Publikums-Zugewandtheit als institutionelle Grundhaltung
Ein Interview mit Elisa Hempel, Marion Leuschner und Steven Walter zur Analyse von Herausforderungen und Gelingensbedingungen der Change-Prozesse des Beethovenfestes 2023
Abstract
Das 1845 gegründete Beethovenfest gehört zu den ältesten und bedeutendsten Musikfestivals in Deutschland. Mit 70 Veranstaltungen in Bonn und Umland stellt es einen kulturellen Leuchtturm klassischer Musik dar (vgl. Beethovenfest 2024). 2021 übernahm der Cellist und Kulturmanager Steven Walter die Intendanz des Beethovenfestes. Mit seinem Team möchte er das Festival strukturell verändern, um es in die Breite der Gesellschaft anschlussfähiger zu machen. In einem Modellversuch soll Musikvermittlung als Querschnittsbereich und zentrale Leitungsaufgabe etabliert werden, die Idee der Vermittlung als Grundhaltung die Organisation prägen: Ziel ist es, das Festival für ein neues, vor allem jüngeres und diverses Publikum zugänglich zu machen. Dafür werden neue Formen der Kommunikation erprobt, verschiedenste Formate für die Konzerte entwickelt, unterschiedliche Musik-Richtungen zusammengebracht, verschiedene soziale Initiativen als Kooperationspartner eingeladen und Themen behandelt, die alle angehen: In den Jahren 2022 bis 2024 werden die gesellschaftlichen Herausforderungen Diversität, Nachhaltigkeit und Demokratie im Festivalprogramm musikalisch und in weiteren Aktionen mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen reflektiert.
Das Beethovenfest 2023, ein vierwöchiges Festival mit dem Thema «ÜBER LEBEN», stellte die übergreifende Frage, wie Mensch und Natur, Ökologie und Ökonomie in einen zukunftsfähigen Einklang gebracht werden und welchen Beitrag Kunst und Kultur zur Nachhaltigkeit leisten können. In einem dreijährigen Modellversuch AUDIENCE CENTRICITY – Musikvermittlung als institutionelle Querschnittsaufgabe fördert die Commerzbank-Stiftung den Transformationsprozess des Festivals. Als Fachkuratorin der Stiftung verantwortet und begleitet Birgit Mandel den Förderbereich Kultur und Vermittlung. In ihrer Funktion als Leitung eines Masterstudiengangs Kulturvermittlung an der Universität Hildesheim beschäftigt sie sich seit langem in Forschung und Lehre mit Vermittlung als einer übergreifenden Funktion in Kultureinrichtungen, die zugängliche Kommunikation ebenso umfasst wie besucherorientierte Rahmenbedingungen und Formate, aber auch die Programme einschließlich verschiedener Möglichkeiten, das Publikum aktiv und gestaltend daran teilzuhaben zu lassen.
Im folgenden Interview geht Birgit Mandel daher den Fragen nach, wie klassische Musik für viele zugänglich werden kann und welche institutionellen Veränderungen damit verbunden sind. Interviewpartner*innen sind, neben dem Intendanten des Beethovenfestes Steven Walter, die Musikvermittlerinnen Marion Leuschner und Elisa Hempel. Abschnittsweise fasst Birgit Mandel die jeweiligen Erkenntnisse zusammen und zieht abschließend ein Fazit.
Sämtliche Parameter der Kontextualisierung des Konzerts vom Publikum aus vermittelnd denken und gestalten
Birgit Mandel: Welche neu entwickelten Programme, Formate und Vermittlungsaktivitäten habt ihr entwickelt, um Teilhabe eines breiten Publikums über die Klassikaffinen hinaus zu ermöglichen? „Ein Publikum zu erreichen, das den Menschen in der U-Bahn in ihrer Vielfalt ähnelt“, so der von euch formulierte Anspruch? Welche Resonanz gab es?
Marion Leuschner: Die grundlegendste Veränderung ist: Alles ist Musikvermittlung. Alle Konzerte sind unter diesem musik-vermittlerischen Gedanken konzipiert, dass eine Verbindung zwischen Musik und Publikum stattfinden soll, auch eine neue Erfahrung von Musik, eine Kontextualisierung von Musik. Es werden nicht nur einfach Künstler*innen eingekauft, sondern hinter jedem Konzert steckt dieser Gedanke der Zugewandtheit zum Publikum.
Steven Walter: Aus meiner Sicht war die größte Herausforderung, diese Zugewandtheit als Grundhaltung in allen Bereichen des Festivals zu etablieren. Der Unterschied, das Beethovenfest vermittelnd zu denken, ist, dass wir unsere Arbeit für das Publikum tun und nicht das Publikum für uns da ist. Es gilt die Gesamterfahrung zu gestalten. Wir scheuen keine Mühen, um das Konzert herum eine angenehme, informationsreiche, aber auch spielerische Atmosphäre zu schaffen. Das Konzert selbst soll ein besonderes, auch körperlich-synästhetisches Erlebnis sein. Es macht einfach Spaß, diese Parameter zu gestalten, auch künstlerisch.
