Postdigitale kulturelle Jugendwelten: Zeitgemäße künstlerische Ausdrucksformen, Teilhabechancen und Herausforderungen für die Kulturelle Bildung

Artikel-Metadaten

von Susanne Keuchel

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Das Forschungsprojekt Postdigitale kulturelle Jugendwelten konnte im Rahmen von qualitativen und quantitativen Erhebungen jugendlichen Perspektiven auf digitale Praktiken und Teilhabe-Herausforderungen nachgehen. Auf der einen Seite stehen künstlerische Materialien und Produktionen, die sich im Zeitalter der Postdigitalität insbesondere als interdisziplinär und performativ, experimentell und interaktiv zeigen. Eine Trennung von analog und digital ist in diesen Praktiken nicht mehr möglich, aber auch Grenzen von (bewusster) Produktion und Rezeption verschwimmen. Auf der anderen Seite tritt eine fortbestehende, wenn nicht sogar sich verschärfende Problematik zutage: Produktions- und Rezeptionserfahrungen sind vielfach davon abhängig, welchen Bildungshintergrund junge Menschen haben. Das Wissen um die Rahmenbedingungen ihrer Mediennutzung (z. B. Algorithmen und Datenschutz) ist bei Jugendlichen relativ umfangreich, weist aber große Lücken auf. Insgesamt haben viele Jugendliche ein kritisches Bewusstsein und sehen zu ihrer Unterstützung politischen Handlungsbedarf. Postdigitale Praktiken teilhabeorientiert und künstlerisch-innovativ weiterzuentwickeln und emanzipatorischen Medienumgang zu unterstützen – das sind dringende Aufgaben der Kulturelle Bildung.

Die rasant fortschreitende digitale Entwicklung hat die Gesellschaft in ihren Lebens- und Alltagsbedingungen deutlich verändert. Eine Konsequenz sind sehr unterschiedliche generationsspezifische Sichtweisen und Erfahrungskontexte im Umgang mit digitalen Techniken, im Verständnis und in Begrifflichkeiten.

Ein Aspekt trifft die Verwobenheit analoger und digitaler Lebenswelten. In der Geisteswissenschaft wird auch von Digitalität gesprochen. Im Gegensatz zur Digitalisierung suggeriert Digitalität keine Ablösung des Alten, sondern fokussiert auf das vernetzte Nebeneinander analoger und digitaler Kontexte (Castells 2003). Diese Betrachtungsweise charakterisiert auch die veränderten generationsspezifischen Perspektiven. Standen in einer ersten Unterscheidung zwischen Digital Natives und Digital Immigrants von Marc Prensky (2001) die unterschiedlichen Fertigkeiten und Nutzungen des Digitalen im Fokus, beispielsweise das viel breitere Nutzungsspektrum der jungen Generationen versus älterer Bevölkerungsgruppen, gehen Forscher*innen unter der erweiterten Perspektive der Digitalität davon aus, dass junge Menschen, die mit mobilen Endgeräten aufgewachsen sind, gar nicht mehr zwischen virtuellen und realen Welten unterscheiden. In der Pädagogik wurde hier der Begriff der Virtualitätslagerung diskutiert (Jörissen/Marotzki 2009), in der Medienwissenschaft der Begriff vireal, der umschreibt, dass „Virtualität die Realwelt ergänzt und nicht ersetzt oder multipliziert“ (Ketter, 1/2011). Nicholas Negroponte hatte hier schon in den 1990er Jahren den Begriff der Postdigitalität geprägt. Damit umschreibt er das Bild des Digitalen, das tief in die (Infra-)Strukturen der sozialen, kulturellen und ökonomischen Welten eingebettet ist, als ein Konzept, das das Digitale nur noch durch seine Abwesenheit bemerkt. (Negroponte 1998).

Was bedeuten diese veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Postdigitalität für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen? Was für ihre jugendkulturellen und künstlerischen Ausdrucksformen? Und damit letztlich für die Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung?

In dem Forschungsprojekt Postdigitale kulturelle Jugendwelten wurde den oben genannten Fragestellungen nachgegangen. Im Folgenden werden zunächst Hintergründe und Methodik der Studie referiert und anschließend die Ergebnisse der Studie vorgestellt. Dabei wird auch die postdigitale kulturelle Teilhabe in den Blick genommen und veränderte Sichtweisen durch Digtalität aufgezeigt. Abschließend werden auf Basis der Ergebnisse Empfehlungen für eine zeitgemäße Kulturelle Bildung im Zeitalter der Postdigitalität abgeleitet.

Hintergründe und Methodik zur Studie „Postdigitale kulturelle Jugendwelten“

Das Forschungsprojekt Postdigitale kulturelle Jugendwelten (Keuchel/Riske 2020) wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Zeitraum von 2016 bis 2019 gefördert. Das Verbundvorhaben zwischen dem Institut für Bildung und Kultur e.V. Remscheid und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg – in Kooperation mit der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW – standen Benjamin Jörissen (FAU) und Susanne Keuchel (Akademie) als Leitungen vor. Das Projekt kombinierte experimentelle Erhebungsformate mit etablierten qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden, um ein umfassendes Spektrum der Datengenerierung zu ermöglichen und sich zugleich dem Forschungsfeld trendsensibel anzunähern, mit der Erkenntnis, dass die bis vor kurzem noch üblichen Unterscheidungen online versus offline in Forschungsprojekten zu dem Thema nicht länger tragfähig sind (vgl. Jörissen 2019 et al.). Im Folgenden werden aus der Vielzahl der Erhebungsformate zwei Methodenbausteine vorgestellt, auf die sich im Wesentlichen, die hier dargestellten Ergebnisse beziehen:

  • BarCamp als qualitatives Methodenformat und
  • bundesweite repräsentative Jugendbefragung der 14- bis 24-Jährigen (Face-to-face).

