns.

Die Aufgabe von Tanzvermittler*innen besteht demzufolge darin, Erfahrungsräume für die Begegnung und Auseinandersetzung im Medium von Körper, Bewegung und Tanz zu ermöglichen und die eigene Rolle als dialogisch, initiierend, begleitend, moderierend oder ermöglichend und die eigene Position immer auch als situiert zu begreifen.

„Es ist ein dynamischer Prozess, der immer mit einem Bewusstsein für die Relationen, in den [sic!] das Subjekt und das Objekt verstrickt sind, vollzogen werden soll. Der Ort, an dem man sich befindet, die Stellung, die man bezieht, sind keine eindimensional fassbaren, konkreten Gegebenheiten, sondern Schnittstellen von verschiedensten Wissensformen, die je nach konkreter Situation des Austausches eingesetzt und erwähnt werden, oder ausgeklammert und unerwähnt bleiben können“ (Szántó, 2021, o. S.).

An den Ausführungen wird deutlich, wie komplex Qualität von Tanzvermittlung ist und dass sie nur zeitgemäß sein kann, sofern die Situiertheit in den Blick genommen wird. Kontinuierliche Reflexion und Diskussion darüber, worin Qualität besteht und wie sie erreicht werden kann, ist „nicht nur ein Katalysator für Qualität, sondern auch ein Hinweis auf Qualität“ (Hetland et al,. 2009, VI).

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Anmerkungen

Zuerst erschienen in:
Obermaier, M., Steinberg, C., Molzberger, R., Obermaier, K. (Hrsg.) (2014): Tanzpädagogik – Tanzvermittlung. Grundbegriffe. Methoden. Anwendungsbereiche. (S. 121-133). Utb. Das Inhaltsverzeichnis und weitere Informationen zu diesem 622 Seiten starken Werk finden Sie hier: Das Buch wendet sich an Studierende und Lernende, Lehrende, Forschende, Vertreter*innen der Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik als auch an Tanzinteressierte. Die Autor*innen erschließen multidimensionale und transdisziplinäre Zugänge aus historisch-anthropologischer, bildungsphilosophischer, pädagogisch-psychologischer, sportwissenschaftlicher, künstlerischer und schließlich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Ein ausführliches Glossar öffnet das Themengebiet auch für eine erweiterte Leserschaft. DOI: 10.36198/9783838559223.

Die Wissensplattform kubi-online dankt den Herausgeber*innen, der utb-Verlagsgruppe und den Autorinnen für die Veröffentlichungsmöglichkeit dieses Beitrags.

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Nana Eger, Antje Klinge (2024): Qualität zeitgemäßer Tanzvermittlung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/qualitaet-zeitgemaesser-tanzvermittlung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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