Kommunikation als atmosphärische Einladung zu einem besonderen Erlebnis
Steven Walter: Viel passiert ist in der Kommunikation, den atmosphärischen Erzählungen über ein Thema und über die Musik, an der wir die Künstler*innen beteiligt haben. Zugewandtheit zum Publikum ist schon im Vorfeld eine zentrale Dimension, die nicht nur marketingmäßig gedacht wird. Unsere Pre-Visiting-Mails sollen Menschen, die sonst die Konzertetikette nicht kennen, dazu befähigen, trotzdem dort hinzugehen, sich willkommen zu fühlen. Menschen abholen und vorbereiten auf das Konzert, das jeweilige Format und Lust darauf zu machen.
Wir haben unter anderem das Format „bee.live“ etabliert. Das ist ein Instagramformat rund um die Konzerte, bei dem man, auch wenn man nicht dabei war, einen Blick hinter die Kulissen werfen kann und erlebt, was rund um ein klassisches Konzert passiert. Dazu gehören auch unsere Programmbücher, die sehr vielschichtig aufgebaut sind: Es gibt nicht nur diese langen, sermonhaften Abhandlungen musikwissenschaftlicher Art, sondern spannendes Hintergrundwissen, einschließlich fun facts und mehr.
Ich habe auch versucht, so oft wie möglich persönlich auf der Bühne zu begrüßen, das macht einen Unterschied. Ich musste erst lernen, dass es wirklich wichtig ist, sein Gesicht zu zeigen.
Marion Leuschner: Auch unsere Teilnehmer*innen konnten selber aktiv werden in der Kommunikation. Beispielsweise haben unsere Schülermanager*innen einen TikTok Kanal eröffnet, den sie selbst bespielen konnten. Studierende haben gemeinsam mit einem Film-Team und dem Streichquartett „Brooklyn Rider“ eine Dokumentation über ein Nachhaltigkeitsthema gedreht. Das schafft natürlich Identifikation der Teilnehmer*innen und kam gut an. Wir haben außerdem geschaut, wo wir uns diverser und inklusiver aufstellen können, indem wir beispielsweise Texte über klassische oder neue Musik in leichter Sprache übersetzen lassen.
Steven Walter: Was gut funktioniert hat, ist Musikvermittlung aus der Kommunikation heraus zu denken: Also schöne, spannende, niedrigschwellige und auch anspruchsvolle Geschichten zum Beispiel über die Konzerte zu erzählen. Was noch nicht hinreichend funktioniert, ist die Kommunikation der Vermittlungsprojekte selbst. Da geht deutlich mehr, da sind noch viele Geschichten unerzählt. Denn auch in der Kommunikation prallen verschiedenste Logiken zusammen: Der kaufmännische Geschäftsführer sagt, dass dieses und jenes Konzert sich noch schlecht verkauft. Macht mal dazu was! Dann fallen Themen wie Community-Projekte, die nicht vertriebsrelevant sind, erstmal runter in der Prioritäten-Liste. Dieser fortwährende Diskussionsprozess ist notwendiger Teil der Entwicklung.
Zugang und Vertrauen schaffen durch ein Erlebnisversprechen
Steven Walter: Es geht uns vor allem um das Erlebnisversprechen. Wie kann das gelingen? Wir müssen Leute gewinnen, die sich auf eine Blackbox einlassen, vor allem, wenn es etwas Neues ist, was sie noch nicht kennen. Das ist eine Herausforderung für die Kommunikation.
Die Leitfrage ist: Wie kann es gelingen, Neugierde zu wecken? Am besten gelingt das durch positive Vor-Erfahrungen: Letztes Mal war es toll und jetzt gehen wir noch mal hin, also sprich Vertrauen. Aber wie kann man erstmals Vertrauen gewinnen? Das ist die ganz entscheidende Frage. Wie schafft man ein Erlebnisversprechen? Vorbildung ist nicht unwichtig. Es ist von Vorteil, wenn man etwas über die Stücke weiß, aber letztlich ist Musik ein sinnliches Erlebnis. Stark auf den Erlebnischarakter zu setzen, sowohl in der Durchführung als auch in der Kommunikation, ist wichtig. Das bedeutet nicht, dass man das eventisiert oder irgendwie verbilligt. Wenn das gelingt, kann man sehr vielfältige, durchaus anspruchsvolle, sperrige Inhalte erlebnisnah präsentieren und dafür begeistern. Bei allen Vermittlungsaktivitäten geht es darum, vom Erlebnis der Kunst auszugehen und nicht von ihrem Bildungsgehalt, die User-Experience im Blick zu haben. Und der Erlebnishunger ist bei allen Menschen gleichermaßen ausgebildet.