Zur Methodik des BarCamps

Das experimentelle Erhebungsformat des Barcamps beinhaltete ein offenes Tagungsformat, in welchem die Teilnehmer*innen die Inhalte und den Ablauf bestimmten. Grund für den Einsatz und die erstmalige Erprobung des BarCamps am 16./17.02.2018 lag in der Offenheit des Formats, die sich auch im Titel „Wer sind wir?“ widerspiegelte. Insgesamt nahmen 46 Personen teil, 19 männliche und 27 weibliche, im Alter von 13 bis 27 Jahren, die über verschiedene Netzwerke und Kontakte akquiriert wurden. Es wurde darauf geachtet, heterogene Gruppen anzusprechen, insbesondere bezogen auf Bildungsgrad und auf kulturelle Hintergründe der Teilnehmenden. Die einzelnen Sessions, die von den jungen Teilnehmenden thematisch selbst festgelegt und durchgeführt wurden, wurden mitgeschnitten und ausgewertet.

Zur Methodik der repräsentativen bundesweiten Befragung der 14- bis 24-Jähirgen

Die bundesweit durchgeführte Jugendbefragung der 14- bis 24-Jährigen wurde im Rahmen einer Quotenstichprobe (Hagenah/Best 2005; Keuchel 2013) durchgeführt. Insgesamt wurden 2.067 Personen Face-to-Face im Zeitraum vom 11.10.2018 bis 31.12.2018 mittels eines standardisierten Fragebogens, der mit Filterführungen arbeitete, befragt. Neben einer Bestandsaufnahme aktueller kultureller und künstlerischer Interessen und Aktivitäten der 14- bis 24-Jährigen, wurden Einstellungen und Wissen zu digitalen und kulturellen Techniken sowie Itembatterien zu Gesellschaft im Allgemeinen und aktuell diskutierten Themen wie Datenschutz und Netzfreiheit erhoben. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf Räumen als Orten kultureller Teilhabe, vor allem in Bezug auf ihre digitale, mediale und physisch analoge Beschaffenheit sowie ihre private und öffentliche Strukturiertheit. Vor dem Hintergrund des seit Jahren aus der sozialpädagogischen Forschung bekannten Phänomens der digitalen Ungleichheit (Kutscher/Otto 2010) wurden auch soziodemographische Merkmale wie Geschlecht, Alter, Schulabschluss/aktuell besuchte Schule, Migrationshintergrund, Ortsgröße und Bundesland erfasst.

Postdigitale künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen einer jungen Generation

Innerhalb der qualitativen Methodenbausteine – vor allem im Kontext des BarCamps – konnte eine Vielzahl an neuen postdigitalen jugendkulturellen Ausdrucksformen ermittelt werden. Diese beginnen bei der Entwicklung eigener Sprachmuster, beispielsweise der Übernahme von Kürzeln aus der Leetspeak wie z.B. lol (laughing out loud) bis hin zum wachsenden Interesse, mit interdisziplinären Kunstpraktiken zu performen. Dabei bestätigte sich die Ausgangsthese des Forschungsprojekts: Die folgenden Trends jugendkultureller postdigitaler Ausdrucksformen werden von jungen Menschen oft weder als künstlerisch noch als digitale Praktiken eingeordnet. Dass künstlerische jugendkulturelle Praktiken von jungen Menschen selbst nicht als „künstlerisch“ oder kulturell eingestuft werden, konnte schon in den wenigen früheren Jugendumfragen zur Kulturellen Teilhabe beobachtet werden (Keuchel/Wiesand 2006; Keuchel/Larue 2012; Institut für Demoskopie Allensbach 2015). Dies galt in besonderem Maße für digitale künstlerische Praktiken. In der JIM-Studie von 2010 lag beispielsweise der Anteil der Jugendlichen, die am Computer nach eigenen Angaben Bilder und Filme bearbeiten, bei 14 Prozent; fünf Prozent gaben an, am Computer Musik zu machen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2011). Im zweiten Jugend-KulturBarometer (Keuchel/Larue 2012) gaben fünf Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, zu fotografieren oder mit der Digitalkamera zu filmen, und vier Prozent erklärten, am Computer Designs und Layouts zu erstellen (Keuchel und Larue 2012:106). Zum Vergleich: 2014 lag der Anteil in der JIM-Studie bei 11 Prozent, die angaben, digitale Filme und Videos zu machen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014:11). Diese Anteile waren in der quantitativen Erhebung zu postdigitalen kulturellen Jugendwelten durch eine veränderte Fragetechnik, die auf Basis der qualitativen Erhebungen entwickelt wurde, deutlich höher. So gaben in dieser Erhebung immerhin 21 Prozent an, schon einmal Videos bzw. Filme erstellt zu haben, und 46 Prozent der 14- bis 24-Jährigen erwähnten Aktivitäten im Bereich Fotografie. Auf den zweiten Blick könnten auch diese Zahlen verwundern, angesichts der in dieser Studie ermittelten Ausstattung mit mobilen Endgeräten (z.B. Smartphones). Hier hatten 100 Prozent der befragten 14- bis 24-Jährigen Zugang zu Geräten, die sowohl das Fotografieren als auch das digitale Filmen jederzeit ermöglichen. Möglicherweise kann diese Diskrepanz auch auf eine bewusste oder auch unbewusste Unterscheidung in „alltägliche“ und „künstlerische“ Nutzung zurückgeführt werden.  

Innerhalb bisheriger Jugendstudien können auch immer kürzere generationsspezifische Unterschiede bezüglich Begriffskonzepten und Wahrnehmung beobachtet werden. Wurde bezogen auf den Kulturbegriff im ersten JugendKulturBarometer bei den 14- bis 24-Jährigen eine sehr enge Eingrenzung auf klassische Kultureinrichtungen bei gleichzeitiger weitgehender Ausblendung der eigenen jugendkulturellen Praktiken beobachtet (Keuchel 2013), konnte im zweiten Jugend-KulturBarometer eine stärkere Fokussierung des Kulturbegriffs auf Kulturen diverser Herkunftsregionen festgestellt werden (Keuchel/Larue 2012). Innerhalb der hier vorgestellten quantitativen Ergebung wurde bei den befragten Jugendlichen die Alltäglichkeit der Mediennutzung und die hypothetisch angenommene, überlagerte, nicht differenzierte Wahrnehmung analoger und digitaler Kontexte deutlich. Gleichzeitig blieb ein Restbewusstsein für die altgedienten Dichotomien analog und digital respektive online und offline erkennbar. Es bleibt zu vermuten, dass generationsspezifische Unterschiede im Kontext eines immer schnelleren Wandels digitaler Techniken in zunehmend kürzeren Abständen sichtbarer hervortreten werden.

Bei der Sichtung postdigitaler jugendkultureller Ausdrucksformen, die über die verschiedenen qualitativen Verfahren der Studie und vor allem innerhalb des BarCamps gesammelt wurden, konnten einige grundsätzliche Merkmale herausgearbeitet werden, die im Folgenden kurz skizziert werden, wobei postdigitale kulturelle Ausdrucksformen hier oftmals mehrere dieser grundsätzlichen Merkmale vereinen.

Neuverwertung bestehender (künstlerischer) Materialien

Die Vielzahl an künstlerischen Materialien auf digitalen Plattformen motiviert junge Bevölkerungsgruppen vielfach dazu, nicht mehr selbst künstlerisch-kreatives Material zu erstellen, sondern aus schon bestehenden künstlerischen Materialien, neue künstlerische Produkte/Produktionen zu entwickeln. So werden beispielsweise Ausschnitte aus einem Lieblingsfilm zu einem selbst gewählten Musikstück unter filmmusikkompositorischen Gesichtspunkten für ein YouTube Musikvideo neu zusammengeschnitten. Beispielhaft für diese Praxis sind auch Memes, in denen Bildbotschaften aus oftmals montierten oder aus dem ursprünglichen Kontext gerissenen Fotografien, Zeichnungen oder Filmen neu erstellt werden. Auch bei Computerspielen kann beobachtet werden, dass junge Menschen vorhandenes Material bzw. Rahmenbedingungen verändern. Dabei geht es weniger um das Schaffen von etwas Neuem als vielmehr darum, Spielregeln den gemeinsamen oder auch eigenen Interessen anzupassen. Als Beispiel kann hier die Modding-Szene in der PC- und Videospielindustrie genannt werden.

Das Phänomen der Neuverwertung bestehender Materialien kann auch in analogen Kontexten beobachtet werden; beispielsweise in der Maker-Szene, die aus alten Materialien neue Nutzungskontexte erzeugt und beispielsweise aus Paletten Sofas baut. Hier zeigt sich die enge Verschränkung mit dem Digitalen, da solche „Kunstwerke“ in sozialen Netzwerken gepostet werden und somit eine Art Wettbewerb um die besten Ideen entsteht. Ein weiteres Beispiel ist die Anfertigung von Kleidern oder Schmuckstücken aus Computergehäusen, Patchkabeln oder Festplatten.

Die Neuverwertung von bereits existierendem Material ist nicht neu. So wird sie beispielsweise auch im Kontext der DJ-Technik oder bei der Musikproduktion angewendet, indem durch die Methode des Samplings alte Aufnahmen digitalisiert und für neue Produktionen wiederverwertet werden. Die Rahmenbedingungen der Digitalität vereinfachen hierbei die Möglichkeiten der Wiederverwertung von (künstlerischen) Materialien. Vor allem im Kontext von KI kann beobachtet werden, dass auf Basis bereits veröffentlichter Musik, Literatur oder (Film)Bilder neue Kunstwerke entstehen.

Interdisziplinär performativ statt handwerklich spartenspezifisch

Digitale Techniken ermöglichen künstlerische Gestaltungsprozesse ohne die Notwendigkeit des Erwerbs handwerklicher Fähigkeiten, wie beispielsweise das Erlernen eines Musikinstrumentes. Ganze Orchester lassen sich beispielsweise über die Bedienung einer App simulieren (http://app2music.de/kulturmachtstark/). Entsprechend betont der Berliner Künstler Andreas Fischer, dass es bei zeitgenössischer Kunst „gar nicht mehr ums Handwerk“ gehe, sondern „um das Konzept und die Idee, die dahintersteckt und nicht mit welchem Werkzeug, das jetzt erzeugt wurde“ (Zeidler 2018). Entsprechend kann ein zunehmendes Interesse junger Menschen an Performativität beobachtet werden.

Zwei Trends heben sich ab: die zunehmende Interdisziplinarität des Performativen und die Verlagerung der Performance weg von Orten der Exzellenz hin zu Alltagsorten.