Entscheidend ist eine Grundhaltung der Zugewandtheit zum Publikum. Alles wird vermittelnd gedacht. Vermittlung an das Publikum beinhaltet vor allem eine emphatische Kommunikation: Schon im Vorfeld der Konzerte geht es um das Versprechen eines persönlichen Erlebnisses anstatt nur über die musikspezifischen Aspekte des Programms zu werben. Es gibt Pre-Visiting-Mails und Programmhefte, die Geschichten erzählen, als Einstimmung und Vorbereitung auf den Besuch sowie eine persönliche Begrüßung des Publikums durch die Leitung, Einführung in Konzerte durch Schüler*innen, die eine andere als die musikwissenschaftliche Perspektive haben.
Cross-Over Programme, um verschiedene Communities anzusprechen und zugleich jeweils neue musikalische Erfahrungen zu ermöglichen
Birgit Mandel: Inwiefern hat sich durch eure Mission, hohe Zugänglichkeit und Relevanz herzustellen, auch die Programmgestaltung des Festivals verändert?
Steven Walter: Wir haben ein sehr breites Programm entwickelt. Neben klassischen Stücken werden auch neue Musik, populäre Musik, genreübergreifende Formate und interdisziplinäre Programme zum Beispiel mit Tanz oder Performance, oft einfach Überraschungen bei klassischen Konzerten eingestreut: Zum Beispiel die Neunte Sinfonie von Beethoven, wir haben davor ein kleines Stück von Carolin Scharer eingebunden. Also ganz viele Kleinigkeiten, die dazu führen, dass das ein besonderes Erlebnis wird, dass das Publikum das Gefühl hat: Ah! Das war zwar eines der klassischen Programme beim Festival, aber es hat einen Twist. Und dieser Twist führt dann, glaube ich, langfristig dazu, dass eben auch andere sich in dieses klassische Format verirren und andersherum wiederum, dass sich das klassische Publikum öffnet für neue Programme und Formate.
Ort, Anordnung von Musik im Raum und persönliche Begegnungen als Parameter für Musikvermittlung und Musikerleben
Birgit Mandel: Mit welchen konkreten Formaten ist es gelungen, die emotionale Seite von Musik zu betonen und besondere Erlebnisse zu schaffen?
Steven Walter: Es ist ein großes Missverständnis, die klassische Musik so zu verabsolutieren. Musik ist immer subjektiv. Es gibt nicht die Musik, sondern immer Klangereignisse im sozialen Raum. Insofern ist die Gestaltung des Kontextes von großer Bedeutung.
Es ist eine große Chance, dass das Beethovenfest gerade so flexibel sein muss und keinen fixen Ort hat, sondern wirklich die komplette Stadt erobern muss, denn dadurch entstehen ganz, ganz viele unterschiedliche Konzertformate. Alleine durch die unterschiedlichen Räume, die wir bespielen. Das ist, finde ich, ein ganz entscheidender Punkt. Denn auch der Ort und der Raum sind sehr entscheidend für den jeweiligen Zugang.
Wir haben zwei unserer Konzerte in der alten Bonner Fahnenfabrik, Bofa, veranstaltet. Wenn ich mir ein Konzertticket für die Bofa kaufe, weiß ich schon, da wird mich etwas anderes erwarten, als wenn ich zum Beispiel für die Oper ein Ticket kaufe. Ich glaube, das macht ganz viel aus, weil der Raum quasi zum Teil des Erlebnisses wird. Das Publikum konnte sich während des Konzerts frei bewegen und damit wird natürlich auch die Musikerfahrung eine ganz andere.
Marion Leuschner: Wir hatten noch ein zweites Format, in dem das Publikum sich frei bewegen konnte und da hat man auch gemerkt, wie besonders ein solches Format auch für die Musiker*innen ist. Der Abend hatte den Titel „mittendrin“ und das Stück, das gespielt wurde war so konzipiert, dass die Musiker*innen wirklich im Raum verteilt waren und somit nicht mehr in ihren gewohnten Gruppen spielen konnten. Das Publikum konnte tatsächlich hautnah die Musik erleben. Man sah auch, dass das für die Musiker*innen teilweise eine Herausforderung war. Aber sie haben sich gerne dafür geöffnet und für das Publikum war das wirklich ein ganz tolles Erlebnis.