Eine postdigitale Konzeptidee, die sich in vielen performativen YouTube-Videos wiederfindet, ist das Übereinanderlegen mehrerer Filmtracks, um überraschende Effekte zu erzielen, wie beispielsweise indem eine Person mit sich selbst musiziert. Dabei werden die Orte der Performance zunehmend in Alltagsorte wie Wohnzimmer oder Küche verlagert. Mit verschiedenen Küchenutensilien und –möbeln wird beispielsweise ein Percussion-Klangteppich durch die Überlagerung verschiedener Tracks erzeugt. Auch wenn die Inszenierungsorte im Alltäglichen angesiedelt sind, ist die Publikumsresonanz durch soziale Netzwerke hier oftmals deutlich höher als an analogen Orten der Exzellenz wie Theater oder Museum. Zugleich machen diese Beispiele deutlich, wie verwoben analoge und digitale Praktiken sind. Denn es wird hier zunächst in analogen Räumen mit analogen Medien wie Klavier oder Kücheninstrumenten gearbeitet, die dann die Grundlagen für eine digitale Weiterverarbeitung bilden. Das digitale Ergebnis wird anschließend im digitalen Raum verbreitet und kann zugleich von mehreren Personen in analogen Räumen auf digitalen Geräten rezipiert werden.   

Experimente mit analog-digitalen Schnittstellen

Die Überlagerung analog-digitaler Praktiken im Alltag führt bei jungen Leuten auch dazu, dass Aktivitäten, die vorher in analogen Kontexten vollzogen wurden, oft ohne Reflexion ins Digitale verlagert werden und umgekehrt. Als Beispiel sind hier Rollenspiele zu nennen, die schwerpunktmäßig in digitalen Räumen gespielt und dann in analoge Kontexte übertragen werden, um neue Erfahrungen zu ermöglichen. Daraus hat sich als jugendkultureller Trend ein bewusstes Spielen mit den sehr unterschiedlichen analogen und digitalen Qualitäten entwickelt. Ein klassisches Beispiel sind die mittlerweile etablierten Live-Escape-Games, die von den Text-Adventure-PC-Spielen der 1980er Jahre inspiriert wurden. Auch werden beispielsweise weltweit gespielte Computerspiele wie World of Warcraft in analog-digitalen Settings zelebriert, in Form von Weltmeisterschaften mit analogem Publikum in analogen Stadien, in denen sich die analog vor Ort befindlichen Spieler*innen digital messen. Oftmals sind die Szenarien eingebettet in ein analoges künstlerisches Programm, während das Ereignis zeitgleich auch digital weltweit zugänglich ist.

Ein weiteres Beispiel ist das analoge Musizieren von Computerspielemusik. Es bleibt dabei oft nicht bei der analogen Praktizierpraxis, sondern es wird oft auch interdisziplinär performt, indem nach Vorlage des Computerspiels Kostüme angefertigt und während des gemeinsamen Musizierens getragen werden. Diese Performance kann an unterschiedlichen analogen Orten erfolgen und mündet durch digitale Übertragung in eine gemeinschaftliche Aufführungspraxis in Form eines Youtube-Videos. Auch zeitgenössische Künstler*innen wie der Medien- und Konzeptkünstler Aram Bartholl, spielen mit analog-digitalen Schnittstellen. Bartholl wurde bekannt durch seine Arbeit Map (https://arambartholl.com/de/map/), in der er Zeichen und Symbole aus Google Maps aus dem digitalen Raum ins reale Leben projiziert und im öffentlichen Raum aufstellt.

Interaktive künstlerische Gemeinschaftsproduktionen

Digitale Techniken ermöglichen die Produktion gemeinsamer Kunstwerke auch über weite analoge Entfernungen, wie dies exemplarisch am Beispiel der Computerspielemusizierpraxis deutlich wurde.  Gemeinschaftsaktivitäten sind damit nicht mehr abhängig vom Auffinden von Mitinteressent*innen im analogen sozialen Umfeld. Stattdessen können weltweit Aktionsbündnisse für unterschiedliche künstlerische Aktivitäten geschmiedet werden. Dies hat den Vorteil, dass sich auch für eher seltene und exotische Freizeitaktivitäten digitale soziale Communities finden lassen, beispielsweise für creepypasta. Der Begriff, ein englisches Kofferwort, welches sich aus den sprachlich überlappenden Begriffen creepy, was im Deutschen gruselig bedeutet, und copypasta im Sinne von Copy & Paste, also kopieren und einfügen, zusammensetzt, bezeichnet Grusel- und Horrorgeschichten aus dem Internet, die oftmals in Gemeinschaftsarbeit auf Onlineplattformen (https://www.creepypasta.com) für die Verbreitung von Creepypasta entwickelt werden.

Neben digitalen Interessensgemeinschaften finden sich online aber auch Gemeinschaftsaktionen von Menschen, die keine spezifischen Interessen oder Gemeinsamkeiten verbindet. Hier werden spontane Gemeinschaften gebildet, um aus der Situation heraus, mittels digitaler Techniken einen Chor zu bilden oder gemeinsam einen spezifischen Tanz aufzuführen. Ein frühes und sehr verbreitetes Beispiel ist hier der weltweit getanzte Gangnam Style, ein K-Pop-Lied des südkoreanischen Rappers Psy.  

Solche spontanen Gemeinschaftsaktionen werden auch im Analogen praktiziert, z.B. durch die Möglichkeit, vorab in sozialen Netzwerken einen spezifischen Treffpunkt zu vereinbaren, um beispielsweise einen Flashmob zu inszenieren. Dabei muss es sich nicht immer um künstlerische Spontanaktionen und Performances handeln, sondern es gibt hier weitere Formen, wie beispielsweise den Carotmob, eine besondere Form des Smart Mobs: Hierbei werden Ladenbesitzer*innen, die sich für Klima und Umweltschutz in besonderer Weise engagieren, unterstützt, indem im Netz dazu aufgerufen wird, innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens dort einzukaufen.  

Kulturelle Teilhabe in der Postdigitalität

Wie gestaltet sich kulturelle Teilhabe unter den veränderten Bedingungen der Postdigitalität? Werden durch digitale Medien und Plattformen möglicherweise mehr junge Menschen an kulturellen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen beteiligt? Führen die Bedingungen der Postdigitalität, im Sinne eines breiten Kulturbegriffs, zu mehr Chancengleichheit?

Um diese Frage zu beantworten, gilt es jedoch zunächst, sich einer methodologischen Herausforderung zu stellen - und zwar der, den Einfluss des Digitalen auf kulturelle Produktions- und Rezeptionspraxen messbar zu machen und solche Aktivitäten, die digital stattfinden, zu quantifizieren. Mit Blick auf die Postdigitalität ergeben sich hierbei deutliche Unschärfen in der Messung, da sich analoge und digitale Ebenen überlagern. Um dennoch den Einfluss des Digitalen sichtbar zu machen, wurden hier analoge Rezeptionsorte, wie nichtkulturelle Einrichtungen, kulturelle Einrichtungen oder andere analoge öffentliche Räume den digitalen Räumen wie Online-Plattformen oder Streamingdiensten gegenübergestellt, wohl wissend, dass an analogen Orten immer auch digitale Zugänge existieren, wie auch umgekehrt. Die Paradoxie der Trennung zeigt sich bei der Zuordnung von Medien bzw. Datenträgern. Diese können sowohl analog, in Form von Büchern oder Schallplatten, als auch digital, in Form von USB-Stick oder DVD, sein. Aus diesem Grund wurden sie in der folgenden Differenzierung bei der Betrachtung kultureller und künstlerischer Aktivitäten ausgeschlossen.

Die folgende Übersicht 1 verdeutlicht, dass in der quantitativen Erhebung zu postdigitalen kulturellen Jugendwelten alle jungen Menschen kulturelle Angebote rezipieren und 78 Prozent der 14- bis 24-Jährigen, nach eigenen Angaben, mindestens einmal außerhalb formaler Bildungskontexte künstlerisch-kreativ waren. Das sind anteilig deutlich mehr 14- bis 24-Jährige als in anderen Studien bisher ermittelt wurde. Im Jugend-KulturBarometer lag der Anteil der bisher künstlerisch-kreativen 14- bis 24-Jährigen 2004 bei 48 Prozent (Keuchel/Wiesand 2006 ) und 2011 bei 45 Prozent (Keuchel/Larue 2012). Dies gilt auch für andere Studienergebnisse. Geben in dieser quantitativen Befragung nahezu alle 14- bis 24-Jährigen an, Musik und Filme zu rezipieren, weist die Shell Jugendstudie 2019 mit 57 Prozent der Befragten, die in der Freizeit Musik hören, und 45 Prozent, die Filme und Serien schauen (vgl. Albert et al. 2019:214), deutlich kleinere Anteile auf. Diese Differenzen können auf unterschiedliche Fragetechniken und Begriffe zurückgeführt werden. Während es in der vorliegenden Studie durch die veränderte Fragetechnik gelungen ist, dass junge Menschen hier ihre kulturellen Aktivitäten ausführlicher darstellen und so ein realistischeres Bild entsteht, konnte dies in früheren Studien durch die Art der Fragestellung und die verwendeten Begrifflichkeiten nur eingegrenzt geschehen. Dies gilt beispielsweise für die Verwendung des Begriffs Freizeit, der durch die von Zeit und Raum losgelösten digitalen Möglichkeiten und der damit einhergehenden Überlagerung von Freizeit, Beruf oder Schule, zunehmend an Relevanz verliert. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass bei der Beantwortung dieser Fragen vielfach auch unbewusste Prozesse ausgeblendet werden, beispielsweise das Musikhören beim Treffen mit Freund*innen, da in diesem Kontext das Zusammensein mit Freund*innen stärker im Vordergrund der Freizeitaktivität steht als das gemeinsame Musikhören.

Übersicht 1: Kulturelle Rezeption und kulturelle Produktion der 14- bis 24-Jährigen bezogen auf analoge und digitale Räume*

Übersicht 1
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018. * Aufgrund der Dualität von Datenträgern/Medien, die sowohl analogen als auch digitalen Charakter besitzen, wurde die Gruppe derer gebildet, die in allen Bereichen ausschließlich medial – zum Beispiel über Datenträger oder physische Medien - rezipieren. Diese Gruppe bestand aus keinem der Befragten, darum wurde die Entscheidung getroffen, die Nutzung von Datenträgern/Medien sowohl  in den Bereich Produktion als auch für die Rezeption einzuordnen.

Bezogen auf kulturelle Teilhabe allgemein, kann in dieser Studie zunächst - aufgrund der deutlich höheren Anteile im Vergleich zu anderen Studien - folgendes Fazit gezogen werden: Digitalität reduziert die Möglichkeiten analoger Welten nicht, sondern ergänzt vor allem bestehende: Denn junge Menschen rezipieren Künste sowohl analog als auch digital.

Bei der Betrachtung künstlerisch-kreativer Aktivitäten der 14- bis 24-Jährigen wird in der vorausgehenden Übersicht deutlich, dass eine reine digitale Auseinandersetzung mit künstlerisch-kreativen Praktiken nicht angegeben wird. Bei genaueren Überlegungen ist festzustellen, dass sich Aktivitäten nicht ausschließlich im digitalen Raum vollziehen, sondern immer der Hybridität unterliegen: Junge Menschen, die künstlerisch mit digitalen Techniken arbeiten, sind zugleich immer auch im Analogen verortet, und vielfach wird auch das künstlerische Material, das im Digitalen weiterverarbeitet wird, aus analogen Kontexten generiert – oder auch umgekehrt.