Steven Walter: In der Bonner Fahnenfabrik war zum Beispiel mein Nachbar da, sehr klassisches Klientel. Er hat gesagt, es war das Konzert seines Lebens. Es hat ihn wahnsinnig überrascht, diese ganze Bofa-Erfahrung. Die Leute lieben das. Auch gerade die, die noch nicht wissen, dass sie es lieben, lieben diese Art der neuen Konzerterfahrung absolut. Ich fand das ein sehr schönes Beispiel für die unbedingt notwendige Geselligkeit, dass das Konzert auch ein soziales Ereignis ist und dass dies Musikvermittlung im weitesten Sinne ist. Das war total schön, wie die Künstler*innen mit dem Publikum einfach vermischt wurden. Es gab Foodtrucks, da haben sich Publikum und Mitwirkende getroffen und ausgetauscht. Es ist extrem wichtig, eine Aufenthaltsqualität, eine Geselligkeit und einen Ort zu schaffen, wo man gerne sein möchte. Diese soziale Dimension ist wichtig, dass im Wort Partizipation auch Party drinsteckt, um dieses blöde Wortspiel zu bedienen.
Auch unser „Bühne frei“- Eröffnungsfest und Symphonic Mob auf dem Marktplatz hat eingeschlagen, da waren mehrere hundert Menschen, die mitgespielt haben mit dem Orchester.
Sehr gut war unser Stadtteilfest in Endenich, das wir als eine Art Prototyp verstanden haben. Endenich ist ein Stadtteil Bonns mit fast schon dörflicher Struktur und mit vielen kleinen interessanten Kulturinstitutionen. Ich fand vielversprechend, dass viele lokale Einrichtungen mitgewirkt und auch viele Leute aus dem Stadtteil teilgenommen haben.
Marion Leuschner: Wir haben wirklich eine Vielfalt an Formaten- Wir denken immer sehr genau darüber nach, wer wird mein Publikum sein und wie kann ich diese spezielle Gruppe von Publikum noch mal besonders erreichen und ihnen eine besondere Erfahrung ermöglichen.
Birgit Mandel: In welcher Weise sind die Künstler*innen an der Gestaltung dieser Formate beteiligt? Inwiefern sind sie bereit, sich auf direkte Begegnungen mit dem Publikum einzulassen? Und ist das ein Kriterium für eure Auswahl der Kunstschaffenden?
Steven Walter: Die Künstler*innen sind aus unserer Erfahrung super dankbar: Die Chance, nah dran zu sein am Publikum, wird sehr gerne angenommen. Dass die Nahbarkeit ein Kriterium ist, das sage ich überall, wo ich mit Künstler*innen spreche. Natürlich, es muss nicht jeder auf dieselbe Art mitmachen. Es gibt tolle Künstler*innen, die man dabeihaben möchte, die eher introvertiert sind. Es geht darum, dass man grundsätzlich eine Durchlässigkeit und Ent-Anonymisierung der Kunstschaffenden braucht, um diese Bindung mit dem Publikum herzustellen. Die Musiker*innen selbst sind die besten Botschafter*innen für die Musik. Insofern haben wir im privaten Rahmen viele Empfänge. Private Einladungen nach Konzerten und die Möglichkeit des persönlichen Austauschs werden dankbar angenommen von allen Seiten. Wenn man das gut plant und kommuniziert, kann man, glaube ich, Künstler*innen dafür gewinnen, diese soziale Frage mitzudenken.
Marion Leuschner: Oft ist es so, dass Künstler*innen sehr offen sind für Projekte, in den Austausch zu kommen mit den Menschen einer Stadtgesellschaft. Zugleich haben sie aber auch Ängste, ob sie das leisten können. Dazu sind wir als pädagogisches Team da: Wir moderieren, wir bringen zusammen, wir übersetzen. Wir begleiten das Projekt sehr eng, wenn wir mit den verschiedenen Communities zusammenarbeiten und vermitteln den Künstler*innen: Ihr habt keine andere Aufgabe in diesem Zusammenhang als Künstler*innen zu sein. Ihr müsst einfach nur offen sein, offen dafür auch in Kommunikation zu gehen.
Neue Orte und neue Formate hatten positive Auswirkungen auf Publikumserweiterung wie der Symphonic Mob im öffentlichen Raum zur Eröffnung unter Beteiligung vieler Amateur-Musiker*innen. Dass es keinen festen Konzertsaal für das Beethovenfest gibt, erwies sich als Glücksfall. So wurde vor allem die Bonner Fahnenfabrik als ein zentraler Aufführungsort von deutlich mehr jüngeren Menschen besucht, die sich an einem solchen Ort offensichtlich wohler fühlen. Neue Formate wie „mittendrin“ ließen eine hohe Nahbarkeit zwischen Musiker*innen und Publikum entstehen; Geselligkeit, soziales Zusammensein, Essen und Trinken, Partys gehörten zu jedem Konzert dazu. Durchlässigkeit und Nahbarkeit sind Kriterium auch für die Auswahl der Künstler*innen des Festivals.