Im Gegensatz zur Kulturrezeption kann bei der Kulturproduktion beobachtet werden, dass 31 Prozent der 14- bis 24-Jährigen angeben, ausschließlich in analogen Kontexten künstlerisch-kreativ zu sein, beispielsweise zu musizieren, zu tanzen oder Theater zu spielen. Hier stellt sich die Frage, ob eine fehlende professionelle postdigitale kulturelle Bildungsangebotsstruktur diesen Umstand befördert.

Wird diesbezüglich nach dem formalen Bildungshintergrund der 14- bis 24-Jährigen differenziert, zeigen sich bezogen auf die hybride Kunstproduktion deutliche Bildungsunterschiede: Sind 53 Prozent der Abiturient*innen bzw. Gymnasiast*innen in hybriden Kontexten künstlerisch-kreativ aktiv, liegt der Anteil der Hauptschüler*innen bzw. Hauptschulabsolvent*innen bei 35 Prozent. Möglicherweise ist dieses Ergebnis auch darauf zurückzuführen, dass kulturelle Bildungsprogramme und andere Maßnahmen - zur Verbesserung kultureller Teilhabe von Bildungsbenachteiligten - vielfach noch sehr stark auf analoge künstlerisch-kreative Praktiken fokussiert sind.

Übersicht 2: Künstlerische Produktion der 14- bis 24-Jährigen 2018 in analog-digitalen Räumen differenziert nach Schulbildung

Übersicht 2
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Wird im Folgenden die Perspektive verengt auf künstlerisch-kreative postdigitale Ausdrucksformen, wie sie vorausgehend in Kapitel II skizziert wurden, wird deutlich, dass insgesamt nur etwa ein Fünftel der 14- bis 24-Jährigen mit solchen Ausdrucksformen häufiger operiert. Dies verstärkt die These, dass künstlerische Expressivität in digitalen Räumen wie auch die Fähigkeit zu kreativer Irritation im Digitalen, nur bei einem vergleichsweise kleinen Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu finden ist, obwohl die Möglichkeiten analog-digitaler Produktionsmittel so vielfältig sind, wie vermutlich nie zuvor.       

Wird die Intensität des Rückgriffs auf künstlerisch-kreative postdigitale Ausdrucksformen bei den 14- bis 24-Jährigen in Beziehung gesetzt zu ihren formalen Bildungshintergründen, wird spannenderweise deutlich, dass sich in der vergleichsweise sehr kleinen Gruppe von 1,2 Prozent, die hier eine hohe Affinität zu diesen Ausdruckformen aufweist, eine hohe Anzahl an Realschüler*innen bzw. Absolvent*innen der Mittleren Reife befindet. Das lässt vermuten, dass Schulbildung und damit indirekt eine Unterstützung des Elternhauses, welche mit diesen Techniken in der Regel wahrscheinlich selbst nicht vertraut ist, eine weniger entscheidende Rolle spielt. Es scheint sich hier um eine kleine Gruppe zu handeln, die sehr experimentierfreudig ist und dabei eine hohe Bereitschaft zu autodidaktischen Lernprozessen aufweist. Möglicherweise besteht dabei eine Deckungsgleichheit mit der Gruppe der „experimentalistischen Hedonisten“, die im Rahmen einer Sinus-Milieustudie zu jugendlichen Lebenswelten (Calmbach et al. 2016) ermittelt wurde und wie folgt beschrieben wird: „Erlernen neuer Skateboard-Tricks, Spielen in einer Band, Nähen von eigenen Klamotten, Fotografieren, Zeichnen und Malen, Sich selbst ein Musikinstrument beibringen, Video- und Bildbearbeitung für Material, das sie im Internet veröffentlichen.“ (ebd.:122). (Anm.: Im Rahmen der Erläuterungen zur Systematik der Quantifizierung des SINUS-Lebensweltenmodells erklären die Autor*innen: „Eine solche quantitative Lebensweltanalyse für die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen steht bislang noch aus.“ (Calmbach et al. 2016:35). Dabei werde sich auf die, im Jahr 2013, erfassten Daten über die Lebenswelten der 14- bis 29-Jährigen gestützt.)

Übersicht 3: Zur Intensität des Rückgriffs auf postdigitale kulturelle Ausdrucksformen bei den 14- bis 24-Jährigen differenziert nach formalem Bildungshintergrund

Übersicht 3
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Zu Gatekeeper-Prozessen, die postdigitale kulturelle Teilhabe beeinflussen

Auch wenn viele junge Menschen analog-digitale kulturelle Rezeptionserfahrungen haben, heißt dies nicht zwangsweise, dass auch eine Chancengleichheit hergestellt ist.  Entscheidend ist die grundsätzliche Frage nach der Spannbreite kultureller Rezeptionserfahrungen. Diese ist innerhalb einer quantitativen Befragung nicht einfach zu bestimmen. Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Zugänge zu unterschiedlichen Spartenbereichen differenziert nach formalen Bildungsabschlüssen betrachtet. Dabei wird in der Übersicht 4 deutlich, dass es einzelne Spartenbereiche gibt, deren Rezeptionserfahrungen stark vom Bildungshintergrund abhängen. Dieses gilt sowohl für Gesangs- als auch Sprechdarbietungen, aber vor allem für den Bereich der Bildenden Kunst. Zugänge zur Bildenden Kunst, das zeigen vielfältige Studien (Keuchel 2003), korrelieren im Vergleich zu anderen künstlerischen Spartenbereichen seit jeher besonders stark mit dem Bildungshintergrund.

Übersicht 4: Spartenspezifische Rezeptionszugänge der 14- bis 24-Jährigen differenziert nach Bildungshintergrund

Übersicht 4
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Bei der Betrachtung fällt auch auf, dass unter den sehr Intensiven Nutzergruppen der einzelnen Spartenangebote die Bildungsverteilung kaum eine Rolle spielt. Dies ist möglicherweise auch eine Folge der frei zugänglichen digitalen Angebotsvielfalt.