Birgit Mandel: Wie lässt sich das traditionelle Klassikpublikum ebenso halten und öffnen für Veränderungen, wie auch neues Publikum interessieren für das Beethovenfest? Und mit welchen Programmen gelingt es, Brücken zwischen den verschiedenen Publika und sozialen Milieus zu schlagen?
Elisa Hempel: Die hohe Auslastung von über 80% wäre ohne das klassische Stamm-Publikum, das wir vorher hatten, nicht möglich. Insofern scheint es uns gelungen, auch dies mitzunehmen mit unseren neuen Formaten. Zum Beispiel unser Projekt in der Bofa mit dem Ensemble Reflektor: Wir haben das klassische Publikum mit der Community der Seh-Beeinträchtigten zusammengebracht. Das war ein klassisches Konzertformat. Und wir haben parallel zum Konzert mit einer Blinden. und Sehbehindertengruppe eine Installation entwickelt, die man während des Konzertes besichtigen konnte, vorher oder nachher oder in der Pause. Es war kein aktiver Eingriff in das Konzert, es war einfach ein Parallelangebot. Das ist ein leichter Weg, unterschiedliches Publikum zu verbinden.
Mit unseren Communityprojekten wollen wir Menschen dazu befähigen, Expert*innen für dieses Konzert zu werden und sich als Teil dieses Konzerts und vielleicht sogar als Teil des Beethovenfests zu verstehen. Dabei haben wir unterschätzt, wie viel Zeit es braucht, bis ein vertrauensvoller Kontakt entsteht. Eigentlich wollten wir mit noch viel mehr Initiativen zusammenarbeiten.
Neue Partnerschaften mit unterschiedlichen Communities in der Region etablieren
Marion Leuschner: Wir suchen uns häufig Multiplikator*innen, wenn wir entscheiden, wir wollen mit Menschen mit Beeinträchtigung zusammenarbeiten. Wir sind mittlerweile sehr eng verbunden mit der Inklusionsbeauftragten der Stadt, die viel Übersetzungshilfe leisten kann. Was wir feststellen ist, dass es lange dauert, bis tatsächlich verstanden wird, dass wir nicht ein bestimmtes Angebot machen wollen, sondern dass uns diese Beidseitigkeit wichtig ist und dass wir wirklich die Communities als Expert*innen in ihrem Feld sehen: genauso Lernende wie vielleicht auch Lehrende.
Es gibt die Schüler*innen, die sich für unser Schülermanagementprojekt bewerben. Sie haben schon mal etwas vom Beethovenfest gehört über ihre Lehrer*innen und sind alle – blöder Ausdruck, aber mir fällt gar nichts Besseres ein – ehrfürchtig vor diesem großen traditionellen Unternehmen und vor dem, was sie erwartet in der Arbeitsweise. Es gibt auch Leute, die sind erst mal ein bisschen abgeschreckt und sagen, Beethovens Klassik interessiert mich überhaupt nicht. Da müssen wir zeigen, dass es nicht nur um klassische Musik geht und wir offen sind für neue Ideen.
Steven Walter: Als wir letztes Jahr Verbindung zu der queeren Community gesucht haben, gab es mit dem Partykollektiv Chin Chin einen phänomenalen Konzertabend, fand ich. Eine „Winterreise“ von Franz Schubert löst sich in eine Drag Party auf – maximale Kontraste an einem besonderen Ort, dem ehemaligen Viktoriabad. Die Schlange war 100 bis 200 Meter um die Ecke, die Drag Community war am Start. Da ist eine große Offenheit auf einer ganz anderen popkulturellen Ebene: Dass man mit dem Beethovenfest, mit dem großen Beethoven als Präfix im Namen, dass man da trotzdem extrem gut rankommt an diese Communities, war eine schöne Erfahrung, vielleicht gerade deswegen, weil es auch lustig ist, solche Verbindungen einzugehen, die auf den ersten Blick gegensätzlich scheinen.
Das Beethovenfest umfasst vielfältige Programme verschiedener klassischer, zeitgenössischer, europäischer und außereuropäischer Musiktraditionen, darunter viele Neukompositionen und populäre Programme, oftmals als Cross Over innerhalb eines Konzerts. Es geht zum einen darum, neues Publikum für klassische Musik zu interessieren, zum anderen darum, das bestehende Klassik-Publikum zu öffnen für neue Formen von Musik. In Cross Over-Veranstaltungen, in der Verbindung verschiedener Musikprogramme, werden die verschiedenen Publikumsgruppen in ihren Hörgewohnheiten überrascht.
Vor allem das Zusammenarbeiten mit diversen Communities, die aktiv als Expert*innen für ihr Umfeld und ihre Ansprüche an Musik in die Arbeit einbezogen werden sollen, erweist sich als sehr zeitaufwändig, weil Kontakte zunächst neu geknüpft und Beziehungen und Vertrauen langfristig aufgebaut werden müssen, bevor man zusammenarbeiten kann. Hier hatte man sich mehr vorgenommen, als zu schaffen war.
Vermittlung als Abteilungen übergreifende Gesamtstrategie zu etablieren, erweist sich als große Herausforderung innerhalb der traditionellen Strukturen
Birgit Mandel: Die zentrale Mission, die ihr eurem Festival seit Übernahme der Leitung zugrunde gelegt habt, ist es, eine vermittelnde und teilhabeorientierte Haltung über alle Bereiche des Festivals als Gesamtstrategie zu legen und die Vermittlung nicht mehr an eine eigene Abteilung zu delegieren. Auf welche Weise hat das die Zusammenarbeit im Team verändert?
Steven Walter: Ehrlich gesagt, solche horizontalen Funktionen, wie bei uns die Kulturvermittlung als Querschnittsaufgabe schaffen, stiften erst mal Verwirrung, weil es dazu führt, dass zum Beispiel die beiden Kolleginnen aus der Vermittlung in verschiedene Bereiche hineinwirken. Das ist durchaus eine Herausforderung für das Rollenverständnis aller. Denn es gibt quasi keine Vermittlung mehr, wenn alles Vermittlung werden soll. Das ist eine andere Logik, auch in der Art und Weise, wie diese Projekte entstehen und wie wir das vertakten müssen im Zeitplan. Wenn man immer mehr communitybasierte Projekte andocken möchte, dann hat es einfach einen anderen Zusammenhang in der Art und in der Zeitplanung. Es ist sehr viel zusätzliche Arbeit.
Elisa Hempel: Wir sind eigentlich kein produzierendes Festival, aber mit den Communityprojekten, die wir machen, produzieren wir auch künstlerische Beiträge gemeinsam mit den beteiligten Communities. Und ich glaube, das ist der eklatante Punkt, wo sich die Zusammenarbeit ändert im Team, weil das natürlich die Zeitstrukturen, aber auch die inhaltliche Arbeit total verändert, weil dann eine Gruppe aus städtischen Amateur-Künstler*innen, wie eine Gruppe Sehbehinderte oder Schüler*innen, vor Ort sind und mit uns gemeinsam kreativ arbeiten. Das ist das, was am meisten Spaß macht und warum wir alle in diesem Bereich arbeiten. Aber es braucht mehr Zeit.
Marion Leuschner: Wir wollen uns dahingehend ändern, dass die Musikvermittlung auch in die anderen Abteilungen rutscht. Operativ-organisatorisch muss man offen sagen, dass wir in der Zeit, in der es hektisch wurde, wieder in unsere alten Bahnen verfallen sind. Daran wollen wir weiterarbeiten: auch wenn die Zeit drängt und wenn es stressig wird, wirklich geebnete neue Arbeitsweisen zu haben, und nicht wieder auf unser gewohntes Organigramm zurückgreifen.
Steven Walter: Ich habe gemerkt, dass es am Ende sehr wichtig ist, dass ich dranbleibe. Ganz konkret, dass das Thema Vermittlung auch Chef-Sache sein muss, denn sonst ist es sehr schwer, die jahrzehntelang geübten und sonst überall vorgespiegelten Strukturen zu verändern. Ich glaube, es ist strukturell super wichtig, dass man von unten und von oben wirklich dranbleibt.
Der Anspruch, ein durchlässiges Zusammenarbeiten zwischen allen Abteilungen zu realisieren, erwies sich als schwierigste Aufgabe. Je höher der Arbeitsdruck wurde kurz vor Festivalstart, um so weniger gelang dies, weil dann doch wieder alle in ihren Abteilungen tätig waren, um die Arbeit zu schaffen. Vermittlung als Querschnittsfunktion ist Voraussetzung für eine konsequent teilhabeorientierte Veränderung klassischer Kulturorganisationen und zugleich die größte Herausforderung im Arbeitsalltag. Deutlich wurde zudem: Vermittlung muss Chefsache sein, damit sie von allen ernst genommen wird.
Künftig anders!?
Birgit Mandel: Was hat gar nicht geklappt? Was würdet ihr beim nächsten Mal anders machen?
Steven Walter: Eine unglaubliche Herausforderung war es, diesen Querschnittsanspruch der Vermittlung wirklich einzulösen. Da macht man natürlich viele Kompromisse. Die strukturelle Frage, wie man das im Team verankert, ist auf jeden Fall immer noch eine große Baustelle.
Marion Leuschner: Wir haben unheimlich viele Communities in der Stadt gesucht und angeschrieben, mit denen wir gerne zusammen hätten arbeiten wollen oder auch perspektivisch noch in Zukunft arbeiten möchten. Wir haben viele doch nicht erreicht, weil wir unsere eigenen kapazitären Grenzen gemerkt haben.