Speziell die Sparten Musik und Film werden nahezu von allen Bevölkerungsgruppen über die verschiedenen Kanäle intensiv genutzt. Dabei könnte vermutet werden, dass es bezogen auf die Art der Filme, die gesehen, und die Musik, die gehört wird, auch deutliche Bildungsunterschiede geben könnte, unter der These: Mainstream-Angebote sind für alle leichter zugänglich. Bei weniger verbreiteten Musik- oder Filmkunstformen wird der Bildungshintergrund relevanter.

Um hier die Einflussfaktoren auf analog-digitale Teilhabe besser einschätzen zu können, wurde in der quantitativen Erhebung konkret nach Gate-Keepern bei der Auswahl von Angeboten und Online-Plattformen bei den 14- bis 24-Jährigen gefragt. Dabei wurde deutlich, dass, parallel zu analogen kulturellen Rezeptionserfahrungen, das soziale Umfeld - vor allem das Elternhaus und der eigene Freundeskreis -, die Auswahl kultureller Angebote beeinflusst. Eine vergleichbar große Rolle spielen zusätzlich eigene Recherchen und Empfehlungen von Plattformen. Mit dem Wissen um die Selbst-Referentialität des Internets (Filipovic 2013:195) kann auch im Postdigitalen davon ausgegangen werden, dass der Einfluss des sozialen Umfelds bei Zugriff und Auswahl von (kulturellen) Angeboten eine zentrale Rolle spielt (ebd.).

Übersicht 5:  Zur Auswahl/Empfehlung von kulturellen Rezeptionsangeboten bei den 14- bis 24-Jährigen

Übersicht 5
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Zur Souveränität im Umgang mit digitaler Infrastruktur

Im Sinne eines emanzipierten Medienumgangs wurden in der Umfrage die Kenntnisse über Algorithmen oder die Rechtsgrundlagen der Nutzung von kommerziellen sozialen Netzwerken und vieles mehr thematisiert. Dabei wurde deutlich, dass die 14- bis 24-Jährigen oftmals über wenig konkretes Wissen, beispielsweise zu Filter Bubbles, Step-Trackings oder Social Bots, verfügen. Dies gilt auch für Anwendungen, die in der Tradition von Open Source-Programmen stehen. Algorithmen, die maßgeblich für eine Steuerung des Online-Erlebnisses verantwortlich sind, kennen nach eigener Aussage immerhin etwa die Hälfte der 14- bis 24-Jährigen.

Übersicht 6: Kenntnis technischer Praktiken und Anwendungen bei den 14- bis 24-Jährigen insgesamt und differenziert nach formalem Bildungshintergrund

Übersicht 6
Quelle: Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Bei der Kenntnis dieser technischen Steuerungsmechanismen können bildungsspezifische Unterschiede beobachtet werden. So weisen anteilig die 14- bis 24-Jährigen mit höherer formaler Bildung mehr Kenntnisse über digitale Techniken und Anwendungen auf. Das Wissen über spezielle digitale Anwendungen bedeutet jedoch nicht, dass damit auch ein kritischer emanzipierter Umgang verbunden ist. Unter den 14- bis 24-Jährigen, die Algorithmen kennen, haben auf Nachfrage nur 14 Prozent diese Technik als eher kritisch eingestuft.

Obwohl die technische Souveränität im Umgang mit digitalen Anwendungstechniken bei den 14- bis 24-Jähigen nicht sehr ausgeprägt zu sein scheint, wird in der Erhebung ein deutliches Unwohlsein dieser Gruppe mit den bestehenden digitalen Bedingungen spürbar. So sind 51 Prozent der Meinung, dass Verhaltensweisen heute indirekt stark durch Social Media, beispielsweise als Erlangen von Likes, bestimmt sind. 71 Prozent der 14- bis 24-Jährigen stimmen einer gesetzlichen Reglementierung im digitalen Bereich zu, sofern sich dadurch Mobbing eingrenzen ließe, auch wenn dadurch die Redefreiheit eingeschränkt würde. 59 Prozent wünschen sich eine internationale Gesetzgebung für alle Anbieter*innen und Nutzer*innen im Internet. 80 Prozent fordern die gleichen Regeln für das Miteinander in digitalen Welten, die auch im analogen gesellschaftlichen Leben gelten. Sexuelle Belästigung in Online-Foren solle demnach künftig genauso wie in Offline-Szenarien geahndet werden.

Übersicht 7: Zustimmung zu Forderungen für die Gestaltung digitaler Räume bei den 14- bis 24-Jährigen

Übersicht 7
Akademie der Kulturellen Bildung/GfK 2018

Gefordert wird zudem mehr Präsenz von öffentlich geförderten Kulturgütern im digitalen Raum. 65 Prozent der 14- bis 24-Jährigen möchten, dass die Inhalte von Kultureinrichtungen auch digital zugänglich sind. 62 Prozent sind der Meinung, dass der Zugriff auf digitale Bücher im Internet genauso öffentlich gefördert werden sollte wie analoge Bibliotheken. Immerhin 44 Prozent der 14- bis 24-Jährigen wünschen sich eine staatliche Suchmaschine als Alternative für das Netz.

Konsequenzen für die Kulturelle Bildung

Was bedeuten diese Ergebnisse für die Kulturelle Bildung? Zunächst: Eine Kulturelle Bildung, die den Anspruch verfolgt an den Lebenswelten junger Menschen anzuknüpfen, kann es sich im Zeitalter der Postdigitalität nicht leisten, ohne eine postdigitale Bildungsstruktur zu agieren. Das bedeutet ein klares Bekenntnis zur Verantwortungsübernahme für postdigitale Teilhabe junger Menschen. Zudem zeigt die Studie sehr deutlich, dass das Digitale weder von sich aus für gleiche Zugänge sorgen kann,  nur weil es grundsätzlich allen offensteht -, noch dass sich Teilhabe speziell in postdigitalen kulturellen Ausdrucksformen von selbst niederschlägt. Tatsächlich ist es nur eine kleine Gruppe der 14- bis 24-Jährigen, die hier sehr aktiv mit künstlerischer Expressivität in und mit digitalen Räumen spielt und damit letztlich einen emanzipatorischen Ansatz verfolgt. Entsprechend ist es für die Kulturelle Bildung wichtig, dass, wenn sie postdigitale, kulturelle Teilhabe fördern möchte, in ihrem Repertoire auch postdigitale, jugendkulturelle Ausdrucksformen aufgreift und die Weiterentwicklung dieser Fertigkeiten fördert. Dabei stellen sich grundsätzliche strukturelle Fragen.

Wenn, wie vorausgehend skizziert, digitale Techniken künstlerische Gestaltungsprozesse eröffnen, ohne dass es notwendig ist, handwerkliche Techniken zu erlangen (z.B. Erlernen eines Musikinstruments), bedarf es mehr kultureller Bildungsangebote, die künstlerische Gestaltungsprozesse fokussieren wie Performance, Improvisation oder Komposition. Grundlage hierfür wäre eine deutlich stärkere Vernetzung der künstlerischen Einzeldisziplinen, um mehr spartenübergreifende Experimentierräume eröffnen zu können.

Im Zuge von Teilhabefragen wurde deutlich, dass das soziale Umfeld auch in postdigitalen Kontexten eine entscheidende Rolle bei Zugängen spielt. Dies wird in digitalen Räumen verschärft durch die Algorithmen kommerzieller Suchmaschinen, die selbstreferentiell bestehende Interessen im Digitalen eher verfestigen, statt neue Richtungen zu eröffnen. Denn aufgrund der unendlichen Vielschichtigkeit des digitalen Raums ist es schwierig, neue Inhalte zu identifizieren, wenn diese nicht bekannt sind. Orientierungen wie Likes oder Rankings repräsentieren oft Mainstreampräferenzen. Es wird daher auch eine Aufgabe der Kulturellen Bildung sein, in Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche, für kommerziell freie und geschützte öffentliche Räume zu streiten. Dies entspricht den in der Studie ermittelten Interessen junger Menschen an mehr Regulierung, im Sinne geschützter digitaler Räume.

Ein stärkeres Engagement der Kulturellen Bildung in Bezug auf Digitalität würde auch dem Bedarf junger Menschen gerecht, bestehende Angebote der Kulturellen Bildung auch digital nutzen zu können. Die Herausforderung hierbei ist, bestehende analoge kulturelle Bildungsangebote nicht zu „digitalisieren“, sondern die Vorteile digitaler Techniken, wie Unabhängigkeit von Zeit und Raum, bei einer Umstrukturierung konsequent zu nutzen.  

Die bei jungen Menschen beobachtete Praxis des Spielens mit analog-digitalen Schnittstellen ist für die Kulturelle Bildung eine gute Grundlage für die Eröffnung eines kulturellen Diskursraums zur Frage, wie neue Technologien eingesetzt werden sollen und was sich verändert, wenn analoge Kontexte stärker ins Digitale verlagert werden und umgekehrt. Denn die Gestaltung digitaler Lebenswelten ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine kulturelle Aufgabe und sie bedarf des kulturellen Wandels. Eine kulturelle Perspektive ist beispielsweise nicht die Frage: Was kann Technik? Sondern was wollen wir, dass Technik kann? Dabei muss das Verhältnis Mensch und Maschine grundsätzlich reflektiert werden: Welche kulturellen Techniken wie Lesen, Sprachenlernen, Arbeiten etc. wollen wir digitalisieren? Und welche kulturellen Techniken möchten wir als Menschen im posthumanen Zeitalter in Koproduktion mit Maschinen beherrschen?

Das Fazit zu den Aufgaben und Herausforderungen einer postdigitalen Kulturellen Bildung kann abschließend mit folgenden Zukunftsaufgaben zusammengefasst werden:

  • Verantwortungsübernahme für analog-digitale, kulturelle Teilhabe
  • Aufgreifen zeitgemäßer, künstlerisch-ästhetischer, analog-digitaler Ausdrucksformen
  • Verankerung von Kultur und Kultureller Bildung in analog-digitalen Lebensräumen
  • Ästhetischer Diskursraum zur Ausgestaltung analog-digitaler Lebenswelten
  • Gesellschaftlicher Diskursraum in Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche

Verwendete Literatur

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Anmerkungen

Dieser Beitrag ist Teil des Praxis-Dossiers „Digitalisierung in der kulturellen Bildungspraxis“, das in Zusammenarbeit mit der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. entstanden ist. In diesem Dossier geben Vertreter*innen unterschiedlicher Praxisfelder Einblicke in die konkrete Arbeit in ihren Einrichtungen bzw. Trägerstrukturen. Sie zeigen auf, wie sich durch den Einsatz digitaler Medien Methoden und Prozesse ihrer Arbeit verändert haben und was sie selbst daran als innovativ beschreiben.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Susanne Keuchel (2024): Postdigitale kulturelle Jugendwelten: Zeitgemäße künstlerische Ausdrucksformen, Teilhabechancen und Herausforderungen für die Kulturelle Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/postdigitale-kulturelle-jugendwelten-zeitgemaesse-kuenstlerische-ausdrucksformen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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