Wir sind Großthemen angegangen wie Inklusion, Diversität. Das sind riesige Themen, die wir noch nicht gut genug bedienen. Aber das ist natürlich kein Grund, es sein zu lassen, sondern das einfach noch intensiver und strategischer anzugehen.
Steven Walter: Aus bestimmten kulturelle Bildungsszenen kommt teilweise Gegenwind, wenn man versucht, etwas Inklusives zu machen. Dann kommen die, die davon leben inklusive Projekte zu machen und sagen: Das ist aber total fake, was ihr macht als Hochkultureinrichtung. In der Tat gibt es viele symbolische Projekte und oft fehlt das systemische Veränderungsinteresse. Aber jeder ernstgemeinte und vor allem strategische Versuch sollte grundsätzlich unterstützt werden. Das merke ich bei vielen Kolleg*innen, die heftig kritisiert werden, weil sie mal versucht haben, divers zu sein und dann halt nicht divers genug waren. Sie geben auf und schlagen wieder die gewohnten Wege ein. Auch wenn wir nicht perfekt sind in unseren Versuchen, dürfen wir nicht einfach zurück in die heimelige, wohlige Welt, sondern müssen Diversität strategisch angehen, scheitern und es neu versuchen.
Birgit Mandel: Woran messt ihr Veränderungen und Erfolg der neu entwickelten Maßnahmen?
Steven Walter: Eine ganz wichtige Metrik oder Erfolgskennzahl für unsere Arbeit ist, wie viel haben wir jeweils im Prozess gelernt. Da liegt durchaus, glaube ich, eine steile Lernkurve hinter uns. Aber die Teilnehmer*innenzahlen des Festivals waren sehr hoch. Wir haben alle Prognosen weit übertroffen. Und das ist, glaube ich, schon ein erstes Indiz dafür, dass man damit erfolgreich sein kann mit einem sehr diversen, anspruchsvollen Programm, aber dennoch sehr zugewandt und publikumsverliebt kommuniziert.
Birgit Mandel: Welche Themen und institutionellen Entwicklungen plant ihr für 2024?
Steven Walter: Wir haben mit Inside Artists ein neues Stipendienprogramm entwickelt, das Formen der Zusammenarbeit zwischen freien Künstler*innen und dem Management-Team des Beethovenfestes intendiert. Freie Musiker*innen sollen Ideen für PR/Öffentlichkeitsarbeit, Kuration, neue Formate, Community Building entwickeln. Aus diesen Erfahrungen wollen wir lernen, um unsere Organisation zu verändern. Unter dem (Arbeits-)Titel MITEINANDER setzt sich das Beethovenfest 2024 mit der Organisation von Gesellschaft, Macht und Verantwortung auseinander. Anlässlich des Jubiläums 75 Jahre Grundgesetz geht es um die Themen Demokratie und Teilhabe.
Eine publikums- und communityzugewandte Haltung zieht sich durch alle Aktivitäten des Festivals, von der Kommunikation als Erlebnisversprechen bis zum gemeinsamen Feiern von Teilnehmenden und Musiker*innen im Anschluss an die Konzerte. Damit lassen sich verschiedenste Publikumsgruppen gemeinsam erreichen.
Herausfordernd in den Strukturen einer traditionellen Kultureinrichtung, wie dem Beethovenfest ist es, Vermittlung tatsächlich als Aufgabe aller Abteilungen zu gestalten. Auch fehlen Erfahrungen und Kontakte, um diversitätsorientierte Communityprojekte zu entwickeln und durchzuführen, weswegen viele der Ideen nicht umgesetzt werden oder nur zum Teil gelingen. Letztendlich begibt man sich dann wieder auf sicheres, vertrautes Terrain. Hier brauche es Mut und Fehlerfreundlichkeit.
Zusammenfassendes Fazit
Mit der Übernahme seiner Intendanz des Beethovenfestes hat Steven Walter die Mission ausgegeben, die Organisation neu aufzustellen: als teilhabeorientiertes, publikumszugewandtes Festival, das in allen Aktivitäten vermittelnd handelt. Nicht die musikalische Produktion und Interpretation klassischer Musik steht im Vordergrund, sondern die Erlebnisse und Erfahrungen, die Menschen mit dieser Musik machen. Das ist gerade im Bereich der klassischen Musik mit ihren sehr konservativen Aufführungsformaten, Bewertungssystemen, Organisations- und Karrierestrukturen sowie einem kleinen, eher elitären, vorgebildeten Publikum eine große Herausforderung.
Auch wenn, vor allem seit der Intendanz von Simon Rattle mit Einführung einer ersten prominent kommunizierten Education Abteilung bei den Berliner Philharmonikern, das Thema Vermittlung in allen Einrichtungen klassischer Musik in Deutschland etabliert wurde, sind diese eher „add on“, denn konstitutiver Bestandteil der Häuser. So zeigte u.a. eine Studie zu Publikumsaktivitäten und Kulturvermittlung an den Stadt- und Staatstheatern in Deutschland, dass diese zwar vielfältige Aktivitäten entfalten, um mit der sogenannten „Stadtgesellschaft“ in Kontakt zu kommen, die Vermittlung aber oft nicht verbunden ist mit dem „Kerngeschäft“ der Einrichtung, sondern relativ autonom ihre Projekte realisiert. So haben dann auch die Vermittlungsprojekte in der Regel wenig Einfluss auf die Publikumsentwicklung. Das Klassikpublikum bleibt formal hoch gebildet, sozial bessergestellt und älter (Mandel 2021).
Dass Veränderungen in der Struktur des Publikums Veränderungen in der Organisation der Einrichtung vorausgehen müssen, ist eine Erkenntnis bereits aus der Evaluation der ersten, groß angelegten Audience Development Programme unter New Labour in Großbritannien (Arts Council England 2004). Es braucht grundlegende Veränderungen in Programmen, Formaten, Service und Kommunikation der Einrichtungen, um diese attraktiv zu machen für das avisierte neue Publikum. Ein wichtiger, vom Team des Beethovenfestes genannter Aspekt ist dabei, auch das traditionelle Publikum zu halten und einzubeziehen. Interessant ist die Beobachtung von Steven Walter, dass sich Menschen in ihrem primären Interesse an besonderen Erlebnissen im Kontext von Musik gar nicht so sehr unterscheiden.
Aber auch dann, wenn die Leitung für eine breite Teilhabe plädiert, sind Veränderungen dieser hoch institutionalisierten Einrichtungen mit jahrzehntelang gewachsenen Strukturen, die sich tief eingeschrieben haben in die Arbeitsabläufe, nur schwer umzusetzen. Auch das Beethovenfest kann als große Einrichtung mit festen Abteilungen deutlich weniger agil handeln und Neues ausprobieren als Steven Walter das etwa im Rahmen seiner vorherigen Tätigkeit für das PODIUM Festival tun konnte.
Dem Beethovenfest liegt ein notwendiges, breites Verständnis von Vermittlung zugrunde, das darunter ebenso die PR/Kommunikation (Mandel 2012), wie die Entwicklung zugänglicher, erlebnisorientierter Rezeptionsformate (Tröndle 2009) sowie längerfristige, teilhaborientierte gemeinsame Projekte mit unterschiedlichen sozialen Gruppen umfasst. Besonders die zentrale Idee, Vermittlung auch als genuine künstlerische und kuratorische Aufgabe zu verstehen, hat großes Potential, klassische Kultureinrichtungen attraktiver und zugänglicher zu machen.
Die grundsätzliche Frage aus klassismuskritischer Perspektive (vgl. Kiwi Stefanie Menrath „Klassismuskritische Kulturelle Bildung vor dem Horizont der Cultural Studies. Warum »Zugang schaffen« keine Lösung, sondern das eigentliche Problem ist“), warum die Musik von Beethoven und anderen klassischen Komponist*innen denn einem breiten Publikum „zugänglich“ gemacht werden soll, ist durchaus berechtigt. Dabei kann es keineswegs nur darum gehen, die hohe öffentliche Förderung klassischer Musikreinrichtungen zu legitimieren. Und schon gar nicht darum, auf Basis eines normativen Kulturverständnis Menschen in missionarischer Absicht zu bekehren, vermeintlich komplexere und hochwertigere Musik lieben zu lernen, statt sich mit „einfacher“ Pop Musik zu be- und vergnügen. Vielmehr stellt sich für das Beethovenfest die Frage, was klassische Musik zu geben hat, wie sie sich verbinden lässt mit zeitgenössischer Musik, welche emotionalen und inhaltlichen Anstöße sich für gegenwärtige Fragen entwickeln lassen und wie daraus ein für viele unterschiedliche soziale Gruppen zugängliches Musikprogramm werden kann. Dabei sowohl das traditionelle Klassikpublikum wie neues Publikum mit anderen Hörgewohnheiten und Interessen mitzunehmen und einzubinden, ist Voraussetzung, wenn es darum geht, mit öffentlich geförderten Kulturangeboten Menschen zusammenzubringen.
Das hohe, selbstkritische Reflexionsniveau im Team dürfte eine der entscheidenden Gelingensbedingungen für die Weiterentwicklung des Beethovenfestes zu einem konsequent teilhabeorientierten, publikumszugewandten und Gemeinschaft stiftenden Ereignis sein.